Der Piefkemörder - Torsten Schönberg - E-Book

Der Piefkemörder E-Book

Torsten Schönberg

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Beschreibung

Im Wiener Männerwohnheim in der Meldemannstraße 27 geht es für Yuri Sonnenburg und seine Schwester Máša alles andere als ruhig zu. Als Teil des Integrationsprogramms „Piefke 5“ kämpfen sie nicht nur mit den Herausforderungen, ein „guter Österreicher“ zu werden, sondern finden sich auch plötzlich im Zentrum eines mysteriösen Mordfalls wieder. Während die Ermittlungen andauern, geraten die Geschwister immer tiefer in ein Netz aus Verdächtigungen, Intrigen und dunklen Geheimnissen. In dieser meisterhaften Mischung aus bissiger Satire und düsterer Noir Fiction (Roman Noir) entfaltet sich eine Geschichte, die zugleich humorvoll und bedrückend ist. Der Piefkemörder zeigt Wien von seiner skurrilsten Seite – voll von zwielichtigen Gestalten, dunklen Machenschaften und schockierenden Wendungen. Doch ist der wahre Mörder wirklich gefasst – oder verbirgt sich hinter der Fassade noch viel mehr? Mit einem scharfen Blick auf das Wiener Leben erzählt „Der Piefkemörder“ die Geschichte zweier Geschwister, die zwischen den Fronten aus Verdächtigungen, Polizeiermittlungen und einem unerbittlichen Überlebenskampf stehen. Wer spielt hier mit wessen Leben – und wer wird zuletzt lachen?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Torsten Schönberg

Der Piefkemörder

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Zum Buch

Impressum

Prolog

Yuri Sonnenburg

Yuri und Georg unter Mordverdacht

Máša Sonnenburg

Abschiebung nach Deutschland

Mášas Pistole

Blutiges Finale in der Ideenwerkstatt

Festmahl im Onanierzimmer

Epilog

Danksagung

Bücherreihe „Wiener Schmarrn“

Widmung

Für Christian

Seit unserer Schulzeit hast du mich begleitet, ein Freund, der durch nichts zu ersetzen ist. Dein plötzlicher Abschied hinterlässt eine Leere, die nicht gefüllt werden kann. Dieses Buch widme ich dir, in Erinnerung an unsere Freundschaft.

Zum Buch

In Wien, wo Schatten tanzend weilen,

sucht Yuri nach den finstren Seilen,

die das Verbrechen heimlich knüpfen,

um den Frieden aufzuknüpfen.

Mit Máša, die stets wachsam bleibt,

dringen wir in die Dunkelheit.

Ein Zylinder rollt durch Wiens Gassen,

trägt Geheimnisse, die wir fassen.

Markovic, der finstre Geist,

zeigt, wie tief die Angst hier kreist.

Doch die Piefke 5 sind wach und klug,

lösen jeden Rätselzug.

Im Prater, wo von oben das Riesenrad

still blickt auf das Wiener Blutbad,

dreht sich die Jagd in vollem Kreise,

führt uns durch dunkle Wege, leise.

Doch wenn das letzte Licht erlischt,

zeigt sich des Grauens wahres Gesicht.

Süße Täuschung Im Wiener Männerwohnheim in der Meldemannstraße 27 geht es für Yuri Sonnenburg und seine Schwester Máša alles andere als ruhig zu. Als Teil des Integrationsprogramms „Piefke 5“ kämpfen sie nicht nur mit den Herausforderungen, ein „guter Österreicher“ zu werden, sondern finden sich auch plötzlich im Zentrum eines mysteriösen Mordfalls wieder. Während die Ermittlungen andauern, geraten die Geschwister immer tiefer in ein Netz aus Verdächtigungen, Intrigen und dunklen Geheimnissen. Doch ist der wahre Mörder wirklich gefasst – oder verbirgt sich hinter der Fassade noch viel mehr? Mit bissigem Humor, Spannung und einem scharfen Blick auf das Wiener Leben erzählt „Der Piefkemörder“ die Geschichte zweier Geschwister, die zwischen den Fronten aus Verdächtigungen, Polizeiermittlungen und persönlichem Überlebenskampf bestehen müssen. Wer spielt hier mit wessen Leben – und wer wird das letzte Lachen haben?

Torsten Schönberg, 1969 in Eschwege geboren, studierte Geologie und Paläontologie in Göttingen und Wien, ist ein vielseitiger Autor, der sich durch seine originellen Kriminalgeschichten einen Namen gemacht hat. Seine Geschichten, oft geprägt von schwarzem Humor, skurrilen Figuren und geheimnisvollen Wendungen, spielen meist in der facettenreichen Stadt Wien. Inspiriert von seiner Wahlheimat, lässt er historische Elemente mit modernen Themen verschmelzen und kreiert so spannende und unterhaltsame Erzählungen, die seine Leser immer wieder in den Bann ziehen. Seine bisherigen Werke haben ihn als scharfsinnigen Beobachter der österreichischen Kultur und als Meister der humorvollen Kriminalliteratur etabliert.

Impressum

© 2024 Torsten Schönberg. Alle Rechte vorbehalten.

Dieses eBook ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung, Verbreitung oder andere Nutzung, auch auszugsweise, ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors ist untersagt.

Alle im Buch erwähnten Personen, Orte und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebendig oder verstorben, sowie tatsächlichen Ereignissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Der Inhalt dieses eBooks wurde sorgfältig erstellt. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Informationen kann jedoch keine Gewähr übernommen werden. Der Autor übernimmt keine Haftung für direkte oder indirekte Schäden, die durch die Nutzung der Inhalte dieses eBooks entstehen.

Kontakt: [email protected]

Prolog

Wien. Eine Stadt, in der sich die Vergangenheit in den prachtvollen Fassaden spiegelt, während die düsteren Geheimnisse im Schatten lauern. Für uns Piefkes, wie man uns Deutsche hier nennt, ist es kein leichtes Pflaster. Wer hier überleben will, muss sich den ungeschriebenen Regeln beugen, den Blicken der Wiener standhalten und die ständige Kluft zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein aushalten.

Das Männerwohnheim in der Meldemannstraße 27 ist mein Zuhause – zumindest vorübergehend. Hier, zwischen den abgegriffenen Wänden, teilen wir uns nicht nur Räume, sondern auch Geschichten, die besser nie ans Licht kommen sollten. Die Stadt stellt uns vor Prüfungen, zwingt uns, das Spiel mitzuspielen, auch wenn die Regeln alles andere als klar sind. Wer die Erwartungen nicht erfüllt, landet schnell im Abseits – oder schlimmer noch.

Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, hier jemals wirklich anzukommen. Wien hat seine eigene Art, Menschen zu verändern. Es umgarnt dich mit seiner Schönheit, nur um dir im nächsten Moment den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Für uns Piefke 5, die hier versuchen, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, ist jeder Tag ein Kampf um Anerkennung – ein Kampf, den wir nicht immer gewinnen.

In diesem Prolog werde ich mich jedoch zurückhalten, die grausigen Details der Mordfälle zu verraten. Aber seid versichert: In Wien lauern immer neue Gefahren und es gibt mehr als genug Geheimnisse, die sich in den kommenden Kapiteln entfalten werden.

Ich bin Yuri Sonnenburg, strategischer Leiter der Piefke 5, und das ist meine Geschichte. Doch manchmal frage ich mich, ob ich in dieser Stadt jemals tatsächlich eine Chance haben werde. Denn eines ist sicher: Wien vergisst nicht.

Yuri Sonnenburg

25. Dezember - Samstag

Manchmal dachte ich, ich sei eine wunderbare Mischung aus humorvoll und tiefsinnig – je nachdem, ob ich den Tag mit einem Lachen oder einem Seufzer begann. Es war Samstagmorgen, etwa halb sieben, und ich lag im Wiener Männerwohnheim, diesem Zufluchtsort für Obdach- und Arbeitslose in der Meldemannstraße 27 im 20. Bezirk, Brigittenau. Von draußen drangen die Geräusche der Straßenbahnen herein, die laut quietschend um die Ecke bogen. Der unverwechselbare Klang erinnerte mich daran, dass Wien schon längst erwacht war, während ich noch immer im Halbschlaf lag. Du wirst dich jetzt sicher fragen, was ein Männerwohnheim ist. So eine marode Absteige? – Marode schon, und grindig.

Ich wurde als Yuri Sonnenburg in der Mitte Deutschlands geboren, aufgewachsen zwischen den sanften Hügeln Hessens und den Flüssen, die sich durch die Landschaft schlängelten. Doch meine Reise führte mich weiter, hin zu neuen Horizonten. Nach meinem Geologiestudium an der ehrwürdigen Georg-August-Universität in Göttingen verschlug es mich nach Wien, die einstige Hauptstadt der Habsburger – ein Ort, der von Geschichte, Eleganz und einer leisen, ständigen Melancholie durchzogen war.

Wien war keine Stadt, die sich einem sofort offenbarte. Sie glich einem Buch, das man langsam aufschlagen musste, Seite für Seite. Die imposanten Kuppeln der Hofburg ragten über der Stadt empor, doch oft verschwanden sie im dichten Nebel, der durch die Gassen kroch, als ob die Stadt selbst ihre Geheimnisse verbergen wollte. Und während ich durch die Straßen streifte, hörte ich das gleichmäßige Klappern der Fiakerkutschen, das widerhallte, als käme es aus einer anderen Zeit, einem längst vergessenen Zeitalter des Glanzes und der Schatten.

Es war genau hier, in diesem faszinierenden Spannungsfeld zwischen Geschichte und Moderne, zwischen Anmut und Abgrund, dass meine Abenteuer begannen. Von diesen Erlebnissen wollte ich euch nun berichten. Geschichten von Mord, Intrigen und Mysterien, die sich in den verborgenen Winkeln dieser ehrwürdigen Stadt ereigneten – Wien, die Stadt, die so viele Gesichter hatte, und doch nie alle zeigte.

Es war diese Stadt, in der der Duft von frischen Kipferln und Kaffee aus den Kaffeehäusern strömte – ein Ort, der so schön und gleichzeitig so seltsam verkommen war, dass er perfekt zu mir passte.

Im Bett unter mir lag Georg, ein Kärntner Urvieh, ebenfalls diplomierter Geologe, und grunzte im Schlaf leise vor sich hin, während irgendwo auf dem Gang die dünne Tür eines Spinds knarrend auf- und zugeschlagen wurde. Aus der Ferne hörte man das gedämpfte Husten eines Mitbewohners, begleitet vom gelegentlichen Klirren eines herabfallenden Blechtellers, das durch die kahlen Wände des Wohnheims hallte. Georg war das typische Kärntner Urvieh: robust, stur und mit einer gemütlichen Gelassenheit, die nur ein Österreicher besitzen konnte. Unser Zimmer im vierten Stock des Männerwohnheims war karg und spartanisch eingerichtet. Ein modriger Geruch haftete an den rissigen Tapeten, und der kalte Betonboden fühlte sich selbst durch die dünnen Socken eisig an. Die Matratzen waren dünn und hart, und jede Feder stach durch den abgenutzten Stoff, während das Bett bei der kleinsten Bewegung protestierend quietschte. Aus dem Gang hörte man das unaufhörliche Husten von Kucera, ein kratzendes Geräusch, das immer wieder von einem dumpfen Klirren unterbrochen wurde, wenn jemand versehentlich einen Teller auf den Boden warf. Das Wohnheim hatte seine eigene, traurige Melodie – eine Mischung aus quietschenden Betten, hustenden Lungen und dem gelegentlichen Fluch eines Mitbewohners.

Georg war mein einziger Freund, und Freunde waren in diesem Milieu von unschätzbarem Wert. Während er es genoss, die Dinge ruhig und entspannt anzugehen, war ich als Deutscher oft derjenige, der nach Effizienz und Ordnung strebte. Wenn Georg allerdings eine Abkürzung sah, war er nicht zimperlich und schlug manchmal einfach zu, um seinen Willen durchzusetzen. Unsere unterschiedlichen Mentalitäten führten häufig zu hitzigen Diskussionen, aber gerade diese Unterschiede schweißten uns zusammen und machten unsere Freundschaft so einzigartig.

„Jetzt nicht, Yuri“, flüsterte Judith und warf einen nervösen Blick zur Tür.

„Ach komm schon“, erwiderte ich leise, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.

„Du wirst das Urvieh noch wecken“, warnte sie und deutete auf Georg, der im Bett lag.

„Er ist schon wach“, brummte Georg verschlafen aus der unteren Etage des Stockbetts.

„Lass mich einfach schlafen.“ Judith, meine Freundin und Mitbewohnerin, eine Oberösterreicherin und passionierte Katzenfrisörin, konnte ihre Ruhe nicht genießen.

„Was ist mit unserem Quickie am Morgen? Georg pennt noch.“

„Ich habe alles gehört! Könnt ihr die Schweinereien nicht im Onanierzimmer treiben?“

„Siehst du, du hast ihn geweckt. Jetzt mag ich auch, mein Schatz.“

Ich war kein Schatz, kletterte vom Hochbett hinunter und schlüpfte in meine seit Wochen nicht gewaschene Jeans. Durch das beschlagene Fenster beobachtete ich das dichte Schneetreiben, während der muffige Geruch alter Kleidung und abgestandenen Essens meine Nase reizte. Die kalte Luft, die durch die Ritzen des Rahmens drang, mischte sich mit dem scharfen Aroma von Novotnys billigen Zigaretten, die irgendwo im Gang geraucht wurden. Schneeverwehungen türmten sich auf der Straße und dem Gehsteig.

Auf der anderen Straßenseite der Meldemannstraße lag die Greißlerei vom alten Novotny. Die Schaufenster waren vergilbt, und in der Ecke stand immer eine traurige Topfpflanze, die irgendwie nie mehr als drei Blätter hatte. Dieses kleine, aber feine Lebensmittelgeschäft war in den letzten Monaten immer mehr zur gesellschaftlichen Drehscheibe einiger Bewohner unseres Wohnheims geworden. Wenn man die Tür öffnete, erklang das metallische Klingeln einer alten Türglocke, und der Geruch von sauren Gurken und abgestandenem Bier drang einem in die Nase. Novotny selbst stand meist hinter der Theke, sein misstrauischer Blick musterte jeden, der die Schwelle überschritt, als ob er ihn auf der Stelle des Ladendiebstahls verdächtigen würde. Ich konnte mich noch gut erinnern, dass Novotny nach meiner Ankunft in Wien uns Piefkes verscheuchte, da wir vor seinem Laden herumlungerten und die Kundschaft vertrieben. Doch urplötzlich kam es zu einem Sinneswandel des Greißlers. Er richtete in einer Ecke seines Geschäfts einen Stammtisch ein und bewirtete uns mit edlem Fusel aus der Dopplerflasche. Natürlich verkaufte er weiterhin die echten Wiener Schmankerln, aber seltsam war dieser Kurswechsel dennoch. Doch das würde er wohl nie zugeben.

„Kommst du wieder hoch? Ich mag jetzt auch!“, fragte Judith ungeduldig. Ich spürte, dass es ihr dabei nicht nur um den körperlichen Aspekt ging. Judith war eine Frau, die Nähe suchte, auch wenn sie es nie zugeben würde. Vielleicht war unsere Beziehung mehr für sie, als sie sich selbst eingestehen konnte – oder mehr, als ich bereit war zu akzeptieren. Egal. Ich wusste nur, dass diese Momente unsere Art waren, in einer Welt voller Unsicherheiten Halt zu finden. Ich war nie wirklich romantisch, aber die Vertrautheit, die sich in ihren fordernden Worten zeigte, hatte für mich doch etwas Vertrautes.“

Kaczmarek, Novotnys Lakai, schaufelte den Schnee auf die Straße. Durch das Fenster konnte ich ihn sehen, wie er sich mit gebeugtem Rücken abrackerte. Er hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Seine Bewegungen wirkten müde, als ob jede Schaufel mehr Gewicht trug, als sie sollte. Der eisige Wind rüttelte an den Fensterrahmen, und ich konnte mir vorstellen, wie Kaczmareks Atem in dichten Schwaden aufstieg, während er mit seinem knarrenden Schaufelblatt gegen den Schnee kämpfte. Kaczmarek wohnte mit Kucera, dem Tapezierer, im Nachbarzimmer. Der Lakai war die rechte Hand des Greißlers und arbeitete im Dokumentationsarchiv der Habsburger im Schloss Schönbrunn. Angeblich suchte er dort nach kaiserlichem Schmutz, mit dem er die adeligen Nachkommen erpresste. Er war ein komischer Kauz. Ich mochte ihn nicht, obwohl ich ihn gar nicht richtig kannte.

„Yuri?“ Judith nervte.

„Geht ins Onanierzimmer, sag ich nur“, raunzte Georg.

„Ich will aber nicht onanieren“, suderte ich in Gedanken versunken. Der Gedanke, im kalten Onanierzimmer zu frieren, während ich mich in eine absurde Warteschlange einreihte, erschien mir weniger verlockend als eine besonders schlecht gewordene Currywurst. Außerdem hatte ich Judith – zumindest manchmal. Das war mir bedeutend lieber, als eine Schlacht mit dem rostigen Türknauf des Onanierzimmers auszufechten. Aber vielleicht war ich auch einfach nur faul ... egal.“

Die Fensterscheibe vor mir war eiskalt. Ich hauchte gegen das Glas und malte mit dem Zeigefinger eine 5.

Wir gehörten zu Piefke 5, dem Arbeits- und Integrationsprogramm für deutsche Migranten. Warum sie Georg in dieses Programm steckten, wollte uns niemand beantworten. Wahrscheinlich konnten die Wiener die Kärntner noch weniger leiden als uns Deutsche und brummten ihnen deshalb die höchstmögliche Strafe auf: mit einem Piefke ein Zimmer zu teilen.

Verantwortlich für das Programmmanagement war die Stabsstelle Piefke 5 im Wiener Arbeitsmarktservice. Kreative Köpfe versuchten uns zu beschäftigen, damit wir keine Dummheiten machten. Neben Piefke 5 gab es für die Wirtschaftsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien das Programm Tschuschen 6 und für die türkische Minderheit lief schon die x-te Fortsetzung von Atatürk hab 8. Ziel dieser Programme war es, aus uns gute Österreicher zu machen, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Das wichtigste Zertifikat in der Alpenrepublik.

Aber für mich war Piefke 5 nie nur ein Programm. Es war ein Kampf, eine Untergrundbewegung, ein Statement gegen die Bedingungen, unter denen wir hier leben mussten. Ich erinnerte mich noch genau an meinen letzten Tag in Deutschland – an die Erniedrigung, als ich mich bei einem Jobcenter in einer Warteschlange mit Hunderten anderen hoffnungslosen Gesichtern wiederfand. Damals versprach ich mir selbst, nie wieder so passiv zu sein, nie wieder nur ein Rädchen in einem System, das mich nicht wollte. In Wien sah ich eine Chance, wenigstens etwas zu verändern – und wenn das bedeutete, mit einer Bewegung wie Piefke 5 die Dinge aufzumischen, dann war es mir das wert.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Mann mit einem altmodischen, blauen Motorradhelm stand schwer atmend mitten im Zimmer. Auf dem Helm klebte ein lustiger „Ich liebe Österreich“-Aufkleber. Es war Herbert. „Es gibt keinen Zweigelt mehr“, jammerte er mit weinerlicher Stimme. Herbert kam aus dem Waldviertel und er liebte Zweigelt. „Kucera hat gesagt, dass ich ein Schmarotzer sei und mir den Fusel bei Novotny holen solle, aber der hat doch geschlossen.“

Kucera, der mit Kaczmarek im Nachbarzimmer wohnte, war seit dieser Woche der Hilfsleiter der Großküche im Männerwohnheim, einer Küche, die stets nach angebrannten Kartoffeln und billigen Würstchen roch. Der abgenutzte Linoleumboden war voller klebriger Flecken, und der zischende Lärm des immer überlasteten Wasserkochers war fast schon ein ständiger Begleiter. Die Bewohner warteten geduldig in der Schlange, während der stechende Geruch von Essig und verbranntem Fett die Luft erfüllte. Es ging das Gerücht um, dass in den nächsten Tagen ein neuer Leiter diesen einflussreichen Posten antreten würde.

Herbert schlug mit seinem Helm gegen den Bettpfosten.

„Bist deppert!“, schrie Georg. „Verschwinde!“ Das Urvieh konnte den Waldviertler nicht leiden.

„Aber er ist doch tot!“, kreischte Herbert.

„Tot?“ Jetzt waren alle wach. Sogar Georg.

„Wer ist tot?“, brüllte ich ihn an. Nicht schon wieder ein Toter im Wohnheim. Das endete doch immer im Chaos.

„Kucera … Er hat noch auf die Greißlerei gezeigt, dann ist er zusammengesackt und nicht mehr aufgestanden. Ich habe ihn umgebracht.“ Herbert klang wie ein jammernder Hund.

„Papperlapapp! Herbert, zeig mir, wo er liegt.“

Zusammen rannten wir die Treppe hinunter zur Großküche ins Erdgeschoss. Unser Weg führte durch den Speisesaal, in dem ein paar Piefke 5 und Tschuschen 6 saßen und frühstückten. Sie kauten seelenruhig auf den furztrockenen Semmeln vom Vortag, die uns die guten Österreicher gespendet hatten.

Kucera lag mit seiner roten Bommelmütze in der Hand auf der Türschwelle zur Großküche und Kaczmarek, der gerade noch vor Novotnys Greißlerei Schnee geschaufelt hatte, beugte sich über den leblosen Körper und schlug ihm mehrfach mit seinen von schmutzigem Schnee durchtränkten Fäustlingen ins Gesicht. Der Hilfsleiter der Großküche rührte sich nicht.

„Sag mal, bist deppert?“, schrie Georg den Lakaien an.

„Lass mich mal.“ Judith schob Kaczmarek unsanft zur Seite, kniete sich neben den Tapezierer, tastete seinen Hals ab und griff in seine ausgebeulten Hosentaschen. „Warum hat er so viel Traubenzucker in der Tasche?“

Kaczmarek zuckte zusammen, als hätte sie einen wunden Punkt getroffen. „Schau mich nicht so an!“, fauchte Novotnys Lakai sie an.

„Du wohnst doch mit ihm zusammen?“

„Ja, und? Du pennst auch ständig bei Yuri und Georg. Kennst du den Inhalt ihrer Hosentaschen?“ Kaczmareks Stimme klang scharf, als wollte er Judiths Fragen bewusst abblocken.

Ich schaute Georg irritiert an. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Die Oberösterreicherin machte eine abwertende Geste und reichte Herbert den Traubenzucker. „Hol schnell ein Glas Wasser und gib den Zucker rein.“

Herbert kratzte sich am Helm.

„Hast du mich verstanden?“, herrschte ihn Judith ungeduldig an.

Während Herbert den Wasserhahn suchte, fiel mir ein auf, der schon die ganze Zeit ein paar Meter entfernt ganz allein an einem Tisch saß und unregelmäßig an seiner weißen Kaffeetasse nippte. Mich irritierte irgendetwas in seinem Gesicht. War es seine Nase? Sie wackelte so komisch, wenn er seinen Kopf hin und her bewegte.

Herbert reichte mit seinen zittrigen Händen der Katzenfrisörin das Wasserglas.

Sie benetzte ihre Fingerkuppen und flößte Kucera so behutsam wie möglich die süße Flüssigkeit tröpfchenweise in den halboffenen Mund.

Langsam kam er wieder zu sich und starrte in die Runde. „Ich habe keinen Zweigelt mehr. Das habe ich ihm schon gesagt.“

„Wir atmeten tief durch. Kucera war wieder unter den Lebenden – für wie lange, konnte keiner sagen. Angeblich hatte man ihm am Morgen Blut abgenommen, aber wer weiß das schon genau? In diesem Wohnheim war die Grenze zwischen Leben und Tod so fließend wie die Wasserversorgung – meistens eher trocken.“ Das war wohl der Grund für die Bewusstlosigkeit. Den Traubenzucker hatte er vom Arzt bekommen – für alle Fälle. Warum das unbedingt am Weihnachtstag sein musste, blieb sein Geheimnis. Egal.

Ich hasste diese aufregenden Momente am frühen Morgen im Männerwohnheim. Kein Quickie, kein Frühstück und nur Ärger. Dann waren da noch die seltsamen Blicke des Mannes mit der komischen Nase. Er musterte mich und Georg, als wir an ihm vorbei durch den Speisesaal gingen.

„Markovic?“, rief Kucera aus der Küche. „Sind Sie Herr Markovic?“

Dieser nickte.

*

Samstag war immer unser freier Tag. Da durften wir unser Streben, ein guter Österreicher zu werden, ruhen lassen. In der Öffentlichkeit würden wir das natürlich nie zugeben. Ganz wichtig für die guten Österreicher war, dass wir Piefke 5 die zehn Gebote der Zuwanderung verinnerlichten. Wir wurden von der Stabsstelle Piefke 5 angehalten, diese Verhaltensregeln strikt einzuhalten. Jeder Migrant musste ein offizielles Dokument bei der Ankunft in Österreich unterschreiben. Das zehnte Gebot lautete: „Du sollst Österreich gegenüber Dankbarkeit leben“ und „Finger weg von den guten Österreicherinnen“ lautete ein anderes Gebot im übertragenen Sinne.

Herbert lernten Georg und ich kurz nach unserer Flucht aus Wien im Waldviertel kennen. Da war ich gerade einmal einen Tag in Wien. Dort saß er mit seinem blauen Helm in einem Gasthaus auf dem Truppenübungsplatz in Allensteig und starrte in sein Vierterl Zweigelt. Ein paar Wochen später wurde er im Wohnheim als Aufsichtspersonal für die Desinfektionskammer eingestellt.

Aber heute war nicht nur unser freier Tag, sondern auch unser erstes Weihnachtsfest in Wien. Georg raunzte schon seit Tagen herum. Das Familienfest konnte seine Stimmung nicht verbessern. Kein Wunder. Seit Monaten lebte er von seinem kleinen Sohn getrennt, der bei seinen Eltern in Kärnten lebte. Seine Frau starb bei einem Drachenfliegerschnupperkurs unweit von Innsbruck. Jetzt waren wir seine Familie. Leider fremdelte das Urvieh unter den vielen Piefkes, obwohl er sich mühte, sich einzuleben.

Auch für mich war dieses erste Weihnachtsfest in Wien mit zwiespältigen Gefühlen verbunden. Ehrlich gesagt, manchmal fragte ich mich, ob es eine geniale oder einfach nur eine unglaublich dumme Entscheidung gewesen war, nach Wien zu kommen. Ja, Österreich war das Land, wo Milch und Honig flossen – zumindest in meiner naiven Vorstellung damals. Inzwischen kam es mir eher vor wie das Land, wo Bürokratie und Frust auf einem endlosen Förderband liefen. Aber hey, jetzt war ich – und irgendwie musste ich das Beste daraus machen.

Genau vor einem Jahr saß ich noch mit meiner Familie in Grebendorf im Norden von Hessen vor dem Weihnachtsbaum, einer Nordmanntanne, und wir unterhielten uns über die Perspektivlosigkeit in Deutschland. Wirtschaftlich lag das Land in Trümmern. Als frischgebackener Akademiker hatte ich keine Aussicht auf eine Anstellung. Wir retteten den Weihnachtsabend, indem wir in unseren Zillertaler Urlaubserinnerungen schwelgten. Wie schön dufteten damals die gemähten Wiesen nach Heu und wie freundlich servierten uns die liebenswürdigen guten Österreicher die frischen Semmeln mit der hausgemachten Marillenmarmelade. Dann erinnerte ich mich noch an einen ganz besonderen Höhepunkt: Kaiserschmarrn mit Zwetschkenröster. Österreich wurde an diesem letzten Weihnachten in meiner Heimat immer mehr zu einem Sehnsuchtsziel. Ich wollte auch ein guter Österreicher werden. Mittlerweile sah die Realität ein wenig anders aus. Die guten Österreicher servierten uns hausgemachte Regeln, die unser bisheriges Leben gewaltig auf den Kopf stellten. Die Zillertaler Erinnerungen wurden langsam aber sicher von den immer dichter werdenden Nebelschwaden, die das Piefke-5-System produzierte, verschluckt.

„Yuri? Yuri, mein Schatz. Träumst du?“

„Nein, ich denke nur an meine Familie und sag nicht immer Schatz zu mir.“

„Vermisst du sie, Zuckergoscherl?“

„Lass uns in den Garten gehen, Judith. Die anderen warten schon auf uns.“

Georg, Herbert und Kucera hatten für den heutigen Abend zu einem kleinen Weihnachtsgrillfest im Garten des Wohnheims eingeladen. Kucera organisierte, nachdem er sich von der morgendlichen Ohnmacht erholt hatte, fettige Bratwürste aus Novotnys Greißlerei. Die Würstchen konnten wir dann am Spieß über das lodernde Feuer halten oder auf das rostige Eisengitter legen, bis sie brutzelten. Es war zwar schweinekalt, aber nachdem nur noch wenige Schneeflocken durch den Garten schwebten, konnten wir uns mit warmer Kleidung und kuscheligen Decken hinaus in die Kälte wagen. Genau das, was wir brauchten: Fettige Bratwürste, die wir über einem lodernden Feuer in einem Garten, der mehr Mistkübel als Oase war, brutzeln konnten. Ein bisschen Barbecue in der Hölle – was sollte da schon schiefgehen?

Von unserem Zimmer im vierten Stock aus gesehen, lag der Garten direkt unter uns. In der Regel diente er den Wohnheimbewohnern als Mistkübel, wenn die Polizei eine Razzia veranstaltete. Dann warfen wir unsere Fuselbestände und sonstige im Heim verbotenen Waren aus dem Fenster.

Judith und ich folgten Georg im Keller zügig durch ein Labyrinth von Gängen. Rechts und links waren Räume mit Regalen. Wir blieben stehen, weil uns Mitbewohner entgegenkamen und wir in einen Kellerraum ausweichen mussten. Die Lampen an der Decke flackerten. Wir gingen weiter. Eine Ratte flüchtete. Judith hielt sich an meinem Arm fest.

Wir betraten den spärlich beleuchteten Innenhof des Männerwohnheims. Zwischen den Bäumen und Sträuchern lag ein Haufen Bauschutt, von Gestrüpp überwuchert. Daneben lag ein aufgeblasener, überdimensionaler Weihnachtsmann mit eingebauten LED-Leuchten halb auf dem Boden, halb in den Sträuchern. Seine Arme wedelten im Takt des Windes hin und her, eine groteske Szenerie inmitten dieses chaotischen Gartens.

Die Bewohner des Wohnheims bewegten sich hektisch kreuz und quer durch den Garten, als würden sie irgendetwas suchen oder sich auf etwas vorbereiten. Einer von ihnen, ein breitschultriger Mann, kam auf mich und Georg zu. Er trug ein schwarzes Korsett über seiner dicken Winterjacke. Als er mich erkannte, hob er eine Flasche in die Luft.

„Yuri! Magst einen Doppler?“ Er drückte mir die Flasche in die Hand, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich nahm einen kräftigen Schluck und reichte die Flasche dann wortlos an Georg weiter.

Während Georg trank, zupfte er neugierig am Korsett des Mitbewohners. „Was ist das für ein Fummel?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.

Der Wohnheimbewohner grinste breit, als wäre er stolz auf das Kleidungsstück. „Fesch, gell?“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse und zeigte auf die Hakenverschlussreihen, die sich quer über seine Bauchpartie zogen. „Das ist das Weihnachtsgeschenk der guten Österreicher für uns Piefke 5. Angeblich haben wir damit bessere Chancen, in die österreichische Gesellschaft aufgenommen zu werden.“

Ich schüttelte skeptisch den Kopf. „Ich weiß nicht. So ein Blödsinn.“

Kaczmarek und Kucera waren für das Feuer verantwortlich. Schon letzte Woche beobachtete ich Kaczmarek, wie er Feuerstäbe schnitzte, feuchte Rinde und feine Späne im Keller zum Trocknen auslegte. Vom Greißler bekam er Streichhölzer, deren Köpfe er in Wachs eintauchte, sodass sich eine Schutzschicht bildete, die so vor Nässe schützte. Der Lakai war ein Profi für ein Feuer in feuchter Umgebung. Er legte das feine, kleine Material als Basis auf die mit Granitbrocken im großen Rund begrenzte Feuerstelle, dann folgten die großen Holzstücke.

„Wo sollen wir uns hinsetzen?“, fragte ich Kucera.

„Einfach rund um das Feuer. Erwin ist auch schon da.“

Ich schluckte. „Erwin?“ Der hatte mir gerade noch gefehlt. Ich ging dem Berliner im Wohnheim – so gut es ging – aus dem Weg. Er hatte mir mal meine Ex-Freundin Isabel vor der Nase weggeschnappt. So ein Schuft. Ich hörte ihn noch mit seinem depperten Berlinerisch sagen: „Yuri, dit mit Isabel, dit jeht mir mächtig anne Nieren. Ick weeß nich, wie ick dir dit erklären soll, aber …“ Am liebsten hätte ich ihn geschnappt und ihm einige dieser Feuerstäbe in seine Berliner Plauze gerammt. „Mensch, Yuri! Tut mir leid, aber dit mit Isabel is eenfach so passiert“, jammerte er damals. Ich fing an zu knurren. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Isabel hatte ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Der Berliner saß in gebückter Haltung auf einem Sessel, hatte einen schwarzen Pullover an, dessen Kapuze sein halbes Gesicht verdeckte. Neben ihm stand eine Dopplerflasche Fusel. Judith ignorierte ihn. Nachdem Isabel ihre Beziehung mit dem Berliner Schuft beendet hatte, bandelte sie mit Judith an. Auch das hielt nicht lang und die Oberösterreicherin suchte Trost bei mir. Isabel verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Georg setzte sich neben Erwin und beäugte kritisch Kaczmareks Bewegungen, als wäre er ein Straßenkünstler auf der Kärntner Straße, der gleich einen Touristen übers Ohr hauen wollte. In diesem Moment war das Lagerfeuer weniger ein Ort für Weihnachtsfreude, sondern mehr wie ein schmieriger Stand auf dem Naschmarkt, dafür mit dem unvermeidlichen Hauch von Verzweiflung. „Wichtig ist, dass das Feuer atmen kann. Sonst wird das nichts.“ Das Urvieh hatte vollkommen recht.

Judith zog mich weg von der Feuerstelle. Neben den Stauden der Schwarzen Johannisbeere fing sie plötzlich an zu fummeln und wollte herumknutschen.

„Schatz, was ist los?“ Judith klang besorgt.

Ich seufzte. „Ich bin kein Schatz, kein Zuckergoscherl und auch kein Bussibär, Judith.“ Aber ehrlich gesagt, irgendwie mochte ich es doch, wenn sie diese Kosenamen benutzte. Vielleicht, weil sie mich daran erinnerten, dass in diesem verrückten Männerwohnheim voller kaputter Typen noch jemand war, der mich – auf ihre ganz eigene seltsame Art – gern hatte. Trotzdem, diese Kosenamen waren echt grenzwertig. Sie schienen irgendwo zwischen Wiener Charme und einer leicht klebrigen Liebeskomödie festzustecken.

„Komm wieder runter. Du bist schon den ganzen Abend so komisch nachdenklich“, sagte Judith mit einer Mischung aus Frustration und Sorge in ihrer Stimme. Ich wusste, dass es ihr nicht leichtfiel, diese Unsicherheit in unserer Beziehung zu akzeptieren. Sie hatte mir einmal gesagt, dass sie immer wieder mit dem Gedanken spielte, zu gehen – zurück nach Oberösterreich, wo alles einfacher wäre. Aber dann war da immer wieder dieser Funke Hoffnung, dass wir beide es irgendwie schaffen könnten, inmitten dieses Chaos etwas Wertvolles aufzubauen. Ich sah es in ihren Augen, die mich an diesem Abend fragend ansahen, als wollte sie eine Antwort auf eine Frage, die wir beide nicht auszusprechen wagten.

„Hör auf. Es ist doch kein Wunder. Erwin, der Sack, nervt schon wieder.“

„Mensch, Yuri. Wenn jetzt die Sache mit Isabel wieder hochkommt, gehe ich hoch ins Zimmer. Ich habe keine Lust, an unseren ersten gemeinsamen Weihnachten über Isabel und Erwin nachzudenken. Wirf den Berliner raus. Sag ihm, dass er gehen soll. Los!“

„Judith hatte recht. Warum musste Erwin ausgerechnet heute Abend hier rumsitzen? Ich werde das Problem ein für alle Male erledigen“, sagte ich und strich Judiths blonde Haare hinters Ohr mit der Perle im Ohrläppchen.

Ihre Augen blickten forschend in meine, als ob sie sicherstellen wollte, dass ich es nicht zu ernst meinte. „Du machst mir manchmal Angst, Yuri", sagte sie leise, „aber ich weiß, dass du nicht wirklich so bist."

Judith hielt inne, ein Ausdruck von Zärtlichkeit mischte sich mit ihrem Blick. Sie wollte das Chaos, das in mir tobte, bändigen, nicht, weil sie naiv war, sondern weil sie an das Gute in mir glaubte, an eine Seite, die ich selbst oft nicht sah. Trotzdem war ich kein Schatz.

„Lass uns den Abend genießen, Schatz.“

Ich konnte ihren Duft einatmen, eine Mischung aus Vanille und etwas Blumigem, das ich nicht genau identifizieren konnte. Ihre Nähe ließ mein Herz schneller schlagen, und als unsere Lippen sich trafen, war es, als ob die Zeit stillstand. Judiths Hände fuhren unter mein Hemd, ihre Berührungen erregten mich.

„Nicht hier, Yuri“, flüsterte sie, aber ihre Augen verrieten das Gegenteil. Gemeinsam schlichen wir uns ins dunkle Onanierzimmer. Kaum hatten wir die Tür hinter uns geschlossen, fiel alle Zurückhaltung. Judith zog mich zu sich, und wir ließen uns auf die alte, knarrende Couch fallen. Ihre Hände wanderten über meinen Körper, während ich ironischerweise an Isabel dachte – die Frau, die es irgendwie geschafft hatte, mir das Herz zu brechen, um sich dann aus dem Staub zu machen. Unsere Kleidung fiel, und für einen Moment vergaßen wir die Welt um uns herum, inklusive aller verflossenen Lieben und ironischen Erinnerungen. Egal.

Doch gerade als ich mich vollständig in den Moment verlor, blitzte ein Gedanke auf. „Was, wenn jemand hereinkommt?“ fragte ich, halb im Scherz, halb im Ernst. Judith stöhnte leise auf, aber nicht vor Lust, sondern vor Frustration.

Judith lachte, während ihre Hände weiterhin über meinen Rücken fuhren. „Wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben, hängen sie es an die große Glocke, und wir kriegen nicht nur eine Standpauke, sondern auch noch einen Eintrag ins Wohnheimregister.“ Sie seufzte. „Und dann heißt es wahrscheinlich, dass wir einen Verstoß gegen die Wohnheimregeln begangen haben, und du weißt ja, wie schnell sich das in die falschen Ohren verirrt.“

„Egal“, murmelte ich. „Und dann? Hausarrest? Oder gar Rauswurf?“

„Eher Letzteres“, antwortete Judith und grinste dabei frech. „Wenn wir Pech haben, schmeißt uns die Heimleitung raus. Dann müssen wir uns nicht nur ein neues Bett suchen, sondern auch einen neuen Ort, wo wir uns in Ruhe... treffen können.“

Ich stöhnte leise. „Also schön, wenn uns jemand erwischt, sitzen wir beide auf der Straße. Oder schlimmer – unsere kleinen Eskapaden hängen an der Anschlagtafel im Eingangsbereich. Und das in einem Männerwohnheim voller Piefkes.“

„Genau das“, sagte sie kichernd und zog mich erneut zu sich, als ob die Aussicht auf Ärger sie nur noch mehr reizte. „Also, worauf warten wir? Solange uns niemand erwischt, sind wir sicher.“Formularbeginn

Formularende

Nach unserem heimlichen Abenteuer zogen wir uns hastig wieder an, das Kichern unterdrückend, und kehrten zurück zum Lagerfeuer, wo niemand unser kurzes Verschwinden bemerkt zu haben schien.

Wir beobachteten Kaczmarek, wie er das Feuer anzündete. Es dauerte nicht lang, bis die erste Flamme aus dem Holzstapel auftauchte. Währenddessen schob Georg den sich langsam durch den Garten bewegenden, aufgeblasenen, überdimensionalen Weihnachtsmann mit den eingebauten LED-Leuchten weg vom Feuer und rammte vier Pfähle in den Boden, um den Riesen mit dem Rauschebart zu befestigen. Dann stellte er das leistungsstarke Gebläse an, um noch mehr Luft in den Weihnachtsmann hineinzupumpen.

Herbert reichte jedem von uns eine Dopplerflasche. Dann füllte sich langsam der mit viel Deko-Kram geschmückte Garten. Sogar Alma, die Heimleiterin, kam kurz vorbei und verabschiedete sich in den Kurzurlaub. Die waschechte Wienerin hatte einen strengen, hohen, dunklen Pferdeschwanz. Er unterstrich wunderschön ihre Wangenknochen. Erst im Sommer hatte sie ihren Dienst im Wohnheim angetreten und brachte frischen Wind in die alten Gemäuer aus Kaisers Zeiten. Sie winkte Judith freundschaftlich zu und verschwand, ohne weitere Befehle zu hinterlassen. Alma war mittlerweile die gute Seele des Heims geworden.

Der Abend entpuppte sich zum absoluten Höhepunkt meiner bisherigen Tage in Wien. Das unbeliebte Arbeits- und Integrationsprogramm Piefke 5 spielte heute keine Rolle. An diesem Abend erlebten wir eine feucht-fröhliche Integration, die uns die guten Österreicher verweigerten.

---ENDE DER LESEPROBE---