Die Todesfalle - Ein Fall für Skalla und Krampe - Volker Gerling - E-Book

Die Todesfalle - Ein Fall für Skalla und Krampe E-Book

Volker Gerling

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Beschreibung

Investigativjournalistin Rachel Skalla arbeitet an einem Artikel über illegale Medikamententests, als sie Mark Kreutzer kennenlernt. Mark kann ihr die richtigen Türen für die Story öffnen. Um sich dafür bei ihm zu bedanken, will Rachel Mark dabei helfen, einen mysteriösen Fall aufzuklären, der ihn bis heute belastet. Marks Vater sitzt im Gefängnis. Er soll auf grausame Weise eine Prostituierte ermordet haben, beteuert aber bis heute seine Unschuld. Bei ihren Recherchen entdeckt Rachel sieben weitere Fälle, die dem von Marks Vater gleichen. Alle vermeintlichen Täter waren betrunken und wachten neben ermordeten Prostituierten in einem Hotelzimmer auf. Nur ein Zufall? Oder handelt es sich um das Werk eines raffinierten Serienmörders? Mit Hilfe des Hamburger Fallanalytikers Daniel Krampe begeben Rachel und Mark sich auf die Suche nach der Wahrheit – und geraten dabei selbst ins Visier des gnadenlosen Killers! Eine Journalistin und ein Fallanalytiker ermitteln gemeinsam - alle Bände der Investigativteam-Reihe sind als Printausgabe und Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Investigativjournalistin Rachel Skalla arbeitet an einem Artikel über illegale Medikamententests, als sie Mark Kreutzer kennenlernt. Mark kann ihr die richtigen Türen für die Story öffnen. Um sich dafür bei ihm zu bedanken, will Rachel Mark dabei helfen, einen mysteriösen Fall aufzuklären, der ihn bis heute belastet. Marks Vater sitzt im Gefängnis. Er soll auf grausame Weise eine Prostituierte ermordet haben, beteuert aber bis heute seine Unschuld.

Bei ihren Recherchen entdeckt Rachel sieben weitere Fälle, die dem von Marks Vater gleichen. Alle vermeintlichen Täter waren betrunken und wachten neben ermordeten Prostituierten in einem Hotelzimmer auf. Nur ein Zufall? Oder handelt es sich um das Werk eines raffinierten Serienmörders?

eBook-Ausgabe Oktober 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 by Volker Gerling

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025

dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/STILLFX, tone kale

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-69076-123-9

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Volker Gerling

Die Todesfalle – Ein Fall für Skalla und Krampe

Thriller

 

dotbooks.

Prolog

 

Sein nächstes Opfer passte perfekt ins Profil. Groß, kräftige Statur, dunkles, dichtes Haar, kantiges Gesicht mit einem energischen Kinn. Mit Anfang fünfzig hatte der Mann auch das Alter. Er ging zuerst nach dem Äußeren. Wenn das stimmte, überprüfte er die nächsten Parameter. Beruf und Familie. Oft wurde er hier enttäuscht, weil der potenzielle Kandidat entweder den falschen Job ausübte oder nicht die richtige Familie hatte. Das war zwar frustrierend für ihn, aber das Aussehen war essenziell. Deshalb widmete er diesem Punkt die größte Aufmerksamkeit. Er hatte sehr viel Geld für eine spezielle Software ausgegeben, die ihm bei der Suche von unschätzbarem Wert war. Dennoch dauerte die Auswahl eines Kandidaten meist mehrere Wochen.

Er hatte dabei immer dieselbe Vorgehensweise: Er wählte aus den Vorschlägen der Software einen Kandidaten aus. Als Nächstes besorgte er sich von diesem Mann alle Informationen, die er kriegen konnte. Da er den Namen des Mannes kannte, war es in den seltensten Fällen ein Problem, dessen Wohnort und Beruf herauszufinden. War er schließlich der Auffassung, dass der Mann ins Profil passte, beobachtete und verfolgte er ihn. Dieser Abschnitt seiner Jagd war jedes Mal berauschend. Allein das Gefühl, dem Mann näher zu kommen, in dessen Leben einzutauchen und ein Teil davon zu werden, war erregend. Vor allem, weil der Kandidat keine Ahnung hatte, dass es jemanden gab, der ihn observierte. Der die Entscheidung traf, ob er sein Leben weiterleben durfte oder ob jemand dessen Existenz in seinen Grundfesten erschüttern würde. Sie zerstörte, geradezu pulverisierte.

Dem aktuellen Kandidaten war er von einem Café aus bis zu dessen Fahrzeug gefolgt, das in einem Parkhaus stand. Als er entdeckt hatte, dass der potenzielle Kandidat Richter war, überschwemmte ihn ein nie gekanntes Glücksgefühl, und ihm schossen Tränen in die Augen. Ausgerechnet ein Richter. Jemand, der entschied, ob ein anderer bestraft oder freigesprochen wurde.

Was für eine Ironie.

Mit bangem Gefühl widmete er sich der Familie des Richters. Er postierte sich unauffällig vor dem stattlichen Haus des Kandidaten und stellte fest, dass er verheiratet war und zwei Kinder hatte. Einen vierzehnjährigen Sohn und eine sechsjährige Tochter. Er machte viele Fotos von der Familie. Dafür benutzte er eine Digitalkamera. Er hätte viel lieber eine dieser alten Spiegelreflexkameras genommen. Aber es war natürlich unmöglich für ihn, die Aufnahmen von einem Dienstleister entwickeln zu lassen. Das würde Verdacht erregen. Also verwendete er seine Speicherkarte, die er anschließend in seinen Laptop steckte, um die Bilder zu betrachten. Hatte er sich für jemanden entschieden, wechselte dessen Status. Aus einem Kandidaten wurde Das Opfer. Der nächste Schritt stellte ihn zu Beginn vor eine große Herausforderung. Er musste dafür sorgen, dass sich das Opfer in einem Hotelzimmer befand.

Im Darknet hatte er schon vor Jahren eine Quelle entdeckt, die ihn mit winzigen Überwachungskameras und Mikrofonen versorgte. Diese installierte er in den Häusern der Opfer, wenn er sich sicher war, dass er dafür genug Zeit hatte. Alle Aufnahmen wurden in einer Cloud gespeichert, sodass er ständigen Zugriff darauf hatte. Nun musste er nur noch zuhören und zusehen und auf den richtigen Moment warten. Das Gute an intakten Familien war, dass sie alles gemeinsam besprachen. Meistens am Esstisch.

Dem darauffolgenden Stadium der Überwachung stand er zwiegespalten gegenüber. Einerseits konnte er es sich nicht leisten wegzuhören, denn die Gefahr, den entscheidenden Hinweis zu verpassen, war groß. Andererseits verdeutlichte ihm das Mithören der belanglosen Kleinigkeiten dieser durchschnittlichen Familien, wie armselig deren Leben war. Es bestand nur aus sich ständig wiederholenden Themen. Schulnoten, Ausflüge, Essenspläne, Arzt- und Friseurbesuche, Einkaufslisten. Eine Endlosschleife von Banalitäten, die ihm Brechreiz verursachten. Dieser Teil seiner Arbeit glich einer Bestrafung.

Je länger er ihnen zuhörte, desto mehr hasste er sie alle.

Aber irgendwann kam der entscheidende Augenblick.

Der Augenblick, der ihm die Chance bot, seine Mission zu erfüllen. Auch ein Richter ging auf Geschäftsreisen. Er hatte sofort recherchiert, ob in den nächsten Monaten Kongresse anstanden, und war fündig geworden. Jetzt stellte sich nur Frage, ob sein potenziell nächstes Opfer an einer dieser Tagungen teilnehmen würde.

Erster Teil

1

 

»Nein, nein, nein. Verdammte Scheiße«, schrie Rachel Skalla und warf das drahtlose Telefon in den Papierkorb.

Soeben hatte sich die Story, an der sie und ihr Team seit sechs Monaten gearbeitet hatten, in Luft aufgelöst. Es gab gleich mehrere ungeschriebene Gesetze unter seriösen Journalisten. Die beiden wichtigsten lauteten: Niemals, unter keinen Umständen, erhält eine Quelle für ihre Informationen Geld. Die andere war ebenso wichtig: Eine Information musste durch mindestens drei unabhängige Quellen bestätigt werden. Erst dann wurde sie veröffentlicht. Eine dieser Quellen war gerade abgesprungen. Harald Meyer, so hieß der Informant, hatte ihr eine kurze Nachricht aufs Band gesprochen, dass er es sich anders überlegt hatte, und war nicht mehr erreichbar.

Mit ihren zweiunddreißig Jahren war Rachel Teamleiterin der Abteilung Investigation des SPIEGEL, einer der renommiertesten Wochenzeitschriften des Landes. Dieses klassische Genre griff gesellschaftlich relevante Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf. Ziel war es, durch hartnäckig gründliche Recherche Missstände, Skandale und Affären aufzudecken. Dabei bedienten sich Rachel und ihr Team an Quellen, die nicht öffentlich zugänglich waren oder der Geheimhaltung unterlagen. Das Recherchieren erfolgte daher meist verdeckt und war zeitaufwendiger als in jedem anderen journalistischen Bereich.

Ein weiterer wichtiger Baustein ihrer Arbeit war das Aufspüren von Informanten, die über wertvolles Insiderwissen verfügten und bereit waren, es weiterzugeben. Diese Whistleblower arbeiteten häufig im Umfeld von Personen oder Institutionen, die Gegenstand der Reportage waren. Im aktuellen Fall handelte es sich um den Entwicklungsleiter eines Pharmakonzerns. Durch ihn waren sie einem Skandal auf die Spur gekommen, bei dem es um illegale Medikamentenversuche an ahnungslosen schwer kranken Menschen aus Indien und Pakistan ging. Ihnen wurden Präparate verabreicht, die in Europa nicht zugelassen waren. So vermied dieser Konzern den gesetzlich vorgeschriebenen zeit- und kostenaufwendigen Zulassungsprozess.

Todesfälle waren von vornherein mit einkalkuliert worden. Das Einkommen eines Arztes in Indien betrug rund dreizehntausend Euro jährlich. Die Konzerne zahlten ihnen pro Studie zehntausend Euro. Ein Arzt kam ohne Probleme auf eine Studie pro Monat.

Niemand konnte da Nein sagen.

Kollateralschäden waren unter diesen Umständen zu verschmerzen, zumal die Probanden eine Einwilligungsvereinbarung unterzeichneten, die alle beteiligten Firmen und Ärzte von jeglicher Haftung befreiten. Dass der überwiegende Teil dieser »Studienteilnehmer« weder lesen noch schreiben konnte, interessierte niemanden. Sie setzten an der richtigen Stelle ein Kreuz, damit war die Sache erledigt. Dieses skandalöse Vorgehen wollte besagter Abteilungsleiter stoppen. Nun hatte er kalte Füße bekommen. Rachel brauchte dringend Ersatz, sonst drohte die Story zu platzen.

Sofort machte sie sich daran, ihr Team zusammenzutrommeln.

Sechs davon saßen in der eigenen Redaktion. Drei andere arbeiteten im Süden der Republik für eine renommierte Tageszeitung. Diese neun zu kontaktieren war dementsprechend leicht. Bei den anderen hingegen musste sie auf die verschiedenen Zeitzonen achten. Sie gehörten zum internationalen Netzwerk investigativer Journalisten, kurz ICIJ, und waren rund um den Globus verteilt.

Dieses Netzwerk war insofern von entscheidender Bedeutung, als dass immer wieder internationale Konzerne ins Visier der Investigativjournalisten gerieten. Diese Tatsache machte es unumgänglich, weltweit Recherchen vorzunehmen. Jedoch barg es gewisse Risiken, fremde Kollegen um Unterstützung zu bitten. Die Gefahr, dass sich darunter einige befanden, die daraus ihre eigene Story schreiben wollten, war zu groß.

Das ICIJ hingegen bestand ausschließlich aus vertrauenswürdigen Journalisten. Sie trafen sich regelmäßig zu persönlichen Meetings. Man konnte diesem Netzwerk nicht einfach beitreten. Man wurde eingeladen. An die Kollegen, deren Aufenthaltsort gerade auf der Nachtseite des Planeten lag, schrieb sie E-Mails. Alle anderen rief sie an.

Von den rund dreißig beteiligten Journalisten waren innerhalb von anderthalb Stunden mehr als die Hälfte informiert. Der Rest würde im Laufe der nächsten acht Stunden folgen. Rachel setzte sich mit den sechs Kollegen in der Redaktion zusammen. Die zwei aus Süddeutschland und die Kollegen aus dem Ausland, die wach waren, wurden per Video dazugeschaltet.

»Meyer hat kalte Füße gekriegt. Damit haben wir unsere Hauptquelle verloren.«

Sie wandte sich an Ulli Mattern. Er war derjenige gewesen, der Meyer vor rund acht Monaten zum ersten Mal persönlich getroffen, mit ihm ein zweistündiges Gespräch geführt und den persönlichen Kontakt aufrechterhalten hatte.

»Kannst du dir erklären, warum er ausgerechnet jetzt abspringt? Zwei Wochen vor dem Veröffentlichungstermin?«

Mattern schüttelte den Kopf. »Bei unserem letzten Treffen vor zwei Wochen in Zürich war noch alles okay. Er sagte, er sei froh, dass es bald vorbei sei. Es gab bei ihm keine Anzeichen von Angst oder Zweifeln.«

»Okay. Wenn du vermuten müsstest, was käme dir als Erstes in den Sinn?«

»Er ist aufgeflogen. Aus irgendeinem Grund sind sie ihm bei Lux Pharmaceutica auf die Spur gekommen und haben ihn unter Druck gesetzt.«

»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Rachel. »Wenn wir recht haben, ist er für uns gestorben. Den ziehen wir nie wieder auf unsere Seite.«

Betroffene Stille trat ein. Das war einer der Momente, in denen sich entschied, ob eine Story für immer verloren war oder gerettet werden konnte. Rachel wusste, dass alle im Raum und an den Bildschirmen darauf warteten, dass sie die Richtung vorgab. Es war Rachels Story, und die Wochenzeitschrift, für die sie arbeitete, trug den Löwenanteil der Kosten.

»Okay, wir brauchen einen Ersatz für Meyer, und zwar innerhalb von«, sie warf einen Blick auf den riesigen Wandkalender und rechnete nach, »innerhalb von zehn Tagen. Wir schaffen das, Leute. So einfach lassen wir die Scheißkerle nicht vom Haken.«

2

 

Mama ist tot.

Mark Kreutzers Schwester Manuela hatte seit acht Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Kein einziges Wort, seit er die Zelte abgebrochen und von Hamburg aus nach Montreal geflogen war. Mark hatte alles stehen und liegen lassen und sämtliche Verbindungen gekappt. Auch die zu Freunden. In Kanada, fernab der Familie und all dem, für das sie stand, hatte er sich ein neues Leben aufgebaut.

Die ersten zwei Jahre waren hart gewesen. Mark hatte Schwierigkeiten, sich einzuleben und neue Freunde zu finden. Er vermisste seine gewohnte Umgebung, seine Freunde. Wieder und wieder fragte er sich, ob die Entscheidung, nach Kanada zu reisen, richtig war. Mehr als einmal buchte er einen Rückflug, nur um ihn kurz darauf zu stornieren. Er blieb, biss sich durch, schuftete wie ein Besessener, gewann neue Freunde und kam zu einem kleinen Vermögen. Mit den Jahren, die er hier verbrachte, verblassten langsam die Erinnerungen an sein altes Leben. Merkwürdigerweise zuerst die jüngsten. Denn die waren es, die am bittersten schmeckten.

Nur die Erinnerungen an seinen Vater blieben die gesamte Zeit über lebendig. Der saß seit nunmehr acht Jahren wegen Mordes im Gefängnis. Zu Unrecht, davon war Mark überzeugt. Angeblich hatte sein Vater in einem Hotelzimmer eine Prostituierte erstochen. Man fand seinen Vater, der sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte, in seinem Hotelbett. Neben ihm lagen die tote Frau und die Mordwaffe. Für die Beamten der Kripo war der Fall eindeutig. Selbst für seine Mutter und Schwester, wie er damals mit Entsetzen feststellte.

Niemanden schien es zu stören, dass sein Vater überhaupt keinen Alkohol trank. Auch fand es niemand merkwürdig, dass er die Prostituierte tötete, danach eine ganze Flasche Wodka trank und einschlief. Sein Vater war ein hochintelligenter Mann. Er war Professor für Mathematik an der Uni Hamburg. Würde ein Mann mit seinem Verstand so viele Fehler begehen?

Mal ganz abgesehen davon, dass er seine Ehefrau geliebt hatte und niemals, wirklich niemals die Dienste eines Callgirls in Anspruch genommen hätte. Sein Vater war ein ehrlicher, aufrichtiger Ehemann und Vater gewesen. Natürlich hatte der leitende Beamte, der mit dem Fall betraut war, Kriminalhauptkommissar Lutz Michaelis, ihm erzählt, er habe es schon öfter erlebt, dass Familienväter ein Doppelleben führten, von dem niemand etwas ahnte.

Mark verteidigte seinen Vater vehement. Michaelis lachte ihn aus, als Mark ihm alle Fakten darlegte, die für seinen Vater sprachen. Was für ein arrogantes Arschloch dieser Michaelis war. Als Marks Mutter und Schwester seinen Vater fallen ließen, ihn öffentlich einen Ehebrecher und Mörder nannten, war dessen Schicksal besiegelt. Und damit das von Mark, der felsenfest von der Unschuld seines Vaters überzeugt war. Marks Aussage vor Gericht verlor jegliche Bedeutung, als Mutter und Schwester ihren emotionalen Auftritt hatten. Plötzlich erschien jede Dienstreise seines Vaters, jeder Hotelaufenthalt in einem vollkommen anderen Licht. Sein Vater wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er ja so unglaublich gefährlich war.

Und nun war seine Mutter tot.

Mark hörte in sich hinein. Wollte wissen, ob sich da was regte. Tatsächlich spürte er etwas. Er konzentrierte sich darauf, es zu ergründen, und gelangte zu dem Ergebnis, dass es wohl dem nahekommen musste, was man Phantomschmerz nannte. Vielleicht war ja tatsächlich etwas dran an dem, was Wissenschaftler als unsichtbares Band zwischen Mutter und Kind bezeichneten. Allein die Tatsache, dass sich beide über neun Monate denselben Körper teilten, führte dazu, dass sie eine lebenslange Verbindung eingingen. Eben ein unsichtbares Band. Durch ihren Tod war diese Verbindung gekappt worden, und er fühlte ein Beben, dessen Wellen durch seinen Körper strömten. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Mark spielte mit dem Gedanken, der Beerdigung fernzubleiben. Wen würde es interessieren? Er kaute auf dieser Idee herum und stellte rasch fest, dass sie einen bitteren Beigeschmack hatte.

Nein, das würde ihm mehr schaden als Befriedigung bereiten. Es wäre kleingeistig und seiner unwürdig. Und es wäre Wasser auf den Mühlen seiner Schwester. Die könnte behaupten, dass sie es schon immer gewusst hatte. Mark kam nach seinem Vater. Wahrscheinlich stand Mark genauso auf Nutten wie er. Als Mark für ihn Partei ergriffen hatte, hatte seine Schwester Andeutungen dieser Art gemacht. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde, wenn er seiner Schwester nach so langer Zeit wieder gegenüberstand. Aber, so stellte er seufzend fest, das würde er in Kürze herausfinden.

3

 

Mark verließ das Bad seines Hotelzimmers und ging nackt ins Schafzimmer. Vor einem mannshohen Spiegel blieb er stehen und musterte sich. Hatte er etwa einen kleinen Bauch bekommen? Er holte tief Luft, und die leichte Wölbung verschwand. Er war einundvierzig Jahre, eins neunzig groß und wog neunzig Kilo. Sein hellblondes Haar war störrisch und nur mit Gel zu bändigen. Er hatte schon als Kind sehr viel Sport getrieben. Tennis, Fußball, Karate. Davon zehrte er bis heute.

Wenn da nicht diese kleine Beule wäre …

Er schüttelte den Kopf und musste grinsen. Unter keinen Umständen würde er darauf verzichten, gut zu essen, war er doch ein ausgesprochener Genussmensch. Wenn das bedeutete, dass er zunahm, würde er sein tägliches Pensum an Sit-ups erhöhen und zwei Kilometer mehr joggen. Half das nicht, war es halt so. Als er an die in zwei Tagen stattfindende Beerdigung dachte, verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht wie ein Licht, das ausgeknipst wurde. Bislang hatte er niemandem gesagt, dass er bereits in Hamburg war. Nicht seiner Schwester und auch seinen früheren Freunden nicht.

Er wusste nicht, ob er sie überhaupt noch so bezeichnen konnte. Wahrscheinlich nicht, war er ja verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Auf die unzähligen Anrufe, Nachrichten und E-Mails hatte er nie geantwortet. Also nein, Freunde waren es wohl nicht mehr. Dafür waren zu viele Jahre des Schweigens vergangen. Wobei, es gab jemanden, bei dem es sich anders verhalten könnte. Konrad, der von allen nur Conny genannt wurde, war der Einzige, der in seiner letzten Nachricht an ihn Verständnis für sein Verhalten geäußert hatte. Und sein letzter Satz hatte gelautet: Egal wie lange du brauchst, ich werde immer für dich da sein.

Vielleicht sollte Mark ihn anrufen und schauen, ob acht Jahre im Rahmen dessen waren, was sein alter Freund unter »Egal wie lange du brauchst« verstand.

In der Hoffnung, dass sich die Mobilfunknummer seines Freundes nicht geändert hatte, drückte er auf Anruf. Nach dem zweiten Rufzeichen wurde das Gespräch angenommen.

Überrascht stellte Mark fest, dass die Hand, in der er das Telefon hielt, zitterte.

»Konrad Seidel.«

»Sind acht Jahre zu lang für dich?«

Schweigen am anderen Ende der Leitung, das eine Ewigkeit andauerte.

Dann: »Mark? Bist du das?«

»Ja.«

Ein Keuchen. »Großer Gott. Ich dachte schon, du wärst tot.«

»Ich lebe. Und stehe halb nackt in meinem Hotelzimmer in Hamburg.«

»Mann, Alter … das mit dem halb nackt verdränge ich mal. Es ist absolut schön, von dir zu hören. Du bist in Hamburg? Können wir uns treffen? Egal wann. Hast du Zeit?«

Mark unterdrückte ein Schluchzen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr ihm Conny gefehlt hatte.

»Gerne …«

»Wann?«

»Also, am Montag bin ich auf einer Beerdigung …«

»Oh Scheiße, deine Mutter. Ich hab davon gehört. Mein Beileid.«

»Äh, ja. Danke. Du weißt bestimmt, dass wir keinen Kontakt mehr hatten, seit …«

Conny lachte. »Seit acht Jahren. Kenne ich irgendwoher. Hör zu, heute Abend steigt bei mir eine kleine Party. Wenn du nicht zusagst, schwöre ich dir, finde ich heraus, in welchem Hotel du bist. Und dann schicke ich zwei Russen vorbei, die dich zu mir bringen. Die verstehen keinen Spaß.«

»Ich komme.«

»Die werden bewaffnet sein, also denke nicht, nur weil du … Hast du gerade zugesagt?«

»Ja, hab ich.«

»Ich … ich fasse es nicht«, stammelte Conny. »Mark Kreutzer kommt zu meiner Geburtstagsfeier. Ich gehe gleich in den Garten und heule eine Runde. Garantiert.«

Mark schloss kurz die Augen. Heute war der 6. Juli. Connys Geburtstag.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, alter Freund«, presste Mark hervor.

»Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals gekriegt habe, weißt du das?«

4

 

Obwohl Rachel weiß Gott genug um die Ohren hatte, wollte sie die Party einer ihrer besten Freunde auf keinen Fall verpassen. Zum Glück gab es nicht diese Punkt-sieben-geht’s-los-Ansage. Conny war für so was viel zu chaotisch. Kennengelernt hatte sie ihn vor fünf Jahren. Er war Mitte dreißig gewesen und schon eine kleine Legende unter den Brokern. Sie eine junge, aufstrebende Reporterin, die den Auftrag erhalten hatte, im Bankensektor zu recherchieren. Die Redaktion des auflagenstarken Tagesblatts, für das sie damals arbeitete, wollte in Erfahrung bringen, ob Investmentbanken etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hatten oder ob sie noch immer der Verlockung der Gier erlagen. Ihr Chefredakteur hatte sie ausgewählt, da eine junge und überaus attraktive Frau die Zungen der Banker eher lösen würde als ein männlicher Kollege. Er hatte diese Ausdrucksweise tatsächlich gewählt.

Wohlwissend, dass es da eine anrüchige Doppeldeutung gab.

Rachel war das egal. Endlich hatte sie einen Auftrag, der mehr versprach als Artikel über giftigen Gartendünger oder fehlerhafte Rutschen auf dem Grundstück von Kindergärten. Voller Elan stürzte sie sich auf ihre Aufgabe. Sie knüpfte Kontakte, flirtete, was das Zeug hielt, und ging auf Partys, auf denen mehr Drogen verteilt wurden als auf jedem Jahrestreffen der russischen Mafia. Auf einer dieser wilden Partys traf Rachel Konrad Seidel.

Er war einer der wenigen, die nicht ständig auf ihre Brüste starrten. Oder schlimmer, sie glatt betatschte, als wäre sie Freiwild. Im Gegenteil, Conny erwies sich als charmanter und kluger Gesprächspartner, der all ihre Fragen ehrlich und selbstkritisch beantwortete. Auch diejenigen, die kein so gutes Licht auf seine Branche warfen.

»Weißt du«, sagte er zu später Stunde, »in jeder Branche gibt es schwarze Schafe. Die sind nur auf den eigenen Profit aus. Ihre Kunden sind ihnen egal. Die machen kurzfristig viel Geld. Dann wechseln sie die Bank und beginnen von vorne.« Conny nippte an seinem Cocktail und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Großer Gott, ist das ekelig. Schmeckt wie ein Lolli aus meiner Kindheit.«

Rachel grinste und wartete darauf, dass er weitererzählte.

Angewidert stellte er das Glas auf einen benachbarten Stehtisch, der frei war. »Darüber hinaus gibt es diejenigen, die im Interesse ihrer Kunden agieren. Die machen langfristig sehr viel Geld.«

»Zu denen gehörst du«, sagte sie.

Conny unterdrückte ein Rülpsen, sah sie entschuldigend an und nickte. »Absolut. Ich kooperiere nur mit Kunden, die eine langfristige und sichere Anlagemöglichkeit suchen. Diejenigen, die kurzfristige Renditen haben wollen, lehne ich ab.«

»Echt jetzt? Und was sagen deine Bosse dazu?«

»Sie lassen mich gewähren, weil meine Kunden richtig viel Kohle haben.«

Letzten Endes schrieb sie die Story nicht. Zum einen, weil die schwarzen Schafe ein eingeschworener Haufen waren und dichthielten. Zum anderen, weil sie Conny nicht kompromittieren wollte. Denn vielen war nicht entgangen, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufgebaut hatte. Dementsprechend wäre klar gewesen, von wem sie die Insiderinformationen erhalten hatte. Conny wäre es egal gewesen. Trotzdem hatte er sich bei ihr dafür bedankt.

Rachel warf einen Blick auf die Uhr. Verdammt, es war schon nach acht Uhr abends. Sie beendete ihre Notiz und fuhr ihr Notebook runter. Anschließend sprang sie ins Bad und duschte. Die Wettervorhersage hatte eine laue Sommernacht vorhergesagt. Um auf Nummer sicher zu gehen, öffnete sie die Balkontür und trat hinaus. Die Meteorologen hatten recht, es waren bestimmt um die dreißig Grad. Sie entschied sich für ein rotes, knielanges Cocktailkleid und dazu farblich passende High Heels. Etwas Make-up und einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann rief sie sich ein Taxi.

Eine halbe Stunde später erreichte sie das Haus von Conny.

Es war ein herrliches, komplett saniertes Herrenhaus, direkt am Alsterlauf gelegen. Rachel stieg aus dem Taxi und ging auf den Eingang zu. Dem Geräuschpegel nach zu urteilen, waren die meisten Gäste schon eingetroffen. Die Eingangstür stand offen, aber unliebsame Gäste würden das Innere niemals erreichen. An den Türstehern kämen sie nicht vorbei. Rachel schenkte den zwei Muskelpaketen ein strahlendes Lächeln und zeigte ihnen die Einladung. Sie betrat den Eingangsbereich und blieb wie immer staunend stehen.

Marmor und Granit, wohin das Auge blickte. Die offene Galerie hatte eine Höhe von über zwölf Metern. In der Mitte des Raums, zwischen den beiden Treppen aus uralter Mooreiche, lag in einem Wasserbecken eine Kugel aus Granit. Ihr Durchmesser betrug zwei Meter, und sie wog mehrere Tonnen. Trotzdem drehte sie sich langsam um die eigene Achse.

»Wasser ist ein unfassbares Element«, hatte Conny ihr erzählt, als sie das erste Mal davorgestanden hatte.

Lächelnd ob dieser Erinnerung stieg sie die Treppe hinauf. Dort befand sich neben zwei Bädern und einem Schlafzimmer ein über hundert Quadratmeter großer Wohnbereich mit direktem Zugang zu einer ebenso großen Dachterrasse. Sie erreichte den Hotspot der Party, begrüßte ein paar Bekannte und hielt Ausschau nach dem Geburtstagskind. Rachel fand Conny draußen. Er stand neben einem Mann, den sie niemals zuvor gesehen hatte.

Was schade war, denn er war sehr attraktiv.

Sie schätzte sein Alter auf Mitte, Ende vierzig. Er war groß mit hellblonden, wirren Haaren. Dabei hatte er einen athletischen Körper, wie das weiße, eng anliegende Hemd verriet. Er trug Jeans und Turnschuhe. Sie näherte sich, und Conny entdeckte sie augenblicklich. Er strahlte sie glücklich an und breitete die Arme aus.

»Rachel! Endlich bist du da. Du ahnst nicht, wer hier ist.«

5

 

Als das Taxi anhielt, Mark ausstieg und vor Connys neuem Zuhause stand, überfiel ihn ein seltsames Gefühl. Er hörte in sich hinein und stellte fest, dass er aufgeregt war. Obwohl er beim Telefonat mit Conny gespürt hatte, dass sich dieser aufrichtig gefreut hatte, war es etwas anderes, ihm gleich gegenüberzustehen. Nach so langer Zeit. Möglicherweise war Conny kugelrund geworden. Oder kahl. Oder beides, und er lief an ihm vorbei, ohne seinen alten Freund zu erkennen. Vielleicht fanden sie keine Worte. Konnten nur am Telefon miteinander reden, als wären keine acht Jahre vergangen. Sollte er es einfach gut sein lassen und zum Hotel zurückfahren?

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Conny aus dem Haus lief und ihm um den Hals fiel. So verharrten sie eine Weile stumm. Umarmten sich, schluchzten wie zwei kleine Schuljungen und schwiegen. Schließlich lösten sie sich voneinander und stellten fest, dass sie zwar älter geworden waren, aber sich kaum verändert hatten.

»Ich kann nicht in Worte fassen, was es mir bedeutet, dich wohl und munter zu sehen«, sagte Conny leise. »Du hast mir gefehlt, mein Freund.«

»Es … es tut mir leid«, stammelte Mark.

»Was tut dir leid?«

»Dass ich mich nicht gemeldet habe.«

»Das ist jetzt völlig egal. Du bist hier, und ich freue mich darüber. Komm, lass uns reingehen.«

Mark befürchtete, dass Conny gleich, wenn sie zur Party stießen, allen lautstark verkünden würde, dass sein totgeglaubter Freund aus alten Tagen zurückgekehrt war. Nichts dergleichen geschah. Für die anderen war er nur einer unter vielen unbekannten Gesichtern. So war es auf seinen Partys nämlich immer, erklärte er Mark, als sie sich ein Bier zapfen ließen.

»Niemals dieselben Gäste einladen«, verriet er ihm sein Geheimnis. »Stets für eine gesunde und interessante Mischung sorgen.«

Sie traten hinaus auf die Dachterrasse und tranken ihr Bier. Conny holte Zigaretten aus der Hosentasche und bot Mark eine an. Sie rauchten eine Weile schweigend.

»Du warst in den letzten Jahren ganz offensichtlich erfolgreich«, stellte Mark irgendwann fest.

»Es gab gute Jahre, sehr gute und schlechte. Unterm Strich habe ich wohl das meiste richtig gemacht.«

»Ich freue mich für dich.«

»Und du? Was hast du so getrieben? Wo warst du noch mal? In Kanada, oder?«

»Ja. Ich lebe in Montreal. Getrieben habe ich da dasselbe wie hier.«

»Wenn du in Nordamerika dasselbe getan hast wie hier. Ich unterstelle, dass du von deinen Fähigkeiten nichts verlernt hast, dann …« Er ließ den Rest unausgesprochen in der Luft hängen.

Es war kein Geheimnis, dass Broker in Nordamerika weitaus mehr verdienen konnten als im Rest der Welt. Das lag daran, dass ihre Portfolios um ein Vielfaches größer waren und somit auch ihre Provisionen und Boni.

Mark schwieg.

Conny grinste und wippte auf den Zehenspitzen.

Mark schwieg nach wie vor.

Connys Wippen verstärkte sich. »Nun sag schon. Wie viel Kohle hast du gemacht?«

»Es lief gut«, antwortete Mark zurückhaltend.

»Oh Mann, vor mir steht Gordon Gekko«, schrie er begeistert.

Sie plauderten eine Weile über die alten Zeiten, bis etwas die Aufmerksamkeit von Conny erregte. Er wandte sich zum Eingang und strahlte plötzlich lichterloh.

»Rachel«, rief er. »Endlich bist du da. Du ahnst nicht, wer hier ist.«

Mark drehte sich herum. Als er die Frau sah, war es, als träfe ihn der Schlag.

Sie war atemberaubend schön in ihrem roten Cocktailkleid.

Conny eilte auf sie zu, umarmte sie und führte sie zu ihm.

»Darf ich vorstellen? Mark, das ist meine beste Freundin Rachel. Rachel, das ist Mark.«

Ihre Augen weiteten sich. »Der Mark? Also der, von dem du angenommen hast, er wäre tot?«

»Genau der. Und wie nur unschwer zu erkennen, erfreut er sich bester Gesundheit.«

»Wow, ich meine, hallo.«

Sie gaben sich die Hand, und Mark erschauderte unmerklich.

»Ich dachte, Conny würde sich das nur einbilden. Er hat mir viel über dich erzählt, dennoch …«

»Es gab Tage, da dachte ich selbst, ich würde mir das nur einbilden«, sagte Conny. »So wie bei Mein Freund Harvey.«

Mark grinste. »Da ging es aber um ein Kaninchen.«

»Es war ein Hase«, korrigierte Rachel ihn. »Ein großer weißer Hase.«

Mark zuckte mit den Schultern. »Schmecken beide gut.«

Conny lachte.

»Mark ist ein fantastischer Hobbykoch«, klärte er Rachel auf. »Zumindest war er das mal.« Er sah zu ihm. »Kochst du noch immer?«

»Na klar.«

Conny entdeckte jemanden, den er bisher nicht begrüßt hatte, und entschuldigte sich. Dann war er auch schon verschwunden. Rachel blieb stehen, und es trat eine Stille zwischen sie beide ein, die spürbar, jedoch nicht unangenehm war.

»Er hat dich sehr vermisst«, sagte Rachel unvermittelt.

»Ich weiß. Conny hat mir auch gefehlt. Nur habe ich das erst gemerkt, als ich vorhin mit ihm gesprochen habe.«

»Wo warst du die ganze Zeit?«

»In Montreal.«

»Und? Wie lange warst du fort?«

»Acht Jahre.«

»Was treibt einen dazu, alle Zelte quasi von einem Tag auf den anderen abzubrechen und das Land zu verlassen?«

Mark antwortete nicht sofort, was Rachel falsch interpretierte.

»Sorry, das geht mich nichts an«, sagte sie und wurde rot.

»Nein, nein. Schon gut. Ich habe nur versucht, die richtigen Worte zu finden. Die letzten Jahre habe ich nur Englisch oder Französisch gesprochen. Manchmal fehlen mir die Begriffe auf Deutsch, verstehst du?«

Sie lächelte ihn an, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus.

Sie sah ihn abwartend an. »Und? Hast du jetzt die richtigen Worte gefunden?«

»Wie viel Zeit hast du?«

»Den ganzen Abend und die ganze Nacht.«

6

 

Es war die faszinierendste Geschichte, die Rachel jemals gehört hatte. Und die traurigste. Mark benötigte über eine Stunde, um sie zu erzählen. Sie hatten sich in eine ruhige Ecke des Anwesens begeben. Conny hatte unten im Garten einen Pavillon aufgestellt, der verwaist war, da alle Gäste oben blieben. Als Mark geendet hatte, holte Rachel Bier.

Nachdem sie sich gestärkt hatten, ergriff sie das Wort. »Hast du vor, jetzt da du wieder in Deutschland bist, deinen Vater im Gefängnis zu besuchen?«

Mark schüttelte den Kopf. »Er wollte es damals schon nicht. Ich habe es ein paarmal versucht, er lehnte jedes Mal ein Treffen ab. Die Briefe, die ich ihm schrieb, sind ungeöffnet zu mir zurückgekommen.«

»Vielleicht hat er seine Einstellung geändert«, sagte sie.

»Ja. Vielleicht.«

»Kannst du dir erklären, warum deine Mutter und deine Schwester so sehr davon überzeugt sind, dass er der Täter war?«

»Ich kann es mir bis heute nicht erklären. Die Ehe meiner Eltern schien glücklich zu sein. Aber wer weiß schon, was zwischen den beiden ablief, wenn meine Schwester und ich nicht da waren? Als meine Mutter meinen Vater fallen ließ, war sie voller Zorn. Ich glaube, es lag daran, dass mein Vater angeblich ein Callgirl gebucht hatte. Das hat sie sehr verletzt. Und meine Schwester? Sie war ein Mutterkind. Dass sie zu meiner Mutter gehalten hat, war für mich nicht überraschend.«

»Das mag ja alles sein. Nur reicht das aus, um ihn lebenslang ins Gefängnis zu bringen?«

»Ins Gefängnis gebracht hat ihn die Tatsache, dass die Tatwaffe mit seinen Fingerabdrücken darauf neben ihm gelegen hat. Daran hätten selbst positive Aussagen zu seinen Gunsten wohl nichts geändert.«

Rachel nickte langsam. »Stimmt auch wieder.«

Sie hingen eine Weile ihren Gedanken nach.

»Hast du dich jemals gefragt, wer der wahre Mörder ist?«, fragte Rachel schließlich.

»Nein, dazu fehlten mir die Möglichkeiten, zumal die Polizei fest davon überzeugt war, den richtigen erwischt zu haben. Irgendwann ging es für mich nur noch darum, irgendwo neu anzufangen.«

Rachel wollte gerade etwas sagen, als ihr Handy piepte.

»Sorry«, sagte sie, zog es aus der Handtasche und las die Nachricht. »Fuck«, murmelte Rachel und warf es zurück.

»Das klingt nicht gut«, bemerkte Mark. »Was ist los?«

»Ich will dich nicht mit meinen Problemen langweilen«, sagte sie.

Mark lachte. »Finde den Fehler.«

Sie verstand, was er meinte, und stimmte in das Lachen ein. Dann erzählte sie ihm von ihrem aktuellen Projekt und davon, dass es kurz vor dem Scheitern stand.

»Okay«, sagte Mark. »Das mit den drei Quellen, die den Inhalt der Infos verifizieren, verstehe ich. Was mir nicht einleuchtet, ist, warum die Story stirbt, nur weil dieser Meyer abgesprungen ist.«

Rachel war in diesem Moment zu genervt, um einem Laien alles noch einmal zu erklären. Obwohl es ein überaus attraktiver Laie war.

Deshalb machte sie eine wegwerfende Geste. »Lass. Ist egal.«

»Rachel, es geht nicht darum, dass ich nicht verstanden habe, was du gesagt hast. Mir geht es darum, dass es einen weiteren Weg gibt, Beweise für die illegalen Versuche zu erhalten. Bloß wird das nicht bis zur Deadline möglich sein.«

»Was genau meinst du?«

»Kennst du Gabor Pharmaceutica?«

»Ja klar, einer der ganz großen Player. Warum?«

»Steht der auch auf eurer Liste verdächtiger Pharmakonzerne?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Ich kenne den Vorstandsvorsitzenden nämlich persönlich.«

In Rachels Kopf begann es zu schwirren. »Du denkst an eine ganz bestimmte Sache, oder?«

»Müsst ihr die Deadline einhalten?«

»Nicht zwingend. Vielleicht wird die nächste Ausgabe etwas dünner ausfallen. Vielleicht nicht. Warum fragst du?«

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist Meyer so wichtig für die Story, weil er der Einzige ist, der die Echtheit von E-Mails zwischen ihm und den Ärzten in Indien bestätigen kann. E-Mails, die beweisen, dass es diese illegalen Studien gibt. Und in einigen ist sogar von Todesfällen unter den Probanden die Rede, oder?«

»Genau. Ohne seine Aussage, dass es sich dabei um die originalen Nachrichten handelt, haben wir keine Story. Er ist leider die einzige Person, die das kann.«

Mark schüttelte den Kopf. »Ist er nicht.«

»Wie meinst du das? Was haben wir übersehen?«

»Du hast es selbst gesagt: Es sind Nachrichten zwischen ihm und den indischen Ärzten.«

»Du meinst die Ärzte! Natürlich! Verdammt, warum haben wir nicht daran gedacht?« Rachel sprang auf und lief unruhig auf und ab. »Aber wie sollen wir an die rankommen? Deren Abhängigkeit von den Pharmakonzernen ist viel zu groß. Wenn ein leitender Mitarbeiter den Schwanz einzieht, was machen erst die Ärzte?«

Mark erhob sich. »Was wäre, wenn ich dir den Kontakt zu Gabor herstelle? Und was wäre, wenn Gabor eine fingerte Studie an einen der Ärzte vergibt, von denen ihr wisst, dass sie für so etwas empfänglich sind? Hältst du es für möglich, dass man diesen Arzt mit seinen miesen Taten konfrontiert und zur Kooperation zwingen könnte?«

Rachels Herz schlug heftig, als sie über diese Option nachdachte. Je gründlicher sie das tat, desto deutlicher wurde ihr, dass das der Jackpot sein könnte.

»Lass mich kurz telefonieren, okay?«

Mark warf einen Blick auf seine Uhr. »Klar.«

Rachel eilte aus dem Zelt und wählte die Nummer ihres Chefredakteurs. Der nahm das Gespräch sofort an. Mit wenigen Worten umriss Rachel ihm die neue Möglichkeit. Nach dem Gespräch lief sie zurück zu Mark, der ebenfalls gerade am Telefonieren war. Wie sie bemerkte, führte er das Gespräch auf Französisch. Trotz ihrer Anspannung fand sie es anziehend, ihn in dieser Sprache reden zu hören. Wenig später beendete er das Telefonat.

Rachel grinste ihn an. »Mein Chef findet die Idee gut. Nun muss noch Gabor zustimmen.«

»Mit dem habe ich gerade gesprochen. Er wird sich am Montagvormittag kanadischer Zeit mit seinem Vorstand und seinem Chefjustiziar zusammensetzen und darüber sprechen. Gabor selbst hat mir gegenüber klar zum Ausdruck gebracht, dass er mitmachen würde. Aber wie das immer so ist, will er sich rechtlich absichern. Allerdings glaubt er nicht, dass es da Schwierigkeiten geben wird. Gleich danach will er mich anrufen.«

»Am Montag ist auch die Beerdigung, oder?« Rachel sah, wie sich seine Miene verdunkelte.

»Richtig. Hätte ich tatsächlich fast vergessen.«

»Hast du überhaupt einen Kopf dafür?«

»Glaub mir, jede Abwechslung ist mir recht.«

»Mark, ich danke dir für deine Hilfe. Das war einfach nur … unglaublich.«

»Gern geschehen.«

Sie standen sich unschlüssig gegenüber.

Schließlich brach Rachel das Schweigen. »Was meinst du, sollen wir zurück zur Party?«

Mark antwortete nicht sofort.

Es wirkte auf sie, als würde er lieber mit ihr allein bleiben. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass er gerade in einer schwierigen Situation steckte und sie inmitten einer der größten Storys ihrer bisherigen Karriere. Da war kein Platz für, ja, für was eigentlich, eine Affäre?

»Lass uns hochgehen«, unterbrach Mark ihre wirren Gedanken. »Conny denkt bestimmt schon, ich wäre wieder abgehauen. Nur dass ich diesmal seine beste Freundin mitgenommen habe.«

Ein schöner Gedanke, fand Rachel und hakte sich bei ihm unter.

7

 

Obwohl Connys Party bis drei Uhr morgens ging, wachte Mark am Sonntag um halb acht auf. Seine innere Uhr war ein verdammtes Wunderwerk. Selbst die Zeitumstellung brachte sie nicht aus dem Takt. Gott sei Dank hatte er sich den gesamten Abend über nur an Bier und Wasser gehalten. Deshalb klagte er auch nicht über Kopfschmerzen. Mark hatte sich fast ausschließlich mit Rachel unterhalten. Bei dem Gedanken an sie musste er lächeln. Wehmut schwang darin mit. Schlechtes Timing war das Erste, was ihm durch den Kopf schoss. Verdammt schlechtes Timing.

Mark putzte sich die Zähne und machte sich auf den Weg ins hoteleigene Schwimmbad. Eine Stunde später kehrte er in sein Zimmer zurück, duschte und ging anschließend frühstücken. Auf seinem Zimmer erwartete ihn eine Nachricht von Conny auf seinem Handy.Gemeinsames Mittagessen?Er antwortete: Unbedingt!Um 13 Uhr bei mir? Ich werde da sein.Da es ein herrlicher Tag mit bis zu dreißig Grad werden sollte, beschloss Mark, die Zeit bis zum Mittagessen mit einem Ausflug zum Hafen zu überbrücken. Er spürte eine starke innere Unruhe, und ein Spaziergang an der frischen Luft war in der Vergangenheit immer hilfreich dabei gewesen runterzukommen.

Ein Taxi brachte ihn an die Landungsbrücken. Langsam schlenderte er Richtung Elbstrand. Viel hatte sich hier nicht verändert. Und das war gut so. Sogar die Haifischbar gab es noch, wie er zufrieden feststellte. Unweigerlich musste er an Rachel denken. Selten hatte eine Frau ihn so in ihren Bann gezogen wie sie. Nicht dass sie es darauf angelegt hätte. Ganz im Gegenteil. Aber gerade als es um ihren Job ging, konnte er ihre Energie fast physisch spüren. Sie übertrug sich auf ihn. Wie krass war das denn? Rachel war nicht nur schön, ohne dabei arrogant zu sein, sie war auch intelligent. Außerdem besaß sie einen gesunden Humor. Eine Kombination, die sein Blut in Wallung brachte.

Verdammt schlechtes Timing, erinnerte er sich.

Sein Lebensmittelpunkt war Montreal. Ihrer Hamburg. Eine Fernbeziehung, getrennt durch den Atlantik, kam für ihn nicht infrage. So was ging selten gut. Als Mark bewusst wurde, welchen Gedanken er hinterherhing, schüttelte er den Kopf.

Fernbeziehung? Mein Gott, ich kenne sie gerade einmal ein paar Stunden. Und zu einer Beziehung gehören schließlich zwei. Gut möglich, dass sie einen Freund hatte.

Darüber hatten sie überhaupt nicht gesprochen. Möglicherweise würde sich dazu eine Gelegenheit ergeben. Immerhin hatte er Rachel einen Weg aufgezeigt, wie sie ihre Story doch noch schreiben konnte. Sobald sich Gabor bei ihm gemeldet hatte, würde er sie anrufen. Das wäre morgen. Am Montag. Am Tag der Beerdigung seiner Mutter.

Aber das war nicht der Grund für seine Unruhe. Es war etwas, das Rachel gestern gesagt hatte.

Hast du dich jemals gefragt, wer der wahre Mörder ist?

Er musste zugeben, dass er sich mit dieser Frage niemals beschäftigt hatte. Hatte er jemals geglaubt, sein Vater wäre ein Mörder? Nein. Aus welchem Grund hatte er nicht den nächsten Schritt gemacht? Wenn er es nicht gewesen war, wer dann? Es wäre nur logisch gewesen, diese Frage zu stellen. Nur wem? Seine Mutter und Schwester ließen sich sehr schnell davon zu überzeugen, dass sein Vater schuldig war. Die Polizei war sich von Anfang an sicher, den Täter gefasst zu haben. Und als alle Beteiligten spürten, dass Mark anders dachte, sah er sich heftigen Attacken von Mutter und Schwester ausgesetzt.

Was also hätte er tun sollen?

Mark war kein Ermittler. Er wüsste überhaupt nicht, wo er ansetzen sollte. Er hätte vielleicht einen Privatdetektiv engagieren können, auf die Gefahr hin, an einen falschen zu geraten, der ihn nur über den Tisch zog. Egal, er hätte wenigstens etwas unternommen.

Ohne es wirklich zu bemerken, lief er seit geraumer Zeit über feinen Sand, da er den Elbstrand erreicht hatte.

Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es Zeit war, zu Conny zu fahren. Er schrieb ihm eine Nachricht, dass er aufbrechen würde.

Kurz darauf klingelte sein Handy.

»Wo steckst du gerade?«, wollte Conny wissen.