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Der Nr.-1-Bestseller aus Schweden In einer nordschwedischen Kleinstadt gibt ein maroder Brückenpfeiler ein grausames Geheimnis preis: die kopflose Leiche einer jungen Frau. Schnell wird klar, dass es sich um Sofia handeln muss, die vierzig Jahre zuvor spurlos verschwand. Damals trafen sich fünf Mädchen im Teenageralter regelmäßig in einem Buchklub, den sie den Polarkreis nannten. Was geschah in jenem verhängnisvollen Sommer? Kurz nach dem schrecklichen Fund treffen sich die vier übrigen Frauen des Buchklubs zum ersten Mal wieder, um diese Frage zu beantworten. Schnell wird klar, dass etwas in der Beziehung der Mädchen der Auslöser für das Verbrechen gewesen sein muss …
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Liza Marklund
Band 1 der Polarkreis-Trilogie
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt
Deutsche Erstausgabe
© Atrium AG, Zürich, 2025
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Polcirkeln bei Piratförlaget, Schweden.
Copyright © Liza Marklund 2021
Published by agreement with Salomonsson Agency
Lektorat: Andrea Groll
Covergestaltung: Sund Design, Hamburg unter Verwendung des Covermotivs von Magda Palej
Covermotiv: © Magda Palej / Wydawnictwo Czarna Owca
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.
ISBN978-3-03792-240-8
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Die Leiche wurde an einem der kürzesten Tage des Jahres gefunden, einem dieser nicht existierenden Tage, an denen die Sonne die Menschen am nördlichen Polarkreis im Stich lässt und sich kaum die Mühe macht, für Licht zu sorgen. Sie lag im Fundament der Brücke, die über den Fluss Piteälv hoch zum Raketenstützpunkt führt, nackt und ohne Kopf.
Es handelte sich um ein Mädchen oder möglicherweise um eine junge Frau. Wer weiß schon so genau, wo die Grenze verläuft? Bei der Volljährigkeit? Jedenfalls wussten alle sofort und mit ziemlicher Bestimmtheit, wem der Körper einmal gehört hatte.
Sie hieß Sofia Hellsten und war keine achtzehn Jahre alt geworden. Ein Mädchen also.
Sie war die Tochter des damaligen Kommunalrats Hilding Hellsten, die auf dem Heimweg von der Bibliothek an einem gewittrigen Nachmittag im Spätsommer 1980, also vor fast vierzig Jahren, verschwunden war. Ihren Turnbeutel mit den Büchern aus der Bibliothek fand man wenige Tage später in einem Graben diesseits von Gransel, von Sofia selbst fehlte allerdings jede Spur. Bis zu diesem bleigrauen Dezembertag, an dem die Welt trübe und vollkommen der Farbe entzogen war. Sofias Schultasche, Kleidung und Portemonnaie lagen an der Stelle, wo sich ihr Kopf hätte befinden müssen.
Der Fund hätte Erleichterung, ein kollektives Aufatmen auslösen können. Die Lücke, die Sofia Hellsten hinterlassen hatte, war fast vier Jahrzehnte lang eine offene Wunde in der Stadt gewesen, die nur verheilen konnte, wenn das Mädchen gefunden und die Wahrheit ans Licht kommen würde, darüber war man sich einig. Doch so kam es nicht, und das lag natürlich an dem Zustand, in dem sie aufgefunden wurde. Die Berichterstattung in den Medien war von grenzenloser Trauer und unterdrückter Wut über den Fall geprägt. Sogar Sveriges Television schickte ein Team aus Stockholm hoch in den Norden, um wirklich authentisches Bild- und Tonmaterial einzufangen.
Die vier Frauen, die mit Sofia Hellsten früher einmal zum Buchklub Polarkreis gehört hatten, waren über den Fund im Brückenfundament zutiefst erschüttert. Er setzte jahrzehntelang sorgfältig verborgene Kräfte frei und riss Leben auseinander, die womöglich nie ganz gewesen waren.
Manche würden sagen, alles begann mit Wiking Stormberg, mit dem Mitschüler, in den mehrere Mädchen verliebt gewesen waren. Andere würden auf die Klassenunterschiede und die Herkunft der Mädchen verweisen.
Doch die eigentliche Frage ist, ob nicht alles mit Lolita begonnen hatte.
ausgesucht von Carina Burstrand Freitag, 18. April 1980
April, der unzuverlässigste aller Monate.
Weiter unten im Flusstal würde man sagen, das Wetter sei so schwankend wie eine Kuh auf drei Beinen: euphorisch warme Tage, die die Ewigkeit verhießen, abgelöst von stürmischen Nächten mit Minusgraden voller Hagel und Missmut.
Dieser besondere Freitagmorgen war grau, mit einem bitteren Hauch von Feuchtigkeit in der Luft.
Eine Zeit des Aufbruchs und der Unruhe.
Die Stufen vor der Haustür waren von einer zentimeterdicken, kristallklaren Blaueisschicht umhüllt, die man erst bemerkte, wenn man mit dem Steißbein dort aufschlug. Blinzelnd kam Carina zu dem Schluss, dass sich der Gehweg davor in annähernd demselben Zustand befand, meinte aber dahinter auf der Straße einen unebenen Streifen aus hellbraunem, grobem Sand erkennen zu können. Also wappnete sie sich und sprang. Ihre Schultasche schlug kräftig gegen ihren unteren Rücken, sie rutschte aus und fiel fluchend hin. Ein Müllfahrzeug fuhr mit wütendem Hupen etwas zu dicht an ihr vorbei, sie zeigte der klaffenden Heckklappe den Stinkefinger, rappelte sich auf und rieb sich eine Pobacke. Sie hatte den Rückschlag ihrer mit Bibliotheksbüchern prall gefüllten Tasche unterschätzt. Heute war der letzte Abgabetag. Zwei Jungs aus der Mittelstufe gingen auf der anderen Straßenseite vorbei, lachten schallend und zeigten auf sie. Superlustig, haha. Sie warf ihnen einen Handkuss zu. Idioten.
Vorsichtig humpelte sie zum Kvarndammsväg hinunter, wobei der Schulterriemen ihrer Tasche ihr jedes Mal, wenn sie mit dem linken Fuß auftrat, seitlich in den Hals schnitt. Dieses unangenehme Gefühl vermischte sich mit verschiedenen anderen Körperempfindungen: dem dumpfen Ziehen der bevorstehenden Periode, den Schmerzen im Hintern, dem Knurren im Magen. In der Speisekammer war Polarbröd und im Kühlschrank Sauermilch gewesen, doch sie konnte es nicht ertragen, mit Ulrika zu essen.
»Scheiße, da kriegst du einen fetten blauen Fleck!«
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als Wiking Stormberg auf dem eisbedeckten Gehweg an ihr vorbeiglitt, die Arme wie ein Schlittschuhläufer ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und übers ganze Gesicht lachend. Ihr fiel das Atmen schwer, sie warf ihr Haar zurück und merkte, dass sie an den Ohren fror. Waren sie rot? Hatte sie daran gedacht, sich zu schminken?
»Echt nett, dass du dir Sorgen um meinen Arsch machst.«
»Du? Benny war letzte Nacht nicht zu Hause, oder?«
Sie schluckte und zuckte mit den Schultern.
»Glaubst du, wir pennen in einem Bett, oder was? Inzest ist am besten, weil’s in der Familie bleibt?«
Sie versuchte, schneller zu gehen, um mit Wiking mitzuhalten, aber der Po tat ihr zu sehr weh.
»Mein Vater und Lars-Ivar haben ihn letzte Nacht vor dem Swamp einkassiert, ich und Krister haben es gesehen.«
Wiking holte wieder Schwung und schlitterte den rutschigen Weg entlang, die bunte Stenmark-Mütze wie ein Warnsignal auf dem Kopf. Seine Umrisse lösten sich zu einem verschwommenen Rechteck vor grauem Hintergrund auf, als er immer weiter aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Na dann. Wenigstens war ihr nutzloser großer Bruder nicht tot. Wikings Vater war Polizeichef in Stenträsk und hatte Benny seinen Rausch schon oft in der Ausnüchterungszelle des Reviers ausschlafen lassen.
Wikings unscharfer Umriss blieb an der Bushaltestelle mit anderen ähnlichen Gestalten stehen, sie konnte ihr Lachen hören. Ihr war klar, dass sie eine Brille brauchte, sie konnte bei der Schulkrankenschwester nur noch die ersten drei Zeilen auf dem beleuchteten Plakat lesen. Seit der ersten Klasse, als sie noch die kleinsten Buchstaben in der untersten Reihe erkennen konnte, hing es an derselben Stelle mit derselben Buchstabenkombination:
MRTVFUENCXOZD
Schon in der zweiten Klasse konnte sie sie auswendig, und in der dritten Klasse, als sie sie nicht mehr sah, hatte sie sie felsenfest im Kopf. Bücher jedoch konnte sie nach wie vor lesen, alle aus nächster Nähe, damit hatte sie kein Problem. Und sie brauchte nicht zu sehen, was an der Tafel stand, denn sie merkte sich die Worte der Lehrer.
»Du hast gute Noten«, hatte die Berufsberaterin beim verpflichtenden Beratungsgespräch am Ende der neunten Klasse gesagt. »Wenn du jetzt nach der Grundschule drei Jahre lang ein Profil am Gymnasium belegst, kannst du danach studieren. Sozialwissenschaft vielleicht, das würde zu dir passen.«
Als hätte die alte Schachtel mit dem Polyesterschal und den Inkontinenzproblemen irgendeine verdammte Ahnung, was zu ihr passte.
»Büro- und Vertriebsleitung sind völlig okay«, hatte Carina gesagt, war aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. In einem Geschäft oder Büro arbeiten konnte man überall auf der Welt. Sie wollte aus Stenträsk weg und eigenes Geld verdienen, sobald sie praktisch und körperlich dazu in der Lage war. Doch zuallererst musste sie sich Kontaktlinsen besorgen, und eine Tür, die sie hinter sich abschließen konnte, oder besser gesagt, eine Tür, um Ulrika auszuschließen, und dann würde ihr Leben richtig anfangen.
Der Bus von Norrbottens Trafik rumpelte hinter ihr über die Hügelkuppe. Sie humpelte langsamer, um der Gang um Wiking Stormberg Zeit zum Einsteigen zu lassen, bevor sie an der Haltestelle vorbeiging.
Alle, die berufsbildende Profile belegten, die besondere Räume erforderten, wie Kfz-Mechanik, Heizungs-, Lüftungs- und Klimatechnik oder Krankenpflege, wurden mit dem Bus nach Älvsby in Richtung Küste und Zukunft befördert. Das Gymnasium in Stenträsk bot nur die gängigsten theoretischen Profile an.
Sie wollte schon im Frühjahr ihren Abschluss machen. Bis dahin waren es nur noch knapp zwei Monate.
Abitur oder nicht, die kürzere Variante gab es nicht mehr, eigentlich hätte man jetzt drei Jahre aufs Gymnasium gehen müssen, um die weiße Studentenmütze tragen zu dürfen, nicht nur zwei. Als ob sie das interessierte. Sie hätte sowieso nie im Leben so einen bescheuerten Deckel aufgesetzt, auch nicht in hunderttausend Jahren.
»Hallo, Carina! Buchklub heute Abend!«
Das rief Susanne aus der Menschentraube herüber, als sie sich in den Bus quetschte. Sie hatte das humanistische Profil belegt, die halbklassische Variante, Latein konnte sie mal, gab es in Stenträsk nicht. Carina konnte Susanne in der Menge zwar nicht sehen, hob aber trotzdem die Hand zum Gruß über den Kopf, natürlich hatte sie es nicht vergessen. Schließlich hatte sie das Buch ausgesucht, über das sie heute Abend diskutieren wollten.
Sie war zu früh da. Das war sie immer. Die Bibliothek, ihre Schule – die Kvarndammskola –, das Rathaus und das Polizeirevier befanden sich in ein und demselben Gebäude. Eigentlich war noch nicht geöffnet, aber Astrid, die Bibliothekarin, ließ sie ins Haus.
»Ich habe ein Exemplar von Durchsichtige Dinge gefunden. Willst du es immer noch bestellen?«
Nabokovs vorletzter abgeschlossener Roman? Und ob sie den wollte!
»Ja, gern«, antwortete Carina und ließ ihre Schultasche mit einem dumpfen Knall auf den Rückgabetisch aus Holzfurnier fallen. »Kann ich Lolita noch bis heute Abend behalten, bis wir fertig sind? Ich gebe es ab, bevor wir nach Hause gehen.«
Der Buchklub, den sie »Polarkreis« getauft hatten, was nicht Carinas Idee gewesen war, traf sich immer an einem Freitagabend im Monat in einem Raum hinter der Kinderabteilung. Normalerweise fanden hier Märchenstunden und Bastelnachmittage statt. Die Einrichtung bestand nur aus Möbeln im Miniformat und frechen Kinderbuchplakaten, sodass sie immer ein paar Sitzsäcke aus der Jugendabteilung dorthin mitschleppen mussten.
»Ja, ist in Ordnung. Bitte stell es dann wieder ins richtige Regal zurück. Ich notiere, dass du es zurückgegeben hast.«
Astrid arbeitete sich routiniert und systematisch durch den Stapel von Carinas Romanen. Carina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die Hände von Mickey Maus – oder waren es Pfoten – zeigten auf acht und neun. Bis zur ersten Stunde hatte sie noch eine Dreiviertelstunde. Sie steckte das Exemplar von Lolita wieder in die Tasche.
Eigentlich fand sie Nabokovs Roman Ada oder Das Verlangen interessanter, hatte jedoch keine schwedische Übersetzung gefunden und sich aus dem Grund für das berühmteste Werk des Autors entschieden, als sie an der Reihe war, den Titel für den Buchklub auszusuchen. Ehrlich gesagt war Ada für einige der Mädchen wahrscheinlich auch etwas zu schwierig, ohne jetzt Namen nennen zu wollen. Es war magisch und sogar schwindelerregend gewesen, den Geschwistern Ada und Van Veen und ihrer Liebesgeschichte durch die alternative Welt von Demonia oder Antiterra zu folgen. Carina wünschte, sie hätte jemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte, aber sie war wahrscheinlich die Einzige in ganz Norrbotten, die das Buch tatsächlich gelesen hatte. Jedenfalls hatte es außer ihr niemand sonst aus einer Bibliothek im Landkreis ausgeliehen, Astrid hatte nachgeschaut. Lolita war eindeutig die bessere Wahl, trotz der im Grunde ziemlich miesen Übersetzung, vor allem weil es in fünf Exemplaren vorhanden war. Nabokovs flüssige Prosa und seine ausgeklügelten Wortspiele waren einfach brillant, voller genialer französischer Anspielungen und wilder Assoziationen. Schließlich ist der Roman im Roman in einem Irrenhaus geschrieben. Logisch war das Buch ein bisschen verrückt.
Sie setzte sich an einen Schreibtisch in der Lernecke hinter den Nachschlagewerken und holte ihr Federmäppchen und ihre Notizen heraus. Sie hatte nicht mehr viele Prüfungen vor sich. Der heutige Rechenmaschinentest war einer der letzten, und sie hatte bereits einen Sommerjob in der Tasche, wollte aber in jedem Fach mit Bestnoten abgehen. Der Grund, warum sie sich für das Vertriebs- und Büroprofil entschieden hatte, war die lange Praktikumsphase in der Mitte. Carina hatte eiskalt damit gerechnet, dass sie dadurch direkt nach ihrem Abschluss eine Arbeit bekommen würde, und sie hatte recht behalten: Sie würde den Sommer über fast allein für die Telefonzentrale im Stenträsker Rathaus verantwortlich sein.
Im Büro-Teil des Profils und vor allem im numerischen Modul ging es hauptsächlich darum, elektronische und manuelle Addiermaschinen zu bedienen, maschinelles Rechnen und Buchen ausführen zu können, das Tempo beim händischen Rechnen zu steigern, Rabatte und Zuschläge zu ermitteln, Lohn-, Verteilungs- und Zinsberechnungen, Währungsumrechnungen, Rechnungsstellung und Inventur zu beherrschen. Eigentlich alles babyleicht.
Sie überflog ihre Notizen und stellte fest, dass sie schon alles auswendig wusste. Daher holte sie stattdessen den Roman aus der Tasche, schloss die Augen und dachte an all die Orte, die Lolita und Humbert auf ihrer Reise durch die Vereinigten Staaten besucht hatten: New Orleans, Poplar Cove, Little Iceberg Lake, Coalmont, Tennessee … Sie hatte sie alle in ihrem roten Atlas nachgeschlagen oder versucht zu finden – einige Orte waren allerdings so klein, dass sie nicht eingezeichnet waren.
Eines Tages würde sie dorthin fahren. Bald, bald, bald wäre sie von diesem Gefängnis befreit und könnte auf der ganzen Welt reisen, wohin sie wollte. Sie schlug den Roman aufs Geratewohl auf, legte ihren Finger auf die Mitte der rechten Seite, riss die Augen weit auf und las den Absatz, den der Zufall und ihr Unterbewusstsein ausgewählt hatten.
Hatte ich nicht gewissermaßen in ihr Schicksal eingegriffen, indem ich ihr Schicksal mit meiner Wollust verband? Oh, es war und ist ein Quell großer und schrecklicher Wunder.
Konnte Wollust das Schicksal lenken?
Wenn sie es nur wüsste.
Die Mädchen, die zum Polarkreis gehörten, gingen seit der Ersten in dieselbe Klasse. Vorher hatten drei von ihnen – Birgitta, Susanne und Agneta – die Art der Kinderbetreuung genossen, die in Norrbotten in den 1960er Jahren üblich war: eine private Tagesmutter namens Sigrid Kinnunen. Sie durften in ihrem Wohnzimmer spielen, aber nicht nach oben in den ersten Stock gehen.
Der Polarkreis wurde gegründet, als die Mädchen in die siebte Klasse kamen und das Konzept des Wahlpflichtfaches eingeführt wurde. Das bedeutete, aus einer großen Bandbreite von Disziplinen das auszusuchen, was man »lernen« wollte, von Angeln und Volkstanz bis hin zu »Leckeres Essen in null Komma nichts«. Die mit Abstand prestigeträchtigste Option war Literaturwissenschaft, und die fünf Mädchen hatten sich als Einzige an der ganzen Kvarndammskola dafür entschieden. Der symbolische Wert war enorm. Die freiwillige Teilnahme an literarischen Diskussionen in der letzten Doppelstunde am Freitagnachmittag rückte die Mädchen ins Blickfeld der anderen Schüler – und vor allem der Lehrerschaft – und brachte ihnen den Ruf ein, eine besondere Form von Ehrgeiz und möglicherweise sogar Intelligenz zu besitzen. Die fünf bekamen sicherlich ein paar Sticheleien zu hören, dass sie Streberinnen seien, aber im Großen und Ganzen gelang es ihnen, nicht als Außenseiterinnen abgestempelt zu werden. Das lag wahrscheinlich am guten Ruf einiger ihrer Eltern, aber auch an dem attraktiven und für die damalige Zeit passablen Eindruck, den sie machten. Ganz klar formuliert: Sie sahen einfach alle gut aus.
Carina hatte mit Abstand den größten Lesehunger in der Gruppe. Sie verschlang Bücher wie andere Bruta – Polarbröd in Milch.
Den größten Ehrgeiz legte Birgitta an den Tag, deren Mutter als Ärztin in Piteå arbeitete und deren Vater Leiter des Raketenstützpunkts war.
Susanne machte mit, weil Birgitta und Carina dabei waren. Agneta träumte davon, Schriftstellerin zu werden, und somit war die Entscheidung für Literaturwissenschaft für diese vier konsequent und nachvollziehbar.
Bei Sofia war die Motivation weniger offensichtlich. Die anderen erfuhren nie genau, warum sie sich für Literaturwissenschaft und nicht beispielsweise für »Form und Farbe« entschieden hatte. Die gemeinsame, nie laut ausgesprochene Vermutung war, dass ihre Eltern die Entscheidung für sie getroffen hatten. Wie bereits erwähnt, war ihr Vater Kommunalrat in Stenträsk – und zudem Stellvertreter im inneren Machtzirkel der Sozialdemokraten, dem Exekutivkomitee.
Mitglied im Polarkreis zu sein, war also spitze, aber als das auch den anderen klar wurde und sie erkannten, dass sie dadurch sogar noch ihre Noten verbessern könnten, schlossen die fünf Mädchen jegliche Neuzugänge aus. Wenn andere Literaturwissenschaft studieren wollten, sollten sie doch ihren eigenen Buchklub gründen und nicht von ihnen schnorren.
So fing alles an, und so lief es weiter.
Die Mädchen lasen pro Woche ein Buch, diskutierten es anhand mehrerer vorgegebener Kriterien in der letzten Unterrichtsdoppelstunde vor dem Wochenende und schrieben darüber abwechselnd kurze Berichte. Von Anfang an fiel die Wahl auf ziemlich anspruchsvolle Literatur, bis auf gewisse Ausnahmen. Kurz gesagt, es ging eher in Richtung Carolyn Keene und Jackie Collins, wenn Susanne und Sofia Bücher aussuchten.
Diejenige, die das Buch ausgewählt hatte, leitete das wöchentliche Treffen mit einer kurzen Zusammenfassung des Buches und ihrem Gesamteindruck ein. Danach hörten sie sich der Reihe nach die Gedanken der anderen an, gefolgt von Diskussionen über verschiedene Details oder Aspekte des Buches, bei dem es sich meistens, aber nicht zwingend, um einen Roman handelte.
Die Polarkreis-Mädchen segelten also mit sehr guten Noten durch die Mittelstufe, mit Ausnahme von Agneta, die zwar eine Eins in Schwedisch hatte, aber im Durchschnitt nur eine Vier minus erreichte. Als die Bibliothekarin Astrid ihnen anbot, ihre Treffen mit Beginn der Oberstufe in ihren Räumen fortzusetzen, stimmten alle Mädchen, ohne zu zögern, zu. Angesichts des zu erwartenden höheren Lernpensums wurde jedoch beschlossen, sich nur noch einmal im Monat statt einmal in der Woche zu treffen. Inwiefern der Lernstoff tatsächlich zunahm, war fraglich, aber das stand auf einem ganz anderen Blatt.
Im Lauf der Zeit verblassten jedoch der Glanz und die Strahlkraft um den Polarkreis und seine Mitglieder. Keine anderen Schülerinnen oder Schüler baten mehr um Aufnahme. Sie bekamen neue Lehrkräfte, die alten unterrichteten jetzt andere Jugendliche, die sie bestaunen konnten. Die Ungleichheit der Mädchen machte sich deutlicher bemerkbar. Der durch Kindheit und die geografische Isolation entstandene Kitt bekam langsam Risse.
Mit Beginn des neuen Jahrzehnts, den 1980er Jahren, wurde die Literaturliste wie in den Jahren zuvor für das ganze Jahr festgelegt. Zwei der Mitglieder, Carina und Agneta, würden jedoch im Sommer die Schule abschließen und möglicherweise auch Stenträsk verlassen, wodurch die Zukunft des Buchklubs ungewiss wurde.
An diesem Punkt befanden sie sich jetzt, in einer Zeit, in der unweigerlich Veränderungen bevorstanden.
»Dann schließt du ab, Carina, und hinterlässt den Schlüssel anschließend beim Wachmann …«
Astrid legte den großen Anhänger mit dem Bronzepferd, an dem der Schlüssel befestigt war, in Carinas ausgestreckte Hand, schloss dann die Tür hinter sich und winkte den Mädchen durch die Glaswand zu. Carina winkte zurück. Die Klimaanlage summte leise. Die Luft fühlte sich angenehm kühl und prickelnd an, und das lag nicht nur an der Kälte draußen vor den Fenstern. Alle waren da, auch fast alle pünktlich. Birgitta war wie immer als Letzte gekommen, mit schwingendem glänzend schwarzen Haar. Carina hatte ihre Wintersachen drüben am Garderobenständer neben der Jugendabteilung aufgehängt, aber die anderen hatten alles ins kleine Märchenzimmer mitgenommen: Taschen, die allseits beliebten Lappland-Stiefel, Schals, Daunenjacken, Beinstulpen, wollene Lovikka-Fäustlinge. Die an den Wänden entlang aufgetürmten Kleiderhaufen hatten etwas Abwehrendes, fand Carina, ein Gefühl, das sie auch in der Körperhaltung der Mädchen auf den Sitzsäcken wiederzuerkennen meinte. Birgitta hatte ihre große Adidas-Tasche neben sich stehen, wahrscheinlich voll mit der Schmutzwäsche von der ganzen Woche. Sie sah müde aus, ihr Haar war etwas unordentlich. Sie lebte unter der Woche bei ihrer Mutter in Piteå, weil sie an der Strömbackaskola Sozialwissenschaft belegt hatte, und an den Wochenenden fuhr sie nach Hause zu ihrem Vater, dem Leiter des Raketenstützpunkts.
Susanne kaute ein Stück Shake, sodass der Duft von Lakritze den ganzen Raum erfüllte, sie zog den braunen Kaugummi in die Länge und zwirbelte ihn immer schneller um den Finger, supereklig. Apropos eklig: Sofia nahm ihren Lolli aus dem Mund, packte ihn wieder ins Einwickelpapier und steckte ihn zurück in ihre Schultasche. Anschließend verteilte sie Kopien des Protokolls vom letzten Monat, fünf zusammengeheftete DIN-A4-Seiten, lächerlich detailliert, wie immer. Die anderen nahmen die Blätter entgegen, ohne ein Wort zu lesen. Sofia zog ihren Pferdeschwanz im Nacken stramm, schob sich die Brille auf die Nase und nahm mit ihrem unverzichtbaren Notizheft Platz. Agneta guckte aus einem Fenster unter dem Dach und schien meilenweit weg zu sein.
»Okay, Lolita«, begann Carina und ließ sich auf das Kindersofa fallen, denn es gab nur vier Sitzsäcke. Sie legte Sofias sorgfältig ausformuliertes Protokoll beiseite, die Zusammenfassung ihrer Diskussion vom März: Skrupel von Judith Krantz, Herr im Himmel …
»Ich weiß ja nicht, wie viel ihr über Vladimir Nabokov wisst«, sprach sie weiter. »Wahrscheinlich ist euch klar, dass er in Russland geboren wurde und seine ersten neun Romane auf Russisch schrieb und dass er später in die Vereinigten Staaten auswanderte und die Sprache seiner Werke änderte. Aber wusstet ihr, dass er auch Experte für Schach und für Schmetterlinge war?«
Sie schaute ihre Freundinnen an, Birgitta rutschte genervt auf ihrem Sitzsack hin und her, und Agneta kratzte sich geistesabwesend am Arm.
»Er wurde als Adliger geboren, war ein Nachkomme von Prinz Nabok Murza, sein Großvater besaß eine Goldmine. Dass er anfing, auf Englisch zu schreiben, war vielleicht kein so großer Sprung, wie man sich das vorstellt, denn er war dreisprachig aufgewachsen: mit Russisch, Französisch und Englisch.«
Das Interesse der anderen war gering. Carina räusperte sich kurz.
»Immer wieder musste er fliehen: vor den Kommunisten in Russland, vor den Nazis in Deutschland. In Berlin heiratete er eine russische Jüdin namens Vera, sie blieben den Rest ihres Lebens zusammen. Er wohnte lange in den USA, starb aber vor ein paar Jahren in der Schweiz. Was seine späten Werke angeht …«
Keines der Mädchen schien zuzuhören, Carina spürte einen Kloß im Hals. Offensichtlich hatte es keinen Sinn weiterzumachen.
»Na gut, eine kurze Zusammenfassung«, sagte sie stattdessen. »Sofia, das Protokoll?«
Sofia nickte. Sie hatten aufgehört, sich abzuwechseln. Sofia schrieb jetzt immer das Protokoll, aber die anderen mussten sie jedes Mal daran erinnern. Feierlich schlug sie eine neue Seite in ihrem Notizheft auf und griff nach ihrem Stift. Niemand machte Anstalten, anzufangen. Druck im Raum baute sich auf.
»Gitte?«, fragte Carina mit leicht zitternder Stimme.
Birgitta strich sich ihre Mähne aus dem Gesicht, seufzte und kramte ihr Buchexemplar aus der Adidas-Tasche, dabei flogen auch eine Socke und ein Schlüpfer mit Flecken im Schritt heraus.
»Eigentlich wollte ich …«, setzte Birgitta an und warf die Schmutzwäsche zurück in die Tasche, hielt aber dann mit dem Buch fest in beiden Händen inne und starrte es schweigend an.
»Was?«, fragte Carina schließlich.
Birgitta holte tief Luft und setzte zum Sprechen an. Ihre Stimme war leise und tief, in einem Ton, der vorher noch nie mitgeschwungen war. Es war die Stimme einer Person, die Bescheid wusste und tiefgreifende Erkenntnisse hatte.
»Warum sollten wir dieses Buch lesen? Warum hast du es ausgesucht? Das ist ein Scheißbuch.«
Susanne hörte auf zu kauen, Agneta setzte sich aufrecht hin, sodass die Styroporkügelchen in ihrem Sitzsack raschelten. Carina spürte, wie ihr das Herz wieder bis zum Hals schlug, so wie am Morgen, als Wiking Stormberg auf der vereisten Straße an ihr vorbeigeglitten war.
Sicherlich hatte die Atmosphäre im Buchklub sich im vergangenen Jahr deutlich verändert, aber in all den Jahren ihrer Treffen waren sie nie unterschiedlicher Meinung gewesen, nicht wirklich. Carina versuchte ihre Wut zu greifen, etwas, woran sie sich festhalten konnte. »Was meinst du damit?«
»Moment mal«, sagte Susanne und rutschte nach vorn, bis ihre Knie den Minicouchtisch berührten. »Gitte, erklärst du uns, warum du es für ein Scheißbuch hältst?«
Carina merkte, dass ihre Wangen glühten, und starrte Birgitta an. Sie wollte wütend sein, hatte aber nur das Gefühl zu schweben, als hätte sich das Kindersofa unter ihr in Luft aufgelöst.
»Dieser Humbert Humbert, die Hauptfigur«, sagte Birgitta, »ist ein ekliger alter Sack, der eine Frau heiratet, nur weil er geil auf ihre kleine Tochter ist. Das ist so eklig, dass man am liebsten das ganze Buch vollkotzen möchte. Man muss schon echt krank im Kopf sein, um das für ein gutes Buch zu halten.«
Carinas Ohren klingelten, sie hörte Susannes Reaktion durch einen Adrenalinfilter.
»Ich finde es auch echt eklig, aber man kann das auch netter sagen. Und es muss auch abstoßende Bücher geben.«
»Das ist doch ein Porno«, meinte Birgitta. »Findet ihr Pornos in Ordnung?«
Das ist kein Porno, hätte Carina am liebsten geschrien, doch es kamen keine Worte heraus.
»Du hättest es ja nicht lesen müssen, wenn du es so schlimm fandest«, sagte Susanne.
Birgitta drehte sich zu Carina um und zeigte mit dem Buch in der Hand auf sie.
»Na ja«, sagte sie, »ich musste es ja lesen, weil sie es ausgesucht hat. Dieses verdammte Drecksbuch.«
Sie pfefferte es auf den Boden, Carina fand, dass es zu leuchten schien: knisternd und schreiend. Sie wusste nicht, was es sagte, aber die Lautstärke war ohrenbetäubend.
Birgittas Gesicht war hochrot angelaufen, was sie hässlich machte.
Agneta beugte sich vor, hob das Buch nachdenklich auf und strich über den Einband, wie um ihn abzuwischen.
»Ich f-f-fand es gut«, sagte sie auf ihre sanfte Art. »Ziemlich anstrengend und supertraurig. Es war interessant, etwas über das Amerika der 1950er Jahre zu lesen, aber alle Figuren waren so m-m-mutlos, und alle sind gestorben.«
Stille herrschte im Raum, Carina konnte wieder atmen. Das Rauschen der Klimaanlage drang wieder in ihre Ohren.
»Und was die Liebe angeht«, sagte Agneta und holte ihre maschinengeschriebenen Notizen aus ihrer Tasche, wie immer mit rotem Farbband getippt. »Wer hat das Recht, andere für ihre G-G-Gefühle zu kritisieren? Solange man niemandem wehtut, hat man doch bestimmt das Recht, zu lieben, wen man will, oder?«
»Hier geht es doch nicht um Liebe«, konterte Birgitta. »Der dreckige alte Perversling will seine Stieftochter unter Drogen setzen und vergewaltigen, das ist total geisteskrank. Und er ermordet eine andere Person, wie passt das zu ›niemandem wehtun?‹«
»Ich finde trotzdem immer noch, dass man lesen darf, was man will«, sagte Susanne.
»Humbert Humbert ist natürlich eklig«, meinte Agneta. »Und v-verrückt. Aber nicht alle Figuren in Büchern müssen immer nett sein.«
»Mit Liebe kann man anderen sicher wehtun«, sagte Birgitta, »oder mit zu viel Liebe, oder mit gar keiner Liebe …«
Für einen Moment schien der Geist von Wiking Stormberg durch den Raum zu schweben, doch alle schauten auf ihre Hände und taten, als würden sie ihn nicht sehen. Alle wussten, dass Birgitta sich die Arme geritzt hatte, nachdem Wiking mit ihr Schluss gemacht hatte.
»Sofia?«, fragte Carina und schaffte es, fast so zu klingen wie immer. »Wie findest du es?«
Sofia legte den Stift auf ihr Notizheft und blickte auf.
»Die Hauptfigur Humbert ist ein Leben lang traurig, weil er als kleiner Junge einen Freund verloren hat. Das finde ich ziemlich seltsam. Warum hat er keinen neuen Freund gefunden?«
Sie griff den Stift wieder und beugte sich über ihr Notizheft.
Birgitta kämpfte sich aus dem Sitzsack, sodass ihr schwarzes Haar um sie herumwirbelte, warf sich die Adidas-Tasche über die Schulter und ihre Winterklamotten über den linken Arm.
»Tut mir total leid«, sagte sie. »Aber ich war noch nicht zu Hause, bin direkt mit dem Bus hergekommen, und wir haben fürs Wochenende jede Menge Hausaufgaben auf. Ich gehe jetzt.«
Die Augen aller blinzelten ungläubig. Birgitta trippelte auf der Stelle. Susanne stand als Erste auf, gefolgt von den anderen. Sie umarmten Birgitta alle mit ein wenig zu lauten und herzlichen Worten, oh, du Arme, die Hin-und-Herfahrerei ist echt ätzend, wie hältst du das nur aus, wir sehen uns morgen, um drei Uhr ist ein Spiel, gehst du hin? Nein, würde sie natürlich nicht, sie, die Märtyrerin. Wiking Stormberg war der Star der örtlichen Eishockeymannschaft, er hatte praktisch im Alleingang den Polarkreis – ja, so hieß die Mannschaft, falls sich jemand fragt, woher die Idee für den Namen des Buchklubs kam – bis in die 3. Liga geführt. In Stenträsk kam jedes Mal alles zum Stillstand, wenn im schlecht beheizten Eiszelt der Kvarndammskola Heimspiele ausgetragen wurden.
Carina richtete ihren Blick auf Birgitta.
»War das ein echter Selbstmordversuch, als du dir die Arme aufgeschnitten hast, oder wolltest du nur Aufmerksamkeit?«
Birgitta schnappte nach Luft, die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Der Raum erstarrte.
Carina spürte, wie die Wut in ihrem Inneren wie Lava hochquoll, ein Strom glühender Bosheit, der sie verbrannte.
»Muss total hart sein, da oben auf dem Millionärshügel zu sitzen«, sagte Carina. »Du Arme, natürlich musst du manchmal runterkommen, um uns Normalsterblichen einen Tritt zu verpassen. Uns eklig und krank nennen, wenn du keinen blassen Schimmer hast, worum es geht …«
Sie holte tief Luft, das Geräusch hallte im Zimmer wider.
Birgitta machte auf dem Absatz kehrt und rannte zum Ausgang. Alle starrten ihr nach. Die Außentür schlug zu. Agneta und Susanne fiel ungläubig die Kinnlade herunter. Carinas Wangen glühten.
Bisher hatte noch niemand den Zusammenhalt der Gruppe auf die Probe gestellt: dieses fragile Gemeinschaftsgefühl, das auf einer ähnlichen Kindheit und den begrenzten Möglichkeiten beruhte.
Einen Moment lang schwankten sie am Rande des Abgrundes, bis Susanne beschloss, den Absprung ebenfalls zu wagen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein Plastikmodell aus der Schweiz, auf das sie unfassbar stolz war, und linste dann zu Carina, die sich jedoch abwendete. Susanne sammelte ihre pastellfarbenen Beinstulpen ein. Sofia klappte ihr Notizheft zu, verstaute es in einem Innenfach ihrer Ledertasche von der Gerberei in Böleby und holte den Lolli wieder heraus. Das Einwickelpapier war am Lutscher festgeklebt und knisterte, als sie es abzog. Susanne wickelte sich den selbst gestrickten Schal mehrmals um den Hals. Agneta steckte das Blatt mit ihren Kommentaren wieder in die Tasche. Die Klimaanlage dröhnte.
Susanne stellte sich dicht neben Carina, der Schal bedeckte ihr halbes Gesicht. Sie zog ihn nach unten und dämpfte ihre Stimme zu einem theatralischen Flüstern.
»Gitte hat euch beide gesehen«, zischte sie laut genug, damit die anderen es hören konnten. »Sie hat euch gesehen, wie ihr miteinander geredet habt. Bist du in Wiking verknallt?«
Carina öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie verstand nicht. Ihre Wut, die gerade abgeebbt war, flammte wieder auf.
»Spiel ruhig die Unschuldige«, sagte Susanne und marschierte zum Ausgang. Agneta eilte ihr ohne Abschiedsumarmungen hinterher, einen kühlen Hauch von Seife hinter sich herwehend. Sofia lief ihr nach wie ein gehorsamer Welpe.
In der Bibliothek war es abgesehen von der Kinderabteilung dunkel, und obwohl Carina kein Stück sehen konnte, wusste sie, dass etwas kaputtgegangen war. Sie blieb im Türrahmen stehen, ihre Füße kalt und taub. Sie tastete nach ihrer Schultasche und schaltete die Deckenbeleuchtung komplett aus. Die dichten Schatten verschluckten sie. Von den auf der Föreningsgata vorbeifahrenden Autos schepperten die Fensterscheiben, ansonsten jedoch konnte sie nur das Rumoren der Klimaanlage hören.
Sie zog die Tür zum Märchenzimmer hinter sich zu und rannte, von plötzlicher Angst gepackt, zum Garderobenständer und zum Ausgang. Mit nur einem Arm in der Daunenjacke zog sie die Ausgangstür hinter sich ins Schloss, drehte den Schlüssel mit dem blöden, dicken Bronzeanhänger um und warf ihn ohne ein Wort dem Wachmann auf der Polizeidienststelle hin.
Beißend kalter Wind fegte durch die Föreningsgata, pfiff um die Häuserecken und brachte messerscharfe Eiskristalle aus der Arktis mit, die an den Fassaden der Gebäude haften blieben und Carinas Wangen schmirgelten. Sie machte den Reißverschluss ihrer Daunenjacke zu und wünschte, sie hätte an diesem Morgen eine Mütze aufgesetzt, wen interessierte schon, ob sie ihre Frisur zerstört hätte. Sie zog die Schultern hoch, sodass der Jackenkragen ihre Ohren bedeckte, was jedoch nicht viel brachte. Die Jacke trug sie schon seit der neunten Klasse, sie war inzwischen viel zu klein geworden. Ihre Mutter hatte ihr zu Weihnachten eine neue versprochen, doch dann hatte die Gemeinde Kürzungen für den häuslichen Pflegedienst angekündigt, und es waren nicht so viele Stunden wie erhofft bewilligt worden. Der Pflegedienst machte das neue Sozialdienstleistungsgesetz für die Kürzungen verantwortlich, aber das glaubte niemand, jedenfalls nicht in Carinas Familie.
Eine Art graues Dämmerlicht war noch durch die Wolken zu erkennen, die knapp über den Dächern schwebten und die Menschen in ihre Häuser und Autos trieben.
Bei dem Gedanken, nach Hause in ihre kleine, schäbige Wohnung ohne Balkon zu gehen, drehte sich ihr der Magen um. Ihre Mutter und ihr Vater auf dem Sofa vor dem Fernseher, Ulrika mit dem Telefon am Ohr, ihr monotones Geplapper über Jungs und Selbstgebrannten. Ein Bild von Birgitta huschte ihr durch den Kopf, ihre dunklen Augen und blassen Wangen, wie sie in ihrer Villa saß, die so viele Zimmer hatte wie die Wohnung der Familie Burstrand Quadratmeter, und in Selbstmitleid badete.
Carina wusste, dass Susanne log. Birgitta hatte die kurze Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und Wiking an diesem Morgen nicht gesehen. Sie wohnte unter der Woche unten in Piteå und fuhr nicht mit dem Älvsby-Bus. Susanne hatte sie beide gesehen und es weitergetratscht.
Oder hatte sie in den letzten Wochen noch ein anderes Mal mit Wiking gesprochen?
Sie atmete ganz tief durch und spürte, wie die kalte Luft ihr die Kehle zuschnürte.
Als würde sie das vergessen.
Sie fragte sich, ob Wiking eine neue Freundin hatte. Sie könnte Sofia fragen, vielleicht wusste sie es. Schließlich gingen sie in dieselbe Klasse, belegten beide das naturwissenschaftliche Profil.
In den Motorradstiefeln fühlten sich ihre Füße schwer an, sie ließ sie über den groben Kies schlurfen, bis sie wie von selbst zum Stehen kam.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihr ausgeliehenes Exemplar von Lolita nicht abgegeben hatte. Schließlich sollte sie es an die richtige Stelle im Regal »Hce«, für ausländische Belletristik in schwedischer Übersetzung, zurückstellen.
Auch egal.
Ein Kleinbus fuhr mit knirschenden Reifen und vereisten Scheiben an ihr vorbei, wurde langsamer und hielt weiter oben in der Storgata. Das Motorengeräusch verstummte, Autotüren öffneten sich, man hörte Männer lachen und Englisch sprechen. Sie holte tief Luft und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Das mussten die Amerikaner vom Raketenstützpunkt sein, auf dem Weg nach Hause ins Stone Swamp Inn, das Hotel mit dem blödesten Namen der Welt. Die Leute in Stenträsk nannten es natürlich nur »das Swamp«. Sie hörte, wie eine Eingangstür auf- und zuging und die Stimmen der Amerikaner verschwanden. Ganz im Ernst, das Allererste, was sie von ihrem ersten richtigen Gehalt kaufen würde, waren Kontaktlinsen. Nie im Leben würde sie eine Brille tragen, lieber würde sie sterben. Sie schüttelte ihr Haar und machte sich daran, den Storgata-Buckel hochzugehen.
Das Licht im Fenster des Stone Swamp Inn war hell und golden, der einzige Farbtupfer in einem ansonsten schwarz-weißen Film. Von außen war die Fensterscheibe mit Raureif überzogen, von innen beschlagen, und sie konnte die Musik dort drinnen hören.
Genau jetzt will ich leben, genau jetzt …
Tomas Ledin mit dem Lied, mit dem er vor ein paar Wochen das Melodifestival, den Vorentscheid für den Grand Prix, gewonnen hatte, das war beinahe so gut, dass es fast schon wehtat.
Vom Alltag müde, will er weggehen,
nach Paris, wo Abenteuer entstehen,
nicht rumsitzen in der Stadt-Bäckerei,
und die Gedanken flattern nur so vorbei …
Sie stieg die vier Stufen zur Eingangstür hoch und öffnete sie. Die Gerüche trafen sie wie ein Faustschlag ins Gesicht: feuchte Luft, Rauch, biergetränkte Rülpser. Nasse Wolle und Erdnüsse. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen, begleitet vom Knirschen der Kieselsteinchen auf dem Boden, und blinzelte in die dunstige Kneipe. Das Gemurmel fühlte sich an wie ein schmutziger Knüpfteppich: eklig und gemütlich zugleich. Tomas Ledins Stimme verklang im Hintergrund und wurde von Eddie Meduzas Gebrüll abgelöst, dass ihm bloß kein Schwein was über Punk erzählen sollte. Echt aufbauend.
»An der Bar ist noch Platz«, sagte eine gestresste Kellnerin, die sie nicht kannte, und deutete in den Qualm und die Schatten.
Carina zog ihre Fäustlinge aus. Jemand pfiff, sie sah nicht, wer, und beschloss, es nicht an sich herankommen zu lassen. Der Tresen und der Barmann kamen in ihr Sichtfeld, heute arbeitete da der Blonde, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte. Am anderen Ende standen zwei freie Stühle. Sie setzte sich auf den vorletzten, stellte ihre Schultasche auf den anderen und zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf.
»Eine Cola«, sagte sie zu dem Blonden. »Bitte mit Eis.«
»Guckt euch mal ihre Möpse an«, sagte ein Typ am Tisch hinter ihr. Carina wusste nicht, ob er sie meinte, aber zur Sicherheit drehte sie sich weg. Die Kellnerin kam schnaufend mit zwei mit Schweinefilet und Sauce Béarnaise belegten Pizzen zurück, die sie vor dem Typen und seinem Freund auf den Tisch knallte.
»Noch zwei Große und zwei Doppelte«, sagte der Typ, und die Kellnerin zog einen Block aus ihrer Gesäßtasche, wiederholte die Bestellung und entfernte sich eilig.
Der Barmann stellte Carina ein Glas Cola hin. Eddie Meduza ätzte weiter in dem Lied, das die Rocker auf dem Parkplatz vor der Kirche liebten, dass alle Punker Schweine seien, die zur Hölle fahren konnten. Sie blinzelte vorsichtig in die Runde, konnte aber kein bekanntes Gesicht entdecken. Zum einen lag es daran, dass sie schlecht sah, zum anderen, dass es zu dunkel und verraucht war, vor allem aber daran, dass es zum Ausgehen noch zu früh war. Benny und seine Kumpels glühten irgendwo mit Taffel-Schnaps, hergestellt aus Holzzellulose und gemischt mit Zitronen-Fanta, vor. Ihre Mutter ließ seine Freunde nicht mehr in die Wohnung, also hingen sie entweder bei Ante oder bei Bobben ab. Sie musste von hier verschwinden, bevor einer von ihnen auftauchte.
»Is this seat taken?«
Sie guckte hoch und schaute in die Augen eines bärtigen Amerikaners. Bingo!
»What? Nein.«
Schnell nahm sie die Schultasche vom Barhocker und ließ sie neben ihren Füßen auf den Boden fallen. Merkte plötzlich, wie heiß und stickig es im Raum war.
Der Amerikaner hatte einen dicken Hintern und trug eine hässliche Jeans, eine Art Fake-Denim. Er bestellte Erdnüsse und ein Bier, das er gleich aus der Flasche trank. Er hielt ihr eine Schachtel Zigaretten hin, sie bediente sich und ließ sich von ihm Feuer geben. Er zündete sich auch eine an und stieß den Rauch aus.
»So, you live here, or …?«
»In this pub? No.«
Er lachte laut. »You’re funny.«
Der Mann hieß Bruce und kam aus Arizona. Sie fragte nicht, was er in Stenträsk machte, weil sie es wusste. Ihr Vater arbeitete als Wachmann auf dem Raketenstützpunkt – aber er hatte es nicht ausgeplaudert. Das war auch gar nicht nötig, denn alle ausländischen Mächte, die nach Stenträsk kamen, um ihre Massenvernichtungswaffen zu testen, mieteten sich im Stone Swamp Inn ein. Wer wissen wollte, wer sich da oben gerade herumtrieb, musste nur am Frühstücksraum oder an der Kneipe vorbeigehen oder einen Blick auf einen der Kleinbusse werfen, die davor parkten.
Als sie ihre Cola ausgetrunken hatte, fragte er, ob sie noch eine wollte, und sie bejahte die Frage, woraufhin er noch eine bestellte, diesmal aber mit Rum. Der Mix war so stark, dass sie sich fast verschluckt hätte. Sie schnappte sich eine große Handvoll von seinen Erdnüssen, wollte ihm damit das Gefühl geben, dass sie etwas teilten.
Der Barmann wechselte die Kassette im Kassettendeck: »Number 1« von den Boppers, Carina hatte die Platte zu Hause. Das erste Lied hieß »At the Hop« und handelte von einem Ort namens »The Hop«, wo man swingen und rocken konnte. Der Amerikaner sang mit, sie summte nur leise, weil sie wusste, dass sie nicht singen konnte.
Er fragte, was ein hübsches Mädchen wie sie an einem Freitagabend wie diesem in Stenträsk machte, und sie antwortete, sie habe sich mit ihren Freundinnen vom Buchklub getroffen. Vladimir Nabokov kannte er nicht. Er hatte auch noch nie von den Boppers gehört, was vielleicht auch kein Wunder war, aber er wusste mit Sicherheit, dass sie Amerikaner waren. Und Pippi Longstocking war auch Amerikanerin, aber ABBA kamen aus Schweden, er war also kein totaler Vollidiot, was für ein Glück. Er lebte in Tucson, neben einem Golfplatz. Nein, sie spielte kein Golf. Allein schon bei der Frage bekam sie beinahe Erstickungsanfälle.
Er wollte tanzen, obwohl es viel zu voll war. Sie lachte und tat so, als würde sie sich wehren, wenn auch nur halbherzig. Er schlang seine Arme um ihre Taille und zog sie vom Barhocker, und sie schaukelten gemeinsam im Takt der Musik. Leute drängelten sich an ihnen vorbei, sie stolperte und trampelte auf ihre Schultasche. Erahnte das ausgeliehene Buch unter den groben Stiefelsohlen, verdammte Lolita, geschieht dir recht. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, sie griff nach ihrem Glas und kippte den Rest hinunter. Nickte, als der Amerikaner fragte, ob sie noch eins wollte.
Es war sehr heiß, fast kaum auszuhalten. Die Boppers hatten sich durch die ganze Platte gesungen und sagten gerade »Gute Nacht«, das war perfektes Timing. Goodnight, sweetheart, schade, dass ich dich verlassen muss, aber was willst du machen? Wir können hierbleiben! Sie lachte, was hatte sie nur für einen großen Durst!
Er zog sie an sich, presste seinen breiten Körper an ihren, er roch nach Rauch und Aftershave. Seine eine Hand glitt ihren Rücken hinab und schob sich unter den Hosenbund, genau auf den blauen Fleck vom Sturz auf dem Gehweg an diesem Morgen. Sie trank ihre Rum-Cola aus.
Ob sie mit ihm aufs Zimmer gehen wollte? Dort hatte er noch mehr zu trinken. Sie schloss die Augen und nickte. Als sie sich bückte, um ihre Jacke und Tasche aufzuheben, bemerkte sie, dass sie leichte Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten. Er wollte ihre Hand nehmen, als sie durch die Kneipe gingen, aber sie schüttelte ihn ab, es musste ja nicht gleich die ganze Stadt wissen, hahaha.
Sein Zimmer lag im ersten Stock. Die dunkelgrüne Auslegeware im Flur war in der Mitte abgenutzt. Sie küsste ihn, als er im Schloss herumstocherte, sein Bart kratzte, und er schmeckte stark nach Bier und Erdnüssen. Der Schlüssel fiel zu Boden, er drückte sie an die Wand, sein Schritt wie ein Rammbock zwischen ihren Beinen. Sie hörte Gelächter und Schritte auf der Treppe, sie entwand sich, schnappte sich den Schlüssel, schob ihn ins Schloss, drehte ihn um, öffnete die Tür und stolperte genau in dem Moment ins Zimmer, als die Kollegen des Amerikaners sie sahen und ihnen zuwinkten. Scheißegal. Sie hatten auch ein Mädchen dabei, hatten offenbar eine richtige Orgie im Sinn. Sie ließ ihre Jacke und Schultasche hinter der Tür zu Boden fallen und knöpfte dem Amerikaner das Hemd auf. Er zog ihr den Pullover aus und stöhnte laut, sie trug nie einen BH. Sie legte sich aufs Bett, und er lag auf ihr, noch bevor sie das zweite Hosenbein aushatte. Zog ihr einfach den Slip herunter und stieß ihn ihr rein. Es brannte höllisch, sie stöhnte laut vor Schmerzen, aber er fasste es als Kompliment auf. Er pumpte über ihr, schnelle, kurze Stöße ohne jedes Gefühl, sie starrte an die Decke und merkte, wie das Zimmer langsam in Schieflage geriet, verdammt, sie hatte viel zu schnell getrunken. Seine Knie waren spitz und schnitten in ihre Schenkel, und jeder Stoß schickte einen stechenden Schmerz in den Bluterguss am Hintern. Zwischendurch erinnerte er sich daran, dass sie auch dort lag, hielt inne, um ihr in die linke Brustwarze zu kneifen, nicht gerade fest, aber auch nicht sehr erregend. Er grunzte, als er kam, und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie fallen, sodass sie kaum noch Luft bekam. Er murmelte ihr etwas ins Ohr. Sie glaubte, er wollte fragen, ob es ihr gefallen hatte, war sich aber nicht sicher. Dann wälzte er sich von ihr, und sie konnte wieder tief durchatmen, Sperma lief aus ihr auf die Tagesdecke, sie hoffte inständig, dass es das war und sie nicht ihre Periode bekommen hatte. Er taumelte ins Bad und drehte die Dusche auf. Sie blieb ein paar Sekunden still liegen und überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Sie biss sich leicht auf die Lippen, damit sie voll und rosig aussahen, setzte sich dann hin und schüttelte die Kissen auf. Sie streifte Jeans und Slip ab, die oben an ihrem Schenkel kleben geblieben waren, lehnte sich nackt ans Kopfende und versuchte, entspannt auszusehen. Die Dusche wurde abgedreht. Sie hörte, dass er sich im Bad räusperte und ausspuckte. Er kam, ein Handtuch in der Hand, mit schlaffem Schwanz heraus und blieb überrascht stehen, als er sie nackt und mit gespreizten Beinen auf dem Bett sitzen sah. Sie versuchte zu lächeln, aber in ihrem Kopf drehte sich alles zu sehr.
»Are you hungry?«, fragte sie.
»We’ve had dinner«, antwortete er.
»How about the drink you talked about?«, fragte sie und spreizte ihre Schenkel noch ein wenig mehr.
Er blickte zu Boden und drehte sich um.
»I’m sorry«, sagte er, »but we have some work to do tonight …«
Sie schluckte, ließ die Erkenntnis im Bauch ankommen. Er hatte sie bestiegen und konnte sie jetzt nicht schnell genug wieder loswerden. Sie griff nach ihrem Slip. Er ging zurück ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich.
Ihr Pullover, der unters Bett geflogen war, wo es vor Wollmäusen nur so wimmelte, war nun voller Staubflusen. Sie wischte ihn ab. Eine von den alten Omis, die ihre Mutter als Hauspflegekraft betreute, hatte ihn gestrickt. Es war ihr Lieblingspullover, aus weicher roter Wolle, die nicht kratzte.
»Ich gehe jetzt«, rief sie zum Badezimmer. Der Amerikaner reagierte nicht.
Sie nahm ihre Tasche und Jacke, schlüpfte in ihre Motorradstiefel und verließ das Zimmer. Der Korridor kam ihr endlos vor, sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu schwanken wie bei Seegang. Die Tür zu dem Zimmer, in das die Kollegen des Amerikaners verschwunden waren, war nur angelehnt, das Licht brannte, und drinnen herrschte reges Treiben. Alle drei Männer schienen gleichzeitig in Aktion zu sein, das Mädchen kauerte auf allen vieren und hatte in jeder Körperöffnung einen Schwanz. Der Anblick ließ sie nach Luft schnappen und schickte einen Luststoß in ihren wunden Unterleib. Instinktiv beugte sie sich vor, um die Tür zuzuziehen, die sich aber nicht schließen ließ, weil eine Tasche im Weg war. Sie kickte sie ins Zimmer, und erst als die Tür ins Schloss fiel, kam die Information in ihrem Gehirn an: Die Tasche war aus Leder und stammte aus der Gerberei in Böleby.
Draußen herrschte inzwischen stockdunkle Finsternis. Die Temperaturen waren gefallen, doch der Wind hatte immerhin nachgelassen. Es schneite leicht. Zwischen ihren Beinen fühlte es sich kalt und klebrig an. Eine Gruppe von Schülern aus der Sekundarstufe trieb sich mit ihren Mopeds vor Dagges Kiosk herum. Am Lachen erkannte sie Håkan, Susannes kleinen Bruder. Sie pfiffen und riefen ihr nach, als sie an ihnen vorbeiging, sie hatte aber nicht einmal mehr die Kraft, ihnen den Stinkefinger zu zeigen. Von der Kälte bekam sie wieder einen klaren Kopf. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: Mickeys Arme zeigten ihr an, dass es Viertel vor zehn war. Nicht besonders spät. Ihr war ein wenig schlecht, aber nicht so schlimm. Ihre Tasche war leicht, weil sie die meisten Schulbücher in ihren Spind eingeschlossen hatte. Es machte keinen Sinn, sie übers Wochenende zum Lernen nach Hause zu schleppen. Alles, was sie dabeihatte, waren ein Exemplar von Lolita und ihre Notizen. Sie blieb an der Bushaltestelle in der Kvarndammsgata stehen und holte das Buch heraus. Die verstärkte Schutzhülle der Bibliothek war nicht genug gewesen. Der Rücken war aufgeplatzt, als sie daraufgetreten war. Ein paar Seiten, die sich aus der Bindung gelöst hatten, segelten nun in den Schnee. Sie hob sie auf, wischte die Feuchtigkeit mit dem Fäustling ab und blinzelte im Schein der Straßenlaterne auf den Text.
Hatte ich nicht gewissermaßen in ihr Schicksal eingegriffen, indem ich ihr Schicksal mit meiner Wollust verband? Oh, es war und ist ein Quell großer und schrecklicher Wunder.
Sie zerknüllte die Seiten, schob sie in den Mülleimer, drückte Nabokovs Worte mit Kaugummipapier und benutzten Busfahrkarten zusammen. Sie hielt das Buch einige Sekunden lang in der Hand und warf es dann hinterher.
Der Gehweg vor ihrem Haus war nicht gestreut worden. Der frische Pulverschnee hatte ihn noch rutschiger gemacht. Mit Trippelschritten bewegte sie sich über die Eisschicht, rutschte dennoch aus und stieß sich Knie und Hüfte. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, scheiße, scheiße, scheiße. Sie blieb eine Weile sitzen. Von der Kälte und Nässe, die durch die Hose drangen, wurde ihre Haut taub, das Gefühl hatte etwas Verlockendes und Verheißungsvolles. Das hauchdünne Häutchen, das sie vom Wahnsinn trennte, jetzt straff gespannt wie ein Trommelfell, war immer als Ausweg da.
Diese Erkenntnis machte ihr Angst, und sie stand schnell wieder auf.
Die Glühbirne auf ihrem Stockwerk im Treppenhaus funktionierte nicht mehr, aber das machte ihr nichts aus. In dem Mietshaus kannte sie jeden Winkel und fand sofort das Schlüsselloch. Beim Betreten des Wohnungsflurs schlug ihr Kochdunst entgegen, sodass sich ihr der Magen umdrehte. Sie hatte auch das Mittagessen in der Schule ausfallen lassen.
»Carina, bist du das?«
Aus dem Wohnzimmer hörte sie ein Klirren, als ihre Mutter den Whiskey mit Eiswürfeln auf den Beistelltisch stellte.
»Mmmh«, antwortete sie, kickte ihre Stiefel von den Füßen, hängte ihre Jacke auf und blieb mit der Schultasche über der Schulter im Türrahmen stehen.
»Was guckt ihr da?«
Ihr Vater schnaubte. »Ingemar Bergman«, sagte er. »Freitagabend halt?«
»Ingmar«, korrigierte Carina ihn. »Er heißt Ingmar.«
»Wo bist du gewesen?«, fragte ihre Mutter.
»Beim Buchklub«, antwortete Carina. »Wir haben danach noch eine Weile geredet. Über Nabokovs Bücher, wie die sich von Brodskys unterscheiden …«
»Hast du gegessen?«
»Mmmh«, sagte Carina, »aber ich glaube, ich mache mir noch ein Butterbrot.«
»Es gibt auch noch Kartoffelklöße. Wie lief die Klassenarbeit?«
»Gut.«
Sie ging in das Zimmer, das sie mit ihrer jüngeren Schwester teilte, stellte ihre Schultasche auf den Schreibtisch und legte das Protokoll zu den anderen in den Schuhkarton. Ihre Schwester las ausgestreckt auf dem Bett eins von Carinas Nancy-Drew-Büchern.
»Wer hat dir erlaubt, dass du dir das ausleihen darfst?«
»Geh sterben«, antwortete Ulrika.
Carina kehrte zurück in die Küche. Die Reste vom Abendessen standen im Kühlschrank, sie schnitt einen Kloß in Scheiben, bestrich ihn mit Butter und aß ihn im Stehen an der Spüle. Ihr Vater kam dazu, setzte sich an den Küchentisch und sah sie durchdringend an.
»Hast du getrunken?«
Sie breitete die Hände aus, um ihn mit dieser Geste wissen zu lassen, wie dumm die Frage war.
»Benny haben sie gestern wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen«, erklärte ihr Vater.
»Ich weiß«, sagte Carina.
»Woher weißt du das?«
»Weiß doch jeder.«
Sie schnitt noch einen Kloß auf, diesmal einen mit Schweinefleisch-Füllung. Sie konzentrierte sich darauf, jede Bewegung fließend und nüchtern aussehen zu lassen.
»Hasse hat Arbeit gefunden«, sagte Vater. »In Stockholm.«
Ihre Hand mit dem aufgespießten Kloß erstarrte kurz vor dem Mund, eine Welle aus Adrenalin schoss durch ihren Körper. Hasse war ihr anderer Bruder, der, der nicht trank.
»In irgendeinem Irrenhaus«, erklärte ihr Vater mit belegter Stimme. »Als Geisteskrankenpfleger.«
»Beckomberga?«, fragte Carina. »Muss er umziehen? Wo will er wohnen?«
Ihr Vater schaute auf seine Hände.
»Was will er da unten?«
Dann stand er auf, beugte sich vor und linste ins Wohnzimmer, wo auf Ingmar ein Konzert mit klassischer Musik gefolgt war.
»Ich gehe ins Bett.«
Ihre Mutter reagierte nicht. Die Eiswürfel klirrten.