Der Pflege-Aufstand - Armin Rieger - E-Book

Der Pflege-Aufstand E-Book

Armin Rieger

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dahinsiechende Bewohner, erschöpfte Pflegekräfte, katastrophale hygienische Zustände – dennoch verteilt der Pflege-TÜV Bestnoten an deutsche Pflegeheime. »Pflegerebell« Armin Rieger, selbst Heimbetreiber, legt sich für die alten Menschen mit dem deutschen Pflegesystem an. Denn ein Altern in Würde ist in unseren Heimen allzu oft schlicht unmöglich. Die Gründe: Personalmangel, Zeitdruck und vor allem das Streben nach Profit. Schonungslos, offen und gespeist aus der eigenen Erfahrung, macht Armin Rieger einen Skandal sichtbar, der Millionen alte Menschen und ihre Angehörigen betrifft. Zugleich zeigt er aber auch auf, wie man ein gutes Heim erkennt und wie ein Altern in Würde möglich ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 254

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Dahinsiechende Bewohner, erschöpfte Pflegekräfte, katastrophale hygienische Zustände – dennoch verteilt der Pflege-TÜV Bestnoten an deutsche Pflegeheime. »Pflegerebell« Armin Rieger, selbst Heimbetreiber, legt sich für die alten Menschen mit dem deutschen Pflegesystem an. Denn ein Altern in Würde ist in unseren Heimen allzu oft schlicht unmöglich. Die Gründe: Personalmangel, Zeitdruck und vor allem das Streben nach Profit. Schonungslos, offen und gespeist aus der eigenen Erfahrung, macht Armin Rieger einen Skandal sichtbar, der Millionen alte Menschen und ihre Angehörigen betrifft. Zugleich zeigt er aber auch auf, wie man ein gutes Heim erkennt und wie Altern in Würde möglich ist.

Der Autor

Armin Rieger, Jahrgang 1958, arbeitete viele Jahre als Polizeibeamter und verdeckter Ermittler bei der Drogenfahndung, anschließend in der Immobilienbranche. Seit 1998 ist er Heimleiter des Seniorenheims »Haus Marie« in Augsburg, außerdem Gründungsmitglied des Augsburger Pflegestammtisches. Gegen die unhaltbaren Zustände in deutschen Pflegeheimen hat Armin Rieger 2014 Verfassungsbeschwerde eingelegt.

ARMIN RIEGER

DER

PFLEGE-

AUFSTAND

Ein Heimleiter entlarvt unser

krankes System

Würdige Altenpflege ist machbar

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

2. Auflage

Originalausgabe 04/2017

Copyright © 2017 by Ludwig Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Carina Heer

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © MD Photografie/Augsburg

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-19598-4V002

www.ludwig-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

VorwortWarum ich dieses Buch geschrieben habe

1   Vom Saulus zum PaulusWie alles begann

2   Die Würde des Menschen ist unantastbarMenschenrechtsverletzungen im Altenheim

3   Eine bessere Pflege für das »Haus Marie« Wirtschaftsfaktor Pflegeheim

4   Money, money, moneyInvestoren und Finanzanleger

5   Die PflegekräfteOpfer und Mittäter

6   »Aber wer wird über die Wächter selbst wachen?«Der Pflege-TÜV und die Heimprüfungen

7   Gegner statt PartnerDie Kassen

8   Auf beiden Augen blindDas Versagen der Strafverfolgungsbehörden

9   Von falschen Gesetzen, kurzsichtigen Entscheidungen und dem Einfluss der LobbyistenDas Scheitern der Politik

10   David gegen GoliathVom Scheitern aller Bemühungen

11   Alles muss sich ändernEine Utopie

12   Home sweet HomeWoran erkennt man ein gutes Pflegeheim und welchen Beitrag können Angehörige zu einer besseren Pflege leisten?

Anhang

Checkliste: Wie finde ich ein geeignetes Heim?

Verfassungsbeschwerde

Vorwort

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um über die schlimmen Zustände in deutschen Heimen »auszupacken« oder schmutzige Wäsche zu waschen. Über Skandale in den verschiedenen Heimen wurde schon viel geschrieben und ausreichend in unterschiedlichen Medien berichtet.

Mein Anliegen geht darüber hinaus.

Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, dass das gesamte Pflegesystem in Deutschland ein Skandal ist – ein Pflegesystem, das Pflegeskandale überhaupt erst ermöglicht und sogar fördert.

Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, dass die Geldgier und die Macht großer börsennotierter Träger größer ist als der Anspruch des einzelnen pflegebedürftigen Menschen auf Menschenwürde.

Ich möchte aufzeigen, dass bereits jetzt genügend Geld in der Pflege vorhanden ist, um den Menschen, die in Heimen wohnen, ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, dass aber geldgierige Blutegel die Pflege aussaugen. Parasiten, deren Gewinne so hoch sind, dass sie an der Börse eine gefragte Anlage darstellen.

Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, dass manche unserer verantwortlichen Politiker inzwischen zu gewissenlosen Handlangern dieser Blutsauger verkommen sind.

Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, dass die Pflegekräfte mit ihrer falschen Loyalität und ihrer aufopferungsvollen Art nicht nur Opfer, sondern ohne es wirklich zu realisieren, auch zu Mittätern in einem kranken System geworden sind.

Doch das ist noch nicht alles.

Ich möchte auch aufzeigen, dass es Heimleiter und Pflegekräfte gibt, die trotz des Drucks, der auf ihnen lastet, und trotz der eng gesteckten Vorgaben seitens der Träger, in der Lage sind, die ihnen anvertrauten Menschen gut zu versorgen. Dass es noch viele Pflegekräfte gibt, die ihren Beruf mit Liebe und Empathie ausüben.

Ich möchte den Lesern die grassierende Angst vor einem Heimaufenthalt nehmen. Denn es gibt gute Heime, in denen die pflegebedürftigen Menschen auch als solche behandelt und ihrer Menschenwürde nicht beraubt werden – man muss sie nur finden.

Vor allem aber hoffe ich, dass ich mit diesem Buch vielen Pflegekräften, vielen Heimbewohnern und deren Angehörigen sowie allen, die sich mit Pflege befassen, die Augen öffnen und sie zum Umdenken bewegen kann. Denn es geht mir nicht nur darum, zu klagen und anzuprangern. Mein zentrales Anliegen ist es, Lösungen aufzuzeigen, wie bessere Pflege möglich ist, wenn man nur dafür kämpft.

Es ist an der Zeit, dass sich alle, die etwas verbessern wollen und alle, denen die Menschenwürde der alten, pflegebedürftigen Menschen noch etwas bedeutet, solidarisieren.

Es ist an der Zeit, dass all diese Menschen aufstehen und kämpfen. Denn gemeinsam können wir etwas erreichen.

Armin Rieger

Im Winter 2016/17

1

Vom Saulus zum Paulus

Wie alles begann

Hätte mir vor 20 Jahren jemand gesagt, dass ich mich mit Mitte 50 als Pflegerebell für eine bessere Pflege in Deutschland einsetzen würde, dann hätte ich ihn für verrückt gehalten. Mit Pflege hatte ich damals wirklich rein gar nichts am Hut.

Meine berufliche Laufbahn begann im Oktober 1976 bei der Bereitschaftspolizei in Königsbrunn bei Augsburg. Im Grunde hatte ich mich dafür nur entschieden, weil ich damals eigentlich keine rechte Lust mehr hatte, weiter auf die Schule zu gehen. Das Anfangsgehalt mit knapp 1 000 Mark war zu diesem Zeitpunkt auch recht ordentlich. Außerdem hatte ich im Hinterkopf, dass dieser Beruf doch viel Abwechslung und Abenteuer bieten würde. Das stellte sich jedoch zunächst als großer Irrtum heraus. Die ersten beiden Jahre bei der Bereitschaftspolizei in Königsbrunn waren geprägt von einem Kasernenleben, das strenger war als bei der Bundeswehr – damals gab es noch keine Frauen bei der uniformierten Polizei und die Strukturen waren daher während der Ausbildung noch etwas anders. Der Grund, weshalb ich dann nicht gleich wieder gekündigt habe, war ganz einfach: Damals gab es noch die Wehrpflicht, und eine Kündigung hätte bedeutet, dass ich nur in eine andere Kaserne hätte wechseln müssen – und das bei weit weniger Gehalt.

Nach der Ausbildung entschied ich mich dann doch, als Streifenpolizist zu arbeiten. Ich wollte erleben, wie es ist, als Polizist Verbrecher zu jagen und für Recht und Ordnung zu sorgen. Vermutlich wurde ich damals auch von einer Art Abenteuerlust getrieben. Ich hatte das Glück, dass ich einem Polizeirevier im Augsburger Westen, also in der Nähe meines Wohnortes, zugeteilt wurde. Die Schicht, in die ich kam, war sehr kollegial, und es entwickelten sich richtige Freundschaften unter den Kollegen. In unserem Revierbereich befanden sich drei Kasernen der US-Streitkräfte, was einer der Gründe war, weshalb der Streifendienst nie langweilig wurde. Vor allem waren viele Schlägereien durch betrunkene US-Soldaten zu beenden und andere Straftaten aufzuklären, die sich ergeben, wenn mehrere Tausend Soldaten über Jahre hinweg, weit weg von der Heimat, kaserniert sind. Aber auch die Aufnahme von Verkehrsunfällen oder Diebstählen gehörte nun zu meinen Aufgaben.

Dann hörte ich davon, dass bei der Kripo Augsburg im Kommissariat für Drogenfahndung, damals als »K 14« bekannt, ein junger Kollege gesucht wurde, der in der Drogenszene eingesetzt werden sollte. Zu dieser Zeit war ich bereits Sachbearbeiter für Jugendkriminalität und sowieso schon fast nur noch in Zivilkleidung unterwegs. Die Bewerbung bei der Drogenfahndung war dann vermutlich nur noch eine logische Konsequenz. Sowohl mein Charakter, ich war schon immer ein Querdenker, als auch mein Aussehen, meine Haare waren immer etwas zu lang für einen biederen Beamten, gaben wohl den Ausschlag dafür, dass ich diese Stelle bekam.

Schon bald wurde ich in der Drogenszene als einer der »Ihren« bekannt. Das führte dann schon mal dazu, dass es einem auch mal leidtat, wenn ein eigentlich sympathischer Mensch wegen Drogenhandels ins Gefängnis musste und man ihn selbst dorthin gebracht hatte.

Aber was das Schönste war: Die neuen Kollegen der Drogenfahndung wurden eine Art zweite Familie für mich. Wir hatten einen großartigen Chef. Dieser war Vorgesetzter und väterlicher Freund zugleich. Er hatte nicht nur die absolute fachliche Kompetenz, sondern auch die Fähigkeit, unsere Truppe zu führen und uns so zu motivieren, dass wir unsere Arbeit mit Freude und absolutem Engagement erledigten. Auch wenn nachts um zwei wegen eines Einsatzes ein Anruf kam, stand die ganze Mannschaft auf der Matte. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, und mein damaliger Chef ist heute noch eine Art Vorbild für mich. Vor allem, was die Art der Menschenführung und den Umgang mit meinen Angestellten angeht. Man konnte sich zu 100 Prozent auf ihn verlassen und wusste, dass er auch hinter einem steht, wenn mal was schiefläuft. Er schaffte es durch seine ganz besondere Art, bei uns allen ein »Wir-Gefühl« zu erzeugen. Und er schaffte es, uns durch eine ruhige, aber bestimmte Art zu führen. Gleichzeitig zeichnete er sich durch eine große fachliche Kompetenz aus und konnte dieses Wissen auch gut vermitteln. So schweißte er uns zu einem verschworenen Haufen zusammen, und jeder wusste, dass er sich auf den anderen verlassen konnte. Es war beruflich gesehen wohl die schönste und interessanteste Zeit in meinem Leben.

Leider bekamen wir dann einen neuen Chef. Und der war das Gegenteil vom bisherigen Kommissariatsleiter. Er war vielleicht nicht der kompetenteste, was die Drogenfahndung anbelangt. Plötzlich lautete die Anweisung, mehr auf die kleinen Konsumenten loszugehen als auf die richtigen Dealer. Der Grund dafür ist folgender: Um erfolgreich Drogendealer zu bekämpfen, muss man sich immer am Rande der Legalität bewegen und teilweise darüber hinausgehen. Offiziell wird das wohl kein Beamter oder Politiker zugeben. Aber jeder Insider in der Drogenfahndung weiß, dass man nur erfolgreich verdeckt ermitteln kann, wenn man gelegentlich auch mal beide Augen zudrückt und gewisse Dinge nicht sieht. Als Polizeibeamter ist man verpflichtet, jede Straftat, von der man dienstlich Kenntnis erlangt, zur Anzeige zu bringen. Ein Polizeibeamter, der das nicht macht, begeht rein rechtlich gesehen eine Strafvereitelung im Amt. Doch um in die Drogenszene einzutauchen, muss man beispielsweise auch an Kifferrunden teilnehmen. Hätte ich da immer Anzeige erstattet, wäre ich aufgeflogen, bevor es richtig losgegangen ist. Ähnlich sieht es auch bei der Führung von V-Leuten aus, denn V-Leute, die der Polizei Informationen über Straftaten geben, sind selten biedere Menschen. Sonst wären sie auch nicht in der Nähe von Straftätern. Dazu braucht man jedoch einen Vorgesetzten, auf den man sich verlassen kann und der einem den Rücken stärkt. Diese Fähigkeit war bei dem neuen Chef aber nicht so ausgeprägt, dem es wohl vor allem darum ging, den Buchstaben des Gesetzes zu befolgen. Deshalb fiel das Kommissariat auch teilweise auseinander. Manche ließen sich freiwillig versetzen, andere wurde versetzt.

Auch ich hatte so meine Schwierigkeiten. Wenn ich einen Sinn hinter einer Sache sehe, dann hänge ich mich voll rein. Aber wenn ich etwas machen soll, nur um einen guten Schein zu wahren, dann sträubt sich bei mir so ziemlich alles. Wenn ich etwas mache oder sage, dann nur, wenn ich voll dahinterstehen kann. Ich will nicht behaupten, dass alles, was ich mache und sage, immer richtig ist. Das wäre vermessen. Aber ich kann von mir behaupten, dass ich nur Sachen mache und sage, von denen ich voll überzeugt bin.

Und so kam es, wie es kommen musste. Obwohl mich der neue Chef lobte und sogar als seinen besten Mann bezeichnete, wurde schnell klar, dass es mit uns beiden nicht gut gehen konnte. Anstatt ruhig zu sein und eventuell Karriere zu machen, suchte ich die Konfrontation und prangerte an, wenn ich etwas für falsch hielt. In der Augsburger Allgemeinen wurde ich später unter anderem so beschrieben: »Diplomatie ist seine Sache nicht«. Das trifft leider öfter zu, als mir selbst lieb ist. Deshalb war die Art und Weise, wie ich meinem Ärger Luft gemacht habe, eher dazu geeignet, meiner Karriere ein Ende zu setzen.

Etwa zu dieser Zeit riet mir ein befreundeter Architekt, ein Immobilienbüro anzumelden. Die wirtschaftliche Lage war gut, und es bot sich so die Möglichkeit, etwas Geld nebenbei zu verdienen. Als ich noch Polizist mit Leib und Seele war, wäre das für mich wohl nicht infrage gekommen. Aber frustriert und ernüchtert, wie ich zu dieser Zeit unter dem neuen Kommissariatsleiter war, besorgte ich mir die Zulassung als Immobilienmakler, ohne große Erwartungen darauf zu setzen. Doch der Handel mit Immobilien lief besser an als gedacht, und plötzlich war ich dann auch noch Bauträger und jonglierte mit Millionen. Irgendwie lag mir diese neue Aufgabe, und ich setzte mich mit vollem Engagement ein. Meine schnelle Auffassungsgabe und mein zielstrebiges Denken ließen mich auch in der Immobilienbranche erfolgreich sein.

Damit war klar, dass sich meine Polizeilaufbahn dem Ende zuneigte. Der Ausstieg aus dem Polizeiberuf fiel mir, zumindest von meiner inneren Einstellung her, dennoch nicht leicht. Ich war über viele Jahre hinweg gerne Polizist gewesen. Ich habe bei der Polizei und speziell bei der Drogenfahndung Dinge erlebt, die sich kein normaler Mensch – und auch kaum ein Polizist – vorstellen kann. Ich habe über Jahre einen engen Zusammenhalt mit den Kollegen erfahren. Es war fast immer spannend und abwechslungsreich. Nein, der Abschied fiel mir nicht leicht.

Dafür begann jetzt die Zeit des Geldverdienens.

Die Immobilienbranche boomte, und plötzlich war ich Chef zweier Firmen. Einer Immobilien- und Hausverwalterfirma und einer Bauträger GmbH. Da kam eines Tages ein ehemaliger Kollege von der Kriminalpolizei auf mich zu. Er erzählte mir, dass seine Frau gelernte Altenpflegerin und bereits an einem kleinen Pflegeheim beteiligt sei. Er sagte mir, dass er die Absicht habe, zusammen mit seiner Frau ein zweites Heim zu eröffnen. Dazu brauchte er aber einen Investor, der sich finanziell an diesem Heim beteiligen sollte. Er präsentierte mir verschiedene Berechnungen und Zahlen, die recht vielversprechend klangen. Auch nach Prüfung durch meinen Steuerberater, schien die Beteiligung an einem Pflegeheim eine gute Geldanlage zu sein.

Von der Pflege selbst hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung, und sie hat mich auch nicht interessiert. Keine bettlägerige Mutter im Altenheim, kein Großonkel, der Pflege benötigte, damals waren auch die Pflegeskandale noch kein großes Thema in der Presse – ich wusste nichts über Pflege und sah nur die Rendite und eine gute Geldanlage.

Nachdem ich mich zu der Beteiligung an einem Pflegeheim entschlossen hatte, begann die Suche nach einer passenden Immobilie. Nach längerer Suche schien das richtige Objekt in der Nähe gefunden. Mit dem Verkäufer der Immobilie war ich mir schnell einig. Aber dann regte sich Widerstand seitens der Nachbarn. Es kam sogar zu einer Unterschriftenaktion. Die besorgten Bürger wollten zwar eine gute Pflege, aber »verrückte Alte« wollten die Anwohner nicht in ihrer Nachbarschaft – ein Paradoxon, das mir auch in den künftigen Jahren in vielerlei Abwandlung immer wieder begegnete.

Weiterer Widerstand gegen ein Pflegeheim kam von den damals regierenden Kommunalpolitikern. Denn das Konzept, das einen hohen Zaun um das Gelände vorsah, damit die dementen Menschen sich nicht nur im Gebäude, sondern auch im Garten selbstständig bewegen können, wurde von dem einen oder anderen Politiker sogar als KZ-ähnliche Einrichtung bezeichnet. Vermutlich waren sie der Meinung, dass es besser sei, solche Menschen im Gebäude wegzusperren. Ziemlich frustriert und wütend angesichts der Dummheit und Ignoranz solcher Ratsherren, begann die Suche nach einer Immobilie aufs Neue.

Direkt in Augsburg fand ich eine andere Immobilie. Bei dieser Entwicklung traf die alte Weisheit – alles Negative hat auch seine positive Seite – zu. Dieses Gebäude war noch viel besser geeignet, weshalb ich es dann auch mit meiner Bauträgerfirma kaufte. Es handelte sich um eine ehemalige kleine Fabrik, die aber bis zum Zeitpunkt der Übernahme als Flüchtlingsunterkunft genutzt worden war. Die Immobilie war größer und konnte viel einfacher an die Bedürfnisse der zukünftigen Heimbewohner angepasst werden. Und sie lag mitten in der Stadt und war somit gut zu erreichen.

Jetzt musste noch die Betreibergesellschaft gegründet werden. So entstand die »Haus Marie – vollstationäre Pflege- und Wohneinrichtungs GmbH«. An dieser war ich zu 50 Prozent beteiligt und die Betreiber ebenfalls zur Hälfte. Während ich mich als Geldgeber im Hintergrund halten würde, lag die Leitung des Heims in der Hand der Betreiber. Ich hatte einerseits von der Pflege keine Ahnung und andererseits falsches Vertrauen in die Fähigkeiten der Betreiber. Für ihre Tätigkeit als Geschäftsführer und Heimleiter erhielten die Betreiber neben der potenziellen Gewinnausschüttung als Gesellschafter auch ein angemessenes Gehalt.

Nach einer Umbauzeit von etwa einem Jahr war es dann soweit. Am 01. Oktober 1998 erfolgte die offizielle Eröffnung des Pflegeheims »Haus Marie«. Entgegen den mir gegenüber geäußerten Erwartungen und Ankündigungen der Betreiber, blieben zunächst viele Betten leer, und das Heim füllte sich nur sehr langsam. Von Gewinnen war gar keine Rede mehr.

Nachdem sich die finanzielle Situation innerhalb eines Jahres nicht verbessert hatte, war der Zeitpunkt gekommen, das Heim genauer unter die Lupe zu nehmen. Um eine drohende Insolvenz abzuwenden, schoss ich Geld nach und suchte das Gespräch mit den Betreibern, den ich zuvor völlig freie Hand gelassen hatte. Auf Fragen nach dem Grund für den finanziell desaströsen Zustand, bekam ich nur ausweichende oder gar keine Antworten. Und wenn ich Antworten bekam, so hatte ich immer mehr den Eindruck, dass diese nicht die reale Situation widerspiegelten. Also holte ich mir über Umwege Informationen ein. Was ich dann aus verschiedensten Quellen erfuhr, bereitete mir schlaflose Nächte. Nicht nur, dass die Betreibergesellschaft finanziell ohne meine Unterstützung am Ende gewesen wäre, nein, das »Haus Marie« hatte in Augsburg den Ruf, eines der übelsten und schlechtesten Pflegeheime zu sein. Mir zog es fast den Boden unter den Füßen weg.

Ich erfuhr, dass zu wenig Personal vorhanden war. Das wenige Personal musste über zehn Tage und mehr täglich zwölf Stunden am Stück arbeiten. So kam es, dass die Pflegekräfte teilweise über 200 Überstunden hatten. Die Löhne wurden nur in Raten und mit Verspätung ausbezahlt. Es gab zu wenig Essen. Angehörige mussten selbst Tee und Getränke kaufen, damit die Bewohner etwas zum Trinken bekamen. Von Mäusekot in der Speisekammer war die Rede. Die Pflegesituation der Bewohner wurde mir als total skandalös beschrieben.

Jetzt war guter Rat teuer. Ich musste irgendwie das Pflegeheim retten. Damals waren meine Interessen aber noch weniger auf eine bessere Pflege der Heimbewohner gerichtet als darauf, eine Insolvenz abzuwenden und den finanziellen Ruin zu verhindern. Das Heim selbst zu übernehmen und zu leiten, kam mir zunächst nicht in den Sinn. Zum einen hatte ich überhaupt keine Ahnung von der Pflege, zum anderen brauchte ich jemanden, der auch die Ausbildung und Zulassung dafür hatte, ein Heim zu führen.

Manchmal kommt einem dann der Zufall zu Hilfe. Die finanzierende Bank hatte natürlich Kenntnis über die wirtschaftliche Schieflage. Bei dieser Bank gab es eine Mitarbeiterin, die mit einer Pflegerin im »Haus Marie« befreundet war. Von dieser Bankangestellten erfuhr ich dann, dass jene Pflegerin gerade eine Fortbildung zur Qualitätsmanagerin machte und unmittelbar vor dem Abschluss stand. Um es vorwegzunehmen: Es handelte sich bei dieser Pflegerin um Frau Drochner, die heute noch das »Haus Marie« und dessen Geschicke leitet.

Die Bankangestellte teilte mir weiter mit, dass Frau Drochner nach Abschluss ihrer Ausbildung das »Haus Marie« verlassen wolle, weil sie die schlechte Pflege und die zum Teil skandalösen Zustände nicht mehr mittragen könne.

Parallel dazu nahm ich auch noch Kontakt zur Heimaufsicht auf. Die Heimaufsicht der Stadt Augsburg bestand damals aus nur einer Person, die dazu auch noch andere Aufgaben wahrnehmen musste. Von einer echten Kontrollinstanz für die Heime konnte seinerzeit noch keine Rede sein. Die Heime wurden nur alle paar Jahre kontrolliert. Mehr war mit einer Person nicht möglich. Das war vermutlich auch der Grund, weshalb in den Heimen solche Zustände möglich waren.

Der städtische Mitarbeiter teilte mir nun mit, dass diese unhaltbaren Zustände dort bereits bekannt seien. Er sicherte mir jedmögliche Unterstützung zu, wenn es mir gelingen sollte, die Betreiber aus dem »Haus Marie« zu entfernen und dieses selbst zu leiten. Er versprach mir sogar, dass er am Anfang beide Augen zudrücken würde, wenn ich nicht alles richtig machte. Außerdem bekam ich die Auskunft, dass Frau Drochner nach Abschluss ihrer Ausbildung die Genehmigung erhalten würde, ein Heim zu leiten. So reifte in mir der Gedanke, das Heim mit Hilfe einer fachlich kompetenten Person zu übernehmen.

Ich bat also die Bankangestellte, den Kontakt zu Frau Drochner herzustellen. Es kam zu einem konspirativen Treffen mit Frau Drochner in einem Augsburger Café. Ich muss gestehen, dass ich damals schon etwas nervös war. Ich kannte diese Frau nicht und war mir auch nicht sicher, wie sie zu meinen Plänen stand. Bei unserem Gespräch im Café eröffnete Frau Drochner mir, dass sie dieses skandalöse Treiben im »Haus Marie« nicht mehr länger mitmachen wolle. Da weihte ich sie in meine Pläne ein. Außerdem machte ich ihr das Angebot, dass ich, wenn es uns denn gelingen würde, das Heim zu übernehmen, gerne die Leitung des Hauses in ihre Hände legen würde.

Nach einiger Bedenkzeit stimmte sie der ganzen Sache zu und erklärte sich bereit, die Führung des »Haus Marie« mit mir zusammen zu übernehmen und die Pflege so zu verändern, dass die Bewohner ein würdevolles Leben führen können.

Doch bis dahin war noch ein weiter steiniger Weg zu beschreiten. Da alle meine Treffen und Erkundigungen heimlich erfolgen mussten, kam ich mir manchmal vor wie in einem Agentenkrimi. Als weiteren Schritt ließ ich mich von einem Fachanwalt für GmbH-Recht beraten. Ich schilderte ihm die ganze prekäre Situation und übergab ihm alle mir vorliegenden Unterlagen zur Einsichtnahme.

Nachdem er sich einen Überblick über die gesamte Situation verschafft hatte, wurde eine Strategie besprochen, wie die Übernahme stattfinden sollte. Als einer der Geschäftsführer und als Mitgesellschafter musste ich eine Ladung zu einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung versenden. Der Tagesordnungspunkt der Gesellschafterversammlung war die Einziehung der Gesellschaftsanteile der anderen Geschäftsführer wegen grober Verstöße als Geschäftsführer und Gesellschafter zum Nachteil der »Haus Marie GmbH«. Diese hatten beide jeweils eine Beteiligung von 25 Prozent an der GmbH.

Ein weiterer Tagesordnungspunkt war die Absetzung der Betreiber in ihren Funktionen als Geschäftsführer und Heimleitung. Dies war möglich, da ich nach Einziehung der Geschäftsanteile die absolute Mehrheit an der Gesellschaft hatte. Finanziell brachte mir diese Aktion keinen Vorteil, da ich sowohl vorher als auch nach der Übernahme weiter Geld in die Firma einbringen musste, um eine Insolvenz abzuwenden.

Ich hatte große Bedenken, ob das alles klappen würde. Doch mein Rechtsbeistand versicherte mir immer wieder, dass es seiner Meinung nach von rechtlicher Seite keine Bedenken gegen diese Vorgehensweise gebe. Auch ein mit Sicherheit anstehender Zivilprozess gegen die Einziehung der Gesellschaftsanteile und die Absetzung als Geschäftsführer würde seiner Meinung nach gewonnen werden. Die Verfehlungen seien so gravierend, dass wohl kein Gericht eine andere Entscheidung treffen würde.

So kam dann der Tag der Entscheidung. Dass ich in der Nacht vor dieser Gesellschafterversammlung fast kein Auge zumachte, kann sich wohl jeder vorstellen. An der Gesellschafterversammlung im »Haus Marie« nahmen neben den Betreibern und mir auch mein Rechtsanwalt teil. Ich eröffnete die Versammlung und führte handschriftlich Protokoll. Wie mit meinem Anwalt vorher besprochen, verlas ich den ersten Tagesordnungspunkt, nämlich die Einziehung der Gesellschaftsanteile der beiden anderen Gesellschafter. Somit waren diese nicht mehr stimmberechtig. Als weiterer Tagesordnungspunkt stimmte ich nun mit meiner Mehrheit an der Gesellschaft für die Absetzung des Geschäftsführers und der Heimleitung. Gleichzeitig forderte ich die Betreiber auf, das Heim zu verlassen und alle Schlüssel und Unterlagen zu übergeben und sprach ein Hausverbot aus.

Ganz so reibungslos lief das Ganze dann jedoch nicht ab. Der nun abgesetzte Heimleiter riss mir völlig unerwartet das Protokoll aus der Hand und stürmte mit diesem aus dem Zimmer. Völlig verdutzt blieben mein Rechtsanwalt und ich zurück. Dieser forderte mich auf, die Polizei zu rufen. Nach Eintreffen der Polizei klärte mein Rechtsanwalt diese über die Lage und die rechtliche Situation auf. Irgendwann tauchte der ehemalige Heimleiter wieder auf und gab an, dass er das Protokoll zerrissen und ins Klo hinuntergespült habe. Rechtlich gesehen hat ihm das nichts gebracht. Von der Polizei wurden die Betreiber dann aufgefordert, das »Haus Marie« zu verlassen und das Hausverbot zu befolgen.

Eine der wenigen Personen, die im Vorfeld eingeweiht gewesen waren, war Frau Drochner. Sie wartete in der Nähe auf meinen Anruf und kam, nachdem die Betreiber das »Haus Marie« verlassen hatten, zu uns.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Mitarbeiter über die neuen Gegebenheiten aufzuklären. Das anwesende Personal hatte spätestens mit der Ankunft der Polizei mitbekommen, dass sich etwas Ungewöhnliches abspielte. Was aber wirklich ablief, nämlich die Übernahme des Pflegeheims durch Frau Drochner und mich, konnte sich bis dahin wohl keiner vorstellen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass fast alle über diese Entwicklung froh waren.

Dass es sicherlich nicht einfach werden würde, ein derart heruntergewirtschaftetes Pflegeheim wieder auf Vordermann zu bringen, war uns durchaus bewusst. Was uns aber tatsächlich alles erwartete, überstieg meine schlimmsten Befürchtungen. Chaos an allen Ecken und Enden. Es fehlte überall, an Personal, an Lebensmitteln, im Büro fehlten Unterlagen oder waren erst nach längerer Suche in irgendeinem falschen Ordner zu finden. Wir wussten überhaupt nicht, wo wir anfangen sollten. Was aber das Schlimmste für mich war: Der Zustand vieler Bewohner spiegelte den Zustand des gesamten Heimes wider. In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass man in Deutschland in einem Pflegeheim so mit Menschen umgeht. Da ich mich bis dahin in keiner Weise mit Pflege beschäftigt hatte, war ich davon ausgegangen, dass in der Pflegelandschaft in unserem reichen Land schon alles seine Ordnung habe. Auch nach diesem Einstieg in die Pflege ging ich davon aus, dass der Zustand im »Haus Marie« ein krasser Einzelfall war. Im Laufe der letzten Jahre wurde ich aber leider eines Besseren belehrt.

Nun ging die Arbeit erst richtig los. Zunächst sorgten wir dafür, dass genügend Lebensmittel angeschafft wurden, damit die Bewohner in Zukunft wenigstens etwas Anständiges zum Essen bekamen.

Dann machte ich mich daran, endlich genügend Personal einzustellen. Dazu setzte ich mich telefonisch mit dem zuständigen Arbeitsamt in Verbindung. Ich konnte kaum glauben, was mir der zuständige Sachbearbeiter mitteilte. Ich bekam die Auskunft, dass das Arbeitsamt kein Personal mehr ans »Haus Marie« vermittle, da aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen sowieso niemand bereit sei, länger dort zu arbeiten. Daraufhin klärte ich ihn über die neue Situation auf und erläuterte ihm mein Anliegen, das Pflegeheim in ordentliche Bahnen zu lenken. Erst daraufhin war er zu einer neuerlichen Zusammenarbeit bereit.

Ähnlich erging es mir auch bei anderen Stellen wie beispielsweise bei Lieferanten, die teilweise schon längere Zeit auf ihre Bezahlung warten mussten. Es war viel Aufklärungsarbeit notwendig, um das Heim nicht nur weiter betreiben zu können, sondern auch, um die desolaten Zustände zu verbessern.

Und jetzt machte ich etwas, was in der Pflegebranche bis dahin offensichtlich einmalig war. Ich trat die Flucht nach vorn an. Ich gab öffentlich zu, dass die Zustände im »Haus Marie« unhaltbar waren. Ich bestätigte alle Vorwürfe, die von verschiedenen Seiten gemacht wurden. Teilweise waren die Missstände noch schlimmer als bekannt. Ich teilte aber auch überall mit, dass ich alles Menschenmögliche tun würde, um aus dem Pflegeheim »Haus Marie« ein gutes Heim zu machen. Mit dieser Einstellung und Ehrlichkeit stieß ich in der Folgezeit auf viel Sympathie. Da man mir abnahm, dass ich es ehrlich meinte, bekam ich Hilfe von verschiedenen Seiten. Kollegen von anderen Heimen gaben mir Ratschläge, Zulieferer schlossen entsprechende Verträge mit mir ab, und auch die Angehörigen halfen am Anfang, die Situation zu verbessern.

Was mich aber am meisten überraschte, war, dass plötzlich die Presse auf mich aufmerksam wurde. Einen Heimleiter, der öffentlich zugibt, dass es in seinem Heim Missstände gegeben hat, das gab es anscheinend bisher noch nicht. In der Augsburger Allgemeinen erschien ein großer Artikel. Es wurde von dem Heimleiter berichtet, der die skandalösen Zustände öffentlich zugab und angetreten war, um diese zu beseitigen. Damals war ich überrascht, dass meine Offenheit so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Damals wusste ich auch noch nicht, dass in vielen Heimen gelogen und betrogen wird, dass sich die Balken biegen. Damals wusste ich noch nicht, dass sich die Pflege zu einem lukrativen Wirtschaftszweig entwickelt hat und der caritative Gedanke und das Bestreben um das Wohlergehen alter, pflegebedürftiger Menschen irgendwann und irgendwo verloren gegangen sind.

Von da an verbrachte ich dann immer mehr Zeit im »Haus Marie«. Das war auch notwendig, um die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten. Meine Präsenz im »Haus Marie« führte schließlich nicht nur dazu, dass sich die Zustände in Bereichen, die ich beeinflussen konnte, veränderten, sondern sie hatte auch zur Folge, dass ich immer mehr Einblick in die Pflegesituation bekam und sich dadurch meine Einstellung insgesamt veränderte.

Ursprünglich hatte ich mit dem Pflegeheim nur Geld verdienen wollen – und zwar so viel wie möglich. Doch ab dem Zeitpunkt, als ich tatsächlich vor Ort die Geschicke in der Pflege mitzubestimmen hatte, bekam ich nun hautnah mit, was Pflege bedeutet. Schon bald stellte ich fest, welche Empathie und welch sozialer Einstellung es bedarf, um hilflose pflegebedürftige Menschen würdevoll zu pflegen. Ich begriff, was für eine wertvolle Arbeit Pflegekräfte leisten. Und da ich vor Ort war, sah ich auch die Bewohner. Ich schaute ihnen in die Augen. Mit der Zeit kannte ich jeden Bewohner persönlich. Ich lernte, wie man mit dementen Menschen umgeht. Dieser Lernprozess war nicht immer einfach. Einmal spuckte mir eine Bewohnerin ins Gesicht, als ich ihr zu erklären versuchte, warum sie nicht hinaus auf die Straße darf. Heute weiß ich, dass ein dementer Mensch so logische Erklärungen nicht versteht und man ihm eine für ihn plausible Antwort geben muss. Aber auch solche Erfahrungen gehörten zu meiner Entwicklung. Und so wurde aus einem Investor, der nur die Gewinne im Blick hatte, ein Kümmerer. Einer, dem das Wohl der pflegebedürftigen Menschen immer wichtiger wurde als satte Gewinne.

Vom Saulus zum Paulus.

Ich wusste nicht, was mir alles noch bevorstand.

2

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Menschenrechtsverletzungen im Altenheim

Je intensiver ich mich um das »Haus Marie« kümmerte, desto mehr Einblick bekam ich auch in die Pflege. Und desto mehr wich aber auch meine Vorstellung von einer heilen Welt der Pflege der bitteren Erkenntnis, dass in vielen deutschen Pflegeheimen der Artikel 1 des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar! Aber das gilt wohl leider nur, solange man über sich selbst bestimmen kann. Sobald man auf die Hilfe Dritter angewiesen ist oder in ein Pflegeheim ziehen muss, werden leider allzu oft die im Grundgesetz garantierten Menschenrechte grob missachtet.