Noch 90 Tage - Daniel Thomet - E-Book

Noch 90 Tage E-Book

Daniel Thomet

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Beschreibung

In den letzten zweiundzwanzig Jahren hatte sich Martin Steigle in der DSB Bank einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Dank seiner umgänglichen Art und einer kleinen Portion Glück war er über das Kadernachwuchsprogramm in die Bank gekommen. Mit der Neuausrichtung des Sponsorings hatte er sich im Unternehmen rasch einen Namen gemacht. Dies hatte auch der CEO bemerkt, der ihn als Verantwortlichen für Sonderprojekte in die erweiterte Geschäftsleitung holte. Einige Jahre später stolperte der CEO über dubiose Geschäfte eines seiner Mitarbeitenden und musste den Hut nehmen. Als der Nachfolger nach Bekanntgabe der Reorganisation des Unternehmens Martin Steigle versicherte, er würde vom Stellenabbau nicht betroffen sein, stellte sich das nach einigen Wochen als glatte Lüge heraus. Mit fünfundfünfzig Jahren und mehr als zwanzig Jahren Firmentreue drohte Martin Steigle von einem Moment auf den anderen die Arbeitslosigkeit. Im ersten Moment von dieser Situation überfordert, traf er einen folgenschweren Entscheid, der ihm nicht nur eine bittere Zeit bescherte, sondern seine Familie an den Rand des Abgrunds brachte.

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Seitenzahl: 550

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Daniel Thomet

Noch 90 Tage

Roman

Chugeli Verlag, Bellmund

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 by Daniel Thomet, Chugeli Verlag, CH-2564 Bellmund

Umschlaggestaltung: Daniel Thomet

Printed and distributed by tredition GmbH, Hamburg

Paperback ISBN:    978-3-9523936-5-9

e-book ISBN:         978-3-9523936-6-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist frei erfunden und urheberrechtlich geschützt. Mögliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen ist zufällig und unbeabsichtigt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

1. Noch Neunzig Tage

2. Der Einstieg

3. Gefestigte Verbindung

4. Alessia

5. Der Aufstieg

6. Erfolg und Tragödie

7. Eineinhalb Stunden

8. Machtkampf statt Lösung

9. Aufgedeckt und abgestürzt

10. Bis zum Schluss

1. Noch Neunzig Tage

Die Dämmerung setzte bereits ein. Am Himmel waren nur noch ein paar einzelne Sterne zu erkennen. Eine laue Brise wehte von Nordosten über die Stadt und brachte ein wenig Abkühlung mit sich. Mit zwanzig Grad war es für einen Novembermorgen jedoch deutlich zu warm. Glaubte man den Meteorologen, so war dies seit Beginn der Aufzeichnungen die höchste Temperatur, die je im November gemessen worden war. Seit mehreren Wochen hatte sich ein Hochdruckgebiet über der Schweiz etabliert und sorgte für dieses ungewöhnliche Wetterphänomen. Überall in den Zeitungen war zu lesen, dies sei endgültig ein Beweis für die von Menschen verursachte Erderwärmung. Sollte jetzt nicht endlich ein Umdenken erfolgen, so stünde die Menschheit am Rande des Abgrunds. Zumindest an diesem Morgen schienen diese Schlagzeilen jedoch die wenigsten zu interessieren. Bereits um zwanzig nach sechs Uhr herrschte im Bahnhof Bern reger Betrieb. Die ersten Züge waren vor über einer Stunde eingetroffen und im grossen Verbindungstunnel strebten hunderte von Pendlern ihren Arbeitsplätzen entgegen.

Martin Steigle war mit einer der ersten S-Bahnen in Bern eingetroffen. Am frühen Morgen waren die Züge noch nicht so überfüllt. Zu den Stosszeiten, wenn die Masse der Pendler sich in Bewegung setzte, quollen die Züge vor Leuten nur so über. Dann war die Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine absolute Zumutung. Es lohnte sich daher etwas früher aufzustehen, um den Arbeitsweg unter akzeptablen Bedingungen hinter sich zu bringen.

Trotz der speziellen Rahmenbedingungen setzte Martin Steigle für seinen Arbeitsweg auf die Zuverlässigkeit der Bahn. Mit dem Auto in die Stadt zu gelangen, war keine wirkliche Alternative. Die Politiker der Hauptstadt hatten in den letzten Jahren alles getan, um Bern für den Privatverkehr so unattraktiv wie möglich zu gestalten. Sie setzten alle Energie in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, auch wenn in den Stosszeiten die Reisenden das System an den Rand des Zusammenbruchs brachten.

Nachdem Martin Steigle den Zug verlassen und die Treppe vom Perron in die grosse Verbindungspassage hinabgestiegen war, wandte er sich zu der Haupthalle mit den Rolltreppen, die ins Zentrum führten. Er verliess den Bahnhof jedoch nicht Richtung Stadt, sondern begab sich in die darüber liegende Etage. Dort, ein wenig abseits vom grossen Strom der Passagiere, war ein gemütliches Restaurant, welches bereits ab halb sechs Uhr morgens geöffnet hatte. Als er das Lokal betrat, nickten ihm zwei der Angestellten freundlich lächelnd zu. Die meisten von ihnen kannten den älteren, immer gut angezogenen Herrn in der Zwischenzeit. Wie üblich, war er einer der ersten Gäste. Zielstrebig begab er sich in den hintersten Winkel des Raumes, um sich dort an einen Fensterplatz zu setzen.

Seit mehr als einem Jahr kam Martin Steigle an mehreren Tagen pro Woche früh morgens in das ruhige Restaurant. Mittlerweile gehörte er zu den Stammgästen. Kaum dass er sich gesetzt hatte, kam auch schon eine der Kellnerinnen auf ihn zu.

„Hallo Herr Steigle, das Übliche?“

„Guten Morgen Aurelie. Nein danke, heute nicht das Übliche. Ich hätte heute lieber einen doppelten Espresso.“

Er schien einen Moment zu überlegen.

„Ach ja, Aurelie, wenn es möglich wäre, hätte ich gerne noch zwei Gipfeli dazu. Danke.“

Die Kellnerin nickte und entfernte sich, um das Bestellte zu holen.

Martin Steigle legte seinen Aktenkoffer auf den Stuhl neben sich, öffnete ihn und entnahm seine Agenda. Die Seite vom Mittwoch dem ersten Dezember war dicht mit Einträgen gefüllt. Darunter auch einige Notizen, die längst nicht mehr aktuell waren. Eigentlich führte Martin seinen Terminplaner ansonsten immer peinlich genau. In der letzten Zeit hatte jedoch die Disziplin, mit der er die Agenda führte, deutlich gelitten. Fast ein wenig lustlos blätterte er ein paar Seiten zurück und wieder nach vorn.

Unter den zahlreichen Einträgen stach einer besonders hervor. Rechts neben dem Datum war die Zahl Neunzig eingetragen und mit einem roten Kugelschreiber eingekreist. Dieser Eintrag war aktuell und hatte für Martin eine hohe Bedeutung. Als er sich die Zahl ansah, atmete er einmal tief durch. Noch neunzig Tage und dann war seine Zeit im Jobcenter nach zwei Jahren endgültig abgelaufen. Lars Bickel, sein Berater, würde ihn heute zweifellos daran erinnern. Das Gespräch würde vermutlich nicht angenehm ausfallen. Seinem Berater konnte er deswegen keinen Vorwurf machen. Er ging jeweils mit dem grösstmöglichen Fingerspitzengefühl vor und machte seine Sache in Anbetracht der schwierigen Umstände ausgezeichnet. Martin konnte kaum glauben, dass seit ihrer letzten Sitzung schon wieder zwei Wochen vergangen waren. Die Zeit verstrich einfach viel zu schnell. Stunden wurden zu Tagen, Tage zu Wochen und Wochen zu Monaten.

Er klappte seine Agenda zu, legte sie zurück in den Aktenkoffer und nahm stattdessen seinen Tablet PC hervor. Ausser dem Termin bei Lars Bickel hatte er heute keine anderen Verpflichtungen zu erfüllen. Der Termin war erst gegen elf Uhr dreissig. Das bedeutete, er hatte noch genug Zeit, um zu lesen oder einige Unterlagen durchzuarbeiten. Nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung, aber immer noch besser, als einfach nur herumzusitzen und zu grübeln.

In dem Moment trat die Kellnerin an seinen Tisch. Sie brachte den doppelten Espresso und ein Körbchen voll mit Gipfeli. Martin Steigle bedankte sich und nahm einen Schluck des heissen Getränks. Dann lehnte er sich zurück und starrte einen Moment lang gedankenverloren aus dem Fenster. Die letzten Monate waren alles andere als einfach gewesen und auch für die Zukunft sah es nicht gerade rosig aus. Wie in den vergangenen Wochen setzte er immer noch Hoffnungen in seinen Berater. Möglicherweise war es ihm ja in der Zwischenzeit gelungen, eine Lösung für sein grösstes Problem zu finden. Martins Zuversicht war jedoch nicht mehr so gross wie auch schon. Die Aussicht auf eine positive Entwicklung der Dinge, sank von Termin zu Termin. Er würde jedoch keinesfalls einfach aufgeben und sich mit seinem Schicksal abfinden. Solange die neunzig Tage nicht abgelaufen waren, gab es immer noch Hoffnung und an diese Hoffnung klammerte er sich. Nach all den Jahren harter Arbeit in der Firma konnte nicht einfach alles so enden.

Martin Steigle war fünfundfünfzig Jahre alt. Die letzten achtundzwanzig Jahre hatte er im gleichen Unternehmen gearbeitet. Im Moment konnte er jedoch nicht gerade sagen, dass er darauf besonders stolz war. Nicht nach den Erlebnissen der letzten Wochen und Monate.

Seine Jugend verbrachte Martin Steigle im Geisshubel in der Nähe von Dürrenbühl. Als mittleres von drei Kindern eines Amtstierarztes, war er in einer eher bürgerlichen und ländlichen Umgebung aufgewachsen. Neben seiner um ein Jahr älteren Schwester Susanne, hatte er auch noch einen jüngeren Bruder. Hanspeter war fünf Jahre jünger als Martin und das Sorgenkind der Familie. Aufgrund einer als Autismus diagnostizierten Verhaltens- respektive Entwicklungsstörung, beanspruchte der jüngste Spross der Familie einen grossen Teil der Aufmerksamkeit seiner Eltern. Dass als Konsequenz davon die beiden anderen Kinder häufig hinten anstehen mussten, war eine logische Folge dieser Situation. Die Auswirkungen zeigten sich unter anderem in Martins schulischen Leistungen. Er war gerade einmal ein durchschnittlicher Schüler, der weder durch negative noch durch positive Ergebnisse besonders auffiel. Wenn er überhaupt eine Vorliebe hatte, so galt diese den mathematischen und den naturwissenschaftlichen Fächern. Sprachen und handwerkliche Fächer hingegen, gehörten nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen in der Schule.

Das Erstaunen hielt sich deshalb in Grenzen, als Martin den Sprung in die Sekundarschule nicht schaffte. Die Eltern schrieben dies ohne lange darüber nachzudenken den speziellen Umständen in der Familie zu. Insgeheim machte sich jedoch Martins Vater Vorwürfe. Er bekundete mit der Situation Mühe. Wäre es nach seinem Willen gegangen, so hätte er nur allzu gerne allen Kindern die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Aufgrund der speziellen Situation mit seinem jüngsten Sohn, war er jedoch gezwungen mit Kompromissen zu leben.

Bei seinen Schulkollegen war Martin akzeptiert, mehr aber auch nicht. Die Führungsrolle in der Klasse hatten andere inne. Zumindest wurde er aufgrund seiner Grösse und Kraft nicht ausgegrenzt. Nach einem oder zwei Gerangel sahen die Kampfhähne der Klasse rasch einmal ein, dass es nicht gesundheitsfördernd war, sich mit ihm anzulegen. Er brachte deshalb die Schulzeit ohne zu brillieren aber auch ohne nennenswerte Probleme hinter sich. Als es im achten Schuljahr schliesslich um die Berufswahl ging, waren seine Aussichten nicht eben rosig. Die Abklärungen bei der Berufsberatung ergaben, dass eine handwerkliche Ausbildung oder ein Beruf in der Natur einem Büroberuf vorzuziehen wären. Die Analyse der Berufsberaterin stützte sich dabei in erster Linie auf einige Tests, sowie die ungenügenden Noten in den Sprachen in seinen Zeugnissen. Martin hatte an dieser Schlussfolgerung gar keine Freude. Er hatte weder Lust auf einen Handwerksberuf, noch wollte er seine Lehre bei jeder Witterung im Freien verbringen. Nachdem er sechs Schnupperwochen in verschiedenen Berufen hinter sich gebracht hatte, stand für ihn fest, nur eine kaufmännische oder eine technische Ausbildung kamen für ihn in Frage. Gegen alles andere stemmte er sich vehement. Erst als er mehr als siebzig Bewerbungen geschrieben und ebenso viele Absagen erhalten hatte, kamen ihm erste Zweifel, ob sein Entschluss wirklich richtig war. Möglicherweise musste er auf seinen Entscheid zurückkommen, selbst wenn es ihm völlig gegen den Strich ging.

In dieser für Martin ungemütlichen Situation kam ihm sein Vater zu Hilfe. Dank seiner Beziehungen konnte er seinem Sohn, trotz der nicht gerade überzeugenden Noten in den Sprachen, eine kaufmännische Lehrstelle in der Gemeindeverwaltung vermitteln. Als er Martin die freudige Botschaft überbrachte, sprach er ihm gleichzeitig auch ins Gewissen. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dir während der Lehre Mühe geben würdest. Es hat mich viel Überzeugungskraft gekostet, dir diese Stelle zu besorgen und ich habe mich dafür verbürgt, dass du dich einsetzen wirst.“

Martin nahm sich die sachliche und ohne Emotionen vorgetragene Ermahnung zu Herzen. Er arbeitete vom ersten Tag an hart, liess sich nicht unnötig ablenken und brachte so die Lehre ohne grössere Schwierigkeiten hinter sich. Dennoch war er froh, als die Ausbildung nach drei Jahren vorüber war. Mit einer viereinhalb als Abschlussnote lag er im hinteren Mittelfeld. Immerhin hatte er die Prüfung bestanden, was nicht auf alle in seiner Klasse zutraf. Zwei seiner Kollegen mussten die Prüfung wiederholen und deren Lehrmeister waren darüber alles andere als begeistert. Sein Lehrmeister zeigte sich dankbar, dass er die Prüfung erfolgreich abgeschlossen hatte. Trotzdem gab es für ihn jedoch keine Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung nach der Lehre. Nicht aufgrund seiner Leistung oder weil man ihn nicht geschätzt hätte. Ganz im Gegenteil. Als stiller und zuverlässiger Mitarbeiter war er bei allen Angestellten der Gemeinde äusserst beliebt gewesen. Die Erfahrungen mit dem ersten Lehrling seit Jahren, waren aus Sicht der Verantwortlichen in der Gemeinde positiv ausgefallen. In der Gemeindeverwaltung entschied man sich deshalb, erneut einem Schulabgänger eine Chance zu geben, die kaufmännische Lehre zu absolvieren. Zumindest kam die Gemeindeverwaltung Martin entgegen, indem sie ihm eine Beschäftigung bis zur Rekrutenschule anbot, was dieser dankbar annahm.

Nach der Rekrutenschule war er gezwungen, sich eine neue Stelle zu suchen. Ein kaufmännischer Lehrabschluss in einer Gemeindeverwaltung schien zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht gefragt zu sein. Damit besass er nicht die besten Karten auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl der junge Berufsmann, wie schon für die Lehrstelle, dutzende von Bewerbungen schrieb, stand er auch neun Monate nach Ende der Lehre immer noch ohne Anstellung da. Bei Martin begannen sich erste Zeichen von Frustration einzustellen.

Erneut kam ihm in dieser Situation sein Vater zu Hilfe. Im Gegensatz zu der Lehrstelle konnte er dieses Mal seinem Sohn keine Stelle als kaufmännischer Angestellter vermitteln. Er hatte jedoch aufgrund seiner Beziehungen eine andere Möglichkeit gefunden, um Martin zu helfen. Unter den Betrieben, die in sein Gebiet als Amtstierarzt fielen, befand sich auch ein Gestüt einer ehemaligen Schulfreundin. Isabelle Rüegger hatte nach einer Erbschaft vor einigen Jahren ein heruntergekommenes Gestüt erstanden. Mit sehr viel Enthusiasmus, einer grossen Liebe zu Pferden und einem hohen persönlichen Engagement, baute sie das heruntergekommene Gestüt wieder auf. Das erste Jahr verbrachte sie den grössten Teil der Zeit alleine auf dem Gestüt und renovierte das Haupthaus sowie die drei Nebengebäude mit den ersten vier Pferdeboxen. An den Wochenenden kamen regelmässig Freunde und Bekannte, um in Fronarbeit am Wiederaufbau mitzuhelfen. Viele brachten wiederum Freunde mit und so kam eine beachtliche Anzahl an Leuten zusammen, die mithalfen das Gestüt wieder zum Leben zu erwecken. Als Lohn gab es jedes Jahr ein grosses Sommerfest, an dem alle dabei waren, die das Gestüt in irgendeiner Form unterstützt hatten. Neben vielen anderen, waren auch Martins Eltern unter den Helfern. Es dauerte zweieinhalb Jahre bis die Arbeiten soweit fortgeschritten waren, dass Isabelle Rüegger die ersten Pferde in Pflege nehmen und die ersten Mitarbeitenden einstellen konnte. Damals begann sie sich auch mit dem eigentlichen Aufbau des Gestüts und der Pferdezucht zu befassen. Es vergingen jedoch noch einmal einige Jahre, bis sie das erste Tier verkaufen und damit auch mit der Pferdezucht etwas Geld verdienen konnte.

Als Martin Steigles Vater mit seiner Anfrage an Isabelle Rüegger gelangte, umfasste das Team des Gestüts bereits siebzehn festangestellte Personen, wobei ausser ihr niemand ein volles Pensum hatte. Obwohl ihr damit genügend Personal zur Verfügung stand, stellte sie Martin aufgrund der Freundschaft zu seinen Eltern ein. Sie konnte ihm zwar nur gerade den Lohn eines Praktikanten zahlen, dafür hatte Martin jedoch wieder eine Beschäftigung mit geregeltem Tagesablauf und das war alleweil besser, als zuhause herumzusitzen.

Die körperlich anstrengende Arbeit bereitete dem an Bürotätigkeiten gewohnten Martin am Anfang mehr Mühe, als er erwartet hatte. Zudem musste er zuerst lernen, wie man mit Pferden umging. Auf dem elterlichen Hof hatten sie neben den vier Kühen, ein paar Hühnern, drei Gänsen und einem Hund auch zwei Ponys, für deren Betreuung seine Schwester verantwortlich war. Er hatte sich wenig bis gar nicht für die beiden Reittiere interessiert. Keine optimalen Voraussetzungen, um in einem Gestüt zu arbeiten.

Mit wenigen Ausnahmen waren auf dem Gestüt nur hochdotierte Sport- und Zuchtpferde untergebracht, die eine besonders sorgfältige und intensive Pflege benötigten. Martin durfte deshalb in den ersten Monaten nie alleine mit den Pferden arbeiten. Zuerst verrichtete er nur Hilfsarbeiten, wie etwa den Stall auszumisten, das Sattelzeug zu pflegen und bei der Bewirtschaftung der Weiden zu helfen. Erst nach einem halben Jahr durfte er erstmals in Begleitung einer der erfahrenen Pflegerinnen die Pferde an der Longe führen. Obwohl diese Arbeit eigentlich eintönig und alles andere als herausfordernd war, machte ihm der direkte Umgang mit den Tieren deutlich mehr Spass, als ihre Ställe auszumisten. Bald einmal stelle er zu seinem Erstaunen fest, wie unterschiedlich die Charaktere der einzelnen Tiere waren. Entsprechend individuell mussten sie auch behandelt werden. Er versuchte deshalb herauszufinden, welche Eigenheiten die einzelnen Pferde besassen und wie er diese Merkmale im Umgang mit ihnen zu seinem Vorteil nutzen konnte. Ab diesem Zeitpunkt begann ihm die Arbeit noch mehr Spass zu machen. Im gleichen Mass wie er das Vertrauen der Pferde erlangte, konnte er auch immer mehr Arbeiten selbständig ausführen.

Dann kam der Tag, an dem er das erste Mal im Sattel auf dem Rücken eines der Pferde des Gestüts sass. Isabelle Rüegger war höchstpersönlich anwesend, als er sich mit leichtem Zögern und einer gehörigen Portion Respekt in den Sattel hievte. Mit der achtzehn jährigen Hannoveraner Stute Luly de Bartolet, hatte sich Isabelle für ein gutmütiges Pferd entschieden, dass auch Anfängern wenig Problem bereitete. Nicht ganz eine Stunde liess sie Martin mit dem Pferd in der Halle Runden drehen. Obwohl er nicht die geringste Ahnung vom Reiten hatte, stellt er sich nicht einmal so ungeschickt an. Während der Übungseinheit liess sich Isabelle nicht anmerken, ob sie mit der Leistung ihres Mitarbeiters zufrieden war. Nach der Stunde überlegte sie jedoch auch nicht lange, bevor sie das weitere Vorgehen festlegte: „Dafür, dass du keine Reiterfahrung hast, stellst du dich gar nicht mal so übel an“, hielt sie zu Beginn ihrer Ausführungen fest. „Damit du jedoch alleine mit den Pferden arbeiten kannst, braucht es noch einige Reitstunden. Zudem wirst du wie alle anderen eine Parcoursprüfung ablegen müssen. Das heisst, es wartet noch einiges an Arbeit auf uns. Ab sofort wirst du jeweils drei Mal die Woche trainieren, damit du spätestens in sechs Monaten die Prüfung ablegen kannst.“

Martin war überrascht. Einerseits sah er den Reitstunden mit gemischten Gefühlen entgegen, andererseits hatte bisher noch niemand von einer Prüfung gesprochen. Nachdem Isabelle wieder gegangen war, fragte er deshalb seine Kollegin, was es mit der Parcoursprüfung auf sich habe.

„Das ist keine grosse Sache“, antwortete sie ihm. „Du musst zweimal einen kleinen Springparcours innerhalb einer festgelegten Zeit und mit möglichst wenigen Fehlern absolvieren. Danach folgt ein Geländeritt in Begleitung einer der Pferdepflegerinnen oder von Isabelle. Auch hier darfst du möglichst keine Fehler machen. Wenn du in den nächsten Monaten aber gut arbeitest, sollte das eigentlich kein Problem sein.

Die Pflegerin sollte mit ihrer Voraussage Recht behalten. Es dauerte keine sechs Monate, bis Martin die Prüfung ohne jegliche Probleme ablegen konnte. Danach teilte ihm Isabelle Rüegger mit, dass er ab sofort selbständig die Betreuung von Pferden übernehmen könne und nicht mehr wie bis anhin jeweils unter Aufsicht einer der Pferdepflegerinnen arbeiten müsse. „Ich bin sehr zufrieden mit dem, was du bisher geleistet hast. Sei dir aber bewusst, du trägst nun die alleinige Verantwortung für die Betreuung der dir zugewiesenen Tiere. Geh damit verantwortungsbewusst um und hol dir lieber einmal zu viel Rat bei deinen Kolleginnen und Kollegen, als einmal zu wenig.“

Die Abläufe auf dem Gestüt änderten sich nach der erfolgreich absolvierten Prüfung für Martin nicht gross. Sie folgten einer festen Routine, die sich vor allem an den Bedürfnissen der Tiere orientierte. Er erhielt zwei Pferde zugeteilt, für deren Betreuung und Pflege er nun alleine zuständig war. Martin gewöhnte sich rasch an die neue Verantwortung. Obwohl sich viele Arbeiten irgendeinmal wiederholten, brachte doch fast jeder Tag etwas Neues. Man konnte nie genau wissen, welche Überraschungen warteten. Gerade das machte jedoch für ihn die Arbeit auf dem Gestüt so spannend und abwechslungsreich.

Mit Isabelle Rüegger hatte er nicht viel zu tun. Er sah sie öfters an den Anlässen, wie etwa den regelmässig stattfindenden Gestütsfesten, als im Rahmen seiner täglichen Arbeit. Martin war deshalb erstaunt, als ihm eine seiner Kolleginnen eines Tages mitteilte, die Chefin möchte ihn sprechen.

„Wir hatten bisher nie richtig Gelegenheit uns zu unterhalten“, eröffnete sie das Gespräch in ihrem kleinen Büro, dass mit Akten und Unterlagen vollgestopft war. „Wie gefällt dir die Arbeit mit der neuen Verantwortung?“

„Es gefällt mir sehr gut. Zu Beginn hatte ich mit der körperlichen Belastung ein wenig Mühe, aber in der Zwischenzeit macht die Arbeit mit den Pferden richtig Spass.“

„Das merkt man. Ich habe nur positive Rückmeldungen erhalten und bin mit dir und deiner Arbeit sehr zufrieden. Es freut mich zu sehen, wie schnell du lernst und wie gut du mit den Tieren zurechtkommst.“ Sie dachte einen kurzen Moment nach. „Du bist nun schon beinahe zwei Jahre bei uns. Von deinem Vater weiss ich, dass du eigentlich nur so lange bleiben wolltest, bis du eine kaufmännische Anstellung gefunden hast. Inzwischen würde ich mich jedoch sehr freuen, wenn du auch weiterhin bei uns bleibst. Ich habe mich deshalb gefragt, ob du nicht einen Teil der administrativen Aufgaben des Gestüts übernehmen könntest. Dieser Teil gehört nicht gerade zu meiner Lieblingsbeschäftigung und ich wüsste deine Unterstützung zu schätzen. Was meinst du dazu?“

Martin musste nicht lange überlegen. „Ich würde gerne bei den administrativen Aufgaben mithelfen.“

„Gut, dann lass uns gleich anfangen. Ich muss die Buchhaltung abschliessen und habe dabei ein paar Probleme, die ich nicht alleine lösen kann.“

Martin war begeistert, auch wenn er versuchte sich das nicht anmerken zu lassen. Die neue Aufgabe bot ihm die Möglichkeit, seine Kenntnisse aus der Lehre erstmals auch in der Praxis anzuwenden. So konnte er wertvolle Erfahrungen sammeln, die ihm sicher einmal von Nutzen sein würde. Im Moment passte jedoch alles so gut zusammen, dass solche Überlegungen noch in weiter Ferne lagen.

In den nächsten Monaten befasste er sich vorwiegend mit der Buchhaltung und den administrativen Aufgaben, welche die Führung eines Gestüts so mit sich brachten. Er stürzte sich mit viel Begeisterung und Elan auf die neue Herausforderung. Dank seiner guten Auffassungsgabe dauerte es nicht lange, bis er die Arbeiten selbständig im Griff hatte.

Nach der Erweiterung seines Aufgabengebiets dachte Martin inzwischen nicht mehr daran, sich eine andere Stelle zu suchen. Was ursprünglich einmal als Überbrückungsjob gedacht war, entwickelte sich je länger je mehr zu einer Beschäftigung auf unbestimmte Zeit.

Trotz der langen Präsenzzeiten und der körperlich harten Arbeit, war die Stimmung auf dem Gestüt selten schlecht. Isabelle Rüegger hatte bei der Auswahl ihres Personals grössten Wert darauf gelegt, Mitarbeitende auszusuchen, die möglichst gut in die Gruppe passten. Sie sorgte zudem für eine familiäre Stimmung und versuchte diese zu fördern, wo immer sie nur konnte. Für Martin war das ein zusätzlicher Grund, weshalb er den Job mittlerweile so sehr mochte.

Die Arbeit mit den Pferden erforderte eine gewisse Flexibilität, was die Arbeitszeit anbelangte. So kam es öfter einmal vor, dass die Arbeitstage zwölf und mehr Stunden dauerten, bis alle Pferde versorgt, alles aufgeräumt und auch die letzte Aufgabe erledigt war. Isabelle Rüegger besass in solchen Momenten ein gutes Gespür für die Situation. Wenn beispielsweise aufgrund von Witterungsbedingungen eine Spätschicht eingebaut werden musste, feuerte sie oft spontan den Grill an. Dann wurden nach getaner Arbeit ein paar Würste gebraten und auch einmal eine gute Flasche Wein geöffnet. Daneben organisierte Isabelle regelmässig Gestütsfeste für die Angestellten und die Freunde des Betriebs. An diesen Festen lernten sich die Mitarbeitenden besser kennen, was für den betrieblichen Alltag von grösstem Nutzen war.

In einem weiteren Gebäude hatte Isabelle Rüegger neben der Pferdezucht einige Mietboxen eingerichtet. Damit baute sie sich ein zweites Standbein als zusätzliche Einnahmequelle auf. Die Angebotspalette reichte von der einfachen Vermietung einer Box mit Verbrauchsmaterial wie Stroh und Futter, bis hin zu einem Vollservice inklusive Bewegung, Ausritt und Training der Pferde. Isabelle hatte das Angebot spezifisch auf Besitzer von Sport- oder Zuchtpferden ausgerichtet. Entsprechend waren die Preise in einer Klasse, welche die meisten Hobbypferdehalter von vornherein abschreckte. Zudem hielt Isabelle von Beginn an die Anzahl Mietboxen tief. Dadurch konnte sie nicht nur einen hohen Leistungsstandard bezüglich Unterbringung und Pflege garantieren, sondern hatte immer eine volle Auslastung. Das sprach sich in Fachkreisen schnell herum. Die Plätze in ihrem Gestüt waren äusserst gefragt. Es gab eine lange Warteliste und Isabelle hätte die Boxen problemlos zweifach oder dreifach belegen können. Ein Grund mehr der Philosophie treu zu bleiben und den hohen Qualitätsstandard ihrer Dienstleistungen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten.

Die hohen Preise brachten jedoch auch hohe Ansprüche mit sich und einzelne Kunden hatten sonderbare Vorstellungen davon, was alles im Dienstleistungspaket inbegriffen sein musste. Das führte auch zu Spannungen, wenn unzufriedene Kunden ihren Unmut an den Mitarbeitenden ausliessen. Isabelle hatte deshalb die strikte Anweisung erteilt, dass beim geringsten Ansatz von Problemen die Chefin zu rufen sei. Diese Anweisung hing bewusst auch an allen Infobrettern, um die Kunden über das Vorgehen zu informieren. Inzwischen gab es kaum mehr Kunden, die nicht direkt auf Isabelle Rüegger zugingen, wenn es Probleme gab. Martin kannte diese Regel nicht. Er war erst nach deren Einführung ins Gestüt gekommen. Zudem hatte er normalerweise nichts im Kundenbereich zu tun. Durch seine Tätigkeit in der Administration des Gestüts, war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sich der erste Kunde in Abwesenheit von Isabelle Rüegger an ihn wandte. Das erste Mal kam er sich etwas verloren vor und hatte keine allzu gute Figur abgegeben. Mit der zunehmenden Anzahl von Kundengesprächen stieg jedoch auch seine Sicherheit und bald einmal hatte er auch diese Aufgabe zur Freude seiner Chefin im Griff.

Martin lernte durch die neue Aufgabe auch einige der Pferdebesitzer persönlich kennen. Darunter befand sich auch eine junge Bernerin, die ihr Pferd im Gestüt eingestellt hatte und deren Bekanntschaft eher auf aussergewöhnlichem Weg zustande gekommen war. Jasmin von Ried, so hiess die sportliche Frau, war die Besitzerin eines fünfjährigen Araber Zuchthengstes mit Namen Agadil. Sein Stammbaum wies ihn als Nachfahren des Vollblut Arabers Abu Afas aus. Ein Umstand, der einem Gütesiegel für die Pferdezucht gleichkam. Aus dieser Zuchtlinie waren mehrere Spitzenpferde hervorgegangen, die im internationalen Pferdesport höchst erfolgreich gewesen waren. Agadil war mit etwas mehr als fünf Jahren noch jung und hatte noch einige gute Jahre als Zuchthengst vor sich.

Obwohl der Hengst eigentlich ein pflegeleichtes Tier war, hatte er eine kleine Macke, die ihn neben seiner Abstammung zusätzlich von den anderen Pferden in der Mietstallung abhob. Sein kleines Problem bestand darin, dass er nicht jeden in seinem Stall duldete und seine Box so verteidigte, als sei dies das Schloss eines Prinzen. Sobald sich jemand seiner Box näherte, den er nicht in seiner Nähe haben mochte, versuchte er die Person aus der Box zu drängen. Zwei Pferdepflegerinnen hatten sich deshalb bereits geweigert, weiter mit dem Hengst zu arbeiten. Das hatte einige Diskussionen ausgelöst, da es die Planung für den Kundenbereich nicht einfacher machte. Dass Martin überhaupt in die ganze Geschichte verwickelt wurde, war reiner Zufall. Auf dem Rückweg von einer Arbeit auf einer der Weiden des Gestüts, nahm er aufgrund des regnerischen Wetters die Abkürzung durch die Mietstallung, in der neben anderen Pferden auch Agadil stand. Schon bevor er auf der Höhe von Agadils Box angekommen war, hörte er eine der Pferdepflegerinnen aufgeregt sprechen. Er ging weiter und wurde Zeuge, wie sich seine Kollegin mit dem Hengst abmühte. Agadil drückte die junge Frau an die Boxenwand und versuchte sie durch die Tür aus der Box zu drängen. Der Hengst stellte sich dabei ziemlich geschickt an. Er liess sich auch durch die Gegenwehr der Pflegerin nicht von seinem Ziel abbringen. Seinen Unmut zeigte er nicht nur durch Schnauben und Stampfen, sondern durch mehr oder weniger sanfte Kopfstösse, mit denen er seine Widersacherin aus der Box vertrieb. Danach wehrte er jeden Versuch ab, wenn sie die Box wieder betreten wollte. Martin überraschte das Verhalten des Hengstes dermassen, dass er stehen blieb und nach den ersten Kopfstössen des Pferdes gegen die Pflegerin versuchte, beruhigend auf Agadil einzuwirken. Erstaunlicherweise reagierte der Hengst sofort auf seine Gegenwart. Er beruhigte sich wieder und liess die Pflegerin sogar wieder in die Box, damit sie ihre Arbeit beenden konnte.

Das Vorkommnis sprach sich in Windeseile bei den Pflegerinnen herum und als es das nächste Mal wieder ein Problem gab, erhielt Martin im Büro einen Anruf. Der Bitte um Hilfe kam er gerne nach, zumal er auch dieses Mal keine Probleme hatte, den Hengst zu beruhigen. Damit hatte Martin von einem Moment auf den anderen eine zusätzliche Aufgabe, der er sich von nun an widmen durfte.

Die Anekdote um Agadil wurde schnell auch auf Kundeseite herumerzählt und es dauerte nicht lange, bis auch Jasmin von Ried davon erfuhr. Nachdem sie die ganze Geschichte gehört hatte, wollte sie sich im Büro von Isabelle Rüegger persönlich über dem Vorfall erkundigen. Im winzigen Vorraum stand eine Theke, wie man sie in kleinen Hotels als Rezeption antraf. Darauf befand sich neben einem Ständer mit Prospekten, einem Telefon, einem runden Behälter mit ein paar Kugelschreibern auch eine Klingel, auf die man mit der Handfläche schlagen konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Neben der Klingel stand ein Schild mit der Aufschrift: Bitte zuerst klingeln! Erfolgt keine Antwort: Telefon Nummer hunderteinundzwanzig anrufen. Jasmin von Ried betätigte die Klingel. Der Ton war noch nicht verklungen, als Martin aus den hinteren Räumen nach vorne kam. „Guten Tag, was kann ich für sie tun?“

„Hallo, ist Frau Rüegger da?“

„Bedaure, nein. Sie hat einen Termin auswärts und ist erst morgen früh wieder anwesend. Kann ich ihnen möglicherweise helfen?“

„Nein, ich denke kaum. Ich möchte die Angelegenheit direkt mit Frau Rüegger besprechen. Können sie ihr vielleicht ausrichten, ich wäre da gewesen und hätte sie gerne einmal gesprochen. Es geht um mein Pferd und die Probleme die es in letzter Zeit verursacht hat.“

„Das werde ich gerne tun, Frau….?“ Martin sah die junge Frau fragend an, was bei Jasmin von Ried ein leichtes Stirnrunzeln auslöste. Sie hatte den jungen Mann noch nie gesehen, obwohl Agadil schon drei Jahre im Gestüt war. Bisher hatte sie noch nie jemanden anderes als Isabelle Rüegger in den Büroräumen angetroffen. War sie einmal nicht anwesend, so waren die Räume verschlossen.

„Wer sind sie eigentlich? Ich habe sie hier noch nie gesehen.“

Martin entging der leicht arrogante Unterton in der Stimme der jungen Frau nicht. Eigentlich mochte er Menschen nicht, die auf andere herabsahen und sie mit Geringschätzung behandelten. Sein Lächeln wirkte deshalb leicht aufgesetzt, als er ruhig antwortete. „Mein Name ist Martin Steigle.“ Er sah die junge Frau herausfordernd an. „Würden sie mir nun auch ihren Namen nennen, damit ich ihre Nachricht Frau Rüegger weitergeben kann?“

„Komisch, dass ich sie hier noch nie gesehen habe, Herr Steigle. Ich habe mein Pferd bereits seit drei Jahren auf dem Gestüt und dachte, dass ich jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin kenne.“

„Da muss ich ihnen leider widersprechen. Wenn sie mich nicht kennen, so kennen sie nicht jeden Mitarbeiter des Gestüts. Möglicherweise liegt es daran, dass ich mit einer Ausnahme nie in den Mietstallungen anzutreffen bin.“ Er hielt kurz inne. „Wenn sie keine Nachricht für Frau Rüegger haben, dann entschuldigen sie mich bitte. Ich habe noch Arbeit, die dringend erledigt werden muss.“ Er nickte kurz und wandte sich zum Gehen.

„Von welcher Ausnahme sprechen sie?“

„Ich verstehe nicht was sie meinen?“ Martin schien etwas verwirrt.

„Sie haben gesagt, dass sie mit einer Ausnahme nie im Kundenbereich arbeiten. Welche Ausnahme meinen sie.“

„Wie sie bereits festgestellt haben, kennen wir uns nicht. Zudem legt Isabelle höchsten Wert auf Diskretion. Ich kann Ihnen deshalb keine Auskunft geben.“

„Geht es um Agadil?“

Martin hatte sich schon wieder umgedreht und hielt mitten in der Bewegung inne. „Warum kommen sie gerade auf dieses Pferd?“

„Mein Name ist Jasmin von Ried. Ich bin die Besitzerin von Agadil.“

Das hatte Martin nicht erwartet.

„Eigentlich bin ich gekommen, um von Isabelle zu erfahren, was vorgefallen ist. Aber in dem Fall können sie mir die Geschichte ja gleich selber erzählen.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hätten sie trotz der dringenden Arbeit nicht einen Moment Zeit? Ich würde ihnen gerne einen Kaffee offerieren. Dann können sie mir erzählen, was geschehen ist.“

Martin zögerte nur kurz. „Ich denke, das lässt sich einrichten. Ich habe heute noch keine Pause gemacht.“

In der nächsten Stunde erzählte er Jasmin von Ried, zuerst von der Begegnung mit Agadil und als dieses Thema erschöpft war, entwickelte sich ein interessantes Gespräch, bei dem beide kaum merkten, wie schnell die Zeit verging. Je länger das Gespräch dauerte, umso mehr wich die anfängliche Skepsis einer Art Sympathie, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Die folgenden Monate traf man Jasmin von Ried öfters einmal auf dem Gestüt an. Sie nutzte jede sich bietende Möglichkeit, um nach Agadil zu sehen. Ungefähr zwei Wochen nach ihrem Treffen mit Martin Steigle hörte sie bei einem ihrer ausserplanmässigen Besuche bereits von weitem jemanden sprechen. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Als sie die Box von Agadil erkennen konnte, sah sie Martin Steigle bei ihrem Pferd stehen. Er hatte sie nicht bemerkt, da er zu sehr mit Agadil beschäftigt war. So blieb Jasmin stehen und schaute ihm einfach zu.

„Na, mein Freund, du scheinst ja heute gut gelaunt zu sein.“

Der Hengst schnaubte und warf den Kopf kurz nach oben.

„Hast du wieder die Pflegerinnen geärgert?“ Martin drängte Agadil sanft ein wenig zur Seite, damit er das alte Stroh mit der Gabel besser erreichen konnte. Der Hengst liess sich das gefallen, ohne die geringste Reaktion zu zeigen. „Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, was für eine süsse Besitzerin du hast?“

Jasmin musste schmunzeln. Das konnte ja interessant werden.

Agadil wieherte kurz und warf erneut den Kopf in die Höhe.

„Was, du bist nicht einverstanden? Ich sage dir, sie ist nicht nur hübsch, sondern auch noch blitzgescheit. Du weisst gar nicht wie viel Glück du hast, mein Freund. Nicht jeder Hengst hat so eine sexy Klassefrau als Besitzerin wie du.“

Erneut musste Jasmin schmunzeln. Martin Steigle wäre wohl nicht allzu erfreut gewesen, hätte er gewusst, dass sie ihn beobachtete. In dem Moment sah sie, wie Agadils Ohren sich hin und her bewegten Er schien zudem mehrfach mit dem Kopf zu nicken. Hätte Jasmin nicht schon seit Jahren mit Pferden gearbeitet, sie hätte geschworen, Agadil habe den Äusserungen von Martin kopfnickend zugestimmt. Sie schüttelte leicht den Kopf. Dann sah sie Martin Steigle weiter bei seiner Arbeit zu. Er fand sie also blitzgescheit und sexy. Das war bei weitem nicht das schlechteste Kompliment, welches sie in den letzten Jahren erhalten hatte. Sie fühlte sich geschmeichelt und stellte gleichzeitig überrascht fest, dass ihr das gefiel und das wiederum, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Trotz ihres noch jugendlichen Alters hatte Jasmin von Ried klare Vorstellungen, was ihren zukünftigen Partner anbetraf. Zweifellos hatten ihre Eltern diese Haltung beeinflusst, auch wenn Jasmin nicht einmal ansatzweise so extreme Ansichten besass, wie etwa ihre Mutter. In einem Punkt stimmte sie jedoch mit ihr überein. Sie wollte keinesfalls nur einen biederen Durchschnittstypen als Freund und wenn er noch so gut aussah. Ihr künftiger Partner musste sie als Persönlichkeit herausfordern und ihr intellektuell wie kulturell ebenbürtig sein. Zudem sollte er auch beruflich Erfolg haben und ihr einen gewissen Status bieten können, auch wenn sie ihren Lebensunterhalt selber verdienen wollte. Martin Steigle war ein sympathischer Typ, der sich ausgezeichnet mit Pferden verstand. Sie mochte ihn schon wegen seines professionellen Umgangs mit Agadil. Seine ruhige und besonnene Art hatte sie beeindruckt. Mehr als das gab es jedoch nicht. Zumindest sagte sich Jasmin das immer wieder, während sie Martin und Agadil noch einen Moment beobachtete, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machte.

Auch Martin konnte zuerst mit der etwas schnippischen Art der jungen Pferdebesitzerin nicht viel anfangen. Nach der ersten Begegnung, die eher unglücklich begonnen und mit der Einladung zum Kaffee zufriedenstellend geendet hatte, war es zu ein paar weiteren Zusammentreffen gekommen. Trotzdem konnte Martin die junge Frau immer noch nicht einordnen. Es gab Augenblicke, in denen sie sich schlimmer benahm, als eine ausgehungerte Viper, die nach allem in ihrer unmittelbaren Umgebung schnappte. Dann gab es wieder jene Momente, in denen ihre Ausstrahlung sie von der grossen Masse anderer Frauen in ihrem Alter abhob. Stellte Martin alle Argumente einander gegenüber, so konnte er nicht anders, er fand Jasmin äusserst anziehend, selbst wenn sich ihre Gemeinsamkeiten vorerst auf den Umgang mit Agadil beschränkten. Es brauchte schliesslich mehr als sechs Monate und das Sommerfest des Gestüts anfangs Juli, bis der Funke zwischen den Beiden definitiv übersprang.

In den nächsten Wochen und Monaten verbrachten sie so viel Zeit miteinander, wie es sich aufgrund ihrer Verpflichtungen einrichten liess. Je mehr sie zusammen waren, umso mehr entdeckten sie auch noch andere Gemeinsamkeiten, als den Umgang und die Pflege von Agadil. Vor allem Jasmin stellte fest, dass Zuneigung sich nicht immer durch nüchterne Analysen und Vorsätze steuern liess. Manchmal suchte sich die Liebe ihren eigenen Weg und nahm auf fixe Ideen, Traditionen und familiäre Prinzipien keinerlei Rücksicht.

Auch Isabelle Rüegger war aufgefallen, dass ihr Mitarbeiter häufiger als vorher eine Pause einschaltete und dann meistens in Begleitung im Bistro anzutreffen war. So lange er jedoch seine Pflichten nicht vernachlässigte und die sich anbahnende Beziehung mit ihrer Kundin keinen negativen Einfluss auf das Gestüt hatte, sah sie sich nicht veranlasst einzuschreiten.

Elisabeth von Ried, Jasmins Mutter, war die Veränderung ihrer Tochter ebenfalls nicht entgangen. Ihr ansonsten so zielstrebiger Sprössling wirkte in den letzten Wochen gar nicht mehr so fokussiert, wie man das ansonsten von ihr gewohnt war. Sie schien eher zerstreut und manchmal schon fast ein wenig verträumt. Jasmins Verhalten erinnerte die Mutter an jene Zeit, als sie ihren Mann kennen gelernt hatte. Obwohl sie damals bereits ein paar Jahre älter war, als ihre Tochter heute, zeigte sie ebenfalls das gleiche irrationale Gehabe, wie sie es in der letzten Zeit bei Jasmin beobachtet hatte.

Elisabeth von Ried stammte von einer alteingesessenen Berner Patrizierfamilie ab, deren Stammbaum sich bis anfangs vierzehntes Jahrhundert zurückverfolgen liess. Von ihrer eigenen Mutter hatte sie von Kindesbeinen an gelernt, wie wichtig es war, die Traditionen der Familie zu wahren. Sie legte deshalb allergrössten Wert auf ihren gesellschaftlichen Status, der für sie ebenso Last, wie auch Verpflichtung war und dem sie alles andere unterordnete. Als sie den jungen, äusserst gutaussehenden und ambitionierten Rechtsanwalt kennen lernte, fand sie ihn von Anfang an sympathisch, obwohl er nicht in das Anforderungsprofil passte, dass sie an einen zukünftigen Ehemann hatte. Es dauerte fast drei Jahre, bis sie dem Werben des jungen Anwalts schliesslich nachgab.

Bevor es jedoch zur Verlobung kam, führten sie ein langes und emotionales Gespräch. Dabei durchlebte Jasmins Vater ein Wechselbad der Gefühle. Seine Angebetete diktierte dem völlig verblüften jungen Mann, welche Bedingungen sie an eine Weiterführung ihrer Beziehung knüpfte. Ihre Argumente waren dabei rational und durchdacht. Trotzdem tat sich der junge Anwalt schwer, die Bedingungen einfach so zu akzeptieren. Nach dem ersten Schock benötigte er deshalb eine Weile, bis er bereit war sich einzugestehen, dass die Verbindung unter diesen Bedingungen durchaus Sinn machte.

Das Resultat war einerseits eine pompöse Hochzeit und andererseits ein Ehevertrag, in dem alle wichtigen Details der Verbindung geregelt wurden. Erst nach der Unterzeichnung des Dokuments gaben die beiden ihre Verlobung bekannt. Dass Jasmins Vater dabei seinen Nachnamen zugunsten des Familiennamens seiner Zukünftigen aufgab, blieb vielen Hochzeitsgästen länger im Gedächtnis, als die pompöse Hochzeitsfeier, die mit über dreihundert Gästen schon für sich ein aussergewöhnliches Ereignis war.

Auf die gegenseitige Zuneigung hatte ihr Arrangement keinen grossen Einfluss, da im Grunde beide rational denkende Menschen waren und in der Übereinkunft die einzige Möglichkeit sahen, ihre Beziehung weiter zu führen. Gegenüber ihrem Umfeld machten sie jedoch von Anfang an keinen Hehl daraus, dass es sich bei ihrem Ehebündnis zu einem nicht unerheblichen Teil um eine Zweckehe handelte. Elisabeth von Ried wollte damit bewusst den Klatschmäulern und den Gerüchteverbreitern jeglichen Wind aus den Segeln nehmen, was ihr auch wie gewünscht gelang. War zu Beginn die Empörung vielerorts noch gross, flachte diese so rasch wie sie angestiegen war wieder ab und ein Jahr nach ihrer Heirat trafen auch die Hartliner der gehobenen Gesellschaft nur noch auf Unverständnis, wenn sie das Thema ansprachen. Zudem gab die positive Entwicklung der Dinge den beiden Recht und erlebte mit der Geburt ihrer Tochter schliesslich einen nie erwarteten Höhepunkt, der sie noch viel enger zusammenschweisste.

Elisabeth von Ried ging in ihrer neuen Rolle als Ehefrau und Mutter vollkommen auf und genoss es für einen Moment im Zentrum des Interesses der gehobenen Gesellschaft zu stehen. Ihr Ehemann dagegen, setzte von Anfang an seine ganze Kraft in den Auf- und Ausbau des Unternehmens. Das verlief vor allem zu Beginn nicht immer nach seinen Vorstellungen und beanspruchte deutlich mehr Zeit, als er erwartet hatte. War Jasmins Vater schliesslich einmal zu Hause, fand mit Sicherheit irgendeiner der häufigen Anlässe statt, an denen Jasmin die Rolle der liebenswürdigen Tochter der Familie übernehmen musste. Je älter sie wurde umso mehr sträubte sie sich dagegen. Entsprechend war das Verhältnis zwischen Vater und Tochter eher unterkühlt, was sich in den häufigen kleinen Streitereien widerspiegelte.

In die Erziehung seiner Tochter mischte sich der Herr des Hauses überhaupt nicht ein. Diese Aufgabe hatte er vollständig seiner Gattin übertragen. Entsprechend war es ihre Mutter, welche für Jasmin die Prioritäten setzte. So unterband sie beispielsweise von vornherein jeglichen Kontakt ihrer Tochter zu gleichaltrigen, die nicht ihren Vorstellungen entsprachen. Das führte schliesslich dazu, dass Jasmin nie richtige Freunde fand und rückblickend ihre Kindheit als nicht gerade glücklich empfand.

Dass die Tochter deshalb die erste sich bietende Gelegenheit nutzte, um sich aus der engen Umklammerung der Familie zu befreien und in eine kleine Wohnung in der Agglomeration von Bern zu ziehen, verwunderte ausser der Mutter niemand. Was sie fast erdrückte und schliesslich ihren Entschluss von zuhause auszuziehen gefördert hatte, war das spiessige und engstirnig anmutende Gehabe ihrer Mutter. So lange sie noch zuhause wohnte, wurde alles was sie tat kommentiert, kritisiert und korrigiert. Ihre Mutter bewertete ihre Kleidung, ihre Sitzhaltung am Tisch, ihre Art zu sprechen. Sogar ihr Verhalten am Morgen im Badezimmer, ging selten ohne einen Kommentar vorüber. Am meisten nervten jedoch die Kosenamen, die ihre Mutter einfach nicht lassen konnte. Von unsere kleine Prinzessin, über mein süsser Engel, bis hin zu meine liebe Zauberfee, wurde dabei das gesamte Repertoire der kleinkarierten Kosenamen durchexerziert, welches man in den Kinderbüchern des achtzehnten Jahrhunderts finden konnte. Trotz heftigen Protesten von Jasmin gab ihre Mutter ihr Vorgehen nie auf. Selbst als Jasmin eine Zeit lang versucht hatte, ihrerseits mit nicht unbedingt stubenreinen Kosenamen zu kontern, perlte das an Elisabeth von Ried ab wie Wasser an einer frisch geputzten Fensterscheibe.

Seit Jasmin von zuhause ausgezogen war, reichten die Fangarme ihrer Mutter jedoch nicht mehr so weit wie früher. Dennoch versuchte sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln immer noch auf das Leben ihrer Tochter Einfluss zu nehmen. War Jasmin beispielsweise früher neben ihrem Beruf und der Reiterei auch regelmässig beim Tennis oder auf dem Golfplatz anzutreffen, so schien inzwischen das Gestüt ihr zweites Zuhause zu sein. Die Mutter tat dies zuerst als vorübergehende Erscheinung ab. Erst als sich die Situation auch nach mehreren Monaten nicht änderte, wurde sie hellhörig. Als sie schliesslich im Golfclub von vermeintlich besorgten Bekannten darauf angesprochen wurde, ob es Jasmin gut gehe, da man sie seit Monaten nie mehr auf dem Golfplatz angetroffen habe, wurde es Elisabet von Ried zu viel. Kaum dass sie ihre Platzrunde abgeschlossen hatte, rief sie ihre Tochter an.

„Ich weiss nicht, was du für ein Problem hast, Mutter“, antwortete ihr Jasmin auf die Frage, warum sie sich so lange nicht mehr im Golfclub hatte blicken lassen. „Im Moment habe ich einfach keine Lust Golf zu spielen. Ich muss mich um Agadil kümmern. Vater hat mir das Pferd nicht geschenkt, damit es nur im Stall rumsteht. Ein Zuchthengst wie Agadil braucht Zuneigung, Pflege und vor allem Bewegung. Das erfordert viel mehr Zeit als ich zuerst gedacht habe.“

„Ich verstehe, dass du Zeit für Agadil benötigst. Du kannst jedoch nicht einfach deine Pflichten für die Familie vernachlässigen. Du weisst, dass dein Vater im Förderverein des Golfclubs ist. Das bedeutet, dass wir uns regelmässig auf dem Platz sehen lassen müssen. Ich erwarte von dir, dass du diesen familiären Verpflichtungen nachkommst, auch wenn du nicht mehr zuhause wohnst.“

Jasmin musste sich zusammennehmen, um ruhig zu bleiben. Sie hasste diese Diskussionen mit ihrer Mutter, da dies regelmässig in einem emotionalen Streit endete. „Ich habe keine Lust darüber zu diskutieren, Mutter. Du solltest endlich akzeptieren, dass du mein Leben nicht mehr bestimmst.“ Nach dieser etwas schroffen Antwort unterbrach Jasmin die Verbindung, ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen.

Im Gegensatz zur Mutter, hatte Christian von Ried seine Tochter zum Entscheid das Elternhaus zu verlassen beglückwünscht. „Es ist nie früh genug, um auf eigenen Beinen zu stehen“, hatte er damals in seiner manchmal fast etwas emotionslos wirkenden Art trocken festgestellt, als Jasmin ihren Entscheid kommunizierte. „Sollte es nicht nach deinen Vorstellungen klappen, so hast du jederzeit ein Zimmer in deinem Elternhaus. Schliesslich haben wir hier Platz genug.“ Damit war die Sache für den Herrn des Hauses erledigt.

Mit der Zeit blieb jedoch Elisabeth von Ried nichts anderes übrig, als die Tatsache zu akzeptieren. Zwischen Mutter und Tochter kehrte eine Art Waffenstillstand mit gelegentlichen kurzen Intermezzos ein. Beinahe zwei Jahre hatte es bis zu dem Zeitpunkt gedauert, als Elisabeth von Ried ihren Mann auf das Verhalten seiner Tochter ansprach. Obwohl er eigentlich keine Lust hatte über die Geschichte zu sprechen, kannte er seine Gattin gut genug, um zu wissen, wann es von Vorteil war zuzuhören und das Thema nicht einfach als Belanglosigkeit abzutun. Er hörte sich die Bedenken seiner Gattin ruhig an, dachte danach kurz nach, bevor er antwortete. „Du weisst, dass ich grundsätzlich deine Einstellung unterstütze, alles zu vermeiden, was dem Ruf der Familie Schaden zufügen könnte. Ich sehe hier jedoch keinen Grund, um zu intervenieren. Wenn es etwas geben wird, über das uns Jasmin informieren möchte, wird sie das mit Sicherheit tun. Du solltest endlich akzeptieren, dass unsere Tochter mittlerweile volljährig ist und für sich und ihr Leben selbst die Verantwortung trägt.“ Damit hatte er seinen Standpunkt dargestellt und sah keine Veranlassung mehr, weiter auf das Thema einzugehen.

Obwohl sich Elisabet von Ried insgeheim erhofft hatte, ihr Mann würde in diesem Fall auf einer sofortigen Klärung der Geschichte bestehen, erstaunte sie die Antwort nicht. Auch wenn ihr Gatte mittlerweile davon überzeugt war, dass der Erfolg des Unternehmens von einer intakten Familie und deren gutem Ruf abhing, so brauchte es dennoch etwas mehr als ein ungutes Gefühl seiner Frau, um ihn zu einer Intervention zu bewegen. Er war in erster Linie Jurist, der sich primär auf Fakten stützte und sich nicht von Emotionen leiten liess. Das war auch einer der Gründe, weshalb er der Heirat mit Jasmins Mutter und den damit verbundenen Bedingungen zugestimmt hatte. Emotional gesehen hätte er eine Namensänderung nie akzeptieren dürfen. Für den Aufbau seiner Berufskarriere war die Verbindung jedoch von immenser Bedeutung. Deshalb hatte er nur kurz gezögert, bevor er der Bedingung zustimmte. Damit unterstützte er seine Gattin dabei, ihren gesellschaftlichen Status aufrecht zu erhalten und den Fortbestand einer langen Familientradition sicherzustellen. Mehr aber auch nicht.

Nachdem Elisabeth von Ried mit ihrem ersten Versuch gescheitert war, mehr über die Beweggründe der Verhaltensänderung ihrer Tochter zu erfahren, beobachtete sie Jasmin so gut es ging aus der Ferne. Mit weiteren Bemerkungen zu ihren Aktivitäten hielt sie sich jedoch vorerst zurück. Das änderte sich erst, als Jasmin zweimal hintereinander an Veranstaltungen der Familie nicht teilnahm, an denen ihre Anwesenheit erwartet worden war.

Nach dem zweiten Anlass, es war eine Vernissage der von den Grosseltern gegründeten Familienstiftung, zitierte der Herr des Hauses seine Tochter zu einem Gespräch ins Elternhaus. Jasmin wusste aus der Vergangenheit nur zu gut, warum es besser war, dieser Aufforderung widerspruchslos Folge zu leisten. Obwohl sie nicht alle Werte und Prinzipien ihrer Eltern teilte, wollte sie auf keinen Fall einen grösseren Familienstreit auslösen.

Als sie zum vereinbarten Zeitpunkt im Elternhaus ankam, waren ihre Eltern noch nicht zuhause. Es dauerte eine volle Stunde länger als vereinbart, bis sie endlich eintrafen. Jasmin war in der Zwischenzeit leicht ungeduldig geworden, weshalb die Begrüssung nicht gerade überschwänglich ausfiel.

„Hallo Jasmin, geht es dir gut?“

Ihr Vater stellte die Frage gleich nach dem Eintreffen, was in der Regel bedeutete, er würde sich nicht lange mit Vorgeplänkel aufhalten, sondern gleich zur Sache kommen.

„Mir geht es gut. Ich nehme jedoch nicht an, dass ihr mich deswegen nach Hause bestellt und eine Stunde habt warten lassen.“

„Aber mein Engel, wir haben dich doch nicht nach Hause bestellt.“

„Lass es gut sein, Elisabeth.“ Der Unterton in der Stimme ihres Vaters klang nicht gut. Er sah seine Tochter ohne grosse Gemütsregung an.

„Ich habe dich an der Vernissage vermisst. Was gab es denn so wichtiges, dass du nicht dabei sein konntest?“

Die Frage klang unverfänglich, war es jedoch nicht, wie Jasmin nur allzu gut wusste. „Ich konnte leider nicht kommen, da ich an anderer Stelle aufgrund eines Notfalls gebraucht wurde.“

„War das etwa die gleiche ominöse Stelle, die dich auch schon vor zwei Wochen daran gehindert hat, an der Einladung deiner Grosseltern teilzunehmen.“

Nun wurde es Jasmin zu bunt. Sie hatte keine Lust auf Spielchen. Wenn ihr Vater schon die Auseinandersetzung suchte, so sollte er diese auch haben. „Was soll diese Frage, Vater? Muss ich dir jedes Mal Rechenschaft ablegen, wenn ich nicht an deine Anlässe kommen kann. Ich war an beiden Tagen auf dem Gestüt und habe mich um die Pflege und vor allem um das Training von Agadil gekümmert. Du hast mir das Pferd geschenkt, wofür ich dir sehr dankbar bin. Ein Hengst wie Agadil benötigt jedoch sehr viel Pflege und Betreuung. Das habe ich womöglich anfangs unterschätzt. Als Besitzerin ist es primär meine Aufgabe dafür zu sorgen, auch wenn mich die Mitarbeiterinnen des Gestüts dabei unterstützen. In letzter Zeit hat es ein paar Probleme gegeben, die meine vermehrte Anwesenheit erforderten.“

Ihr Vater war offensichtlich mit der Antwort ganz und gar nicht zufrieden. „Ich habe dir das Pferd nicht gekauft, damit du deine Verpflichtungen gegenüber der Familie vernachlässigst.“ Er hielt kurz inne, um seiner Feststellung den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. „Dass du der Einladung deiner Grosseltern nicht gefolgt bist, kann ich ja noch nachvollziehen. Wenn ich jedoch einen geschäftlichen Termin habe, bei dem es wichtig ist, dass die ganze Familie erscheint, dann erwarte ich auch deine Anwesenheit.“ Christian von Ried war erregt und musste sich sichtlich zusammennehmen, um nicht noch lauter zu werden.

Das war zu viel für Jasmin. Bisher hatte sie sich stets dem Willen ihrer Eltern gebeugt. Jetzt reichte es ihr jedoch. „Ein Pferd kann man nicht einfach in eine Garage stellen und mit einer Plane zudecken, wie das bei einer Harley möglich ist.“ Die Bemerkung zielte auf die zwei Motorräder ihres Vaters in der Garage, die dort schon seit Jahren unbenutzt herumstanden. “Agadil ist ein Lebewesen und braucht Pflege und Zuneigung. Als du mir das Pferd geschenkt hast, hast du mir gleichzeitig auch die Verantwortung dafür übertragen. Diese Verantwortung nehme ich ernst. Entsprechend setze ich meine Prioritäten und dafür werde ich mich sicher nicht entschuldigen, noch lasse ich mir deswegen von dir ein schlechtes Gewissen einreden.“

Die Gesichtsfarbe ihres Vaters hatte während der Äusserungen seiner Tochter eine rötliche Färbung angenommen. Bevor er etwas entgegnen konnte, kam ihm jedoch seine Gattin zuvor

„Mein Engel, bist du sicher, dass es nur Agadil ist, der dich daran hindert, deinen Verpflichtungen nachzukommen? Du weisst doch wie wichtig diese Veranstaltungen für die Kanzlei deines Vaters sind. Schliesslich verlangen wir ja nicht jeden Tag von dir, dass du an einem Anlass teilnimmst.“

Das hatte Jasmin nicht erwartet. Ihre Mutter bot ihr die Möglichkeit den Streit zu beenden, bevor er unwiederbringlichen Schaden verursachte. „Also gut. Ich werde in Zukunft versuchen eure Bedürfnisse und meine eigenen unter einen Hut zu bringen.“

„Das ist das Mindeste was ich von dir erwarte.“ Für ihren Vater schien das Problem damit erledigt zu sein, selbst wenn seine Gesichtsfarbe immer noch einen leichten Rotton hatte. Jasmin hatte jedoch nicht die geringste Lust dies so stehen zu lassen. Ihr Vater schien der Auffassung zu sein, sie sei immer noch eine fünfzehn jährige Göre, die man einfach herumkommandieren konnte.

„Du scheinst mich nicht richtig verstanden zu haben, Vater. Ich habe gesagt, ich werde es versuchen. Sollte sich jedoch die gleiche Situation wie das letzte Mal ergeben, so werde ich nicht zögern und wieder gleich handeln. Ich bin deine Tochter und nicht deine Angestellte oder dein Eigentum.“

Bevor ihr Mann intervenieren konnte, schaltete sich Jasmins Mutter erneut in das Gespräch ein. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, mein Engel. Ich habe dich gefragt, ob es wirklich nur Agadil ist, der dich davon abgehalten hat, deinen Verpflichtungen nachzukommen?“ Als Jasmin nicht antwortete fuhr sie unbeirrt fort. „In der letzten Zeit habe ich bemerkt, wie sehr du dich verändert hast. Gar nicht zu deinem Besten, wie ich hiermit festhalten möchte. Du spielst nicht mehr Tennis, lässt dich im Golfclub nicht mehr sehen und nun vernachlässigst du auch noch deine Pflichten. Kann es sein, dass du einen Freund hast?“

Jasmin sah ihre Mutter nun mit einem wütenden Blick an.

„Selbst wenn es so wäre, so ist das meine Angelegenheit und kein Thema, über das ich mit dir diskutieren will.“

„Wann stellst du uns deinen Freund vor?“

„Mutter, ich habe doch eben gerade gesagt, ich habe keinen Freund. Sollte es einmal so weit kommen, dass ich mit jemandem eine ernsthafte Beziehung aufbauen will, werdet ihr früh genug davon erfahren.“

„Gut, wenn du darauf bestehst, dann hast du eben keinen Freund. Wann stellst du uns in dem Fall deinen Bekannten vor?“

Das war endgültig zu viel. Jasmin stand auf und zog ihre Jacke an, die sie über den Stuhl gehängt hatte. „Ich habe wirklich keine Lust mich mit euch zu streiten. Im Moment gibt es niemand, den ich euch vorstellen könnte. Mehr habe ich zu dem Thema nicht mehr zu sagen.“

Sie drehte sich um und ging auf die Küchentür zu.

„Setz dich wieder, Jasmin. Wir sind noch nicht fertig“, ergriff in dem Moment ihr Vater wieder das Wort.

„Doch, Vater, ich bin fertig. Hier geht es um mein Leben und nicht um die Familientradition oder um deine Kanzlei. Deshalb wirst weder du noch Mutter mir sagen was ich zu tun oder zu lassen habe.“

Jasmin drehte sich um und verliess ihr Elternhaus ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie liess einen wütenden Vater und eine konsternierte Mutter zurück, die ein für alle Mal einsehen mussten, dass ihre Tochter endgültig erwachsen war und sich von der Familie gelöst hatte.

Kaum dass Jasmin das Elternhaus verlassen hatte, wurde sie von den Emotionen überwältigt. Sie brauchte einen Moment, um ihren Zorn abklingen zu lassen. Wie konnten ihre Eltern sich anmassen, sich in dieser Art und Weise in ihr Leben einzumischen. Es verging mehr als ein Tag, bis sie sich wieder soweit beruhigt hatte, um klar denken zu können. Dann begannen erste Zweifel an ihr zu nagen. Vielleicht hätte sie doch nicht so hart reagieren sollen. Jasmin grübelte in den nächsten Tagen immer wieder darüber nach, ohne wirklich zu einem befriedigenden Resultat zu kommen.

Das nächste Mal als sie Martin sah, erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Danach sah sie ihren Freund erwartungsvoll an. „Was meinst du, könnten wir meinen Eltern nicht einmal einen Besuch abstatten? Ich hätte gerne wieder meine Ruhe und das werde ich nicht haben, bevor dieses Problem nicht aus der Welt geschafft ist.“

Martin war von der Aussicht eines Anstandsbesuchs bei Jasmins Eltern nicht gerade begeistert. Anlässen dieser Art ging er in der Regel konsequent aus dem Weg. Dass er mit Jasmin eine Freundin hatte, mit der er sich dermassen gut verstand, reichte ihm vollkommen aus. Er brauchte nicht noch eine Familie dazu. “Lass mir noch etwas Zeit. Wir kennen uns noch nicht so lange und ich möchte nichts überstürzen. Dafür bedeutet mir unsere Beziehung und die gute Zeit die wir im Moment haben viel zu viel.“

In den nächsten Wochen benötigte Jasmin viel Geduld und Überzeugungskraft, um Martin umzustimmen. Als sie schliesslich seine Zusage hatte, rief sie ihren Vater an.

„Das musst du mit deiner Mutter vereinbaren“, war das einzige, was sie von ihm zu hören bekam, bevor er die Verbindung ohne ein weiteres Wort wieder trennte. Jasmin hatte damit gerechnet, dass der Anruf nicht so einfach verlaufen würde. Trotzdem enttäuschte sie die Reaktion ihres Vaters. Es war nicht nur seine schroffe Antwort, auch der abweisende Tonfall in seiner Stimme traf Jasmin völlig unerwartet. Nach diesem Anruf verspürte sie keine Lust mehr ihre Mutter anzurufen. Auch in den nächsten Tagen fand Jasmin immer wieder eine Ausrede, um den Anruf zu verschieben. Schliesslich, in der Zwischenzeit war bereits mehr als ein Monat verstrichen, kam ihr ihre Mutter zuvor.

Das Telefongespräch verlief freundlich und ohne emotional zu werden. Nach einer kurzen Begrüssung fanden sie rasch einen Termin und schon war das Telefonat auch schon wieder vorüber.

Als sich Jasmin mit einem sichtlich nervösen Martin im Schlepptau am vereinbarten Freitagabend auf den Weg zu ihren Eltern machte, lagen schliesslich fast zwei Monate zwischen dem unharmonisch verlaufenen Gespräch mit ihren Eltern und der Einladung. Jasmin hatte den Tag bewusst so ausgewählt. Am Samstag hatte sie ein Reitturnier und somit auch eine Entschuldigung, um bei Zeiten wieder aufzubrechen.

Martin war nervös und leicht gereizt. Abgesehen davon, dass er solche Anlässe normalerweise mied wie der Teufel das Weihwasser, hatte ihn Jasmin auch noch entsprechend instruiert. Ihre Hinweise waren von „Erzähl bitte nicht allzu viel von dir selber“ und „sag nur etwas, wenn du gefragt wirst“, über „lass dich ja auf keine politischen Diskussionen ein“ und „sag ja nichts negatives über eine Universität oder über Ausländer“, bis hin zu „ich verlasse mich auf dich, dass du keinen unsinniges Zeug redest“, gegangen und hatten nicht gerade dazu beigetragen, seine Vorfreude auf das Abendessen zu erhöhen.

Als sie in die Strasse mit Jasmins Elternhaus einbogen, versuchte Martin mit allen Mitteln die aufkommende Panik zu unterdrücken. Jasmin bemerkte die Verunsicherung ihres Freundes sehr wohl. Sie war jedoch überzeugt, ein nervöser Martin Steigle wäre weitaus weniger problematisch als ein unvorsichtiger und überheblicher Martin Steigle. Entsprechend hatte sie erst damit begonnen ihre Bemerkungen zu relativieren, als sie bereits auf dem Weg zu ihren Eltern waren. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch Martin bereits so sehr geimpft, dass er dies kaum mehr zur Kenntnis nahm.

„Sei nicht so nervös und entspann dich. Wenn du die Punkte berücksichtigst, die ich dir genannt habe, wird der Abend problemlos vorüber gehen.“

Als sie schliesslich vor Jasmins Elternhaus anhielten, musste Martin zuerst einmal leer schlucken. Ein Haus wie dieses hatte er bisher nur im Kino gesehen. Das Gebäude besass eine lange und traditionsreiche Geschichte. Ursprünglich war das Anwesen anfangs des vierzehnten Jahrhunderts als Landsitz eines Nebenzweigs der Familie von Stetten erbaut worden. Die von Stettens gehörten während kurzer Zeit zum einflussreichen Berner Adel und stammten aus der Linie der fränkischen Freiherren von Stetten ab, die ihren Stammsitz im Schloss von Stetten im heutigen Baden Württemberg hatten. Nachdem im Jahr vierzehnhundertvierundachtzig das Familienoberhaupt zusammen mit dem ältesten Sohn im Rahmen der Tierberger Fehde zur Unterstützung in den Stammsitz der Familie gerufen wurde, wo beide vierzehnhundertachtundachtzig beim Kampf um das Schloss von Stetten fielen, verarmte die zurückgebliebene Familie zusehends. Im Jahr vierzehnhundertsechsundneunzig kauften schliesslich die von Rieds den leicht heruntergekommen Landsitz auf und bauten diesen zu ihrem Stammsitz aus. Damals standen die Gebäude noch völlig alleine im Grünen, umgeben von einem riesigen landwirtschaftlich genutzten Grundstück. Neben dem Hauptgebäude, dass Ende des sechszehnten Jahrhunderts ausgebaut und erweitert worden war, standen früher auch noch zwei Gesindehäuser und Stallungen für die Pferde auf dem Grundstück. Der Familie war das aufgrund dreier Gemälde bekannt, die das Anwesen in verschiedenen Epochen und unterschiedlichen Ausbauphasen zeigte. Heute waren nur noch das Haupthaus und der grosse Park dahinter übrig geblieben. Doch auch so war das Gebäude für heutige Verhältnisse imposant.

Nachdem sich im Verlauf der Jahre die Stadt immer weiter ausgebreitet hatte, stand die Villa heute mitten in einer der erweiterten Vorortsgemeinden von Bern. Links vom Familiensitz der von Rieds, mit einem gebührenden Abstand, konnte man hinter Bäumen und Hecken gerade noch das Dach eines weiteren Herrschaftshauses mit grossem Umschwung erkennen. Dieses Haus, das einer bekannten Berner Industriellenfamilie gehörte, war aber gerade mal halb so gross wie der Prachtbau der von Rieds.

Als sie in die Einfahrt fuhren, konnte Martin den Park hinter dem Haus noch nicht erkennen. Was er jedoch in der Einfahrt sah, war schon sehr beeindruckend. Die kleine Rasenfläche und die Kiesauffahrt wirkten gepflegt und sauber. Einzig die grosse Doppelgarage, welche zweckmässig am Ende der Auffahrt links neben dem Hauptgebäude stand, passte nicht so ganz in das Bild des alten Anwesens.

Das Innere des Hauses übertraf jedoch das was Martin von aussen gesehen hatte bei weitem. Wenn man durch die grosse Haustür trat, gelangte man in eine hohe Eingangshalle, deren Wände vollumfänglich mit dunklem Mahagoni versehen waren, wie übrigens beinahe alle Räume des Gebäudes. An jedem freien Platz hingen verschieden grosse Gemälde mit unterschiedlichen Darstellungen und aus mehreren Epochen. Auch die Decke der Eingangshalle, so konnte man den acht mal acht Meter grossen Raum ohne zu übertreiben bezeichnen, war mit einem Gemälde versehen, dass mit seinen hellen Farben einen Kontrast zu den dunklen Mahagoniwänden bildete. Links und rechts führten jeweils zwei Türen in die Räume des Erdgeschosses, wie dem Speiseraum, der Küche, dem Arbeitszimmer oder der Bibliothek. Durchquerte man die Eingangshalle, gelangte man zuhinterst unter dem Treppenbogen hindurch, in den Wintergarten. Im ersten Stock befanden sich auf beiden Seiten der Treppe jeweils fünf Zimmer und zwei Badezimmer, wobei heute nicht mehr alle Räume regelmässig genutzt wurden. Von den Zimmern auf der linken Seite waren die beiden ersten Gästezimmer und die hinteren beiden wurden durch die die Hausdame, die gleichzeitig auch Köchin war und das Dienstmädchen belegt. Sie konnten am Ende des Gebäudes über eine Wendeltreppe direkt in die Küche und die Diensträume gelangen. Auf