Der Psychologe von der Wildegg - Daniel Thomet - E-Book

Der Psychologe von der Wildegg E-Book

Daniel Thomet

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Beschreibung

Ulrich Tscharner entscheidet sich nach der Maturität anstelle eines Studiums eine Zimmermannslehre zu absolvieren. Während der Lehre lernt er Wandergesellen kennen und entscheidet, selbst die Walz anzugehen. Während dieser Zeit lernt er in Seatle Edward Fenton kennen. Der Psychologe vermag den jungen Mann für die Psychologie zu begeistern. Nach der Walz schliesst er deshalb in der Schweiz das Badgelor Studium ab und vollendet danach in Seatle das Studium mit dem Doktor der Psychologie. Während dieser Zeit kann er dank seinem Mentor Edward Fenton in Projekten im Auftrag der Behörden mitarbeiten. Eines der Projekte wird dem Team des Professors jedoch zum Verhängnis, was dazu führt, dass Ueli Tscharner Seatle fluchtartig verlässt und über Umwege wieder in die Schweiz zurückkehrt. Dort sucht und findet er im Oberen Emmental eine abgelegene Behausung. Sein Ziel nicht aufzufallen und danach aus der sicheren Schweiz die offenen Fragen zu seiner Flucht aus Seatle zu klären, gestaltet sich schwieriger als gedacht. Dennoch bleibt es sein Ziel herauszufinden, wer hinter der Geschichte steckt, die ihn ins Oberen Emmental gebracht hat.

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Seitenzahl: 565

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Daniel Thomet

 

Der Psychologe

 

von der Wildegg

Band 1

 

Wanderjahre

 

Roman

Chugeli Verlag, Bellmund

Alle Rechte vorbehalten

 

© 2025 by Daniel Thomet,

Umschlaggestaltung: Daniel Thomet

Verlag: Chugeli Verlag, CH-2564 Bellmund Druck und Distribution im Auftrag des Verlags: tredition GmbH, Heinz Beusen Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

 

Paperback ISBN: 978-3-9523936-7-3

e-book ISBN: 978-3-9523936-8-0

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist in jeder Beziehung frei erfunden, ohne KI-Unterstützung verfasst und urheberrechtlich geschützt. Mögliche Ähnlichkeit mit re-alen Personen, Institutionen oder Ereignissen ist zufällig und völlig unbeabsichtigt. Die Inhalte liegen in der Verantwortung des Verlags. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentli-che Zugänglichmachung. Die Publikation erfolgt im Auftrag des Verlags, zu erreichen unter: Daniel Thomet, Chugeli Verlag, 2564 Bellmund, Switzerland.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected] Inhaltsverzeichnis

 

1.Der Fremde ....................................................................... 7

2.Der Zeusler ...................................................................... 52

3.Der Gemeindepräsident ................................................ 94

4.Der Professor ................................................................ 143

5.Der Ermittler ................................................................. 190

6.Das Problem .................................................................. 213

7.Die Lösung .................................................................... 245

8.Die Überraschung ........................................................ 292

1.Der Fremde

 

Der klapprige Toyota Hilux hatte auch schon bessere Tage gesehen. Seine Bremsen quietschten, der Motor klang wie ein altersschwacher Rasenmäher und die Farbe der Karosserie glich der Tarnbemalung eines ausgemusterten Schützenpanzers. Die unterschiedlichen Grüntöne der Lackierung wurden einzig durch rote Rostflecken unterbrochen, die an mehreren Stellen deutlich erkennbar waren, was zu dem eher traurigen Anblick des Fahrzeugs passte. Auf der Ladefläche mit ihren Beulen und abgewetzten Stellen, befanden sich zwei festgebundene Milchkannen. Der Fahrer steuerte den alten Pickup mit einem gewagten Manöver auf den Parkplatz neben dem Restaurant Sternen, wo dieser mit quietschenden Bremsen ruckartig zum Stillstand kam. Die bei-den mässig gesicherten Metallkannen verursachten dabei einen Heidenlärm und machten mehr Krach als die Kirchenglocken an einem hohen Feiertag.

Leise fluchend zog der Fahrer den Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus dem Fahrzeug und begab sich zu den beiden Behältern auf der Ladefläche. Er löste die lose Sicherung durch das Seil und spannte es mit einem kräftigen Ruck straff an. Danach sicherte er die beiden Kannen mit mehreren Knoten wieder. Er trat einen Schritt zurück, betrachtete sein Werk kurz, nickte zufrie-den und wandte sich mit merklich besserer Laune dem Gasthof zu.

Der Sternen war das älteste der drei Wirtshäuser in Röthenbach und stand mitten im Dorfzentrum. Man sah dem Haus an, dass es in die Jahre gekommen war. Selbst eine längst überfällige Renovation der Fassade hätte am leicht verlotterten Zustand kaum etwas geändert.

Der Neuankömmling verschwendete jedoch keinen Gedanken an den äusseren Zustand des Gebäudes. Er kannte den Sternen seit seiner Kindheit nicht anders, als er sich heute präsentierte. Für ihn spielte der Zustand der Gaststätte keine Rolle, solange das Bier geniessbar war. Er stieg die beiden Stufen hoch, öffnete die schwere Holztür und trat in die Gaststube. Das innere der Schenke war mit Holz ausgekleidet, das über all die Jahre einen dunklen Farbton angenommen hatte. Der Raum wirkte dadurch trotz der drei grossen Fenster etwas schummrig und düster, was auf Personen, die zum ersten Mal ins Innere des Schankraums traten, durchaus abweisend wir-ken konnte.

Mit vierunddreissig Plätzen wurden die Möglichkeiten des Raums nahezu

optimal genutzt. Den meisten Platz beanspruchte der ovale Stammtisch in un-mittelbarer Nähe des Tresen, an dem sich die alteingesessenen Einheimischen trafen. Am Morgen gegen neun Uhr zum Kaffee und am späteren Nachmittag vor dem Nachtessen zum Feierabendbier konnte man vorwiegend die älteren Bauern in der Schankstube antreffen.

Nebst der Käserei war der Sternen der beste Ort, um sich mit anderen auszutauschen und sich über die letzten Neuigkeiten des Dorflebens zu infor-mieren.

Nachdem Josef Brügger, so hiess der Fahrer des alten Pickup, den Gast-raum betreten hatte, steuerte er direkt auf einen der beiden noch freien Stühle am Stammtisch zu und setzte sich.

„Obä zämä“, sagte er dabei grüssend in die Männerrunde, die schweigend vor ihren Getränken sass. Zwei der Angesprochenen nickten kaum erkennbar mit dem Kopf und einer murmelte eine unverständliche Erwiderung. Der Rest reagierte nicht einmal auf seine Begrüssung.

„Ihr seid heute ja wieder einmal äusserst gesprächig“, stellte deshalb der Neuankömmling lakonisch fest. Dann wandte er sich an den Wirt, der hinter dem Tresen mit einem Lappen ein Glas polierte.

„Hallo Kari, bringst du mir eine Stange?“

„Sali Seppu. Kommt sofort.“

Der Wirt stellte das Glas und den Lappen zur Seite und griff nach einem der Gläser im Gestell. Er drückte es kurz in die Gläserdusche und füllte es danach ab dem Zapfhahn mit Bier. Dann stellte er das volle Glas auf ein klei-nes Servierbrett, brachte es an den Stammtisch und stellte es vor dem Brügger Seppu auf dem Tisch ab.

„Zum Wohl“, meinte er noch, bevor er sich umdrehte und sich wieder zurück hinter den Tresen begab. Dort legte er das kleine Tablett an seinen Platz, griff sich das abgestellte Glas sowie den Lappen und nahm die leicht monoton wirkende Polierarbeit an dem Bierglas wieder auf.

Am Stammtisch stillte der Neuankömmling zuerst seinen Durst mit ein paar kräftigen Schlucken, bevor er sich an die Runde wandte.

„Was gibt es Neues?“

Wie schon bei der Begrüssung fühlte sich keiner der Anwesenden von der Frage angesprochen. Seppu Brügger wartete einen Moment und setzte dann noch einmal nach.

„Das ihr ja nicht alle auf einmal zu sprechen beginnt. Bei dem Lärm wür-den die Biergläser vor Schreck aus den Regalen springen.“

„Ist ja gut, Seppu. Wir können dir nicht mehr sagen, als du sowieso schon weisst“, antwortete ihm schliesslich der alte Marti.

Mit dieser Antwort gab sich der Bauer nicht zufrieden.

„Ich habe gehört, es ist ein neues Gesicht im Dorf“, hakte Seppu unbeirrt nach.

„Meinst du den komischen Kauz, der die alte Schüür an der Wildegg vom Werni Kalbermatter gekauft hat?“

„Welche Schüür meinst du, die untere oder die obere?“, mischte sich nun mit Willi Baumgartner ein weiterer der Anwesenden in das Gespräch ein.

„Die Obere selbstverständlich, sicher nicht die Untere. Die hat der Kalbermatter zu einem Ferienhaus ausgebaut und vermietet es im Sommer an Touristen. Nein, die kleine obere Schüür, am Waldrand, dort wo sie früher die Kälber untergestellt haben.“

Die Gäste am Stammtisch schienen aus ihrer Lethargie erwacht zu sein.

„Die obere Schüür? Das kann gar nicht sein“, brachte der nächste am Tisch sein Wissen in das Gespräch ein. „Die steht ja schon eine halbe Ewigkeit leer. Mindestens fünf Jahre ist dort niemand mehr drin gewesen. Kommt dazu, dass sie letzten Winter halb zusammengefallen ist.“

„Woher hast du die Geschichte eigentlich?“, fragte Willi Baumgartner noch einmal nach. „Ich habe regelmässig mit den Kalbermatters zu tun. Bis heute habe ich jedoch nichts davon gehört, dass der Werni die alte Schüür an der Wildegg verkauft hat.“

„Aus der Chäsi weiss ich das.“, antwortete ihm Seppu Brügger. „Ich komme gerade von dort. Ruedi Bracher, der Nachbar vom Werni Kalbermat-ter, hat schon vor zwei Wochen erste Andeutungen gemacht, dass die alte Schüür verkauft worden sei. Scheinbar hat der Werni ein so gutes Angebot erhalten, dass er es nicht ablehnen konnte.“

Einen Moment lang war es still in der Runde. Schliesslich war es erneut der alte Marti der das Wort ergriff.

„Wenn das so ist, dann wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben als abzuwarten, was der Neue mit dem alten Stall anstellen wird.“

Zu der Schlussfolgerung des alten Marti hatte dieses Mal niemand am Stammtisch etwas hinzuzufügen. Nach dem kurzen Gespräch stand jedoch jetzt bereits fest, dass der neue Einwohner der Gemeinde Röthenbach noch des Öftern Thema am Stammtisch im Sternen sein würde.

Ueli Tscharner sass auf der kleinen, selbst gezimmerten Holzbank vor seiner

neu erworbenen Unterkunft in Röthenbach und genoss die Aussicht über die sanften Anhöhen des oberen Emmentals. An schönen Tagen wie heute war der Blick über die grünen Hügel mit den weissen Bergen im Hintergrund et-was, von dem man nicht genug bekommen konnte.

Seit etwas mehr als einer Woche war er nun bereits in seinem neuen Do-mizil oberhalb des kleinen Dorfs Röthenbach. Seine Ankunft hatte unter den Einheimischen einiges an Unruhe verursacht, obwohl ein Zuwachs an Mitbür-gern für eine Gemeinde wie Röthenbach eigentlich nichts Aussergewöhnliches war. Meistens handelte es sich jedoch um Kinder von Einheimischen, die eine eigene Familie gründeten und deshalb eine Wohnung oder ein Haus in der Gemeinde suchten. Manchmal kamen auch Leute in das Dorf, die in der nä-heren Umgebung eine Arbeit gefunden hatten und deshalb Röthenbach als neue Wohngemeinde wählten. Eher selten gab es Zuzüger, die sich entschie-den, aus Ballungszentren wie Bern oder Zürich in eine ländliche Umgebung zu ziehen. Dafür war Röthenbach trotz der kurzen Wege nach Bern oder Lu-zern doch etwas zu abgelegen.

Ein Zuwachs der Bevölkerung in der Gemeinde, wie es die Ankunft des sonderbaren Mannes darstellte, gehörte deshalb eher zu den seltenen Ereig-nissen und wurde mit einem gewissen Argwohn zur Kenntnis genommen. Für Diskussionsstoff in den nächsten Monaten war damit nicht nur am Stamm-tisch des Sternen gesorgt.

Damit konnte Ueli Tscharner durchaus leben. Die Vorteile seines neuen Wohnsitzes kompensierten alle anderen Begleiterscheinungen bei weitem. Die Gemeinde war überblickbar und das Aufsehen seiner Ankunft blieb auf das Dorf beschränkt. Er war froh, dass er überhaupt auf der Bank vor dem kleinen Stall sitzen und sich über die Aussicht freuen konnte. Berücksichtigte man die Ereignisse, die vor seinem Entscheid in die Heimat zurückzukehren stattge-funden hatten, so war das alles andere nur nicht selbstverständlich.

Ueli Tscharner erinnerte sich noch an jenen Morgen vor beinahe einem Jahr, wie wenn es erst gestern gewesen wäre. Die Geschichte begann wie so oft völlig harmlos.

Es war ein ungewöhnlich warmer und schöner Dienstagmorgen, als Ueli gegen zehn Uhr in den alten Ford F150 stieg, um zurück nach Seattle zu fahren. Den Oldtimer hatte er sich schon vor ein paar Jahren gekauft. Einerseits, um zu seiner etwas ausserhalb von Seattle gelegenen Blockhütte zu gelangen, die ohne ein geländegängiges Fahrzeug vor allem im Winter kaum zu erreichen

war. Andererseits war es äusserst beschwerlich zu den meist nur über Holzfäl-lerpfade erreichbaren Seen zu kommen, die er mit seinem Kumpel regelmässig zum Lachsfischen aufsuchte. Mit Simon Purcell verband ihn seit dem Studium eine lose Freundschaft und vor allem die grosse Passion fürs Fliegenfischen. Wenn es ihr Terminkalender und das Wetter zuliessen, gingen sie ihrem Hobby so oft wie möglich gemeinsam nach. Simon hatte eine Woche Ferien und war deshalb an diesem Morgen an ihrer Lieblingsstelle am kleinen See geblieben. Ein Luxus, den sich Ueli nicht leisten konnte. Jeden zweiten Diens-tag fand normalerweise im Verwaltungsgebäude des Fachbereichs Psychologie der Abraham Billingham University die Sitzung seines Bereichs statt, die er nicht verpassen durfte. Ueli würde seinen Freund am Freitag abholen, musste sich jedoch an diesem Morgen beeilen, um rechtzeitig für die Sitzung in der Universität zu sein.

Nachdem er sein Fahrzeug auf dem Parkplatz der Fakultät abgestellt hatte, musste er zuerst herausfinden, in welchem Raum das Meeting an diesem Morgen stattfand. Je nach Themenschwerpunkt kamen Leute aus den unter-schiedlichsten Bereichen zu den jeweiligen Besprechungen. Bis die Traktanden festgelegt und die Einladungen verschickt waren, wusste man nie genau, wie viele Personen an der Sitzung teilnahmen und welche Schwerpunkte behandelt wurden. Normalerweise hätte Ueli das im Rahmen seiner Sitzungsvorberei-tungen geprüft. Er schätzte es gar nicht unvorbereitet an solchen Meetings zu erscheinen. Auf der kleinen Lichtung am See, an der er mit Simon seiner Lei-denschaft nachgegangen war, gab es jedoch keine Internetverbindung. Er hatte sich deshalb entschieden, dieses Mal etwas früher als sonst üblich vor Ort zu sein, um die Zeit zu nutzen und zumindest die Traktandenliste noch zu studieren, bevor die Sitzung begann.

Als er das Fakultätsgebäude durch den Haupteingang betreten hatte, orientierte er sich zuerst an der grossen Anzeigetafel über die Raumaufteilung für den Tag. Da ständig irgendwelche Besprechungen stattfanden, an denen auch Leute von ausserhalb der Universität teilnahmen, war dies der Treffpunkt, be-vor sich die Teilnehmenden auf die einzelnen Räume verteilten. Ueli stellte mit Verwunderung fest, dass die Sitzung im grossen Konferenzsaal stattfand. Das deutete auf eine hohe Anzahl von Teilnehmenden hin, was eher ausser-gewöhnlich war. In der Regel nahmen zwischen fünf und zehn Personen an den regelmässigen Besprechungen teil. Das hatte Edward Fenton, der Leiter der Psychologischen Fakultät der Abraham Billingham Universität einmal fest-gelegt, da aus seiner Sicht bei mehr als einem Dutzend Teilnehmenden ein

Meeting nicht mehr effizient durchgeführt werden konnte.

Als Ueli durch die Tür in den Saal trat, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Obwohl das Meeting erst in mehr als zwanzig Minuten beginnen sollte, waren schon fast zehnmal so viele Leute wie üblich anwesend. Sie stan-den im ganzen Raum verteilt in Gruppen herum und waren teilweise in heftig wirkende Diskussionen vertieft.

Ueli suchte nach seinem Kumpel Kevin Martens, der wie auch er selbst zum kleinen Kernteam gehörte, welches regelmässig an den Sitzungen teil-nahm. In der Menge von Leuten konnte er ihn im ersten Moment jedoch nir-gends entdecken. Ebenso konnte er Edward Fenton nirgends sehen, der als Leiter des Fachbereichs Psychologie die Sitzungen in der Regel leitete. Dafür standen Dekan Pinsley mit seinem Assistenten Huntington und zwei Herren in dunkelblauen Anzügen mit dem typischen Haarschnitt von Bundesbeamten vorne neben dem Tisch, an dem sein Mentor üblicherweise sass.

Ueli sah sich etwas genauer um. Eigentlich müssten noch weitere Leute aus dem Kernteam da sein. Insbesondere Debby Fish und Mark Miller, die beide auch im gleichen Projektteam wie er arbeiteten. In der nun stetig grösser werdenden Menge an Personen im Saal, wurde es immer schwieriger den Überblick zu behalten. Er drängte sich durch die Leute und entdeckte die zwei schliesslich zuhinterst in der Ecke des Raumes. Sie standen nah beieinander und schienen in ein heftiges Gespräch vertieft zu sein. Ueli wollte gerade auf sie zugehen, als Debby plötzlich Mark von sich stiess, sich abwandte und mit zügigen Schritten an dem völlig überraschten Ueli vorbei zum Ausgang des Konferenzsaals schritt. Er schaute ihr verwundert nach und wollte sich gerade wieder Mark zuwenden, als Dekan Pinsley das Wort ergriff.

„Meine Damen und Herren, darf ich sie bitten Platz zu nehmen. Zumin-dest diejenigen die sich einen Stuhl sichern konnten. Die anderen werden meine kurze Mitteilung im Stehen über sich ergehen lassen müssen.“

Er hielt kurz inne, bis das Stühlerücken wieder verstummte.

„Ich habe sie alle heute hier zusammengerufen, um ihnen mitzuteilen, dass Professor Fenton seit gestern Morgen verschwunden ist und von uns als vermisst angesehen wird.“

Nach dieser völlig unerwarteten Mitteilung ging ein Raunen durch den Raum, aus dem man die Betroffenheit der Anwesenden spüren konnte. Dekan Pinsley musste einen Moment warten, bis sich der angestiegene Geräuschpegel wieder gesenkt hatte, bevor er mit seiner Information fortfahren konnte.

„Ich hatte mit Professor Fenton am Montagmorgen sehr früh noch eine

kurze Besprechung aufgrund eines gemeinsamen Termins am Abend mit dem Stiftungsrat und einigen wichtigen Mäzenen der Universität. Gegen viertel vor sieben haben wir uns getrennt und er ist danach in sein Büro. Am Abend er-schien Professor Fenton nicht wie verabredet zum Nachtessen, obwohl der Termin höchste Priorität besass. Versuche ihn telefonisch oder persönlich zu erreichen, waren alle vergebens. Als er auch heute Morgen nicht an der Koor-dinationssitzung der Geschäftsleitung erschienen ist, haben wir uns kurz vor dem Beginn dieser Sitzung entschieden, die Polizei einzuschalten. Dieses Vor-gehen war notwendig, da Professor Fenton in verschiedene Projekte mit der Regierung einbezogen ist, die teilweise der Geheimhaltung unterliegen. In der Zusammenarbeitsvereinbarung mit unserem Partner ist festgelegt, dass bei Vorkommnissen dieser Art umgehend die zuständigen Personen informiert werden müssen. Von den Behörden wurde sofort entschieden die Niederlas-sung des Federal Bureau of Investigation in Seattle zu informieren, damit die-ses uns bei der Klärung der Situation unterstützt. Erste Abklärungen haben ergeben, dass Professor Fenton seit unserer gemeinsamen Sitzung gestern am frühen Morgen verschwunden ist. In Absprache mit der Polizei und den bei-den Herren des Federal Bureau of Investigation hinter mir, wurde entschieden, heute alle Termine abzusagen und alle laufenden Projekte für den Moment zu stoppen, bis wir Gewissheit haben, was geschehen ist. Die Ermittlungen in dieser Angelegenheit werden von den beiden Herren geführt. Sie werden mit einzelnen von ihnen in Kontakt treten und ihnen zur Sache einige Fragen stel-len. Wenn jemand Professor Fenton nach sieben Uhr gestern Morgen gesehen hat, soll er oder sie sich umgehend bei mir melden. Was diejenigen unter ihnen angeht, die eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnet haben, so werden sie bei ihrer Befragung von einem Mitglied des Direktoriums unterstützt, das ihnen zur Seite steht, sollten Fragen gestellt werden, die sie nicht beantworten dürfen. Ich zähle auf ihre volle Kooperation. Zum Schluss möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich die Sache innert kürzester Frist als Missverständnis herausstellt und wir so bald wie möglich wieder zum Normal-betrieb zurückfinden. Besten Dank für ihre Aufmerksamkeit.“

Kaum hatte der Dekan seine Information abgeschlossen, nahm der Ge-räuschpegel im Raum sofort deutlich zu, als die Anwesenden untereinander zu diskutieren begannen. Ueli wollte sich wieder Mark Miller zuwenden, als er bemerkte, dass dieser direkt auf ihn zukam. Bevor Ueli etwas sagen konnte, schüttelte Mark leicht den Kopf und raunte seinem Freund im Vorbeigehen

zu: „Nicht jetzt.“ Gleichzeitig steckte er ihm unmerklich einen kleinen Um-schlag zu, auf dem Uelis Initialen standen. Danach wandte er sich zielstrebig in Richtung des Ausgangs und verschwand ebenso rasch aus dem Raum wie vorher schon Debby Fish.

Ueli sah dem entschwindenden Mark Miller mit leichtem Erstaunen nach. Er konnte sich auf das Ganze keinen Reim machen. Dass Edward Fenton zwischendurch verschwand, ohne sich abzumelden, war nichts Ausserge-wöhnliches. Wenn er an einem schwierigen Problem arbeitete, über das er in Ruhe nachdenken wollte oder ihm wieder einmal drohte die Decke über dem Kopf einzustürzen, weil er sich wegen etwas aufregte, so flog er oft zu seiner Blockhütte in Kanada. Mit seinem Wasserflugzeug war sie in knapp zwei Stun-den Flug problemlos zu erreichen. Darüber wusste längst die ganze Universität Bescheid. Was war hier nur los. In der Hoffnung aus der Nachricht von Mark Miller vielleicht etwas zu erfahren, öffnete Ueli den Umschlag und entnahm den sich darin befindenden Zettel.

Er las den Inhalt, erbleichte und knüllte das Papier zusammen. Dann ver-liess er umgehend den Konferenzsaal und das Fakultätsgebäude. Zügig ging er zum Parkplatz, stieg in seinen Wagen und fuhr auf direktem Weg von der Universität zurück zu seiner Blockhütte. In seinem Magen bildete sich ein leichter Klumpen, der von Minute zu Minute grösser wurde. Auf dem Zettel stand nur: 'Emergency Exit!' und darunter die drei Grossbuchstaben EBF.

Jemand anders konnte mit dieser Nachricht nicht das Geringste anfan-gen. Für Ueli sprach die kurze Information jedoch Bände. Die drei Buchstaben standen für Edward Baltasar Fenton. Der Name Baltasar war das entschei-dende Indiz. Es gab keine Handvoll Personen, die über Edward Fentons zwei-ten Vornamen Bescheid wussten. Der Professor hatte alles darangesetzt, dass dieser aus seinem Lebenslauf und sämtlichen Papieren getilgt wurde. Er nutzte den Namen nur, wenn es um Botschaften ging, die für einen kleinen Kreis von Personen bestimmt war. Tauchte irgendwo das Kürzel EBF auf, so wusste der Empfänger nicht nur, dass die Information authentisch, sondern auch ausge-sprochen wichtig war.

Im Fall von Ueli bedeutete die Nachricht schlicht und einfach sofort zu verschwinden und alles stehen und liegenzulassen. Ueli zögerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde die Anweisung umgehend, ohne diese zu hinter-fragen, in die Tat umzusetzen.

Nach einer kurzen, eher etwas rasanten Fahrt kam er bei seinem Block-haus an. Kaum dass der Wagen stand, stieg er aus dem Fahrzeug und beeilte

sich in die Hütte zu gelangen. Dort holte er seinen alten Pass mitsamt den Reiseunterlagen aus dem Versteck und nahm den stets bereitstehenden Ruck-sack sowie den Koffer mit dem Laptop und den Dokumenten. Keine Viertel-stunde nachdem er angekommen war, verliess er sein Heim wieder. Dies im Bewusstsein, dass er die Blockhütte, in der er sich über zehn Jahre wohl gefühlt hatte, möglicherweise nie mehr wiedersehen würde.

Sechs Stunden nachdem er das Sitzungszimmer in der Universität verlas-sen hatte, stieg er auf dem kleinen Regionalflugplatz rund zweihundert Kilo-meter von seinem Blockhaus entfernt in eine vollgetankte Cessna dreihundert-zehn. Es war der Anfang einer mehrere Monate langen Reise, die ihn schliess-lich in die Schweiz nach Röthenbach in die alte Scheune oben auf der Wildegg führen sollte.

Eigentlich hatte Ueli sich in seiner Wahlheimat im Bundesstaat Washington nahe der kanadischen Grenze äusserst wohl gefühlt. Ein kleiner, aber verläss-licher Freundeskreis, eine Blockhütte mit allen Annehmlichkeiten auf einer leichten Anhöhe mit fantastischem Weitblick über Wälder und Seen sowie eine interessante Anstellung mit ausgezeichneter Entlohnung, gab man nor-malerweise nicht einfach so auf.

Die Ereignisse an jenem Dienstagmorgen hatten diesem Teil seines Le-bens jedoch ein rasches Ende bereitet. Heute war Ueli froh, dass er von seinem Mentor schon vor Jahren mit der Möglichkeit einer solchen Situation konfron-tiert worden war.

Bevor er sich damals in das Abenteuer stürzte, den Master in Psychologie an der Abraham Billingham University in Seattle zu absolvieren, zeigte ihm Edward Fenton die Risiken und Gefahren sowie die Konsequenzen auf, die das Vorhaben mit sich brachten. Dabei liess er kein Detail aus und beschönigte auch keine der Gefahren. Er zeigte Ueli auch schonungslos die Auswirkungen des Notfallplans auf und unterstrich mehrfach seine Hoffnung, dass der Plan nie benötigt würde. Edward Fenton war es in dieser Sache ein Anliegen, abso-lut transparent zu sein und alle Fakten ohne etwas wegzulassen auf den Tisch zu legen. Sein Motto, dem er stets treu blieb, hiess: Agiere selbst und bestimme die Richtung, bevor andere bestimmen und du nur noch reagieren kannst.

Nach dem Gespräch kamen bei Ueli Tscharner ernsthafte Zweifel auf, ob die Idee, sein Studium in Seattle fortzusetzen und danach mit dem Profes-sor zusammenzuarbeiten, wirklich etwas war, auf das er sich einlassen sollte.

Nachdem er etliche Stunden über das Gehörte nachgedacht sowie die

Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen hatte, entschied er sich damals schliesslich das Risiko einzugehen, da die Vorteile einer Zusammen-arbeit mit seinem Mentor deutlich grösser waren, als die damit verbundenen Risiken.

Die leicht überstürzte Flucht aus der Blockhütte im Nordosten von Seattle, führte ihn nach einer mehrere Monate dauernden Odyssee über Kanada, Ostsibirien, Japan, die Philippinen, Indien, den Nahen Osten und schliesslich über die Türkei, Griechenland, Kroatien und Italien zurück in die Schweiz. Er würde sich sein ganzes restliches Leben an die Glücksgefühle erinnern, als er nach der langen Zeit wieder Schweizer Boden betrat. Nachdem er die ersten Tage in der abgelegenen Osteria Bordei in Palagnedra-Bordei im Centovalli verbrachte, ergab sich die Möglichkeit in das Rustico seines Freundes Marco Strübi in der Nähe von Brione im Tessin umziehen.

Er kannte Marco schon eine halbe Ewigkeit. Als er sich nach seiner Lehre entschied auf die Walz zu gehen, verbrachten sie eine längere Zeit gemeinsam. Sie waren dabei um die halbe Welt gereist und hatten zusammen viel erlebt. Während dieser Zeit lernten sie sich gegenseitig als Menschen schätzen, wo-raus eine jener Freundschaften entstanden war, die ein ganzes Leben lang Be-stand hatte. Deshalb war der Kontakt auch nicht abgebrochen, als sie nach ihrer gemeinsamen Zeit, wieder eigene Wege einschlugen. Einmal besuchte ihn Marco sogar für zwei Wochen in Seattle, was jedoch auch schon wieder eine Weile her war. Als ihn Ueli im Verlauf seiner Flucht anrief und um Un-terstützung bat, zögerte sein Freund keine Sekunde und stellte ihm umgehend sein Rustico im Tessin zur Verfügung.

Von seinem ersten richtigen Standort nach seiner Rückkehr auf Schwei-zer Boden hatte Ueli genügend Zeit, um in aller Ruhe die nächsten Schritte zu planen. Es dauerte mehrere Wochen, bis er sich sicher war, die richtige Ge-gend gefunden zu haben, um sich niederlassen.

Bei seiner Suche nach einem geeigneten neuen Wohnsitz in der Schweiz, sah sein Plan von Anfang an vor, die unmittelbare Umgebung seiner Jugend zu meiden. Er konzentrierte die Suche auf Gebiete, die nicht allzu weit von seinem Geburtsort entfernt waren und dennoch abgelegen genug, um das Ri-siko, jemandem zu begegnen, den er von früher kannte, so gering wie möglich zu halten. Aus diesem und einigen anderen Gründen, die sich während der Abklärungen ergaben, entschied er sich schliesslich für die Gemeinde Röthen-bach im oberen Emmental.

Seine Suche nach einer geeigneten Bleibe innerhalb der Gemeinde war deutlich schneller erfolgreich als die Suche nach der richtigen Ortschaft. Wie so oft in solchen Situationen war ihm dabei der Zufall zu Hilfe gekommen. Um die Umgebung der Gemeinde Röthenbach etwas besser kennen zu lernen, entschied er sich, die Gegend als Tourist zu erkunden. Im Internet suchte er passende Wanderungen, die es ihm ermöglichen sollten, einen Eindruck der Region rund um Röthenbach zu erhalten. Zwei der Wanderrouten erschienen ihm für sein Vorhaben geeignet und so tauschte er für einige Tage sein Refu-gium im Tessin gegen ein komfortables Hotelzimmer in der Tourismushoch-burg Luzern ein, von wo aus es einfacher war, die Exkursionen ins obere Em-mental durchzuführen.

Die zweite Wanderung führte ihn in einem Rundgang über die Hügel des Emmentals rund um die Gemeinde Röthenbach. Er war schon drei Stunden unterwegs und suchte gerade einen Ort mit Aussicht, wo er eine Mittagspause einlegen konnte, als er einen Bauern sah, der auf dem Feld Zäune flickte. Er sah dem Mann einen Moment bei seiner Arbeit zu und entschied sich schliess-lich, einem Gefühl folgend, mit dem Mann das Gespräch zu suchen.

Werner Kalbermatter, so hiess der Bauer, war sichtlich überrascht. Er wurde nicht jeden Tag mitten auf dem Feld von einem Fremden angespro-chen. Da die Reparatur von Zäunen nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte, hatte er jedoch gegen eine kleine Abwechslung nichts einzuwenden.

Auf Ueli Tscharners Fragen zu der Gegend und den Leuten gab der Bauer bereitwillig Auskunft. Wie das Gespräch jedoch ausgerechnet auf die alte Scheune an der Wildegg kam, konnte später keiner der beiden mehr sagen. Auf die spontane Frage des Psychologen, ob der Bauer bereit wäre die Scheune und ein paar Quadratmeter Land drum herum zu verkaufen, reagierte dieser zuerst mit Erstaunen und schliesslich mit einem herzhaften Lachen.

„Nein, wir verkaufen kein Land. Wir brauchen jeden zur Verfügung ste-henden Quadratmeter, um unseren Betrieb führen zu können.“

Ueli Tscharner sah dem Bauern kurz direkt in die Augen, bevor er das Gespräch fortsetzte.

„Gehen wir einmal davon aus, sie würden das Land dennoch verkaufen, welcher Preis wäre für sie angemessen.“

„Ja…, das kann ich nicht sagen. Wir haben nie daran gedacht, das Land zu verkaufen. Es ist seit mehr als sechs Generationen in unserem Besitz und da spricht schon rein die Tradition gegen einen Verkauf.“

„Das verstehe ich gut“, liess Ueli mit seiner ruhigen Stimme nicht locker.

„Nehmen wir aber wie gesagt einmal hypothetisch an, es käme doch zu einem Verkauf.“

„Entschuldigen sie, wenn ich sie unterbreche, aber was meinen sie mit hypothetisch?“

Der Bauer sah Ueli mit einem fragenden Blick an.

„Mit hypothetisch meine ich, dass wir rein theoretisch einmal annehmen, sie würden die Scheune verkaufen, nur so als Gedankenspiel.“

„Ach so. Ja dann…“

Werner Kalbermatten überlegte noch einmal kurz und nannte danach sei-nem Gesprächspartner einen Preis, der aus seiner Sicht deutlich zu hoch an-gesetzt war. Dabei konnte er ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken und war auf die Reaktion seines Gegenübers gespannt.

„Gut. Ich zahle ihnen das Dreifache dieses Preises, wenn wir den Verkauf noch diese Woche abschliessen können und es danach auf der Gemeinde amt-lich beglaubigen lassen.“

„Das Dreifache! Ja, also… das ist sehr viel für die alte Scheune.“

„Für mich nicht. Was sagen sie, machen wir das Geschäft.“

„Na ja… Ich weiss nicht.“

Werner Kalbermatter war ins Grübeln gekommen. Was der Fremde ihm da anbot, war eine sehr grosse Summe. Damit wären sie auf einen Schlag sämt-liche Schulden los und hätten immer noch ein kleines Vermögen auf der ho-hen Kante. Abgesehen davon konnte er die Scheune sowieso nicht mehr nut-zen. Sie war alt und baufällig. Verdienen konnte er zudem mit dem Stück Land auch nichts. Der Preis war jedoch eindeutig zu hoch. Wenn das in der Ge-meinde die Runde machte, würde man ihm vorwerfen, er hätte den Fremden über den Tisch gezogen. Das durfte unter keinen Umständen so weit kommen.

„Also, das ist ein grosszügiges Angebot. Aber ich kann das nicht allein entscheiden. Da muss ich meine Frau mit einbeziehen.“

„Gut, wo ist ihre Frau“.

„Die ist zuhause am Kochen.“

„Ausgezeichnet, dann lassen sie uns gleich hingehen, damit wir die Sache zu einem positiven Abschluss bringen können.“

Zwei Wochen später, nachdem der Gemeinderat in einer ausserordentlichen Sitzung und nach einer grosszügigen Spende von Ueli Tscharner entschieden hatte, die Bauordnung geringfügig anzupassen, damit die kleine Scheune ne-ben Strom auch mit Wasser und Abwasser versorgt werden konnte, stand dem

Geschäft mit dem neuen Dorfbewohner nichts mehr im Weg.

Es dauerte schliesslich nochmals weitere sechs Wochen, bevor Ueli Tsch-arner sich auf die selbst gezimmerte Bank vor der Scheune setzen konnte, um die fantastische Aussicht über die Weiten des oberen Emmentals zu geniessen.

An jenem Tag, während sein Blick über die Weiten der Landschaft schweifte, ging ihm vieles durch den Kopf. Es war ein langer Weg gewesen, der ihn hierhergeführt hatte. Der Ort und die Hütte waren einzigartig. Insge-heim musste er sich sogar eingestehen, dass sie nach dem Ausbau und nach-dem Wasser und Elektrizität angeschlossen waren, mindestens ebenso gut war, wie sein Blockhaus in Seattle. Trotzdem fragte er sich in letzter Zeit immer häufiger, ob eine abgelegene Hütte im oberen Emmental und eine Zukunft mit fraglichen Perspektiven wirklich der Preis war, den er für all die Mühen und vor allem die Risiken der letzten Jahre zahlen musste.

Dabei hatte alles so verheissungsvoll begonnen.

Ulrich Tscharner, der von allen nur Ueli genannt wurde, wuchs in einer gut-bürgerlichen Familie in Thun auf. Als ältestes von drei Kindern von Verena und Karl Tscharner hatte er früh lernen müssen, Verantwortung zu überneh-men. Seine Schwester Adriana und sein Bruder Bernhard waren sieben und neun Jahre jünger als er. Deshalb musste er schon in der Schulzeit auf seine beiden jüngeren Geschwister aufpassen.

Sein Vater arbeitete als Verwaltungsangestellter bei der Stadt Thun, wo er die Einwohnerkontrolle leitete. Zudem war er sieben Jahre im Stadtrat und danach mehr als fünfzehn Jahre im Gemeinderat. Als vielbeschäftigter Mann, der in seiner Arbeit vollumfänglich aufging, war er viel unterwegs und selten zuhause. Darunter litt auch der Kontakt mit seinen Kindern, der sich auf die Sonntagvormittage und teilweise auf die Ferien beschränkte.

Als Beamter war er bei der Bevölkerung äusserst beliebt, da er alles da-ransetzte, um für deren Probleme Lösungen zu finden. Dabei gab er sich nie mit dem erstbesten Ansatz zufrieden, sondern suchte stets nach der optimalen Variante, auch wenn er dadurch bei der Umsetzung von Regeln und Vorgaben äusserst kreativ vorgehen musste. Nicht etwa, dass er gegen Vorschriften und Anweisungen verstossen hätte. Dazu war er zu korrekt und als loyaler Mitar-beiter seiner Behörde verbunden. Er hatte jedoch die Fähigkeit jede sich bie-tende Lücke und Gelegenheit so auszulegen und zu nutzen, dass er die ange-strebten Ziele erreichen konnte, ohne dabei Grenzen zu überschreiten.

Uelis Mutter war entgegen den allgemeinen Gepflogenheiten der damali-gen Zeit ebenfalls berufstätig. Als gelernte Damenschneiderin entschied sie sich bereits kurz nach der Lehre für einen Auslandaufenthalt, um ihre berufli-chen Kenntnisse zu erweitern. Die Wahl fiel auf Paris und so kam es, dass sie mit einundzwanzig für drei Jahre in die französische Hauptstadt übersiedelte. Mit einer grossen Portion Selbstvertrauen und dank ihrer zielstrebigen Vorge-hensweise, schaffte sie es trotz grosser Konkurrenz, in einem der grossen Mo-dehäuser eine Anstellung zu finden.

Dank ihrer guten Ausbildung, der exakten Arbeitsweise und der hohen Geschwindigkeit, mit der sie Arbeiten erledigen konnte, stach sie bald einmal aus der Masse der Angestellten heraus. Sie wurde mit anspruchsvolleren Ar-beiten betraut und stieg in den inneren Kreis der Leute auf, die an wesentli-chen Entscheiden zur Gestaltung der Kollektion des Modehauses beteiligt wurden.

Trotz des grossen Erfolgs hatte sie jedoch nach drei Jahren genug vom Ausland. Es zog sie wieder zurück in ihre Heimat. Dort nutzte sie die gewon-nenen Erkenntnisse und die Erfahrung geschickt aus und eröffnete noch be-vor sie fünfundzwanzig war, ihr eigenes Nähatelier. Nach einer ersten schwie-rigen Phase, die sie dank der Unterstützung ihrer Eltern überstehen konnte, gelang es ihr, sich in der Region einen Namen zu machen. Ihr kleines Geschäft florierte und bald einmal konnte sie zwischendurch zwei Näherinnen beschäf-tigen, die sie bei grösseren Aufträgen unterstützten. Aufgrund dessen, dass sie nun Personal beschäftigte, hatte sie auch mit den Behörden zu tun, wodurch sie eher zufällig ihren zukünftigen Mann kennen lernte.

Ihr Atelier gab sie auch nach der Heirat nicht auf. Selbst als Ueli das Licht der Welt erblickte und zu allen andern auch noch Mutterpflichten auf sie zu-kamen, setzte sie alles daran, um weiter arbeiten zu können. Dabei konnte sie auf die volle Unterstützung ihres Gatten zählen, der sehr genau wusste, wie wichtig die Arbeit für seine Frau war.

Bei all der Liebe zu ihrer Arbeit legte sie grössten Wert darauf, ihre Mut-terpflichten nicht zu vernachlässigen. Für Ueli brachte dies mit sich, dass er automatisch einen Teil seiner Kindheit im Nähatelier der Mutter verbrachte. Dort war er so lange der Liebling aller Kundinnen, bis mit sieben Jahren eine Schwester und mit neun Jahren ein kleiner Bruder die Familie vergrösserten.

Für den ältesten Spross hatte der Zuwachs der Familie die grössten Aus-wirkungen. Einerseits musste er die Aufmerksamkeit seiner Eltern nun mit

seinen beiden Geschwistern teilen und da er der Älteste war auch rasch zu-sätzliche Verantwortung übernehmen. Anstatt draussen mit den anderen Kin-dern seines Alters spielen zu können, musste er schon bald einmal auf seine beiden jüngeren Geschwister aufpassen. Dadurch verlor Ueli einen Grossteil seiner Freunde, da er kaum mehr dazu kam, etwas mit ihnen zu unternehmen. Deshalb hiess es bald einmal, den Tscharner musst du nicht fragen, der muss wieder auf die kleinen Hosenscheisser aufpassen.

Es dauerte eine Weile, bis er sich mit dieser Tatsache abfand. Die Folge war, dass der junge Ueli Tscharner immer mehr zum Einzelgänger wurde.

Zumindest auf seine schulischen Leistungen hatten die Änderungen der Familienstruktur keinen Einfluss. Dank seiner aussergewöhnlichen Auffas-sungsgabe sowie der Fähigkeit Zusammenhänge zu erkennen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, gehörte er in der Schule immer zu den Besten. Es wäre ihm sogar ein Leichtes gewesen, in beinahe allen Fächern zu-vorderst zu sein. Er erkannte jedoch früh, dass es am wenigsten Probleme gab, wenn er in einer Gruppe vorne dabei war, ohne sich an die Spitze zu drängen. Gab es Anzeichen, dass sich dies ändern könnte, indem er beispielsweise bei einem Test die beste Note hatte, so gab Ueli an der nächsten Prüfung bewusst Gegensteuer.

Dadurch hatte er als aufgeweckter und interessierter Schüler weder mit den Lehrern noch mit seinen Eltern Schwierigkeiten. Sobald sie erkannten, dass hier einer war, der wenig Probleme verursachte, liessen sie ihn in Ruhe.

Bei seinen Mitschülern sorgten nicht seine Leistungen in der Schule, son-dern seine Grösse für den nötigen Respekt. Nachdem auch der letzte begriffs-stutzige Hinterwäldler mit dem Intelligenzquotient einer Stubenfliege begrif-fen hatte, dass hier einer war, auf dem man nicht herumtrampeln konnte, gab es auch von dieser Seite keine Probleme mehr.

Die obligatorische Schulzeit und auch das Gymnasium gingen deshalb beinahe ereignislos vorüber. Am Ende seiner Grundbildung schloss er die Ma-turität als einer der Besten ab. Die Hoffnung der Eltern war deshalb gross, dass ihr ältester Sohn dank seiner ausgezeichneten schulischen Leistungen ein Hochschulstudium beginnen würde. Ueli hatte jedoch andere Pläne. Dabei war es das grösste Problem, seine Eltern zu überzeugen, dass seine Lösung für ihn die bessere war als die Ideen, die sie verfolgten. Er wartete deshalb lange ab, bis er den aus seiner Sicht richtigen Moment fand, um seine Eltern mit seinen Zukunftsplänen zu konfrontieren. Als ihn sein Vater kurz vor seinen letzten Ferien vor dem Ende der obligatorischen Schulzeit fragte, was er sich

für seine Zukunft vorgenommen habe, schien dieser Moment gekommen zu sein.

„Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich beruflich gerne machen möchte. Nach dem Gymer habe ich ehrlich gesagt genug von Schule und Kopfarbeit. Ich will mit den Händen arbeiten und nicht stundenlang in Hörsä-len und stickigen Klassenzimmern rumsitzen. In den letzten Ferien, als ich mit Mark eine Woche in Interlaken auf dem Zeltplatz war, habe ich deshalb bei der Zimmerei Stalder in Spiez eine dreitägige Schnupperlehre als Zimmer-mann absolviert. Seither weiss ich genau, dass es das ist, was ich nach der Schule tun möchte. Der Firmeninhaber war zudem mit mir sehr zufrieden. Eine Woche nach der Schnupperlehre hat er mich angerufen und mir gesagt, ich könne die Lehrstelle haben. Ihr müsst nur noch einmal mit mir mitkom-men und den Lehrvertrag unterschreiben.“

Uelis Vater hörte sich die ganze Geschichte ruhig an. Mittlerweile kannte er die Eigenheiten seines Sohnes. Wenn sich Ueli einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn kaum mehr davon abbringen. Doch in diesem speziellen Fall dachte er auf keinen Fall daran, seinem Sprössling auch nur im Geringsten entgegenzukommen.

Es brauchte schliesslich mehrere, teils heftige Diskussionen und die ganze Überzeugungskraft der Mutter, um ihren Gatten umzustimmen. Da-nach war die Unterschrift unter den Lehrvertrag nur noch eine Formsache.

Mit der Lehre hielt es Ueli wie mit der Schule. Er setzte sich ein, achtete jedoch darauf, nicht zu sehr aufzufallen. In der Berufsschule gehörte er von Anfang an zu den Klassenbesten, ohne dabei allzu viel Aufwand zu betreiben. Ein wenig anders war es mit der praktischen Arbeit. Der angehende Zimmer-mann stellte bald einmal fest, dass er nicht an körperliche Arbeit gewohnt war. Er unternahm deshalb alles, um seine Fitness zu verbessern und sich schnell an den höheren Rhythmus zu gewöhnen.

Seinem Lehrmeister blieb das alles nicht verborgen. Ihm war schnell klar geworden, dass er es hier mit einem jungen Burschen zu tun hatte, der aus der Masse der anderen herausstach. Dabei fielen vor allem seine ausgezeichnete Auffassungsgabe, seine Eigeninitiative sowie die Tatsache auf, dass er sich von Anfang an mit den anderen Angestellten ausgezeichnet verstand. Zudem fas-zinierte es den Firmeninhaber, wie sein Lehrling auf andere Einfluss nahm, ohne dass diese es bemerkten. Galt es danach die Lorbeeren für den Erfolg einzuheimsen, unternahm der junge Bursche regelmässig alles, um im Hinter-grund zu bleiben und anderen den Vortritt zu überlassen.

Nachdem er die Grundkenntnisse des Handwerks schneller als andere verinnerlicht hatte, setzte ihn sein Lehrmeister bereits Ende des dritten Lehr-jahrs vermehrt auch auf Baustellen ein. Die ersten Male war Ueli mit der Situ-ation etwas überfordert. Auf einer Baustelle galten noch einmal andere Regeln als in der Werkstatt, wo das wachsame Auge des Lehrmeisters stets irgendwo präsent war. Je mehr er jedoch bei Aussenarbeiten eingesetzt wurde, umso mehr machte ihm diese Art der Arbeit Spass.

Aufgrund der grossen Arbeitsmenge stellte sein Meister zu dieser Zeit immer wieder Gesellen ein, die sich auf Wanderschaft befanden. So kam Ueli mit diesem für Handwerksberufe speziellen Brauch der Lern- und Wander-jahre in Kontakt.

Als er erstmals einem Gesellen begegnete, konnte er ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Die etwas spezielle Kleidung, die alles andere als zeitge-mäss war, wirkte auf den jungen Lernenden fast ein wenig lächerlich. Das än-derte sich jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt, als er selbst feststellen konnte, über welch hervorragende handwerkliche Fertigkeiten die Gesellen verfügten. Sie waren allesamt seriöse und ausgewiesene Berufsleute, die sich durch hohen Fleiss und Einsatzbereitschaft auszeichneten. War eine Arbeit erledigt, so schnürten sie ihr Bündel und machten sich auf den Weg zum nächsten Arbeit-geber. Je mehr dieser Gesellen Ueli begegnete, umso mehr erfuhr er über die alte Tradition und umso mehr stieg seine Achtung vor den Wandergesellen.

Die Wanderjahre nach abgeschlossener Gesellenprüfung, was in der Schweiz dem Lehrabschluss gleichkam, hatten ihren Ursprung in den Zünften des späten Mittelalters. Zu dieser Zeit verlangte es die Tradition und die ärm-lichen Verhältnisse der Bevölkerung, dass ausgelernte Zimmerleute, Dachde-cker oder andere Berufsleute aus Handwerksberufen, bevor sie einen Meist-erbrief erlangen konnten, ihre Fähigkeiten im Verlauf einer zwei- bis dreijäh-rigen Wanderschaft unter Beweis stellen mussten. Während dieser Zeit waren sie auf Treu und Glauben als ehrenhafte Leute unterwegs, welche jederzeit die Regeln und Vorschriften ihrer Zünfte oder Gilden befolgten.

Diese Regeln waren dazu da, dass die Gesellen auch von den Menschen in den Dörfern, durch die sie ihre Wanderschaft führte, als ehrbare Leute ak-zeptiert wurden, obwohl sie eigentlich als arme Schlucker galten, die über kei-nerlei Besitz verfügten. Es lag deshalb im eigenen Interesse der Gesellen sich redlich zu verhalten und die Gildenregeln zu befolgen. Zu den wichtigsten Vorgaben gehört die Dauer der Wanderschaft, die je nach Gilde auf mindes-tens zwei bis drei Jahre und einen Tag festgelegt war. Zudem musste sich der

Geselle verpflichten, während dieser Zeit einen Bannkreis von fünfzig Kilo-meter, um den Ausgangsort seiner Wanderschaft zu respektieren und erst nach dem Ablauf der Walz wieder zurückzukehren.

Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde aus der Gilde ausgeschlossen und hatte danach Mühe Arbeit zu finden.

Während der Wanderschaft klapperten die Gesellen die Handwerksbe-triebe in den Ortschaften auf ihrer Wanderroute ab und fragten nach Arbeit. Gab es nichts zu tun, so zogen sie weiter. Erhielten sie einen Auftrag, so blie-ben sie so lange bis die Arbeit erledigt war und nahmen danach ihre Wande-rung wieder auf. In den Gemeinden, in denen sie auf ihrer Wanderung vorbei-kamen, liessen sie sich einen Stempel der Gemeinde in ihr Gildenbuch eintra-gen. Dies diente als Beweis, dass sie an diesem Ort vorbeigekommen waren. Dazu erhielten sie in der Regel einen kleinen Obolus für die Weiterreise, der ihnen half die Zeit zu überbrücken, bis sie wieder Arbeit fanden. Dadurch lernten sie nicht nur Land und Leute sowie unterschiedliche Kulturen kennen, sondern konnten auch ihre fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern.

Unter den Gesellen, die der Firmeninhaber in Uelis letztem Lehrjahr an-stellte, war auch ein junger Schweizer aus dem Toggenburg. Adrian Keller, so hiess der gelernte Zimmermann, war nur gerade zwei Monate älter als Ueli und erst seit vierzehn Wochen unterwegs. Sein Halt in der Zimmerei Stalder in Spiez war erst sein dritter Arbeitgeber seit dem Beginn seiner Walz. Vorher war er in Tavetsch in der Nähe von Disentis bei einem Chalet Neubau tätig gewesen und danach in Giubiasco im Tessin bei Renovationsarbeiten in einem Hotel.

Die beiden jungen Berufskollegen verstanden sich auf Anhieb und ver-brachten beinahe jede freie Minute zusammen. Dass dabei Ueli jede sich bie-tende Gelegenheit nutzte, um möglichst viel über die Wanderschaft zu erfah-ren, nahm Adrian mit viel Gelassenheit und Geduld auf sich. Es gehörte zu seinem Selbstverständnis als Wandergeselle, dass er offen und vorbehaltlos auf andere zuging.

Jahre später, wenn Ueli mit Freunden zusammensass, kam er immer wie-der auf die drei Wochen mit Adrian Keller zu sprechen. Es waren dessen Er-zählungen über die ersten Erfahrungen als Wandergeselle, die Uelis Entschluss das Wagnis anzugehen, am stärksten beeinflusst hatten.

Am letzten Abend, bevor Adrian Keller sein Bündel wieder schnürte, um die nächste Etappe seiner Reise in Angriff zu nehmen, gab er Ueli noch einige wertvolle Ratschläge.

„Wenn du selbst auf die Walz gehen willst, wäre es am besten, dich so früh wie möglich deinem Lehrmeister anzuvertrauen. Ich weiss, dass er früher selbst auf der Walz war und heute Mitglied in einer Gilde ist. Er kann dir die notwendigen Kontakte vermitteln und auch sicher noch einiges mehr zu den Bedingungen sowie den Vor- und Nachteilen der Wanderjahre erzählen. Wenn du dich schliesslich dafür entscheiden solltest, diesen Weg zu beschrei-ten, wäre es von Vorteil dich einer Gilde anzuschliessen. Dazu brauchst du einen Paten, der dich in deinem Vorhaben unterstützt. Es gibt zwar eine Mög-lichkeit, dass du als freier Geselle ohne Gildenanschluss unterwegs bist. Vor allem im Ausland kann das jedoch zu Problemen führen. Lass von dir hören, wie du dich entscheidest. Vielleicht sehen wir uns unterwegs noch einmal.“

Ueli hielt sich an die Ratschläge seines Kumpels. Bei der ersten sich bie-tenden Gelegenheit sprach er seinen Lehrmeister auf das Thema an. Der hörte seinem Untergebenen ruhig zu, als er sein Anliegen vortrug. Nachdem Ueli mit seinen Ausführungen am Ende angelangt war, überlegte der Firmeninha-ber einen kurzen Moment, bevor er sich äusserte.

„Ich finde es grundsätzlich eine gute Idee, wenn du deine beruflichen Kenntnisse im Rahmen einer Wanderschaft vertiefen willst. Vor einigen Jah-ren habe ich selbst diesen Weg gewählt. Damals waren die wirtschaftlichen Bedingungen nicht optimal und es gab auch noch vieles nicht, das dir heute die Wanderschaft einfacher macht, als dies zu meiner Zeit der Fall war. Den-noch gibt es eine Menge Punkte zu berücksichtigen, bevor du dich in dieses Abenteuer stürzt.“

Nach dieser kurzen Einführung erklärte sein Lehrmeister ihm eine Stunde lang die Vor- und Nachteile seines Vorhabens aufgrund dessen, was er selbst erlebt hatte. Er machte ihm deutlich, welche Bedingungen mit der Mit-gliedschaft in einer Gilde verbunden waren und was das für ihn in der Praxis bedeutete.

„Wie du aufgrund meiner Erfahrungen sehen kannst, sollte ein solcher Entscheid erst nach reiflicher Überlegung und Abwägung der Vor- und Nach-teile getroffen werden. Ich schlage dir deshalb vor, du nimmst dir die nötige Zeit und denkst noch einmal gründlich über dein Vorhaben nach. Du solltest dich deiner Sache sicher sein. Wenn du noch Fragen zum Ablauf, zu den Be-dingungen oder zu sonst was in Zusammenhang mit den Wanderjahren eines Gesellen hast, kannst du mich jederzeit auch ausserhalb der Arbeitszeit kon-taktieren. Heute in einer Woche treffen wir uns wieder hier. Dann möchte ich

von dir hören, zu welchen Schlussfolgerungen du aufgrund deiner Überlegun-gen gekommen bist und wie du zu der Sache stehst. Nutze die Zeit, um dich umzuhören, mit deinem Umfeld zu sprechen und dich auf ein paar Fragen meinerseits vorzubereiten, was deine Motivation und deine Bereitschaft be-trifft, eine solche Sache anzugehen.“

Ueli war mit dem Verlauf des Gesprächs mit seinem Lehrmeister sehr zufrieden. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr reifte die Erkenntnis, dass die Wanderjahre ihn persönlich weiterbringen würden. Bevor er jedoch sein Vorhaben vorantreiben konnte, musste noch eine Hürde genommen wer-den. Es war an der Zeit, seine Eltern über seine Pläne zu informieren. Ihm war es ein Anliegen, dass sie seinen Wunsch respektierten und ihn während der Wanderjahre zumindest moralisch aus der Ferne unterstützten.

Wie Ueli befürchtet hatte, verlief das Gespräch nicht eben harmonisch. Sein Vater liess den Sohn zuerst äusserlich gelassen aussprechen, um danach mit deutlichen Worten unumstösslich festzustellen, wie wenig er von der gan-zen Sache hielt.

„Die Idee mit den sogenannten Wanderjahren ist nun wirklich eine ab-solute Schnapsidee. Nichts weiter als ein alter Zopf aus dem Mittelalter, der schon lange nicht mehr zeitgemäss ist. Aus meiner Sicht ein völliger Blödsinn und reine Zeitverschwendung. Es wäre sinnvoller, du würdest an eine Fach-hochschule oder an die Universität gehen und deine Berufskenntnisse dort erweitern. Zudem solltest du zuerst einmal die Abschlussprüfung bestehen und danach die Rekrutenschule hinter dich bringen. Ich frage mich ernsthaft, was wir bei unserer Erziehung falsch gemacht haben, dass du immer wieder mit solchen abstrusen Ideen daherkommst.“

Danach stand er auf und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren in sein Büro, um seinen Ärger in Arbeit zu ersticken.

Uelis Mutter sah ihrem Gatten mit leicht besorgtem Blick nach. Sie wusste zu genau, dass hinter dieser harten Schale, die er meistens gegen aussen zur Schau stellte, ein weicher Kern sass. Dass er so reagierte, war auf seine Sorge in Bezug auf seinen Sohn zurückzuführen. Selbst wenn es in solchen Momenten schwer nachvollziehbar war, so war ihr Gatte stolz darauf, wie sein Ältester sein Leben bisher immer selbst in die Hände genommen hatte. Er gehörte jedoch zu jener Gruppe von Menschen, die nicht in der Lage waren, ihre Gefühle verständlich und offen zu zeigen.

„Du musst deinen Vater verstehen. Dein Vorhaben ist schon ein wenig ungewöhnlich und kommt für uns überraschend. Vater war darauf in keiner

Art und Weise vorbereitet. Vielleicht kannst du seine Reaktion darauf besser verstehen. Was mich anbelangt, so bin ich von deiner Idee auch nicht gerade hell begeistert. Wenn es jedoch dein Wunsch ist, so werde ich den respektieren und dir sicher nicht im Weg stehen. Fahr mit deinem Vorhaben weiter und überlass deinen Vater ruhig mir. Ich werde dafür sorgen, dass er einen Weg finden wird, damit zurecht zu kommen.“

Das war nicht ganz das, was sich Ueli erhofft hatte. Für den Moment musste es jedoch genügen. Er war zuversichtlich, dass es seiner Mutter gelin-gen würde, seinen Vater zu beschwichtigen.

Damit stand einem zweiten Gespräch mit seinem Lehrmeister nichts mehr im Weg. Nach einer längeren Einführung und nachdem Ueli die Fragen seines Meisters zur Zufriedenheit beantwortet hatte, legten sie gemeinsam das weitere Vorgehen fest. Dabei machte Robert Stalder seinem Lehrling unmiss-verständlich klar, dass an erster Stelle, vor allem anderen und unabhängig von allen Abklärungen, die Lehrabschlussprüfung stand.

„Ohne eine wirklich gute Lehrabschlussprüfung wirst du es schwer ha-ben dein Vorhaben zu realisieren“, stellte er eindringlich fest.

„Ich sage dir das aus eigener Erfahrung. Damals als ich auf der Reise war, habe ich dem Punkt zu wenig Beachtung geschenkt. Dafür musste ich wäh-rend der ersten Phase meiner Wanderschaft büssen. Ich hatte es schwer, die Anforderungen an einen Gesellen zu erfüllen und musste deshalb auch die eine oder andere Tirade über mich ergehen lassen. Das hat mich zwar abge-härtet und meinen Entschluss die Sache durchzustehen nur gefördert. Es war jedoch alles andere als einfach. Dir soll es nicht so ergehen, wie es mir damals ergangen ist und dafür ist ein guter Lehrabschluss eine der wichtigsten Vo-raussetzungen.“

Nach dieser nachdrücklichen Ansprache, die noch lange in den Gedan-ken von Ueli nachhallte, besprachen sie das weitere Vorgehen. Sein Lehrmeis-ter hatte bereits mit einigen Mitgliedern seiner Gilde Kontakt aufgenommen und den ersten Besprechungstermin festgelegt. Als Anwärter auf eine Mit-gliedschaft in der Gilde musste sich Ueli einem Bewerbungsverfahren stellen, bei dem die Gildenmitglieder prüften, ob er würdig war, einer der ihren zu werden. Ihr Entscheid würde zu einer Aufnahme auf Probe führen, mit der Ueli die ersten Monate seiner Reise angehen konnte. Hielt er während dieser Zeit die Regeln der Gilde gewissenhaft ein, verhielt sich ehrbar sowie vorbild-lich und konnte in seinem Gildebuch den Nachweis von Arbeit und guter

Leistung bestätigen, so wurde die Mitgliedschaft auf Probe in eine Vollmit-gliedschaft umgewandelt. Bis dahin hatte der junge Zimmermannslehrling je-doch noch einen weiten Weg zu gehen.

Die Lehrabschlussprüfung stellte für Ueli schliesslich kein grosses Problem dar. Als er die Aufgabe erhielt und wusste, was von ihm erwartet wurde, konnte er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, denen es den Schweiss auf die Stirn trieb, ein Lächeln nicht unterdrücken. Die geforderte Aufgabenstel-lung hatte er in seinem Lehrbetrieb bereits mehrfach ausgeführt. Anfangs un-ter Aufsicht und zum Schluss in eigener Verantwortung ohne die Unterstüt-zung seiner Arbeitskollegen. Sein grösstes Problem war es deshalb, das Ganze nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und seine Konzentration hochzuhal-ten. Aufgrund der Entwicklung, die er während der Lehre gemacht hatte, wurde von ihm nichts anderes als eine sehr gute Leistung erwartet. Dass der junge Berufsmann, der sich nun Geselle nennen durfte, die Lehre mit Bestno-ten abschloss, löste dennoch bei allen Beteiligten Freude aus. Dank seiner aus-gezeichneten Prüfung wurde er sogar nach Bern eingeladen. Wie andere Lehr-abgänger, die in ihren Berufen als Beste abschlossen, erhielt er dort durch den Regierungsratspräsidenten eine spezielle Auszeichnung.

Für einmal hatte er sich nicht zurückgehalten und anderen den Vortritt gelassen. Dass er dabei gleich an der Spitze seines Berufsstandes landen würde, hatte vielleicht auch etwas mit Glück zu tun. Vor allem zeigte es jedoch das Potential, das in ihm steckte, wie es der Lehrmeister im Rahmen der Feierlich-keiten sichtlich stolz formulierte. Für ihn bedeutete die grossartige Leistung seines Lehrlings auch eine Auszeichnung für seinen Betrieb und für ihn per-sönlich als Lehrmeister. Er genoss deshalb die Feier in Bern und alles andere was danach noch folgte. Dies im Bewusstsein, dass er wohl nicht in jedem Jahr einen so ausgezeichneten Lehrling in seinem Betrieb beschäftigen würde.

Am liebsten hätte Ueli sein Bündel gleich nach dem Lehrabschluss gepackt, um getragen von der Euphorie des Erfolgs seine Wanderschaft anzutreten. Bevor er dies jedoch tun konnte, musste er wie jeder andere gesunde Schwei-zer Bürger um die Zwanzig die Rekrutenschule hinter sich bringen. Da es we-der eine gesundheitliche Einschränkung noch andere Gründe gab, die ihn da-ran hinderten, dieser zugegebenermassen nicht für jeden berauschenden Pflicht nachzukommen, musste er in den sauren Apfel beissen.

Als Zimmermann war er bei der Aushebung den Genietruppen zugeteilt

worden. Bereits eine Woche nach der Lehrabschlussprüfung und bevor er das Resultat kannte, lagen die ersten Einheiten der Grundausbildung bereits hinter ihm. Obwohl er sich redlich Mühe gab, in der Menge unterzutauchen und ja nicht aufzufallen, dauerte es keine drei Wochen, bis er bei der ganzen Truppe namentlich bekannt war. Der Grund waren die Resultate an der Lehrab-schlussprüfung und die damit verbundene Auszeichnung in Bern, für die er extra Urlaub beantragen musste. Dass es sich der Schulkommandant am nächsten Tag nicht nehmen liess, ihm vor versammelter Truppe persönlich zu gratulieren, war für sein Vorhaben in der Masse unterzutauchen alles andere als förderlich.

Es war deshalb auch nicht verwunderlich, dass nach der achten Woche der Rekrutenschule bereits feststand, dass sein militärischer Einsatz über den-jenigen eines einfachen Soldaten hinausgehen würde. Als sein Zugführer ihm eröffnete, wie sehr man sich freue, ihn im Rahmen der untersten Führungs-ausbildung wieder zu begrüssen, stellte Ueli Tscharner eine Bedingung.

„Ich nehme diese Herausforderung an, jedoch nur unter der Bedingung, dass ich die Ausbildung gleich anschliessend an die Rekrutenschule absolvie-ren kann. Sollte dies nicht möglich sein, werde ich mich mindestens für drei Jahre als Geselle auf Wanderschaft begeben, was mir das Militär nicht verwei-gern kann. In drei oder vielleicht auch vier Jahren werde ich zu alt sein, um dann die Ausbildung noch zu absolvieren.“

Obwohl es höhere Ränge im Militär gar nicht schätzten, wenn ihnen Un-tergebene Bedingungen stellten, zögerten seine Vorgesetzten nicht, dem An-liegen von Ueli Tscharner nachzukommen.

Somit blieb ihm nach der Rekrutenschule nur eine kurze Pause von zwei Wochen, bevor er in die Unteroffiziersschule einrücken musste. Auch in dieser Ausbildung stellte er sich sehr gut an, was ihm die Nomination als Offiziers-anwärter einbrachte. Der Schulkommandant eröffnete ihm die Botschaft mit einem Grinsen im Gesicht.

„Wir freuen uns, sie als Offiziersanwärter gleich nach dem Abschluss ih-rer Unteroffiziersausbildung in den Offizierslehrgang zu schicken. Dabei ist es für uns selbstverständlich, dass wir auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Schliesslich wollen wir ja nicht vier Jahre warten, bevor wir sie wiedersehen.“

Zwei Wochen bevor er die Unteroffiziersausbildung abschloss, wurde er in die Offiziersschule abkommandiert. Danach musste er seinen neuen Dienstgrad im Rahmen einer Rekrutenschule abverdienen und wurde dabei auch gleich als stellvertretender Kommandant eingesetzt.

Alles in allem dauerte es beinahe zwei Jahre, bis er diesen ungeplanten patriotischen Einsatz hinter sich hatte. Vor allem gegen Ende war die militäri-sche Alltagsroutine für Ueli nur noch schwer zu ertragen. Die teils kindischen schon fast kleinkarierten Probleme mit den Rekruten und die sich oft an den Grenzen des realitätsfremden bewegenden Ideen seiner Vorgesetzten, waren für ihn mit der Zeit nur noch eine mühsame Belastung. Er sehnte den Moment herbei, an dem dieses Kapitel endlich ein Ende fand.

Während der Militärzeit fragte sich Ueli mehr als einmal, ob es wirklich sinnvoll war, gleich nach dem Militär die Wanderschaft anzutreten. Die Mo-nate beim Militär mit all den speziellen Aufgaben hatten ihn verändert. Er hatte gezwungenermassen gelernt Verantwortung zu übernehmen und war zweifellos an den Aufgaben und Herausforderungen gewachsen. Für die Si-cherheit und das Wohlergehen von vierzig Leuten die Verantwortung zu tra-gen, war schon etwas anderes, als in der Lehre der Unterste in der Hierarchie zu sein. Während drei Wochen hatte er in Abwesenheit des Kommandanten sogar neben seinem Zug auch noch die Kompanie geführt und damit die Ver-antwortung für mehr als hundertdreissig Leute getragen.

Er wusste deshalb nicht, wie er darauf reagieren würde, wenn ihm als Geselle auf der Wanderschaft irgendwelche Dilettanten meinten Anweisungen geben zu müssen, die weder fachlich noch als Person auf der Höhe der Sache waren. Zudem war er mittlerweile dreiundzwanzig und würde am Ende der Walz sogar schon fast siebenundzwanzig Jahre alt sein.

Ueli suchte deshalb das Gespräch mit seinem Lehrmeister. Der freute sich von seinem ehemaligen Lehrling zu hören. Er war erstaunt, wie sehr sich Ueli verändert hatte. Sein Auftreten, die Art und Weise wie er kommunizierte und die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, hatten nicht mehr viel mit seinem ehemaligen Lehrling zu tun. Er war gereift, als Person gefestigt und stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Es war deshalb für den Lehrmeister nicht ein-fach, seinem ehemaligen Schützling einen Rat zu geben.

„Fachlich kannst du sicher noch einige Dinge dazu lernen. Da habe ich keine Zweifel. Die Zeit im Militär hat dich jedoch stark verändert. Dein Auf-treten ist nicht mehr das eines Lehrabgängers, sondern vielmehr das einer Per-son, die weiss was sie will und wie man sich durchsetzt, um seine Ziele zu erreichen. Das wird sich sicher auf dein Vorhaben auswirken. In welcher Form, wird allein von dir abhängen. Auf der Walz bist du nicht mehr der Kompanie Kommandant, der befielt und anderen sagt was sie zu tun haben, sondern der Geselle, der Arbeit sucht und sich als Person sowie Fachmann

weiter entwickeln will. Wenn du dich in diese Rolle einfügen kannst, so steht der Wanderung nichts im Weg, sofern du das noch willst.“

Nach dem Gespräch brauchte Ueli ein paar Tage Zeit, um sich über die nächsten Schritte in seinem Leben klar zu werden. Je länger er jedoch darüber nachdachte, umso mehr kam bei ihm wieder der Wunsch auf, die ausserge-wöhnliche Herausforderung der Wanderschaft und die damit verbundenen Abenteuer anzugehen.

Am sechsten März, einem Dienstag, draussen wehte ein kalter Wind über die Landschaft und an den Strassenrändern häuften sich immer noch die Reste des Schnees des vergangenen Winters, war es schliesslich so weit. Für die meis-ten war es ein Tag wie jeder andere. Für Ueli war es der Tag, an dem er seiner Heimat den Rücken kehrte und seine Wanderung als Geselle in Angriff nahm. Am Morgen und bis nach dem Mittagessen hatte er die traditionellen Rituale hinter sich gebracht, die den Auszug eines Gesellen aus seiner Heimat beglei-teten.

Dazu gehörte ein letztes Mittagessen mit seiner Familie und seinen Freunden. Zu der Feier kamen auch einige Altgesellen, welche die Wander-schaft bereits hinter sich hatten. Sein Lehrmeister reihte sich in diese Gruppe ein und teilte ihm auch gleichzeitig mit, er würde ihn während der ersten zwei Tage seiner Reise begleiten. Die grösste Überraschung war jedoch als er unter den Altgesellen Adrian Keller erkannte. Nachdem sein Lehrmeister Adrian von Uelis bevorstehendem Auszug informiert hatte, setzte dieser jeden Hebel in Bewegung, um rechtzeitig in Thun zu sein. Er übernahm den ehrenvollen Auftrag der Gilde, den Wandergesellen auf Probe in den ersten Wochen seiner Wanderschaft zu begleiten.

Adrian Keller hatte seine drei Jahre Wanderschaft beinahe hinter sich. Er freute sich darauf, seinen Kumpel in offiziellem Auftrag, in den ersten Wo-chen zu begleiten. Dabei trug er die Verantwortung den Junggesellen einerseits in die Geheimnisse der Walz einzuführen und andererseits dafür zu sorgen, dass er nach Ablauf der Probezeit als vollwertiges Mitglied in die Gilde aufge-nommen wurde.

Das traditionelle Aufbruchsfest verlief äusserst fröhlich und ausgelassen. Neben seinen Eltern und den beiden Geschwistern nahm auch die gesamte Belegschaft seines Lehrbetriebs an der Feierlichkeit teil. Als es dann gegen fünfzehn Uhr so weit war aufzubrechen, begleitete ihn die Festgesellschaft bis zu der Ortstafel von Thun. Dort verabschiedete sich Ueli von seiner Familie

und seinen Freunden, bevor er seine Wanderschaft offiziell begann. Der Start wurde dadurch gegeben, dass der Geselle die Ortstafel passierte. Von da an gab es kein Zurück mehr. Auch kein letzter Blick nach hinten war mehr er-laubt. Vielmehr sollte der Geselle sich nach vorne orientieren.

Begleitet wurde er auf seiner ersten Wegstrecke von Adrian, seinem Lehr-meister und zwei weiteren Einheimischen, aus dem Führungsgremium seiner Gilde. Die Beiden verabschiedeten sich schon am ersten Abend nach dem Abendessen. Sein Lehrmeister liess es sich hingegen nicht nehmen, seinen Schützling die ersten Tage bei seiner Reise zu begleiten. Als er sich schliesslich nach drei Tagen verabschiedete, hatten sie die Bannmeile von fünfzig Kilome-tern längst hinter sich gebracht.

Nun waren sie nur noch zu zweit unterwegs. Adrian hatte seinem Schütz-ling vorgeschlagen, während der ersten Etappe über das Baselbiet in Richtung Schwarzwald zu wandern. Auf dieser Strecke gab es mindestens ein Dutzend Herbergen, in denen sie übernachten konnten und auch einige Handwerksbe-triebe, die auf Adrians Liste möglicher Arbeitgeber standen. Ueli war darauf angewiesen, bald einmal etwas Geld zu verdienen, da er der Tradition entspre-chend gerade einmal mit fünf Franken von zuhause aufgebrochen war.

Als er Adrian darauf ansprach, erklärte ihm dieser, dass es nichts Ausser-gewöhnliches sei, wenn er als Wandergeselle einmal kein Geld in der Tasche habe. Es gab nicht immer Arbeit und es konnte vorkommen, dass man meh-rere Tage oder sogar Wochen unterwegs war, bis man wieder Arbeit fand. Zu-dem diente die Walz nicht unbedingt dazu, viel Geld zu verdienen. Die Löhne, die gezahlt wurden, waren korrekt aber sicher nicht so hoch, dass man dabei reich werden konnte. Fand man einmal keine Arbeit, so waren die Ersparnisse oft schnell aufgebraucht. Für solche Fälle gab es ein Netz von Herbergen und anderen Ansprechstellen, bei denen ein Wandergeselle zur Not eine einfache Mahlzeit erhielt und eine Nacht bleiben konnte. An solchen Orten konnte man auch auf andere Wandergesellen treffen, die über Informationen verfüg-ten, die für die Weiterreise von Nutzen waren.

Auf diese Weise war Adrian auch zu der Liste möglicher Arbeitgeber ge-kommen, die er laufend ergänzte und neben seinem Gildenbuch hütete wie einen persönlichen Schatz.