Der Pfad seiner Hölle - Anita Wolf - E-Book

Der Pfad seiner Hölle E-Book

Anita Wolf

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Beschreibung

Allein und verflucht, verschlägt es Lachlan auf eine winzige Insel. Deren Bewohner ahnen nicht, wer da eigentlich an ihren Strand gespült worden ist und heißen ihn herzlich willkommen, was ihn fast mehr aus der Fassung bringt als das mysteriöse Wesen, das auf der Insel residiert und noch eine Rechnung mit ihm offen hat. Am Ende bleibt Lachlan nichts anderes übrig, als sich den Geistern der Vergangenheit und sich selbst zu stellen. Im fünften Teil der Hexenjäger wird Serienschurke Lachlan mit den Konsequenzen seiner Taten konfrontiert, wobei sowohl er als auch die Leser erfahren können, warum er so wurde, wie er ist. Willkommen in Euboa! Hier gibt es keine Prophezeiungen, keine epischen Schlachten und kein uraltes Böse. Keine Orgien, keine Massaker und keine Menschenverachtung. Dafür reichlich Charakterzeichnung, Witz und Hirn, vor dem Hintergrund alter Mythen - für Leser, die sich nach etwas anderer Fantasy sehnen. Lesbar für alle, die mental und emotional älter als Zwölf sind.

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anita Wolf lebt mit ihren zwei Katzen in Berlin und schrieb ihr erstes Buch, weil sie nicht die Geduld hatte, die Geschichte als Comic zu zeichnen.

Inhaltsverzeichnis

Textbeginn

ANHANG

ZUR AUSSPRACHE

GLOSSAR

ÜBER DIE ALTEN

ÜBER DIE ERSTEN VÖLKER

ÜBER ANDERSWELTEN

ÜBER MAGIE

Einige Zaubersprüche und Magiearten:

ÜBER ECHOS, GEISTER UND LEBENSECHOS

Anmerkung zur keltischen Mythologie

ÜBER ARAWN

ÜBER LLYR UND DIE MORRIGAN

DIE HEXENJÄGER

Weitere Informationen

Das Schiff kippte im lebhaften Seegang abrupt zur Seite. Lachlan schwankte, stieß gegen die Reling und musste sich am Tauwerk festhalten, um nicht über Bord zu gehen. Er schnappte nach Luft. Es war für ihn noch immer unbegreiflich, dass körperliche Aktivität so anstrengend sein konnte.

„Da ist er! Fangt den Hexer!“

Lachlan fuhr herum. Durch die nächtliche Dunkelheit drang das Licht einer Laterne, die die Seemänner mit an Deck gebracht hatten. Er war es leid, vor ihnen zu fliehen.

„Zum letzten Mal, ich bin kein Hexer!“

„Ha!“ spie der erste Maat. „Das sagen sie alle!“

„Wenn ich ein Hexer wäre, denkt ihr, ich würde mir das hier gefallen lassen?“

„Er hat es zugegeben! Er droht uns! Ermorden will er uns in unseren Betten!“

Lachlan wurde die Sache zu dumm. Er konnte die hysterische Bande nicht einfach über Bord werfen, weil er keine Ahnung hatte, wie man ein Schiff dieser Größe steuerte, zumal das alleine wohl auch gar nicht möglich wäre. Er würde hier festsitzen, irgendwo auf dem Meer zwischen Goidelia und Kelld. Da sah er in der Ferne ein schwaches Schimmern, kleine goldene Punkte mehrerer sanfter Lichtquellen. Lachlan kniff die Augen zusammen. Erleuchtete Fenster! Das hieß, Land war in der Nähe, und bewohntes Land zudem. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Er sprang auf die Reling, sein schwarzes Haar bauschte sich dramatisch im Wind.

„Ich verfluche euch!“ schrie er mit anklagendem Zeigefinger der Meute entgegen, nur so als Abschiedsgruß. „Mögen eure Ernten verfaulen und eure Leisten erschlaffen!“

Die Seemänner fuhren entsetzt zurück, allein der neunmalkluge Koch quäkte dazwischen: „Seeleute haben keine Ernte!“

„Du weißt, was ich meine“, raunzte Lachlan, dann pfiff er laut, und die Tiefen des Schiffes spien ein großes, pechschwarzes und vor allem wütendes Pferd hervor.

„Sein Hexentier!“, kreischte der Maat.

Namenlos lief ohne zu zögern zur Reling und sprang in hohem Bogen über Bord, fast zeitgleich folgte sein Herrchen nicht minder elegant und bedachte die versammelte Runde dabei noch mit einer beleidigenden Geste - eine Szene, die den Seeleuten genug Material für Generationen von wilden Geschichten liefern würde.

Lachlan traf mit den Füßen zuerst in das eiskalte Wasser, was den unangenehmen nächsten Teil ein wenig hinauszögerte. Prustend tauchte er aus den dunklen Fluten auf, froh, seinen schweren Ledermantel zuhause gelassen zu haben. Der Mond erbarmte sich, brach durch die Wolken und zeigte ihm in annehmbarer Entfernung einen kleinen Streifen hellen Sandstrand. Er kämpfte sich verbissen durch die Wellen darauf zu, schimpfte dabei im Geiste über seinen menschlichen Körper und dessen erbärmliche Schwäche. Namenlos schwamm so gelassen neben ihm her, als ginge er regelmäßig nachts im kalten Meer baden. Langsam wurden Lachlans Arme schwer, aber da war das rettende Ufer schon in greifbarer Nähe. Er atmete erleichtert auf. Mit einem Ruck wurde er unter Wasser gezogen. Er verstand nicht, was los war und gurgelte erschrocken. Es dauerte einen verwirrten Moment lang, bis er erkannte, dass sich sein Messergurt am emporragenden Ast eines versunkenen Baumes, oder mehr, dem verrotteten Rest davon, verhakt hatte. Er strampelte und zerrte, kam aber nicht los. Seine Lungen fingen an zu brennen und sein Kopf zu dröhnen. Er entschied sich für die einzige Möglichkeit, friemelte kurz hektisch am Verschluss herum, dann öffnete sich der Gurt und er war frei. Erlöst strebte er der rettenden Oberfläche entgegen, während seine Messer am toten Baum hängenblieben, als verwehrte dieser Bewaffneten den Zutritt zu seiner Insel.

Japsend kroch Lachlan an den Strand und sackte dort zusammen. Namenlos trat würdevoll aus den Fluten wie eine formgewandelte Gottheit und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.* Er trottete hinüber zu der ehemaligen Todesfee und stupste ihn mit der Schnauze an.

„Ist ja gut“, ächzte Lachlan und stemmte sich auf. Er drehte sich herum und sah das Licht der Hecklaterne des Schiffes, von dem er eben geflohen war, langsam in der Dunkelheit verschwinden. Ärgerlich, dass er die Hälfte der Passage schon im Voraus bezahlt hatte.

Einen Moment lang blieb er mit angezogenen Knien am Strand sitzen, um wieder zu Atem zu kommen, doch dann ließ der Adrenalinschub nach und die Kälte kroch schneidend durch seine durchnässten Kleider. Er seufzte und stand widerwillig auf.

„Na schön. Dann lass uns mal was Trockenes für die Nacht finden.“

Namenlos hatte nichts dagegen und kam brav hinterher. Lachlan fand einen offenbar regelmäßig benutzten, schmalen Pfad, der in den hier eher lichten Wald führte. Sie folgten ihm ein Weilchen, bis der Weg plötzlich breiter wurde, aus den Bäumen herausreichte und in sichtbarer Entfernung zu der Hauptstraße eines Dorfes wurde. Ohne den Schutz der Bäume bemerkte Lachlan, dass es leicht angefangen hatte zu nieseln, aber er war ja ohnehin schon nass. Sobald sie die ersten Häuser erreichten, verlangsamte er seinen Gang und sah sich wachsam um, eine Hand wanderte automatisch zu seinem Messergurt und fand nur Leere. Lachlan gab es nicht gern zu, aber ohne ihn fühlte er sich gewissermaßen nackt und verletzlich. Obwohl hier und da noch ein paar Lichter glommen, war kein Mensch auf der Straße, unvorstellbar zuhause in Burgh. Er spürte einen kleinen Stich von Heimweh, als er das dachte. Er hatte mehrere Monate auf Goidelia verbracht, jedoch ohne die erhoffte Lösung für seine Probleme zu finden.

Schließlich entdeckte er, was er suchte; ein kleines Gasthaus an der Hauptstraße, offenbar auch das einzige hier. Hinter den rautenförmig unterteilten Fensterscheiben schien noch Licht, doch es musste bereits nach der Sperrstunde sein.

Lachlan seufzte und wandte sich an Namenlos. „Warte kurz hier. Ich schicke dir jemanden raus. Beiß ihn nicht.“

Namenlos schnaubte großmütig, und sein Herrchen drückte probeweise die Klinke der Eingangstür herunter. Sie war nicht verschlossen, also trat er ein. Vor ihm lag ein länglicher, nicht übermäßig großer Schankraum, an dessen Ende sich der Bartresen erstreckte. Rechts daneben stand in einer Nische ein zierliches Klavier am Fenster, drei Türen befanden sich hinter dem Tresen und links daneben auf dem kleinen Flur, der parallel zur Treppe verlief. Der Raum war leer, nur auf einem der Barhocker saß ein junges, schwarzhaariges Mädchen und hob den Blick von ihrem Buch, als er hereinkam.

„Wasserpferd!“ rief sie erschrocken.

Lachlan drehte sich suchend um, aber sie meinte tatsächlich ihn. „Ich bin kein Wasserpferd.“ Erst ein Hexer, jetzt das, was kam als nächstes?

„Ha!“, machte sie spöttisch. „Versuch es erst gar nicht! Man hat mir beigebracht, wie ich mit schönen, nassen Männern umzugehen habe!“

Er ließ diesen Satz kurz nachwirken, und sie wohl ebenfalls, denn ihre Ohren wurden rot. „Ich bin wirklich kein Wasserpferd. Ich bin über Bord gegangen.“

„Ah“, machte sie, halb erleichtert, halb enttäuscht.

Ein großer, bärtiger Mann mittleren Alters kam aus einer der beiden hinteren Türen, ein Geschirrtuch in der Hand, um den kräftigen Körper eine Schürze mit Röschenmuster gebunden. Er hatte die Aura eines lieben alten Zirkusbären an sich.

„Was ist denn los hier?“, fragte er in dem gleichen Singsang, in dem das Mädchen gesprochen hatte. Lachlan erkannte diese Redeweise; er musste sich wohl irgendwo auf einer der Inseln vor Lyddwyr Wfnyth* befinden.

„Wir haben einen Schiffbrüchigen“, erklärte das Mädchen.

„Oh“, sagte der Bärtige. Er warf kaum einen Blick auf Lachlan, sondern wandte sich Richtung Treppe und schrie: „Enid!“

Lachlan wusste nicht, wer Enid war, aber es klang so, als ob sie hier das Sagen hatte. Schnell schob er ein: „Mein Pferd steht draußen. Könnte jemand...?“

Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. „Aber natürlich. Das arme Tier ist auch schiffbrüchig?“

„Äh, ja.“

Eine Frau von natürlicher Robustheit kam die Treppe hinunter. Sie sah dem Mädchen ähnlich und war etwa im gleichen Alter wie der Mann. „Was ist denn, Dai?“ fragte sie ihn.

„Wir haben einen Schiffbrüchigen. Ich muss mich erstmal um sein Pferd kümmern.“ Damit verschwand Dai zur Haustür hinaus.

Enid stemmte die Arme in die Hüften und musterte ihren Gast einmal kritisch von oben bis unten. „Klatschnass, du Armer! Warte kurz.“ Sie verschwand den kleinen Flur hinunter, öffnete dort eine Schranktür, die Lachlan nicht sehen konnte und kramte nach etwas. Er tauschte einen unbehaglichen Seitenblick mit dem Mädchen, das ihn neugierig beobachtete. Enid kam zurück, ein Bündel Kleidung über dem Arm. „So, du kannst den alten Schlafanzug von meinem Exmann anziehen, der war auch eher schlank. Allerdings doch etwas kleiner als du.“

Lachlan sah schon aus der Ferne, dass ihm dieser Schlafanzug zu kurz sein würde.

Enid schob die Tür links neben dem Tresen auf. „Hier kannst du dich umziehen, der Ofen ist noch warm.“

„Danke.“

Sie legte den textilen Haufen auf den kleinen Tisch, der im Zimmer stand und bedachte Lachlan mit einem strahlenden Lächeln, das ihre Augenpartie in Falten legte. „Ich mache dir einen Tee. Die See ist eiskalt zurzeit.“ Im Vorbeigehen meinte sie zu dem Mädchen: „Geh ins Bett, Gracie.“

„Gleich“, maulte die nur.

Lachlan verschwand in dem kleinen Wohnzimmer. Außer dem Schlafanzug hatte ihm Enid auch zwei Handtücher dagelassen. Langsam rieb er sich die Haare trocken. Die Leute waren erschreckend nett. Normalerweise ermüdeten ihn solche Menschen; er fand sie entweder langweilig und einfallslos oder unterstellte ihnen selbstsüchtige Hintergedanken. Zum ersten Mal nahm er Hilfsbereitschaft einfach als solche hin, er verspürte sogar eine gewisse Erleichterung aufgrund ihres Verhaltens - er war dankbar für ihre Hilfe, weil er Hilfe brauchte, und das enttäuschte ihn irgendwie.

Es klopfte.

„Ja?“

Dai steckte seinen Kopf ins Zimmer. „Hallo, ich bringe dir nur meinen alten Morgenmantel. Er hat einen Riss an der Seite, ist aber schön warm.“

„Danke.“

„Dein Pferdchen steht trocken und behaglich im Stall und frisst was gegen den Schrecken. Ein bildschönes Tier. Würde mich nicht wundern, wenn da ein Tropfen Feenblut drin wäre.“

Dai gehörte zu den Leuten, die Tiere mit Begeisterung liebten und respektierten. Hätte ihm Lachlan erzählt, dass er sich eben um ein echtes, reinrassiges Feenpferd gekümmert hatte, der große Mann hätte wohl einen Schock erlitten.

Also meinte er nur leichthin: „Das kann schon sein. Aber sag ihm das nicht.“

Dai grinste und legte den Morgenmantel über einen Stuhl.

„Dann lass ich dich dich in Ruhe umziehen. Häng die nassen Sachen einfach über die Leine beim Ofen.“ Er zog die Tür hinter sich zu.

Lachlan seufzte leise, dann fing er an, seine Weste aufzuknöpfen.

Als er etwas später in dem zu kurzen Schlafanzug und dem zu großen Morgenmantel mit dem langen Riss an der Seite in die Küche trat, kam er sich ziemlich dämlich vor, aber die versammelte Familie stutzte für einen Moment und fragte sich, warum ihr altes Zeug an ihm plötzlich wie raffinierte Modekreationen wirkte.

Enid deutete auf einen freien Stuhl. „Setz dich.“

Lachlan nahm Platz und Enid stellte ihm einen Tee hin und sie alle der Reihe nach vor. „Also, ich bin Enid, das ist meine Tochter Gracie, und das mein Mann Dai.“

„Zweiter Mann“, ergänzte Dai schmunzelnd.

„Lachlan.“

„Oh, du bist aus dem Norden?“, fragte Enid erfreut.

„Ja, aus Burgh.“

„Prächtige Stadt“, meinte Dai. „Und du bist über Bord gegangen? Hat das denn niemand gemerkt?“

Lachlan fand es zu kompliziert, sich extra Lügen auszudenken. „Doch. Ich bin ja von Bord gesprungen, weil sie auf mich losgegangen sind.“

„Oje“, machte Enid und warf einen schnellen Blick zu Gracie, unsicher, ob dieses Thema auch für junge Ohren angemessen sei, aber die hörte begeistert zu, vor allem, weil sie sich jetzt schon dreimal der Anweisung widersetzt hatte, ins Bett zu gehen. „Wie kam es denn dazu? Wollten sie dich ausrauben?“

„Nein, sie dachten, ich sei ein Hexer.“

Gracie strahlte, Dai zuckte nur mit den Schultern. „Ah, Seeleute.“

„Warum dachten die das?“ fragte seine Stieftochter nach.

„Ich bin mir nicht sicher. Es hat wohl nicht geholfen, dass ich mit meinem Pferd gesprochen habe.“

„Dai spricht auch mit den Pferden, aber niemand denkt, er sei ein Hexer“, widersprach Gracie.

Dai zwinkerte. „Ja weißt du, ich bin dafür nicht der richtige Typ“, und das Mädchen kicherte leise.

„Warst du auf dem Weg zurück von Goidelia?“ erkundigte sich Enid.

„Ja. Wo bin ich hier?“

„Du bist auf Ynys Unman. Wir sind eine kleine Insel vor Lyddwyr Wfnyth.“

„Wirklich? Meine Mutter war eine Lyddwyr, aber von dieser Insel habe ich noch nie gehört.“

„Ach, wir sind so klein und unbedeutend, dass wir auf den meisten Karten einfach vergessen werden. Daher auch der Name.“*

„Verstehe“, murmelte Lachlan und trank von seinem Tee. Merkwürdig, dass die Seeleute ausgerechnet genau vor dieser winzigen Insel durchgedreht waren. Wie standen die Chancen?

„Du wirst sicher müde sein nach alldem“, sagte Enid. „Du schläfst dich schön aus und morgen sehen wir dann weiter. Und du gehst jetzt endlich ins Bett, Gracie.“

Offenbar war das die Formulierung, die das Ende der mütterlichen Geduld verkündete, also erhob sich Gracie widerwillig und schlurfte aus der Küche wie ein altes Pferd, das seinen letzten Gang zum Schlachter antrat.

Enid schnaufte leise. „Ja, in dem Alter fangen sie an, schwierig zu werden. Aber dann macht’s peng und sie sind erwachsen. Na komm, ich zeige dir dein Zimmer.“

Kurz darauf stand Lachlan in der Mitte eines einfachen, aber gemütlichen kleinen Schlafzimmers und sah sich flüchtig um. Er war plötzlich furchtbar müde, das Bett schien geradezu nach ihm zu rufen.

Enid bemerkte das und entließ ihn ohne unnötige Verzögerungen. „Gute Nacht dann. Bis morgen.“

„Gute Nacht. Danke“, hängte er aus irgendeinem unvertrauten Reflex noch an.

Sie bedachte ihn mit einem mütterlichen Lächeln und zog die Tür zu.

Lachlan ließ sich auf das Bett fallen und bekam noch vage mit, wie er sich automatisch zudeckte, dann war er schon eingeschlafen.

Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und schickte zielsicher einen ihrer Strahlen durch das Fenster genau auf Lachlans Gesicht. Er murrte leise, hob die Hand, um das Licht abzuschirmen und öffnete die Augen. Er starrte die rustikale, verputzte Decke mit ihren dunklen Holzbalken an und hatte einen Moment lang keine Ahnung, wo er sich überhaupt befand. Als es ihm wieder einfiel, murrte Lachlan erneut und rieb sich über das Gesicht. Er kämpfte sich unter dem bauschigen, schweren Bettzeug hervor und trottete zum Fenster, das er gähnend öffnete. Frische Morgenluft wehte ihm entgegen, von irgendwo in der Ferne kam das Kreischen der Küstenmöwen. Unten auf der Straße vor dem Fenster stand ein Grüppchen schwatzender Leute, die ihre Unterhaltung abrupt unterbrachen, sobald sie seine Gegenwart bemerkten, wie eins die Köpfe drehten und zu ihm hinaufstarrten. Lachlan starrte etwas ratlos zurück. Schließlich hob er kurz die Hand, Gruß und Verabschiedung in einem, und trat vom Fenster fort. Sofort steckten die Leute wieder ihre Köpfe zusammen und fingen aufgeregt an zu flüstern. Er fuhr sich durch die Haare. Wer wusste schon, wann die hier das letzte Mal einen Fremden im Dorf gehabt hatten. Es klopfte.

„Ja?“

Die Tür öffnete sich und Dai schaute herein. „Oh, gut, du bist schon wach. Ich bringe dir einen Tee.“

„Äh, danke.“

Dai kam ins Zimmer und stellte das Frühstückstablett, das weit mehr als Tee enthielt, auf dem kleinen Schreibtisch ab. Er zwinkerte verschwörerisch. „Zur Stärkung nach dem Unglück. Enid sagt, du musst schön essen, sonst wirst du zu dünn.“

Lachlan zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Es war das erste Mal, dass er sowas zu hören bekam. „Ach? Sagt sie das zu vielen Leuten?“

Dai lachte leise. „Na, zu mir nicht.“

Gracie kam unangemeldet ins Zimmer, einen Stapel Kleidung auf dem Arm, ein Paar Stiefel in der Hand.* „Ich bring dir deine Sachen. Sind alle wieder trocken.“

„Danke, Gracie, aber man betritt ein Zimmer nicht, ohne zu klopfen“, tadelte Dai sacht.

Sie hob ihre vollen Hände. „Wie denn?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ja, ja.“ Das Mädchen legte den Kleiderstapel aufs Bett und stellte die Stiefel davor. Sie bedachte sie mit einem ehrfürchtigen Blick. „Ich wünschte, ich hätte so schicke Sachen.“

„Kannst du dir gerne alles kaufen, wenn du in Lachlans Alter bist und für dich selber sorgst, aber bis dahin reicht das, was du von uns bekommst.“

Gracie rollte mit den Augen, eine Geste, die diese Bemerkung in die Schublade Elterngeschwätz sortierte. Von unten rief Enid nach Dai, also wandte er sich zum Gehen. „Komm Gracie, lass unseren Gast sich in Ruhe fertig machen.“

„Gleich“, versuchte Gracie und hatte Erfolg mit dieser Standardantwort, denn Dai verschwand die Treppe hinunter, um in Erfahrung zu bringen, was seine Frau von ihm wollte. Kaum war er weg, verzog Gracie das Gesicht. „Er tut, als ob ich ein Kleinkind wäre. Dabei bin ich schon fast erwachsen.“

„Wieso, wie alt bist du?“ fragte Lachlan verwirrt.

„Zwölf, seit zwei Monaten.“

Er lachte leise und winkte ab. „Alles klar.“

Gracie fand sein nettes Lachen sehr erfreulich, war aber gleichzeitig auch ein wenig eingeschnappt, weil er ihren fortgeschrittenen Alterungsprozess nicht angemessen würdigte. Sie lief rosa an und hob trotzig den Kopf. „Wie alt bist du denn?“

„765 im November.“

Sie stutzte und starrte ihn an, wollte etwas sagen, runzelte dann aber wieder die Stirn und musterte ihn erneut; versuchte, sein Alter einzuschätzen und konnte es nicht. Von unten rief jemand nach ihr; Enid, da reagierte sie besser gleich drauf. Sie schnaufte. „Sehr witzig“, tat sie Lachlans Bemerkung ab und lief die Treppe hinunter.

Er seufzte leise und schloss die Tür, die sie hatte offenstehen lassen. Früher hätte niemand seine Altersangabe infrage gestellt. Sah er jetzt so menschlich aus? Er trat vor den kleinen Spiegel über der Kommode und musterte sich kritisch. Ja, die Haare fingen an, etwas wild auszusehen, die müsste er wirklich mal wieder schneiden. Seine Haut war nicht mehr so unwirklich blass und makellos wie früher, das machte einen ziemlichen Unterschied - er erkannte sogar einen kleinen Kratzer auf der Wange, den er sich wohl irgendwann in der letzten Nacht geholt haben musste. Er berührte den dünnen Schnitt skeptisch, nicht daran gewöhnt, dass Verletzungen nicht sofort wieder verheilten. Mit dem leichten Dreitagebart konnte er sich auch nicht anfreunden, er hatte Bärte immer als albern empfunden, aber da sich sein Haarwuchs auf diese Kürze beschränkte, nahm er es so hin; er würde sich bestimmt nicht jeden Morgen hinstellen und rasieren. Womit er wirklich Probleme hatte, war seine neue, leicht grünlich-dunkelgraue Augenfarbe. Er sah nicht gerne hin, so fremd erschien sie ihm.

Sein Magen knurrte klagend. Noch so ein Ärgernis; Menschen mussten andauernd essen. Immer nur essen, trinken, schlafen, sich dauernd waschen; kein Wunder, dass ihnen keine Zeit blieb, sich zu zivilisieren. Er wollte so schnell wie möglich weg von dieser Insel und irgendeinen Weg finden, den Fluch rückgängig zu machen. Auf Goidelia hatte er damit zwar keinen Erfolg gehabt, aber er würde diesen jämmerlichen Zustand nicht länger als unbedingt nötig hinnehmen. Lachlan seufzte und biss lustlos in den nur noch lauwarmen Toast, den Dai ihm gebracht hatte.

Als er etwas später fertig die Treppe herunterkam, saß Gracie wieder am Bartresen und las. Sie hob den Kopf und musterte wohlwollend Lachlans Aufmachung, runzelte aber die Stirn, als sie sein Gesicht betrachtete. Sie überlegte immer noch, ob er wegen seines Alters einen Scherz gemacht hatte.

„Musst du nicht zur Schule oder sowas?“ fragte er.

„Heute ist Samstag.“

„Ah“, machte er geschlagen und stellte sein Frühstückstablett auf dem Tresen ab.

Enid kam aus der Küche und trocknete sich gerade die Hände. Sie strahlte, als sie das Tablett sah. „Oh, ein ordentlicher Gast, Dankeschön.“

Lachlan hatte gar nicht darüber nachgedacht, ob das ordentlich war oder höflich oder was auch immer. Er war nur daran gewöhnt, seinen eigenen Dreck auch selbst wegzuräumen, egal, woraus der auch bestehen mochte. „Ich wollte zum Hafen runter und mich erkundigen, wann das nächste Schiff fährt.“

Enid warf sich ihr Geschirrtuch über die Schulter. „Hm, da wirst du wohl kein Glück haben.“

„Wie meinst du das?“

„Je nach Jahreszeit verhalten sich die Meeresströmungen hier sehr unterschiedlich. Jetzt werden sie unberechenbar. Deswegen legt die gesamte Schifffahrt der Insel jedes Jahr eine Pause ein.“

„Sie nennen das Llyrs Ruhe“, sagte Gracie.

„Wie, du meinst, es besteht dann kein Schiffsverkehr zwischen hier und dem Rest der Welt?“

„Genau.“

„Aber ich bin doch gestern noch ganz dicht hier vorbeigefahren!“

„Es beginnt heute. Ab jetzt werden alle Schiffe einen Bogen um die Insel machen und von hier wird keins mehr ablegen, tut mir leid.“

„Das gibt’s doch nicht! Wie lange dauert diese Ruhe?“

„Drei Monate.“

„Drei...!“ Lachlan fuhr sich über das Gesicht. „Kann ich mir nicht einfach irgendwo ein Boot leihen und alleine fahren?“

„Auch wenn du gut mit Booten umgehen kannst, die Strömungen sind so unberechenbar, dass ich dir nur abraten kann. Du könntest sonst wo landen, wenn das Boot es denn übersteht.“

„Aber dir würde wohl auch keiner eins überlassen“, warf Dai ein, der irgendwann dazugekommen war. „Seeleute sind abergläubisch und nehmen Llyrs Ruhe sehr ernst. Du könntest sie beleidigen, wenn du danach fragst.“

„Ich versuche es trotzdem.“

„Viel Glück“, meinte Dai. „Zum Hafen musst du einfach nach rechts und die Straße weiter bis zum Ende.“

„Danke.“ Lachlan schnaufte, drehte sich um und verließ das Gasthaus.

„Er will wirklich schnell wieder weg hier“, bemerkte Enid nachdenklich.

„Kannst du es ihm nachsehen?“ antwortete Dai. „Wer weiß, was alles auf ihn wartet zuhause in Burgh?“

„Ob er Kinder hat?“

„Glaub ich nicht.“

„Für wie alt haltet ihr ihn?“ fragte Gracie plötzlich dazwischen.

„Bitte?“

„Wie alt. Wie alt denkt ihr ist er?“

„Och“, machte Dai. „Ich würde sagen, so sechsunddreißig... hm… vielleicht auch erst neunundzwanzig... nein, eher auch schon Mitte Vierzig… oder...?“ Er stockte. „Komisch. Ich kann es wirklich nicht schätzen. Er wirkt jung und alt zugleich.“

„Er hat mir gesagt, er sei über siebenhundert Jahre alt.“

„Oh, Schatz, da wird er sich einen Spaß mit dir erlaubt haben“, meinte Enid. „Er ist ein Mensch, so alt kann er nicht sein.“

„Irgendetwas ist sonderbar an ihm“, beharrte Gracie.

Enid und Dai wechselten einen Blick. Für sie schienen es nur sehr menschliche Dinge zu sein, die das Mädchen an ihm verwirrten, und kein tatsächliches Mysterium.

Dai klopfte ihr sacht auf die Schulter. „Na, schauen wir mal. Vielleicht hat er ja Glück und findet jemanden, der ihn übersetzt, dann musst du dir keine Gedanken mehr um ihn machen.“

Lachlan hatte kein Glück. Im Gegenteil. Die Seeleute, die nicht nur gelacht hatten, als er sie nach einer Überfahrt fragte, reagierten ziemlich dünnhäutig, bei manchen hatte er das Gefühl gehabt, sie würden gleich mit dem Finger auf ihn zeigen und laut Ketzer! kreischen, also hatte er es aufgegeben. Er musste sich eingestehen, dass er die Überfahrt, selbst wenn er ein Boot in die Finger bekäme, alleine nicht bewältigen könnte. Er verstand kaum etwas von diesen Dingen, und die Sache war zu riskant. Zum ersten Mal wünschte er sich, der Nordmann wäre da.

Mürrisch stapfte er die Dorfstraße hinauf. Ihm entging nicht, dass ihn die Dörfler anstarrten, wenn er vorbeikam. Für Lachlan war es zwar nichts Neues, Aufmerksamkeit zu erregen und angesehen zu werden, aber das waren immer Blicke voll Bewunderung und Ehrfurcht gewesen, und nicht dieses stupide Gegaffe, das er jetzt bekam. Früher hatten die Leute demütig den Blick gesenkt, sobald er ihn erwiderte, und nicht mit offenem Maul weitergeglotzt wie hier. Er musste es zugeben; er hatte nicht mehr die gleiche Wirkung auf andere.

Hinter ihm ertönte ein langgezogener, anzüglicher Pfiff. Er wandte sich stirnrunzelnd um und entdeckte eine Traube junger Mädchen, nur wenig älter als Gracie. Wild kichernd versuchte jede, sich hinter den jeweiligen Freundinnen zu verstecken. Lachlan hob die Augenbrauen, sowas hatte er noch nicht erlebt. Und da es seine Laune immer hob, wenn ihn die Leute überraschen konnten, grinste er schief, breitete die Arme aus und verbeugte sich schwungvoll vor den jungen Damen, deren Kichern sich daraufhin fast bis zur Hysterie steigerte. Sie versuchten so sehr, sich hintereinander zu verstecken, dass sie quietschend übereinander fielen und als verkeilter Haufen auf dem Boden endeten, woraufhin sie nur noch mehr lachen mussten. Zufrieden drehte sich Lachlan auf dem Absatz um und setzte seinen Weg fort.

Als er wieder in den Schankraum trat, war nach wie vor die gesamte Familie anwesend, wenn auch auf anderen Positionen. Enid steckte den Kopf aus der Küche, Dai hörte auf, den Tresen zu wischen und Gracie klappte ihr Buch zu und erhob sich von den Treppenstufen, auf denen sie gesessen hatte.

„Und?“ fragte Enid.

„Kein Glück gehabt. Ich komme hier so schnell nicht wieder weg.“

Gracie entwischte ein Lächeln, das sie schnell verbarg.

Lachlan fuhr sich durch die Haare und fragte mehr sich selbst: „Was mache ich jetzt?“

„Darüber haben Enid und ich schon nachgedacht“, antwortete stattdessen Dai. „Du wirkst, als ob du dich ganz gut zur Wehr setzten kannst, ist das richtig?“

Lachlan sah ihn fassungslos an. Nie zuvor hatte man gemeint, ihn das erst fragen zu müssen. „Ja... ich komm ganz gut damit klar.“

Dai nickte zufrieden. „Wunderbar. Weißt du, wir könnten hier jemanden gebrauchen, der uns ein bisschen mit dem Geschäft hilft. Auch gerade mit den, nun ja, schwierigen Gästen.“

„Früher hat sich Dai darum gekümmert, aber sein Rücken macht da einfach nicht mehr mit“, erklärte Enid. „Deswegen folgender Vorschlag: Du hilfst uns abends hier in der Schenke, und dafür bekommen du und dein Pferd Kost und Logis, bis Llyrs Ruhe vorüber ist und du wieder nach Hause kannst. Wir würden dir natürlich auch ein kleines Taschengeld zahlen. Und Getränke nach Feierabend wären umsonst.“

„Ich trinke nicht“, meinte Lachlan perplex.

„Großartig“, sagte Dai erfreut. „Sehr hilfreich in diesem Beruf. Ich habe es mir auch abgewöhnt.“

Enid drückte stolz seine Hand und wandte sich wieder an

Lachlan. „Also, was meinst du?“

Er sah ratlos von einem Gesicht zum anderen. Er kam bei dieser Abmachung besser weg als sie. Das schien sie nicht zu stören. Er verstand nicht wirklich, warum sie ihm so halfen, aber er musste zugeben, diese Hilfe zu brauchen. Es wäre dumm, sie nicht anzunehmen. „Äh... in Ordnung?“

„Wunderbar“, wiederholte Dai. „Ich mache das hier schnell zu Ende, dann erkläre ich dir alles.“

„Setz dich so lang“, ermutigte ihn Enid und nickte Richtung des Bartresens.

Während sich Lachlan auf einen der Hocker klemmte, nahm Dai seinen Putzlappen und einen Besen, der an der Wand gelehnt hatte. Den hielt er Gracie hin. „Komm, zu zweit sind wir schneller fertig.“

Das Mädchen seufzte frustriert, nahm das Reinigungsutensil aber entgegen und verschwand mit ihrem Stiefvater ins obere Stockwerk.

Enid räumte kurz an der Bar herum, dann kam sie zu Lachlan und musterte ihn prüfend. Er erwiderte den Blick gewissermaßen skeptisch, darin die Frage, warum sie ihm, einem völlig Fremden, einfach so einen Platz unter ihrem Dach anbot. Enid interpretierte den Ausdruck richtig und lächelte dünn.

Sie neigte sich ein wenig zu Lachlan hin und meinte: „Weißt du, Dai sieht immer nur das Gute in den Menschen. Er denkt, Personen seien wie Tiere - dass, wenn man sie gut behandelt, sie einen ebenso gut zurück behandeln werden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du weißt, dass das nicht stimmt.“ Enid sah für einen Moment die Treppe hoch. „Für Dai war diese Erkenntnis sehr schwer zu verkraften. Deswegen bemühe ich mich, solch unangenehme Dinge nach Möglichkeit von ihm fernzuhalten. Bei mir bekommt jeder eine faire Chance, doch ist diese vertan, ist es vorbei. Dai denkt, ich sei zu hart in dieser Hinsicht, aber ich habe meine Gründe dafür. Ich kann niemandem raten, meine Familie in irgendwelche Schwierigkeiten zu bringen. Denn ich bin nicht so sanft und vergebungsvoll wie die beiden guten Seelen da oben. Verstehst du, was ich meine?“

Ihr Tonfall war die ganze Zeit ruhig und freundlich geblieben, aber Lachlan verstand in der Tat genau, was sie meinte. Enid war sehr wohl klar, dass sie nichts von Lachlan wussten, und dass es durchaus Probleme geben konnte, wenn man einen Wildfremden in sein Haus einlud, ganz zu schweigen von dem Einfluss, den er vielleicht auf ihre junge Tochter haben mochte, und dass sie nichts dergleichen dulden würde. Trotz ihrer warmen, offenen Art war Enid aufmerksam und konsequent, sie wusste, wie es in der Welt zuging.

Lachlan fand das faszinierend. Er nickte langsam. „Ich verstehe, dass nur ein kompletter Vollidiot sich mit dir anlegen würde, Enid.“ Er zwinkerte ihr zu. „Wie gut, dass ich keiner bin.“

Sie bedachte ihn mit einem kurzen, nachdenklichen Blick, dann zeigte sie wieder das strahlende Lächeln vom Abend zuvor. „Ich dachte mir, dass du das nicht bist.“

Etwas später stand Lachlan mit einer langen Kellnerschürze um die Hüften, die an ihm zu einem merkwürdig schneidigen Kleidungsstück wurde, im Schankraum und fegte den Boden. Wenn irgendjemand seiner alten Hexenjägerkollegen ihn so hätte sehen können, sie würden ihren Augen nicht trauen – außer Wolcod, der hätte wahrscheinlich gelacht. Als er die Ecke beim Klavier in Angriff nahm, sprang plötzlich eine riesige Katze auf den Tresen, setzte sich dort stolz und aufrecht hin und schlug elegant den puscheligen Schwanz über die großen Pfoten. Das Tier verfügte über eine beachtliche Masse an langem, tiefschwarzem Fell, nur auf der Brust prangte ein kleiner weißer, fast sternförmiger Fleck. Sie musterte Lachlan prüfend aus leuchtenden Augen, eines gelb, das andere blau. „Wir nennen sie die Morrigan“, sagte Gracie, die ebenso aus dem Nichts erschienen war wie die Katze. „Sie gehört nicht wirklich uns, aber sie schläft oft hier und wir dürfen sie füttern.“

Was das anging, erkannte Lachlan eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen sich selbst und dem Tier und hielt der Katze die Finger hin. Sie schnupperte neugierig, dann rieb sie begeistert ihren Kopf an seiner Hand.

„Das hat sie noch nie bei einem Fremden gemacht“, meinte Gracie erstaunt.

Lachlan nickte nur und kraulte das imposante Tier mit einer gewissen Vorsicht. Er war sich nicht völlig sicher, ob es sich bei ihr wirklich nur um eine normale Katze handelte. Früher hätte er das sofort erkannt, aber seitdem er fast die Hälfte seiner Sinne eingebüßt hatte, musste er sich auf den Verdacht beschränken. Die Morrigan beendete ihre Schmuseeinheit, starrte ihn noch einmal nachdrücklich aus ihren zweifarbigen Augen an und sprang vom Tresen, um wieder in den Schatten zu verschwinden, aus denen sie gekommen war. Lachlan wedelte sich die zurückgelassenen Haare von den Fingern und fegte weiter. Er stieß mit dem Besen gegen das kleine alte Klavier und sah auf. Das Instrument weckte Erinnerungen und leuchtete ihm in einem darauf fallenden Sonnenstrahl geradezu entgegen. Unwillkürlich strich er mit der Hand darüber.

„Kannst du spielen?“ fragte Gracie. „Mein Vater konnte es wohl, aber seit er weg ist, hat es kaum noch jemand benutzt.“ „Ich... konnte es mal.“

„Probier es aus!“ ermutigte sie ihn.

Wie gegen seinen Willen lehnte Lachlan den Besen an die Wand und sank auf den Klavierhocker. Er öffnete die Klappe über der Tastatur und schaute versonnen auf die schlichten weißen und schwarzen Tasten. Zögernd hob er die Hände. Er saß kurz nur so da, und Gracie beugte sich erwartungsvoll vor. Dann, als Lachlan eigentlich die Klappe wieder schließen wollte, fingen seine Hände fast wie von selbst an zu spielen, abrupt und in beachtlichem Tempo; den Stollen-Swing. Die Musik tönte durch das ganze Haus und lockte auch Dai und Enid zum Klavier. Als der letzte Ton der flotten Melodie verklang, schaute Lachlan ungläubig auf seine Hände, erstaunt, dass er das nach all den Jahren immer noch konnte.

„Das meinst du mit ‚ich konnte es mal‘?“ entfuhr es Gracie.

„Das war der Hammer!“

„Du bist sehr gut“, stimmte Enid zu. „Hättest du vielleicht Lust, abends mal für die Gäste zu spielen?“

Lachlan runzelte die Stirn und strich ernst über die Tastatur, stand auf und schloss sachte die Klappe darüber. „Mal schauen“, wich er aus. Er hatte plötzlich das Bedürfnis nach Einsamkeit und frischer Luft. „Wann öffnet die Schenke?“

„In drei Stunden.“

„Dann mache ich noch einen Spaziergang.“

„Sicher, tu das. Verlaufen kann man sich auf der Insel ja nicht, dafür ist sie zu klein“, scherzte Dai. „Bleib im Wald nur auf den Wegen.“

Lachlan nickte knapp, legte die Schürze über den Tresen, griff seine Lederweste und verließ ohne Umschweife das Gasthaus.

„Was hat er denn?“ fragte Gracie.

„Sensible Menschen sind manchmal einfach überlastet und brauchen etwas Ruhe“, erklärte Dai. „Und deshalb lässt du ihn schön alleine seinen Spaziergang machen.“

Gracie zuckte vermeintlich gleichgültig mit den Schultern und setzte sich mit ihrem Buch auf die Treppe. Doch statt zu lesen, wartete sie nur darauf, dass ihre Eltern wieder beschäftigt wären und nicht mehr auf sie achten würden.

Lachlan bog in straffem Tempo vom Gasthaus auf die Dorfstraße ab und hielt diese Geschwindigkeit, bis er die letzten Gebäude hinter sich gelassen und die große Wiese erreicht hatte, die Wald und Dorf voneinander trennte. Er wurde langsamer und fuhr sich durch die Haare. Ihm waren eben die Sinne eingestürzt, wie seine Mutter das genannt hatte, wenn ihr plötzlich alles zu viel wurde. Er schloss die Augen und ließ den Wind über sein Gesicht wehen. Hier draußen ging es ihm besser. Allein mit der Natur konnte er fast vergessen, was für eine jämmerliche Existenz er nun in dieser schwachen Form führen musste. Er verdrängte es ohnehin die meiste Zeit, so gut es ging. Er blieb kurz stehen, atmete einmal durch, straffte seine Weste und hatte sich wieder im Griff. Jetzt konnte er auch schauen, was es auf dieser dummen Insel noch so gab.

Lachlan wanderte den Weg entlang in den Wald hinein, bis er an eine Gabelung kam. Links musste es zu dem Strand gehen, an den er gestern Nacht gespült worden war, also wandte er sich nach rechts. Die Bäume wuchsen hier hoch und dicht, bildeten eine Art dunkles Dach über dem Weg und wirkten, als wollten sie die Leute, die unter ihnen umhergingen, einschüchtern und vertreiben. Der Baumtunnel endete abrupt, und vor Lachlan lag eine fast kreisrunde Lichtung, in deren Mitte sich ein grasbewachsener Hügel erhob. Auf dessen Kuppe ragte, von mehreren kleineren Steinen umgeben, ein langer, schmaler Monolith empor wie ein zu groß geratener Grabstein, auf dem undeutlich vor langer Zeit eingeritzte Linien und Spiralen zu erkennen waren. Lachlan wusste nicht, wieso, aber er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der Ort beunruhigte ihn.

„Sie nennen ihn den Feenhügel“, sagte Gracie so unvermittelt direkt neben ihm, dass Lachlan zusammenfuhr und leise fluchte. Er hatte nicht bemerkt, dass das Mädchen ihm gefolgt war.

„Wo kommst du plötzlich her?“, fragte er gereizt. „Öffnest du zwischendimensionale Portale?“

Gracie war stolz. „Ich habe einen leichten Gang, sagt Mam.“ Lachlan schnaufte, mehr verärgert über sich selbst, weil er sie nicht gehört hatte. Das Anschleichen war sonst seine Masche, er war es nicht gewohnt, dass das mit ihm gemacht wurde. Sein Blick wanderte unwillkürlich zurück zu der Lichtung. „Wieso Feenhügel?“

„Angeblich tanzen die Feen in Neumondnächten um den Stein.“

„Also, erstmal tanzen Feen, wenn überhaupt, dann in Vollmondnächten, und zweitens; wie sollten sie das machen, da ist doch kaum Platz.“

Gracie hob die Schultern. „Ich glaub’s ja auch nicht. Myfanwy* meinte, es kommt wohl eher daher, weil da ein antikes Grab oder ein Portal in die Anderswelt drunter ist.“ „Wer?“

„Unsere Dorfhexe.“

„Sowas habt ihr?“

„Naja, sie lernt noch. Aber sie hat in den Karten vorhergesehen, dass Allie Huw den Laufpass gibt.“

„Wahnsinn.“ Lachlan legte den Kopf schief. „Aber mit dem Tor könnte sie recht haben.“ Er machte Anstalten, den Hügel zu erklimmen.

„Willst du da etwa hoch?“, fragte das Mädchen erschrocken.

„Klar, wieso nicht?“

„Myfanwy meint, das sei respektlos.“

„Glaub mir, die Feen stört’s nicht.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Komm ruhig mit.“

Sie zögerte, dann aber versteckte sie ihre Hände unter den Achseln und schüttelte entschlossen den Kopf. Lachlan zuckte leichthin mit den Schultern und stieg den kleinen Hügel empor. Anscheinend wollte die Natur für die passende Stimmung sorgen; die Sonne hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt; es kam Wind auf und ließ die Bäume rundum rauschen, als regten sie sich über das Schauspiel auf, das ihnen hier geboten wurde. Lachlan kam vor dem Monolithen zum Stehen, der ihn etwa um anderthalb Köpfe überragte. Vorsichtig streckte er die Hand aus, stoppte aber einen Fingerbreit, bevor er ihn berührte, da er ein leichtes Spratzeln spürte, als sei der Stein elektrisch aufgeladen. Magische Energie.

„Fass das lieber nicht an“, rief Gracie von unten.

„Keine Sorge“, murmelte er und legte seine Finger über eine der eingeritzten Spiralen. Er bekam keinen Schlag. Nachdenklich fuhr er über die unebene Oberfläche und versuchte einzuordnen, was er dabei empfing. Wie machten Menschen das, mit derart unpräzisen Sinnen? Es war, als ob er im Dunkeln umhertappte und raten musste, wo die Treppe anfing. Plötzlich durchströmte ihn ein Eindruck; kurz, aber bestimmt. Lachlan überlegte verwirrt, woher er diese Energie kannte. Er zog mit einem Ruck die Hand vom Stein, als es ihm klarwurde.

„Weißt du was“, sagte er leise. „Ich denke, Myfanwy hat recht. Man sollte nicht hier hochkommen.“

Er stieg schnell den Hügel hinunter, fasste Gracie an der Schulter und schob sie mit sich zurück zur Grenze der Lichtung. Erst, als sie in den Schatten des Baumtunnels getreten waren, ließ er sie wieder los und ging langsamer.

„Was war da in dem Stein?“ fragte Gracie nach einer Weile.

„Ach“, tat er ab. „Nichts weiter. Es hat mich nur überrascht, dass ihr so etwas hier habt.“

Alte Magie hatte er im Monolithen gespürt, sehr alt und sehr stark. Das, und noch deutlicher, den Tod.

Als sie zurück zum Dorf kamen, deutete Gracie auf eines der Häuser an dessen Rand. „Da ist Myfanwy. Lass uns Hallo sagen.“

Mehr aus Mangel an Alternativen denn aus echtem Interesse kam Lachlan mit zu dem offenen Erdgeschossfenster, aus dem, zwanglos auf die Fensterbank gestützt, ein karamellblondes Mädchen kritisch das Dorfgeschehen beobachtete, während sie unablässig einen Stapel Karten in ihren Händen mischte. Sie war drei Jahre älter als Gracie und übertrieb es ein wenig mit den Accessoires; vier Ketten und ein Kropfband wanden sich um ihren schmalen Hals, allesamt behängt mit verschiedenen Kristallen. Neben ihr auf der Fensterbank lag zusammengerollt die Morrigan und würdigte die Ankunft der beiden dadurch, dass sie kurz ein Auge öffnete und dann weiterschlief.

Myfanwy hingegen lächelte dünn. „Hey, Gracie.“

„Hallo, Wy.“ Sie deutete auf ihren Begleiter. „Das ist Lachlan. Er ist aus Burgh.“

„Hey, Lachlan aus Burgh.“ Sie musterte ihn leicht spöttisch.

„Du musst der, wie Brenda es nannte, ‚superheiße Typ‘ sein, der über Bord gefallen ist.“

Er hob die Schulter und meinte trocken: „Wie könnte ich Brenda widersprechen?“

Myfanwy lachte heiser.

„Er ist aber nicht gefallen, sondern gesprungen“, korrigierte Gracie, die Brenda für eine dumme Kuh hielt. „Die Seeleute dachten, er sei ein Hexer.“

„Hm, das Gefühl kenne ich“, bemerkte Myfanwy. Sie fächerte routiniert in großer Geste ihren Kartenstapel auf und hielt ihn ihm hin. „Zieh eine.“

Umstandslos wählte er eine Karte aus.

„Aha! Das Spiegelgericht!“ Das Mädchen wedelte theatralisch-unheilvoll mit ihrer freien Hand. „Sei gewarnt! Bald musst du in dein wahres Antlitz blicken! Wagst du es, dich...“

„Myfanwy!“ unterbrach eine strapazierte Stimme von weiter hinten im Haus. „Ich habe dir doch gesagt, dass du dein Zimmer aufräumen sollst!“

Die Junghexe fuhr herum und rief zurück: „Ich hab gerade echt zu tun, Mam!“

„Du und deine Ausreden!“

„Ich mach es gleich, Mam!“

„Das will ich dir auch raten!“

Die Mutter schien vorerst besänftigt. Die Tochter drehte sich wieder nach vorn und hatte offenbar den Faden verloren. „Das Spiegelgericht steht für Selbstreflexion und innere Erkenntnis“, half ihr Lachlan unbeeindruckt und steckte die Karte nonchalant zurück in das Deck. „Meine Tante legte oft die Karten – sie konnte auch tolle Häuser damit bauen.“ Myfanwy ging es scheinbar mehr um die Abgrenzung von den anderen Dörflern denn um ernsthafte Hexerei. ‚Flitterhexe‘, nannten das die Profis. Er war sich nicht mal sicher, ob das Mädchen nicht bloß medial sensitiv war und keinerlei Form von Magie beanspruchte.

„Ich habe schon ein paar Hexen getroffen, und die talentiertesten haben nie eine Schau daraus gemacht.“ Er stupste Myfanwy leicht mit dem Zeigefinger gegen den großen Mondstein an ihrem Kropfband.

Sie wurde ein bisschen rot, streckte aber kämpferisch ihr Kinn vor. „Na schön. Du willst das richtig machen? Aber beschwer dich hinterher nicht.“ Sie setzte sich gerade hin, hielt den Kartenstapel Richtung Lachlan, schloss die Augen, mischte die Karten einmal schnell und zog dann entschlossen eine hervor. Sie betrachtete sie und wirkte etwas erschrocken.

„Das... ist der Herr der Toten.“

Lachlan zuckte leichthin mit den Schultern. „Meh. Den hab ich oft.“

„Aber – das ist eine wichtige Karte. Sie...“

„Myfanwy!“ rief wieder die Mutter, offenbar am Ende ihrer Geduld. „Zum letzten Mal!“

„Ja, ist ja gut! Ich komm ja schon!“ schrie ihre Tochter zurück. „Mach’s gut, Gracie.“ Sie zeigte nachdenklich mit dem Finger auf Lachlan. „Wir sprechen uns nochmal.“

Damit verschwand sie im Haus. Die Morrigan erhob sich, streckte sich ausgiebig und gähnte. Sie schien kurz zu überlegen, ob sie mit Gracie gehen wollte oder Myfanwy folgen, entschied sich dann aber gegen beides, sprang von der Fensterbank und schlug sich ins Gebüsch. Lachlan und Gracie gingen weiter.

Als sie ein paar Schritte schweigend zurückgelegt hatten, fragte das Mädchen: „Was bedeutet der Herr der Toten?“

„Ach, das Übliche. Erneuerung, Abrechnung, Konsequenz. Ende und Anfang.“

„Die Karte ist also nicht wörtlich zu verstehen? Warum hast du die immer?“

„Viele Erneuerungen und Abrechnungen, nehme ich an“, flachste er nur.

Gracie runzelte die Stirn. „Ich habe noch nie erlebt, dass Wy so mit jemandem gesprochen hat, den sie nicht kennt; normalerweise sagt sie erstmal kaum was. Und ich habe auch nie gehört, dass jemand so normal mit ihr umgegangen ist wie du. Fast, als wärst du selbst eine Hexe.“

Knapp daneben, dachte Lachlan und tippte ihr mit dem Finger kurz auf die Nase. „Tja, jetzt weißt du, woher diese Seeleute das hatten.“

Gracie rieb sich mit roten Ohren die Nasenspitze. Sie wollte gerade weiterfragen, als sie von einer plötzlichen Eruption unverständlichen Grölens unterbrochen wurde. Ein Stück die Straße hinunter stand an einer Ecke eine Gruppe junger Männer und beklatschte offenbar lauthals die eigene Blödheit. Als die beiden auf ihrer Höhe waren, verstummte die Gruppe und fixierte Lachlan über die Straße hinweg mit feindseligen Blicken.

„Die Dorftrottel, nehme ich an?“ erkundigte er sich unbeeindruckt.

„Das sind Gareth und seine Freunde. Komplette Idioten. Der Älteste mit dem Kinnbärtchen ist Gareth.“

Lachlan musterte den jungen Mann mit den kurzen dunkelblonden Haaren, der aussah, als hätte er sein Kinn in einen Haufen Friseurabfälle getunkt. Das, was auf den Gesichtern der meisten seiner Kompagnons am ehesten als geistig-seelische Leere zu beschreiben wäre, wurde bei ihm durch einen bösartigen, kalten Zug ersetzt. Ein Blick genügte, und Lachlan wusste, dass jeder in der kleinen Gruppe perfektes Hexenjägermaterial abgegeben hätte, aber Gareth hätte dort richtig Karriere machen können. Er hob leicht die Hand und winkte betont spöttisch, doch als einzige Reaktion spuckte einer von ihnen seinen Rotz auf den Boden.

„Komplette Idioten“, wiederholte Gracie leise.

Sie kamen wieder beim Gasthaus an. Lachlan meinte, dass er nach seinem Pferd sehen wollte, und Gracie führte ihn über den Innenhof zum Stall. Namenlos hob den Kopf, als er sein Herrchen erkannte und machte ein leises, schnaubendes Geräusch. Ein gewisser Vorwurf lag darin.

Lachlan streichelte ihm den Kopf. „So schlimm war es auch nicht.“

Gracie musterte die Szene einen Moment lang, bevor sie fragte: „Wie heißt er denn?“

„Namenlos.“

„Hm. Das passt.“

Es war eine ungewöhnliche Reaktion; die meisten wollten bloß wissen, woher der Name kam. Namenlos schien das zu würdigen, denn er beugte seinen Kopf zu ihr und schnupperte an den Haaren des Mädchens. Sie lachte leise und streichelte ihn.

„Er mag dich“, meinte Lachlan, gewissermaßen beeindruckt.

„Ich komme mit den meisten Tieren aus. Deswegen verstehe ich mich auch so gut mit Dai.“

Sein Mundwinkel zuckte, denn so, wie sie es formuliert hatte, konnte man den Satz auch missverstehen. „Wo ist dein leiblicher Vater?“

Gracie streichelte weiterhin das Pferd und hob die Schultern.

„Keine Ahnung. Als ich noch klein war, ist er einfach eines Abends aus dem Haus gegangen, auf ein Schiff gestiegen und nie wiedergekommen. Ich kann mich kaum an ihn erinnern.“ Lachlan schüttelte unwillkürlich den Kopf; er begriff nicht, warum Menschen so etwas taten. Für Todesfeen stand dieses Verhalten völlig außer Frage, sie kämen nicht mal auf die Idee, sich derart davonzumachen.

„Mam meint, es wäre besser so gewesen, und ich denke, sie hat recht. Für mich ist Dai mein Vater.“ Sie drehte unvermittelt den Kopf zu ihm. „Was ist mit deinen Eltern?“

„Die sind schon vor langer Zeit gestorben.“

Gracie nickte, bot ihm erfrischenderweise aber kein Beileid an. „Hast du noch Geschwister?“

Lachlan sah aus dem Augenwinkel, wie die Morrigan gelassen in den Stall kam und es sich auf einem Sack Futter gemütlich machte. „Eine Schwester.“

„Älter oder jünger?“

„Jünger.“

„Kannst du sie gut leiden?“

Für einen Moment fuhr er nur zögernd mit den Fingern über die Kante von Namenloses Box. „Ja“, meinte er dann matt.

„Ich kann sie gut leiden.“

Gracie nickte erneut. „Ich wollte auch immer Geschwister haben, aber Mam meint, das Schiff sei abgefahren.“ Sie spielte mit dem Zaumzeug herum, das an einem Nagel in einem der Stützpfeiler hing. „Myfanwy und ich haben einen Pakt; sobald ich alt genug bin, gehen wir nach Caersea* und studieren da. Wir wissen noch nicht genau was, aber bis dahin finden wir das schon raus.“

Lachlan musterte sie mit der Wehmut, die sich bei Erwachsenen manchmal einstellt, wenn Kinder von ihren Zukunftsplänen sprechen. Diese Pläne hatten sie selbst auch mal gehabt – und was war aus ihnen geworden? „Tut das.“ Er lächelte dünn. „Sonst müsst ihr hierbleiben und welche aus Gareths Gang heiraten.“

„Ihhh!“ rief Gracie entsetzt.

Lachlan lachte und zupfte Namenlos einen Strohhalm aus der Mähne.

Gracie strich dem Pferd über die Nase und fragte sein Herrchen: „Bist du denn verheiratet?“

Er ließ sorgfältig den Strohhalm auf den Boden fallen.

„Nein.“

„Ah, okay.“ Es klang mehr erleichtert denn bedauernd, und sie fragte nicht nach Gründen.

Vom Haus her rief Dai nach seiner Stieftochter. Sie seufzte.

„Ach, sie haben gemerkt, dass ich mich rausgeschlichen habe. Muss ich wohl los.“

Ohne große Formalitäten klopfte sie Namenlos, winkte Lachlan und lief aus dem Stall. Kurz darauf hörte er Gracie und Dai miteinander reden; er verstand etwas in der Art von ‚nun aber schnell rein, bevor deine Mutter es merkt‘, dann fiel die Haustür wieder zu. Namenlos, seiner neuen Freundin beraubt, wandte sich ab, um sich seinem Futter zu widmen.

Lachlan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Boxentür und betrachtete gedankenverloren die in einem Sonnenstrahl schlafende Morrigan; auf ihrem Futtersack auf den Rücken gerollt und alle vier Pfoten gen Himmel hebend wie ein toter Käfer.

Gracies Frage, ob er verheiratet sei, hatte Lachlan kurz stutzen lassen. Er hatte sich Enara diesbezüglich angetragen, beziehungsweise, versucht, einen Antrag zu machen, doch sie hatte ihn gerade noch rechtzeitig gestoppt und ihm subtil zu verstehen gegeben, dass derartige Fragen auch in absehbarer Zeit keine gute Idee wären. Enara hatte damals schon geahnt, dass ihre Beziehung wohl keine Zukunft haben würde, zumindest nicht in dieser Form. Es hatte ihn regelrecht zerfressen, wie sie nach ihrer Trennung dann relativ schnell den Bund fürs Leben eingegangen war.

Lachlan seufzte und setzte sich neben die Morrigan auf eine der herumstehenden Kisten. In den langen einsamen Jahren, die ihm mehr als genug Zeit gaben, um gut darüber nachzudenken, hatte er ein gewisses Verständnis entwickelt und konnte jetzt etwas gerechter auf die Angelegenheit zurückschauen. Alastair war im Ganzen so verteufelt lieb und gut im Umgang mit anderen gewesen, dass vermutlich selbst Lachlan spontan Ja gesagt hätte, wäre er je von ihm gefragt worden. Er hob einen der herumliegenden Strohhalme auf und zupfte missmutig daran herum. Er war sich nicht sicher, ob seine Chancen grundsätzlich besser gewesen wären, hätte er Enara früher gefragt. Vermutlich nicht. Ihm fehlte einfach dieses freundlich-warme Gefühl des Vertrauens, das Alastair den Leuten so reichlich gegeben hatte wie ein herannahender Rettungshund bei unruhiger See. Lachlan hingegen war eher der, der die anderen erst dazu überredet hatte, zu weit hinauszuschwimmen.

Alle waren im Grunde der Meinung gewesen, dass Enara zu gut für ihn wäre; Lachlan selbst eingeschlossen. Für ihn erschien sie immer ein Stück weit zu perfekt, fast schon unnahbar. Ihre Beziehung hatte demnach sehr langsam angefangen; beide waren zögerlich und wurden auch von ihrem Umfeld nicht ermutigt. Lachlan erinnerte sich noch, wann ihm zum ersten Mal klar geworden war, dass Enara keine kleine Schwärmerei war, die er sich wieder abgewöhnen könnte.

Lachlan öffnete schwungvoll die Doppelglastür und trat hinaus auf die Terrasse, die an den Ballsaal grenzte. Er atmete tief die kühle Nachtluft ein, dankbar, der lauten Wärme drinnen entkommen zu sein und lockerte seinen Kragen, als er an das Geländer trat. Die Nacht war klar, am Himmel leuchtete mit würdevoller Glorie der volle Mond und ein paar der hellsten Sterne schafften es tapfer, gegen ihn anzustrahlen. Lachlan betrachtete versonnen die Szene in ihrer stillen Pracht und seufzte leise.

„Schön, nicht wahr?“

Er drehte den Kopf und stutzte, denn ein Stück weiter weg stand Enara am Geländer. Ihr zu Ehren wurde dieser Ball gegeben, um den Beginn der studienfreien Wochen zu feiern, die sie zuhause bei Familie und Freunden verbringen konnte. Aber offensichtlich zog sie gerade etwas Einsamkeit vor, und das so diskret, dass er sie nicht mal bemerkt hatte - obwohl sie in dem eleganten violetten Gewand, das sie trug, noch schöner aussah als sonst.

Lachlan räusperte sich verlegen und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Oh, ich hab dich gar nicht... möchtest du ... soll ich wieder...?“

„Aber nein. Du störst nicht.“ Sie machte eine kleine, ermutigende Geste und er kam fast schon vorsichtig zu ihr und stellte sich neben sie. Enara blickte wieder zum Mond empor und lächelte. „Da drinnen schmücken sich alle mit edlen Stoffen und Steinen und bewundern einander, dabei ist die wahre Pracht hier draußen.“

Lachlan nickte nachdenklich, nicht ganz sicher, ob er sich dabei auf den Himmel oder Enara selbst bezog.

Sie hob leicht den Finger. „Hörst du es?“

Er runzelte die Stirn, lauschte aber gehorsam. In der Stille strich eine leichte Brise durch die Bäume und ließ sie reihum rauschen. Seine Mundwinkel zuckten. „Wie das Meer.“

„Ich liebe den Ozean.“ Sie schloss die Augen. „Mich beruhigt dieses Geräusch sehr.“

Wieder nickte Lachlan etwas überwältigt, dann stutzte er.

„Musst du dich denn beruhigen?“

Sie sah kurz zu ihm und lächelte ein wenig müde. „Nicht wirklich beruhigen. Aber es ist sehr laut und warm da drinnen, so viele Leute, da brauchte ich eine Pause.“

„Das hätte ich nicht gedacht. Du wirkst immer so... gefasst und kontrolliert.“

„Diese Bemerkung hätte eine meiner Professorinnen sehr stolz gemacht. Sie meinte immer: ‚Haltung! Haltung bringt die Kontrolle!‘“

„Nein, das meinte ich so nicht. Vielleicht wäre würdevoll das bessere Wort gewesen.“

Sie schien verlegen. „Einigen wir uns doch auf gelassen.“

„Na gut. Und wie schaffst du es, so gelassen zu wirken?“

„Weil ich es meist tatsächlich bin. Ich kann mir selbst vertrauen zu merken, wann mir etwas zu viel wird. Dann entferne ich mich daraus.“

„Aber was, wenn du dich nicht entfernen kannst?“

Sie hob leicht die Schultern. „Dann kann ich immer noch alle mit einem Starrzauber zum Schweigen bringen.“

Lachlan lachte leise. „Verstehe.“

Enara wandte sich zu ihm und deutete auf die Verandatür.

„Du hast dich auch entfernt.“

Sie überrumpelte ihn etwas damit und Lachlan sagte mehr, als er es normalerweise getan hätte. „Ja nun, ich... mir wurde es auch zu viel. Um ehrlich zu sein – das wird es oft.“

Enara zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Ich muss zugeben, das überrascht mich. Ich dachte, Trubel und Aufmerksamkeit ließen dich völlig entspannt. Sogar, dass du sie genießt. Mehr wie...“ Sie überlegte kurz. „Eine Rampensau.“

Lachlan war sich ziemlich sicher, dass sie das Wort von Synn hatte, der sich schon allein deshalb gern salopp ausdrückte, um den Königlichen Rat zu schockieren. Er rieb sich den Nacken. „Naja – schüchtern bin ich nicht. Aber... es laugt mich aus. Vor allem, wenn es... die falsche Art von Leuten ist.“

„Du lässt es dir nicht anmerken.“

Lachlan zuckte mit den Schultern. „Tja nun - Haltung! Haltung bringt die Kontrolle, nicht wahr?“

Enara schmunzelte, wurde aber gleich wieder ernst. „Warum verbirgst du es?“

„Du zeigst es auch nicht.“

„Aber allen ist klar, dass ich für großen Trubel nicht zu begeistern bin. Vielleicht wissen nur diejenigen aus meinem näheren Umfeld warum, aber ich versuche nie, mein generelles Naturell zu überdecken. Ich denke, niemand würde mich je als das Herz und Leben einer Party beschreiben.“

Enara schien nicht zu wissen, was für einen großen Eindruck ihre Anwesenheit in einer Gruppe von Leuten, egal wie groß oder lebhaft, jedes Mal machte. Aber sie hatte recht, es war nicht das, was Lachlan tat.

Er fuhr sich durch die Haare. „Es ist... du kennst Morag. Da drinnen hat sie es eine halbe Stunde ausgehalten, den anderen zuliebe, dann war sie wieder weg und erholt sich vermutlich gerade irgendwo in Einsamkeit. Sie ist so sensibel und streng. Bekommt alles mit, nimmt alles sehr ernst. Sie versteht alles und muss ständig aufpassen, sich selbst und anderen nicht wehzutun.“

„Denkst du, denn, das ist etwas Schlechtes?“

Er ließ den Blick über die nächtliche Parklandschaft wandern. „Bei ihr nicht. Sie hat einen guten Charakter. Mit ihren Kräften kann sie Leuten helfen. Ihre Empfindsamkeit macht das möglich, und deswegen hat sie jedes Recht darauf. Sie würde die Dinge, die sie spürt, niemals benutzen, um es jemandem heimzuzahlen, egal wie sehr er es verdient hätte. Morag sagt, man könne Leid nicht durch mehr Leid aufwiegen. Sie wäre fair und gerecht und würde vor allem dafür sorgen, dass kein weiterer Schaden entstehen kann. Es ist wie ihre Kräfte – sie macht Dinge wieder ganz.“ Seine Hände schlossen sich fest um das Verandageländer. „Ich kann sie nur kaputtmachen. Wenn ich empfindlich auf etwas reagiere, dient das keinem Nutzen. Durch meine Kräfte ist es bloß eine gefährliche Schwäche, die andere gefährdet. Also ist es besser, mir selbst einzureden, dass es mir gar nichts ausmache, damit ich eben nicht empfindlich darauf reagiere.“ Nie würde er den Blick vergessen, mit dem Enara ihn einige Momente lang schweigend musterte. Es lag kein Urteil darin, nur ruhige Anteilnahme und aufrichtiges Interesse. Mit dem gleichen Blick, mit dem ihre Heiler-Freundin Indiria* versuchte, die Natur einer Krankheit oder Verletzung zu entschlüsseln. Natürlich wollte Indiria das Leid der Patienten beenden, aber das Rätsel zu knacken war eben auch Teil ihrer Motivation. Im Nachhinein gesehen hätte ihnen beiden das eine Warnung sein sollen, in diesem Moment aber verspürte Lachlan nur die flauschige Wärme der Dankbarkeit in seinem Magen.

„Du hast Angst vor deinen Kräften?“ fragte Enara schließlich.

Er rang kurz mit sich, dann nickte er.

Sie erwiderte das Nicken leicht. „Du hast Angst, die Kontrolle zu verlieren. Aber um etwas kontrollieren zu können, darf man es nicht verleugnen. Man muss zunächst wissen, worum genau es sich überhaupt handelt. Dann kann man lernen, wie man damit umgehen muss. In Ruhe, nicht mit Zwang. Wahre Kontrolle ist, loslassen zu können.“