2,99 €
"Der Puppenspieler" – Wenn die Vergangenheit dich einholt New York, 2045: Sergeant Gabi hat alles verloren – ihren Ruf, ihre Kollegin, fast sogar sich selbst. Nach einem verhängnisvollen Polizeieinsatz, der im Tod ihrer Partnerin endet, wird sie in die staubige Asservatenkammer verbannt. Doch zwischen verrosteten Beweisstücken entdeckt sie eine grinsende Clownspuppe – das letzte Indiz im Fall der verschwundenen Emily, die 2020 spurlos von der Bildfläche verschwand. Als Gabi Jahre später in den Nachrichten ein Mädchen sieht, das mit einer identischen Puppe von einem Unbekannten durch die Nacht gezerrt wird, ist ihr klar: Der Albtraum beginnt von Neuem. Doch diesmal geht es nicht nur um ein fremdes Mädchen – es geht um ihre eigene Tochter Claudia. Ein packender Thriller über die Abgründe der Seele, die Macht der Erinnerung und die Frage: Kann man dem Bösen entkommen, wenn es dich schon einmal gefunden hat?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Puppenspieler
Florian Schulz
Impressum:
Florian Schulz,
Berlin Tempelhof-Schöneberg
KI-ChatGPT Cover Abbildung
Die Schatten legten sich wie ein dunkles Spinnennetz über mich.
Ich deckte mich unter Ihnen zu, mit einer warmen Wolldecke.
Der schwarze Umriss ist kalt.
Feinsäuberlich seziere ich wie ein Chirurg meine Gedanken, in Schwarz und Weiß.
Ein Schachmuster entsteht vor meinen Augen.
Ich bin die Königin.
Weiß macht den Eröffnungszug.
Schwarz ist die Dunkelheit.
Schwarz sind auch die Raben.
Schachmatt.
Schwarz gewinnt über Weiß.
Das Böse lacht mit einem weinenden Auge.
Ich lächle zurück.
Aus Unsicherheit.
Dann wache ich aus meinem Traum auf.
„Bitte, helfen Sie mir …“
Die rote Lampe am Bildschirm der Telefonanlage blinkte mehrmals hell auf.
„Er hat ein Gewehr und zielt auf Mum.“
„Bitte, machen Sie bitte was.“
„Mit wem spreche ich bitte?“
Das rote Signal bohrte sich in das abgedunkelte Büro der Notfallzentrale hinein und spiegelte sich an beschichteten Scheiben gespenstisch wider.
„Bitte, bleiben Sie ganz ruhig. Wie ist Ihr Name?“
Der diensthabende Officer hatte eine warme, ruhige Stimme.
„Mein Name ist …“
Ein Knacken ging durch die Telefonleitung, so als ob die Verbindung abbrechen würde.
„Stefanie, Gabi“, stotterte eine Mädchenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Hör mir zu, Stefanie. Wer ist noch bei dir im Raum?“
„Mum und Dad.“
Sie machte eine kurze Atempause.
„Und mein Bruder Emil. Er schreit ganz laut.“
„Bitte tun Sie doch was.“
„Was macht dein Dad gerade?“
„Er zielt mit dem Gewehr auf Mummy und Emil.“
„Wo seid ihr gerade?“
„In meinem Kinderzimmer. Ich habe die Tür geschlossen und schaue durch das Schlüsselloch.“
„Dad schreit Mum andauernd an.“
„Okay, Kleines. Du bleibst in deinem Kinderzimmer und rührst dich nicht von der Stelle, haben wir uns verstanden?“
„Ja, aber bitte kommen Sie doch …“
„Ich schicke einen Streifenwagen zu deinem Appartement.
Beamte sind unterwegs.“
„Was macht dein Dad jetzt gerade in dem Moment?“
„Er schlägt Mum ins Gesicht.“
„Okay, hör zu, mein Liebes. Verstecke dich so lange, bis die
Beamten kommen, unter deinem Bett und rühr dich nicht von der Stelle.“
Officer Mike drückte einen Knopf auf dem Bildschirm, welcher ihn sofort mit dem Streifenwagen per Funk verband.
„Wir haben es hier mit einem männlichen Suspekt zu tun, vermutlich weiß und schwer bewaffnet. Seine Ehefrau und ein Baby sind auch in der Wohnung.
Ich habe die Tochter auf der anderen Leitung. Sie ist im Kinderzimmer eingeschlossen.“
„Haben verstanden, Officer. Wir sind gleich am Appartementblock angekommen.“
Officer Mike drückte wieder eine der Tasten und wechselte von einem raschen Ton zu einer ruhigen, einfühlsamen Sprache über. „Stefanie, bist du unter deinem Bett?“ Eine piepsige Stimme hauchte ins Handy.
„Ja.“
„Gut.“
„Die Beamten müssten gleich da sein.“
„Kleines, sag mal, kennst du den lustigen Clown aus der Serie Crunchy?“
„Alle Kinder lieben Crunchy. Und weißt du, was er am Ende seiner Show macht? Er schenkt den Kindern einen Lolli zur Belohnung.
Und weißt du, was ich dir schenke? Ebenfalls einen zuckerbunten Lolli, wenn du brav unter dem Bett bleibst. Egal, was gleich passiert, okay?“
„Ja.“ Stefanie nickte mit dem Kopf und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen unter dem Bett.
Abermals lugte sie unter der Bettkante hervor.
Spärlich drang das Licht vom Wohnzimmer in das Kinderzimmer durch den Türspalt hinein. Dahinter hörte sie die laute Stimme ihres Dads.
Und das Schreien ihres Bruders.
Sie legte das Handy ganz dicht an ihr Ohr und sprach mit leiser Stimme:
„Wissen Sie, was, Officer?“
Sie schluchzte ein wenig und die Tränen rannten ihr über die Wange.
„Ich mag Ihre Geschichte über Crunchy, den Clown. Ich möchte,
Ihnen mein größtes Geheimnis verraten.“ „Ja, Stefanie?“
Officer Mike schaute zu den verdunkelten Scheiben hinüber, auf denen sich die Wolkenkratzer von Manhattan widerspiegelten. Wie stumme Riesen standen sie verloren dort im Nichts.
„Mein sehnlichster Wunsch ist es, wenn ich mal groß bin, so wie
sie Polizeibeamter zu werden.“
„Danke, Stefanie. Das ist ein wunderbares Geheimnis.“
„In meinem Herzen bin ich bei dir.“
Stefanie hörte den Knall erst, als Officer Mike den letzten sanften Wortlaut gesagt hatte, als die Wohnungstür laut aufbrach und Beamte die Wohnung stürmten.
Für einen Augenblick sah sie das friedliche Lächeln von Clown Crunchy vor ihrem inneren Auge aufleuchten, mit seinen strohblonden Haaren und dem roten Kostüm.
Dann ließ sie das Handy abrupt fallen und presste mit aller Kraft ihr Gesicht in das weiche Kopfkissen.
Dann ein weiterer Knall.
Dieses Mal ein Schuss aus einer Waffe.
Laute Schreie.
Ihr Bruder weinte.
Stefanie hörte fremde, laute Stimmen, die sie noch nie zuvor gehört hatte.
Dann öffnete sich langsam die Tür zum Kinderzimmer. Erst drang ein wenig helles Licht hinein wie von einer Taschenlampe und flutete das spärlich beleuchtete Zimmer.
Sie blickte auf. In einer Hand hielt sie das Handy fest umklammert, die andere hielt sie zum Schutz vor dem grellen Licht vor den Augen.
Die Zeit schien wie eingefroren zu sein.
Dann hörte sie die warme Stimme von Officer Mike am anderen Ende der Leitung:
„Du hast es geschafft. Bravo, mein Liebes.“
„Die Beamten sind vor Ort und helfen dir.“
Stefanie sah, wie sich aus dem grellen Licht an der Tür zwei Arme herausschälten und nach ihr griffen.
Sie wusste, sie war jetzt in Sicherheit.
„Danke, Officer Mike.“
„Vergiss nicht den Lolli, den ich dir schenke, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Und Crunchy, der Clown, er hat dir Glück gebracht.“
Stefanie biss sich vor Freude auf die Lippen. Die Tränen kullerten ihr über die Wangen.
„Bist du Stefanie, Gabi?“
Sie schaute in ein männliches Gesicht mit stoppeligem DreiTage-Bart und tiefen braunen Augen.
„Ich bin Sergeant Gabel, und ich hole dich jetzt hier raus.“
Der Polizeisergeant wirkte freundlich und drückte sie mit seinen großen, kräftigen Armen an seine Brust.
Dazwischen lag noch sein wohlgeformter Bauch, der unter der blau-schwarzen Uniform hervorstach.
Stefanie gab dem Sergeanten das Handy.
Eine blonde, deutlich jüngere Polizistin mit schlanker Figur nahm sie bei der Hand und führte sie hinaus aus der Wohnung. „Alles wird gut, Kleines.“
Stefanie musste immer wieder an den Clown Crunchy denken. Tief in ihrem Herzen hatte sie ein Versteck für ihn bereitet, einen dunklen, geheimnisvollen Ort.
Sie spürte, wie er sie wärmte.
Sein Lächeln war wohltuend in ihrer Fantasie.
Und seine Haare standen ihm von allen Seiten ab.
Draußen auf der Straße peitschte ihr der Regen mit voller Wucht entgegen und durchnässte ihr zartes weißes Kleid in Sekundenschnelle.
Es klebte an ihr wie eine zweite Haut.
Barfuß, geführt von zwei Officern, stieg sie in den Polizeiwagen ein.
Das Blaulicht schälte sich durch den regenverhangenen grauen Himmel und funkelte in den Scheiben der parkenden Autos wieder.
Sie fror leicht, und ein hilfsbereiter Officer legte ihr eine warme Decke um den Hals.
„Du hast es gleich geschafft.“
Sie saß auf der Rücksitzbank des Autos und schaute durch die dicht beschlagenen Scheiben hindurch, auf deren Glas sich die Regentropfen wie dünne Seidenfäden abseilten und sich im Fenstersims auffingen.
Dann startete der Motor des Polizeiautos, und sie fuhren los.
Die Lichter draußen von der roten Ampel wischten an der Fensterscheibe vorbei, wie funkelnde Edelsteine, die man in einer dreckigen Pfütze liegen gelassen hatte.
In ihrem Kopf rauschte es.
Die Gedanken hämmerten in Sekundenschnelle durch ihren Kopf.
Abermals tauchte das Bild des Clowns in ihrem Kopf auf.
Doch dieses Mal lächelte der Clown nicht mehr. Vielmehr hatten sich die Gesichtszüge zu einer finsteren Grimasse verzogen, und die Augen kullerten in tiefen Augenhöhlen unruhig hin und her.
In der Hand hielt der Clown einen roten Ballon.
Dann wurden es immer mehr rote Ballons, die sich in die trübe Straßenlandschaft aus grauem Beton und grellen Autoscheinwerfern mischten.
Vor ihrem inneren Auge tanzten Hunderte Ballons zwischen den Passanten hin und her, die die Straße überquerten, höher stiegen sie auf, gen Himmel, vorbei an großen Brücken, die den Fluss East Side River überragten, an Wolkenkratzern, die ihr die Sicht verdeckten.
Sie wusste: Es kamen finstere Zeiten auf sie zu.
Und der Clown war der Anführer ihrer dunklen Gedanken.
Wo war ihr Vater geblieben?
Ihre Mutter? Ihr Bruder?
Sie wusste es nicht.
Hatte sie all das, was sie liebte, mit einem mächtigen Schlag verloren?
Die Gedanken quälten sie.
Mit der Hand berührte sie die Fensterscheibe.
Sie fühlte sich kalt an.
Wie alles hier.
Fremd.
Dann musste sie eingeschlafen sein, an einem anderen Ort zwischen Manhattan und den tief liegenden Straßen dort, wo ein Abgrund klaffte.
Ein Schatten, der sich an die Häuser schmiegte.
So wie in ihrem Herzen.
Der Verlust ihrer kleinen, geliebten Familie.
Die Nacht färbte sich blutrot am Himmel, als der runde orangefarbene Ball hinter den Wolkenkratzern Downtown unterging und sich die Dunkelheit langsam ankündigte. Sergeant Gabi biss genussvoll in den Hamburger in ihrem Streifenwagen in der Hudson Street.
Der Autoverkehr hatte sich langsam beruhigt an der Hauptstraße, von der die anderen Straßen abzweigten, was typisch für diese Zeit am Abend war. Sie hatte den Burger roh bestellt, sie liebte es, das Fleisch nicht völlig durchgebraten zu essen, und etwas von der scharfen roten Soße tropfte auf ihre Uniform.
„Solch ein Mist“, schimpfte sie laut und schaute dabei in das verdutzte Gesicht ihrer Kollegin Maggi, die auf dem Beifahrersitz saß und sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
„Das hast du jetzt davon, im Dienst sich einen Hamburger hineinzuzwingen“, zog sie sie auf.
Sergeant Gabi schob sich den letzten Happen vom Burger in den Mund und schmiss die Papierschachtel auf die Fußmatte.
„Es gibt nichts Besseres als den guten alten Hamburger bei McDonald’s – I love it.“
„Nicht, dass du mir nachher hungrig in den Einsatz fährst,
Maggi.“
Sie stupste ihre Kollegin in die Seite.
Sie kannten sich nun schon seit zehn Jahren, und Sergeant Maggi war ihr ans Herz gewachsen.
„Recht wenig los an diesem Abend“, sagte sie.
Sergeant Maggi schaute auf das Funkgerät im Halfter am Armaturenbrett, das immer wieder einige Töne von sich gab und sich unter die Unterhaltung der beiden mischte.
Sergeant Maggi steuerte den Polizeiwagen aus der Nebenstraße hinaus auf die Hauptstraße, vorbei an den vielen gelben Taxis, die sich wie immer vorzudrängeln versuchten und laut hupten.
Sie schaute aus der Fensterscheibe nach oben, vorbei an den riesigen Betonriesen aus Stahl und Glasfassaden, die sich seitlich von ihr aufbauten und sich durch die Fahrtgeschwindigkeit zu einem grauen Einheitsbrei verwischten.
Sie kannte diese Gegend wie ihre eigene Westentasche. Genauer genommen spielte sich das gesamte Stadtleben abends hier auf der Hauptstraße ab.
Links und rechts leuchteten gespenstisch die vielen Neonreklameschilder der Fast-Food-Restaurants auf, in grellen Rottönen und weißer Schrift. China-Fast-Food-Läden und indische, arabische Läden tummelten sich auf dem Bürgersteig.
Aus den Straßengullis stieg weißer Dampf empor und schoss in einer kreisförmigen Säule mit viel Druck empor.
Sie wusste, dass an der sechsten Straße, Ecke Hauptstraße, dort, wo das Cinema Hollywood war, der Straßenstrich anfing. Mädchen flanierten dort auf dem Asphalt in dünnen Kleidern und aufreizenden Posen.
Sie kannte alle Mädchen beim Namen. Sie taten ihr leid, und sie ließ sie in Ruhe.
Sie schaute weiter weg von den Mädchen zum Schild auf dem Kino, dort, wo der neue Film von Tom Cruise gezeigt wurde, ein Actionfilm, der die Kinosäle bis auf den letzten Platz füllte.
Auch um diese Uhrzeit konnte sie die Menschenmenge nicht übersehen. Die Schlange stand an der Kinokasse.
Sie liebte ihren Dienst, hatte sich hart hochgearbeitet zum Sergeant, auch wenn der Beruf einige Tücken mit sich brachte. Die Härte der Straße sie nachts um den Schlaf brachte, gab es ihr eine Genugtuung, die Kriminellen wie Fliegen von der Straße zu fangen und wegzusperren, auch wenn am nächsten Tag alles wieder von vorn begann.
Seit sie als Kind ihren Vater und ihre Mutter bei einem Polizeieinsatz verloren hatte, hatte sie sich geschworen, wenn sie mal groß sei, selbst Beamtin zu werden und es besser zu machen.
Sie war ehrgeizig und war weit gekommen. Der Verlust ihrer Eltern schmerzte in so mancher späten Stunde in der Nacht nach, auch wenn sie manchmal zur Flasche griff und den Restzweifel herunterspülte, mit einem Whisky, der sie sanft einschlummern ließ.
Die Gedanken kreisten durch ihren Kopf, als sie weiter die Hauptstraße hinunterfuhr, die nun einen rechten Knick machte und einen Berg hinunterführte in eine Wohnsiedlung mit Einfamilienhäusern und Vorgärten.
Hier wohnten ärmere Leute, weiter weg von den teuren Wolkenkratzern Downtown mit den teuren Geschäften und Modeboutiquen.
Sergeant Gabi steuerte den Polizeieinsatzwagen in die dunkle
Gasse der Vorortsiedlung. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit hinein und gaben neben rostigen Mülltonnen von der Witterung zerfressene Mauern frei.
Dahinter ein hoher Zaun, der eine angrenzende Wohnsiedlung im heruntergekommenen Viertel außerhalb der Großstadt abgrenzte.
Ein großer brauner Pitbull fletschte die gelben Zähne, und sein Kläffen hallte in der Dunkelheit wieder.
„Sergeant Maggi, bitte kommen. Wir haben einen Wohnungseinbruch gemeldet bekommen. Unsicher ist, ob der Einbrecher sich noch im Haus befindet.“
„Habe verstanden, Zentrale. Wir schauen uns mal um. Gib
Einsatzbericht später durch.“
Sergeant Gabi legte das Funkgerät beiseite.
Gabis Assistentin, Sergeant Maggi, setzte die Blaulichtsirene aufs Dach und gab ihr ein Zeichen.
Mit quietschenden Reifen verließ sie die dunkle Gasse und überquerte einen schmalen Schotterweg, dann weiter auf einer schlecht asphaltierten Straße Richtung Süden.
Das Blaulicht spiegelte sich in den Fensterscheiben neben der Straße, wie in einem verwischten, überbelichteten Foto.
Weiter noch etwa eine Meile geradeaus, immer der Straße folgend, bis Sergeant Maggi den Wagen abrupt stoppte.
„Ab hier gehen wir zu Fuß weiter zum Haus.“
„Habe verstanden“, gab Sergeant Maggi mit leiser Stimme zu verstehen.
Sie würgte den Motor mit einer gekonnten Handbewegung am Zündschloss ab.
Sie gab Sergeant Maggi ein Zeichen mit der Hand, von vorn an das Haus zu gehen.
Sergeant Maggi schlich sich von hinten an das Haus heran, kletterte über einen hüfthohen Gartenzaun und landete weich in der nassen Erde des Rasens.
Bückend kroch sie auf allen vieren an die Hauswand heran und machte vor einem hell erleuchteten Fenster halt.
Es war still hier draußen, nur der weiße Vollmond zeigte sein fleischiges Gesicht über dem rot angestrichenen Wellblechdach.
Sie zückte einen kleinen Spiegel und hielt ihn unter dem Fenster. Erst zeichneten sich ein paar helle, gelbe Lichtstrahlen auf der glatten Oberfläche ab, dann so etwas wie ein Gesicht, vielmehr eine Fratze mit langem, dünnem Hals und knorrigem Nasenhöcker, versteckt unter einer schwarzen Kapuze.
Sie schwenkte den Spiegel etwas zur Seite, dann erkannte sie schemenhaft die Umrisse eines auf dem Boden hockenden Kindes mit gefesselten Händen.
Dahinter stand eine Frau, vermutlich die Mutter, ebenfalls gefesselt an einem Holzstuhl.
Sergeant Maggi gab leise eine Warnung durch das Funkgerät:
„Vorsicht, Täter noch im Haus mit zwei Gefangenen, vermutlich Mutter mit Kind.“
Sie versuchte langsam, die Fensterscheibe von unten nach oben mit der Hand zu drücken, bis sich ein kleiner Spalt öffnete und ein warmer, feuchter Luftstrom ihr ins Gesicht wehte.
Sie drückte stärker mit der gesamten Handinnenfläche, bis sich das Fenster so weit öffnete, dass sie hindurchpasste.
„Verfluchter Mist“, schimpfte sie leise, während sie unsanft auf dem blau-weiß karierten Kachelboden mit ihren Stiefeln landete.
Vorsichtig schloss sie das Fenster von innen wieder. Sie schaute kurz hoch in den Spiegel im Bad, sah ihr angespanntes Gesicht und ihre etwas verwuschelten Haare.
Sie öffnete die Tür einen Spalt und spähte hindurch.
Dahinter eröffnete sich ein langer, dunkler Flur mit einer weiteren Tür am Ende.
Von Weitem hörte sie Stimmen, vielmehr ein unruhiges Gemurmel, untermauert von einem hellen, spitzen Schrei.
Sie tastete sich langsam vorwärts.
Sergeant Maggi versetzte der Haustür einen kleinen Tritt mit dem Fuß. Sie sprang sofort auf. Jemand hatte sie nicht verschlossen, oder der Einbrecher war durch die vordere Tür ins Haus gelangt.
Sekunden vergingen.
Es war unheimlich still.
„Sergeant Gabi, hören Sie mich …“ sprach sie leise durch das Funkgerät.
Es knackte und ein langes, anhaltendes Rauschen tönte durch die Leitung.
„Hier ist niemand … im Vorderhaus.“
Sie wartete kurz ab, entschied sich dann, auf eigene Faust weiter in das Haus einzudringen.
Das helle, schneeweiße Licht der Neonröhre an der Decke der Küche blendete sie, als sie den PVC-Küchenboden betrat und fast auf einer hässlichen, gelblichen Flüssigkeit, die überall verteilt herumlag ausrutschte.
Gerade noch griff sie nach dem Rand der Spüle seitlich von ihr und verhinderte, dass sie mit einem lauten Knall auf den Boden sauste.
Von der Küche führte ein kurzer Flur zu einer Holztreppe mit Geländer.
Schritt für Schritt erklomm sie die schmalen Stufen, die unter ihrem beleibten Körper ein ächzendes Geräusch von sich gaben.
Sie hätte bereits abnehmen sollen, einen dieser vielen Fitnesskurse in ihrem Studio zu besuchen und zu schweißtreibenden Beats ein anstrengendes Bauch-Beine-Po-Programm absolvieren.
Aber nein, wie immer siegte die Gewohnheit, und somit versank sie wie jeden Abend bei ihrer Lieblingsserie True Crime auf Netflix auf ihrem Sofa.
Nun bekam sie die Quittung dafür, und sie musste achtgeben, nicht zu laut zu sein.
Gedankenverloren bemerkte sie nicht, wie sie mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß.
Beim genaueren Betrachten war es eine breite Holzplatte in der Decke, die ein Weiterkommen unmöglich machte.
Mit aller Kraft versuchte sie, sich mit der Schulter dagegenzustemmen. Nach einer Weile gelang es ihr, die Holzplatte ein paar Zentimeter beiseite zuschieben.
Dahinter befand sich ein Kinderzimmer.
Sie kletterte langsam durch den jetzt etwas größeren Spalt hindurch, und ihre Hände ertasteten einen weichen Flokati-Teppich, der eine gewisse Wärme ausstrahlte.
Auf allen Vieren kroch sie vorwärts, bis sie den Lichtschalter an der Wand fand und anknipste.
„Hier handelt es sich eindeutig um ein Kinderzimmer mit einem Holzbett, einer flauschigen Daunendecke und ein paar herumliegenden Spielsachen auf dem Boden“, dachte sie, während sie abermals in das Funkgerät sprach:
„Sergeant Gabi, bitte kommen …“
„Wo steckst du zum Teufel …?“, schoss es am anderen Ende der Leitung hervor.
„Die Leitung war für ein paar Sekunden tot“, murmelte Sergeant Maggi zu ihrer Entschuldigung etwas zu leise für ihre Ansicht.
„Ich brauche dich hier unten bei mir. Habe fast Sichtkontakt zur
Zielperson mit Geiseln …“
„Ah … stecke hier oben fest in einem Zimmer …“
Sergeant Maggi merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und ihre Handinnenflächen um das Funkgerät anfingen zu schwitzen.
„Ich komme runter.“
Etwas tollpatschig wuchtete sie ihren schweren Körper um 180 Grad herum und machte sich auf den Weg möglichst schnell nach unten.
Sergeant Gabi schaute direkt in die finsteren Augenpaare, die arglistig sich unter einer blauen Kapuze befanden und die Geiseln anvisierten.
Zum ersten Mal nahm sie die Bösartigkeit wahr, die hier versteckt lauerte in der Gestalt des Unbekannten. Sie wusste, er konnte sie von ihrem Standpunkt nicht sehen. Die Tür vor ihr verdeckte ihr Gesicht, und dessen Schatten legte ihren zierlichen Körper in eine dunkle Hülle.
Fast unsichtbar wie von Zauberhand.
Die knöcherne Gestalt des Unbekannten war von einer zähen, definierten Muskelmasse untermalt, die sich in den starken Schultern zeigte, welche unter dem Kapuzenpulli hervorstachen.
Er war völlig in Schwarz gekleidet.
Dunkle Jeanshose, dazu ein paar Adidas-Sneakers mit schwarzen Schnürsenkeln und unauffälligen Socken.
Er war ihr körperlich überlegen, größer und stärker. Dennoch bemerkte sie eine gewisse Behäbigkeit, Schwerfälligkeit in seinen Bewegungen, die sie aufhorchen ließ.
Dazu lispelte er, vielmehr hörte es sich aus der Ferne an wie ein Zischen, so als ob er einige Wörter und Satzsilben aufgrund eines Handicaps zusammenzog und nicht eindeutig aussprach.
Was den Fremden noch unheimlicher erscheinen ließ, im fahlen Licht der Wohnzimmerlampe an der Decke.
Sie blickte an dem Fremden vorbei, weiter in den Raum hinein, eine gut gepolsterte lederne Couch an der Wand.
Davor ein großer Smart-TV auf einem Tisch in der Mitte des Raumes.
Eine große, breite Fensterfront mit anschließender Terrasse zum Garten hinaus.
Dann schweifte ihr Blick über den Rücken des Unbekannten hinüber zu einer kauernden Mädchengestalt in einer schattigen Ecke des Wohnzimmers.
Ganz eindeutig erkannte sie einen Teenager, der mit den Händen gefesselt an eine Stuhllehne hockte und den Blick gesenkt hielt, sodass Sergeant Gabi beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie weinte oder nur ins Nichts vor ihr starrte.
Bange, weitere Sekunden vergingen. Eine merkwürdige Stille legte sich über die Szene, die sich vor ihr abspielte, und katapultierte ihren Herzschlag in die Höhe.
Sie wartete weiter ab.
Bis sie einen hellen, spitzen Schrei vernahm, der, wie sich schnell herausstellte, von der Mutter des Mädchens stammte, die hinter dem Sofa hervorkroch, auf allen Vieren.
Gefesselt und nur mit einem hauchdünnen Nachthemd bekleidet, schaute sie ängstlich in Richtung des Unbekannten hoch.
„Wo bleibt Sergeant Maggi bloß …? Sie müsste doch bereits hier sein, dringend brauchte sie hier unten Verstärkung.“
Sie wusste aus früheren polizeilichen Einsätzen mit ihr, dass sie sich oft etwas unbeholfen anstellte und sie das Unheil magisch anzog. Dennoch schätzte sie auch ihre Qualitäten wie ihren wachen Instinkt und ihre scharfe Beobachtungsgabe.
Sergeant Maggi stieg die letzte Stufe der Treppe hinunter, in Richtung Küche, aus der sie gekommen war.
Es fühlte sich an wie ein steiniger Weg, und sie merkte, wie sie etwas laut keuchte und die Schweißperlen sich von ihrer Stirn abseilten und in dem blauen Stoff der Uniform versickerten.
Sicherlich würde Sergeant Gabi schon etwas wütend auf sie warten, und sie machte ihrem Namen wieder alle Ehre, immer die Letzte am Tatort zu sein.
So wie auch in dieser Nacht beschlich sie mit einem flauen Gefühl in der Magengegend abermals den hässlichen Plastikboden der Küche im Erdgeschoss.
Sergeant Gabi biss sich auf die Unterlippe. Die spröden Lippen hinterließen einen stechenden Schmerz, der sich über den gesamten Mund legte.
Sie schmeckte etwas süßliches Blut, schluckte es instinktiv hinunter und sah in diesem Moment, wie die kräftige Faust des Unbekannten schneidend durch die Luft fuhr und nur um Haaresbreite das Gesicht der kauernden Mutter verfehlte.
Sie schrie laut auf und zog sich noch mehr zurück zu ihrer Tochter in die dunkle Ecke.
Ein schelmisches Lachen durchbohrte die eisige Stille und hallte im ganzen Haus wider.
Während der Unbekannte abermals mit erhobener Faust in Richtung der Mutter und Tochter drohte.
Sergeant Gabi bemerkte hinter sich ein leises Rascheln. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in die wasserblauen Augen ihrer Kollegin Maggi.
„Hier bin ich, Sergeant Gabi“, hörte sie ihre keuchende Stimme nun ganz nah bei sich.
Sergeant Gabi wusste um die Loyalität ihrer Kollegin und den Ehrgeiz, den sie an den Tag legte bei dieser Art von Einsätzen aus der Vergangenheit.
Dennoch dachte sie insgeheim, was für eine Fehlbesetzung sie doch war, eher ungeeignet für den Dienst: zu dick, tollpatschig und gepaart mit einer gewissen Naivität.
Es zählte jede Sekunde hier, und sie müsste sich auf ihre Partnerin verlassen können.
Sie ließ sich nichts anmerken, als die Beamtin sich etwas ungeschickt neben ihr platzierte und sie mit großen, fragenden Augen anblickte.
„Was machen wir jetzt …?“, fragte sie mit leiser, piepsiger Stimme.
Sergeant Gabi wusste, dass sie etwas unternehmen mussten, wenn sie den Unbekannten davon abhalten wollten, weiteres Unheil anzurichten und das Leben der Geiseln zu gefährden.
Sie gab ihr mit der Hand ein Zeichen, ihr Deckung zu geben, während sie langsam die Tür zum Wohnzimmer weiter öffnete, sodass etwas mehr Licht in den Flur drang, in dem sie hockte.
Sergeant Maggi machte Anstalten, ihr zu folgen, als sie kriechend auf allen Vieren sich dem Tisch mit dem TV inmitten des Raumes näherte.
Blitzartig hob Gabi den Zeigefinger zum Mund und signalisierte ihr, stillzubleiben.
Vor ihr lagen noch ein paar unbequeme Meter, bis sie im Schatten des Tisches Deckung nehmen konnte.
Von unten sah sie die mächtige schwarze Silhouette des Unbekannten, wie er sich in die Höhe bohrte, ein harter Fels in der Brandung, den es zu erklimmen galt.
Das Licht der Wohnzimmerlampe blendete sie stark, sodass sie blinzeln musste und sich die scharfen schwarzen Konturen der Kapuze des Unbekannten majestätisch vor dem hellen Hintergrund abhoben.
Sie wusste, dass sie jetzt alleine auf sich gestellt war.
Die Verantwortung lag wie eine bleierne, schwere Hand auf ihrem Körper und drückte ihr zartes Körpergewicht noch mehr in den harten Bretterboden hinein.
Auf Sergeant Maggi konnte sie nicht bauen am besten, sie verhielt sich still hinter der Tür, von wo sie gekommen war, und richtete aus der Ferne kein weiteres Unheil an.
Sie zog sich mit aller Kraft an die Tischbeine heran, mit den Händen, und kauerte sich unter dem Tisch zusammen.
Vor ihr lag noch das Sofa, dessen weiche, lederne Polstergarnitur ihr ins Auge stach, und der Unbekannte stand breitbeinig davor.
Sie schaute nun direkt auf die Absätze seiner Turnschuhe, und weiter dahinter erkannte sie die Beine der Tochter und Mutter in der Ecke.
Sie wusste, sie müsste den entscheidenden Moment abwarten, den Vorteil nutzen, aus der Deckung herauszuspringen wie ein Raubtier auf der Jagd.
Es musste alles schnell gehen.
Sie wartete ab, bis der Unbekannte sich wieder der Mutter widmete und seine bösartigen Drohungen hinausschrie.
Langsam kroch sie unter dem Tisch hervor.
Es lagen noch bange Meter vor ihr, bis sie den Rücken des Unbekannten erreichen würde, dann ihn von hinten packen, im Klammergriff seinen Hals fassen und zu Boden ziehen.
Sie wusste, dass er stärker war als sie. Er würde sich mit Händen und Füßen wehren. Doch sobald sie ihn am Boden im Schwitzkasten hatte, hatte er keine Chance.
Den Rest sollte Sergeant Maggi erledigen.
Das war ihre entscheidende Rolle im Szenario.
Bevor sie sich weiter fortbewegte, schaute sie abermals zu Sergeant Maggi zur Tür hinüber.
Sie hockte dort wie ein schwerer Stein und regte sich keinen Zentimeter vorwärts.
Sie gab ihr ein Zeichen, mit der Hand abzuwarten.
Sergeant Maggi nickte etwas unsicher mit dem Kopf.
Je näher sie an den Unbekannten von hinten an kroch, desto mehr nahm sie einen unerträglichen, süßlichen Schweißgeruch wahr.
Der festsetzte sich in ihrer Nase.
Zugleich stieg das Gefühl der Angst in ihr hoch, es legte sich zuerst als unangenehmes, flaues Gefühl in die Magengegend und kroch dann langsam hoch bis in ihre Fingerspitzen, die sich kalt und taub anfühlten.
Dann richtete sie sich langsam auf und war nun ganz nah hinter ihm.
Ein leichter, kühler Luftstoß ging von ihrer Bewegung aus und ließ das schwarze, gekräuselte Haar des Unbekannten für einen Moment aufwirbeln.
Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Wimpernschlag, ein kurzer Atemzug, in dem sie zögerte zuzugreifen, in dem sie sich nicht sicher war, ob er etwas bemerkt hatte.
Ihre Hände wollten zugreifen.
Doch in diesem Moment wirbelte der Unbekannte mit dem Kopf herum.
Und sie griff ins Leere.
Sie starrte in die dunklen, kleinen Pupillen, die sie erbost anvisierten und sie durchbohrten wie ein Sieb.
Er packte sie und riss sie mit voller Wucht zu Boden, sodass sie mit dem Rücken auf den harten Boden knallte.
Dann beugte er sich über sie und würgte sie mit beiden Händen am Hals, sodass sie keine Luft mehr bekam.
Von weiter hinten hörte sie einen lauten Knall und konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass Sergeant Maggi geschossen hatte.
Ein taubes Gefühl schlich sich in ihren Kopf hinein, bis sie fast ohnmächtig wurde.
Und plötzlich ließ der Fremde von ihr ab.
Sie hörte einen weiteren Schuss, doch dieses Mal ganz nah.
Der eindeutig nicht von Sergeant Maggi abgegeben wurde.
Instinktiv griff sie mit der Hand nach ihrer Pistole im Halfter ihres Gürtels.
Doch der war leer.
Benommen richtete sie sich auf, ihr Hals schmerzte, und das Blut kochte in ihrer Halsschlagader.
Verschwommen wie durch eine Nebelwand tastete sie sich vorwärts.
Vorbei an der Couchgarnitur in Richtung Tür, wo Sergeant Maggi gehockt hatte.
Vom Unbekannten fehlte jede Spur.
Dann sah sie eine rote Blutlache, die sich langsam in den weißen Flokati-Teppich tief einsog und eine dunkelrote Färbung hinterließ.
Sie kam von der Tür.
Inmitten der roten Flüssigkeit erkannte sie das aschfahle, weiße Gesicht ihrer Kollegin mit hell aufgerissenen Augen, die an die Decke starrten.
Ihre Hand tastete sich instinktiv vorwärts, dorthin, wo sich der Puls befand an Sergeant Maggis Handinnenfläche.
Sie fühlte sich kalt an.
Und dort, wo ein Lebenszeichen sein sollte, war nur ihre ruhige, leblose Hand.
Sie hob ihren Kopf, horchte, ob sie noch atmete.
Kein Signal.
Der Brustkorb hob sich nicht leicht an und senkte sich wieder, wie es bei den Lebenden ist.
Für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie den kalten Kopf von Sergeant Maggi in ihrem Schoß, strich mit der Hand über das blutverklebte, braune Haar und ließ ihre Hand eine Weile auf ihrer Stirn liegen.
Vernebelt schaute sie zum Küchenfenster hoch. Noch immer thronte der weiße Vollmond majestätisch am Nachthimmel.
Ein starker, aufkommender Wind strich durch die rot-braunen Kastanienblätter des mächtigen Baumes im Garten und wirbelte etwas vertrocknetes Laub an den Wurzeln am Boden auf.
Einzelne Blätter segelten wie Papierflieger am Fenster draußen vorbei und berührten die Scheibe leicht.
Dann schaute sie wieder auf Sergeant Maggi.
Aus ihrer blauen Uniform klaffte am Brustkorb ein Loch, aus dem rote Flüssigkeit austrat.
Der Unbekannte hatte sie direkt mit ihrer Waffe in die Brust geschossen und sie tödlich getroffen.
Immer noch sickerte langsam Blut aus der Wunde heraus und bildete die große Pfütze auf dem hässlichen PVC-Boden.
Sie wusste, dass sie die alleinige Schuld trug für den Einsatz.
Und für den Tod ihrer Kollegin.
Als dienstleitende Beamtin müsste sie gerade stehen für das, was sich hier Schreckliches abgespielt hatte.
Für einen Moment katapultierte es sie mit geballter Kraft zurück in ihre Vergangenheit.
Als sie als Kind sich unter dem Bett versteckt und den Notruf gewählt hatte.
Dunkel tauchten die Erinnerungsfetzen wieder auf und waberten für eine Weile in ihrem Unterbewusstsein fort.
Das Gesicht ihres Vaters schälte sich langsam hervor.
Wie von Geisterhand unter dem fahlen Mondlicht im Garten draußen.
In hellen Blitzen sah sie abermals das Mündungsfeuer des Polizeibeamten.
Der ihren Vater tödlich traf.
Dann zogen sich die Gedanken allmählich zurück, und sie schaute wieder auf die tote Sergeant Maggi.
Sie wusste, dass die Polizeibeamten gleich am Tatort eintreffen würden.
Und man würde sie hier finden, zusammengekauert in der Küche.
Man würde die Mutter und Tochter in ärztliche und psychologische Betreuung geben und eine großräumige Fahndung nach dem Unbekannten herausgeben.
Doch eins würde immer bleiben:
Die Last und Schuld am Verlust von Sergeant Maggi.
So wie man ihr damals ihre kleine Familie genommen hatte.
Dann blickte sie in ein paar helle Scheinwerferlichter von Taschenlampen,
die in kreisenden Bewegungen das spärliche Licht der Küche
durchbohrten und sie blendeten.
Dazu die lautstarken Rufe der SEK-Beamten. Als sie das Wohnzimmer stürmten, mit angehaltener Maschinenpistole.
Mutter und Tochter von ihren Fesseln befreiten.
Der Einsatzleiter des SEK legte von hinten seine Hand auf ihre Schulter, sagte etwas, das wie aus der Ferne zu ihr drang und sich dennoch warmherzig anfühlte.
Weitere Rettungskräfte drangen in die enge Küche ein und beugten sich über Sergeant Maggi.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Und sie verlor das Bewusstsein.
Die Leiterin des Morddezernats, Claudia, eine hochgewachsene Frau in den Mittfünfzigern, mit blondiertem, schulterlangem Haar und schlanker Figur, kramte in den Aktenunterlagen auf ihrem Schreibtisch.
Dabei nippte sie immer wieder etwas nervös an ihrem lauwarmen Kaffee in der blauen Tasse mit dem Polizeiemblem darauf.
Beinahe hätte sie etwas verschüttet auf die schneeweißen Blätter, die chaotisch überall auf dem Schreibtisch verteilt herumlagen.
„Solch ein Mist“, fluchte sie leise und vergewisserte sich, ob ihre Bürotür auch zu war.
Ihr großes Büro hob sich von den anderen Büros im Polizeigebäude ab.
Es war geräumiger, und neben dem großen Arbeitstisch stand am anderen Ende des Raumes noch eine lederne Couch.
Sie wusste, gleich würde Sergeant Gabi erscheinen.
Sie hatte heute mit ihr einen Termin im Büro vereinbart, um sie zu treffen.
Nachdem Gabi in den letzten beiden Wochen bei der Polizeipsychologin verbracht und sich vom letzten Einsatz erholt hatte.
Sie wusste, dass Sergeant Gabi einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, indem sie ihre Kollegin alleine gelassen hatte und diese tödlich getroffen wurde von einem unbekannten Täter.
Sie hatte schon leicht graues, schulterlanges Haar, doch sie war zäh und ausdauernd in ihren Entscheidungen.
Sergeant Gabi betrat das Polizeigebäude durch die gläserne Drehtür im Vordereingang.
Es regnete an diesem Morgen so, wie es auch die ganze Nacht durchgeregnet hatte,
und der eisige Wind hatte gegen ihr Schlafzimmerfenster getrommelt, sodass sie kein Auge zugemacht hatte.
Etwas nervös schlängelte sie sich durch die Drehtür hindurch zum Pförtner,
wo sie etwas zu hastig die Tasche und den Mantel ablegen musste
zur Untersuchung, bevor man das Gebäude betreten durfte.
Brav stellte sie sich unter den Metalldetektor und wartete ab, bis die grüne Lampe leuchtete und sie weitergehen durfte.
Die hohen Absätze ihrer schwarzen Schuhe hallten auf dem langen Marmorboden des Flures wider, bis sie zum Fahrstuhl gelangte.
Dort drückte sie auf die Etage 3, wo ihre Leiterin ihr Büro hatte.
Sie wusste, dass ihre Chefin auf ein gepflegtes Äußeres Wert legte.
Deshalb hatte sie die besten Sachen aus ihrem Schrank heute Morgen herausgefischt und sich in Schale geschmissen.
Ihre Hände schwitzten leicht, als sie die vielen Büros im Flur passierte und in Richtung Gangende steuerte.
Dort blieb sie vor einer dicken, mit Eichenholz beschlagenen Tür stehen, mit goldener Türklinke.
Sie klopfte dreimal dagegen, bis sich die schwere Tür langsam auftat und sie einen Fuß in das geräumige Büro setzte. Sie blickte vorbei an der Vitrine an der Wand, wo sich mehrere Orden mit Auszeichnungen befanden, hin zum Schreibtisch, wo eine Blondine in blauer Uniform saß und sie lächelnd ansah.
„Kommen Sie doch rein und nehmen Sie Platz hier.“
Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf einen leeren Holzstuhl vor dem Schreibtisch.
Etwas schüchtern, was sie sonst eigentlich nicht gewohnt war, nahm sie Platz
Und blickte auf die vielen Akten, die sich auf dem Schreibtisch tummelten.
„Kommen wir gleich zur Sache, Sergeant Gabi.“
„Sicherlich wissen Sie, warum ich Sie heute an diesem miesen, verregneten Morgen zu mir ins Büro bestellt habe.“
Sie machte eine kurze Pause und blickte ihr in die Augen.
Sergeant Gabi nahm etwas Lauerndes, leicht Bedrohliches wahr, was darauf hindeuten konnte, in welche Richtung dieses Gespräch verlaufen würde.
Sie schwieg.
„Sagen wir es einmal so: Durch Ihr selbstgerechtes Handeln im Polizeieinsatz, Aktennummer ID 598, ist Ihre Kollegin Sergeant Maggi allein durch Ihre Schuld tödlich verwundet worden.“
„Sie hätten nicht eigenständig handeln dürfen bei der Geiselnahme und das Leben Ihrer langjährigen Kollegin nicht aufs Spiel setzen dürfen.“
Sergeant Gabi vermied es, Augenkontakt zu halten.
Und schaute zu Boden, was die Situation noch unerträglicher machte.
„Dies soll kein Verhör sein, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ein solches egoistisches Verhalten kann ich in meiner Behörde nicht gebrauchen.“
„Infolgedessen werde ich Sie aus dem Morddezernat abziehen und suspendieren.
Und zwar in einer niedrigeren Abteilung in der Verwaltung.
Wo Sie getrost Akten sammeln können und alte Fälle bearbeiten.“
„Außerdem obliegt es meinem ausdrücklichen Wunsch,
dass Sie den Sitz in der Asservatenkammer übernehmen.
Wenn Sie wissen, was damit gemeint ist.“
„Dort, wo beschlagnahmtes Material von Polizeieinsätzen –
Wie Drogenfunde oder Bargeld – dokumentiert und sichergestellt wird.“
„Haben wir uns verstanden?“
Sagte sie noch etwas barsch hinterher und schnalzte dabei mit der Zunge.
Sergeant Gabi sah in das entschlossene Gesicht ihrer Leiterin und wusste,
dass sie keine Widerrede duldete.
Sie würde ein ärmliches Dasein in der Verwaltung fristen und in der Asservatenkammer, was ein Todesurteil für ihre
weitere Laufbahn gleichkam.
Innerlich fluchte sie leise.
Ließ sich aber nichts anmerken und nickte mit dem Kopf.
„Dann war es das jetzt.
Ihr Dienstbeginn in der unteren Abteilung beginnt mit dem nächsten Tag.
Dort wird man Sie einweisen in Ihre neue Tätigkeit.
Die überschaubar sein sollte.“
„Noch einen schönen weiteren Tag, Sergeant Gabi.“
Ohne sie nochmals anzublicken, verließ Sergeant Gabi wie ihr geheißen das Büro durch die Tür nach draußen. „Was für ein beschissener Tag“, dachte sie,
als der plötzlich auftauchende Regen sie auf dem harten, grauen
Asphalt des Parkplatzes überraschte und ihr das Haar ins Gesicht wehte.
Eilig zog sie die Kapuze ihres Mantels hoch und eilte zu ihrem Auto, das etwas abseits stand.
Die Scheiben des kleinen roten Fiats, Baujahr 1980, waren tief beschlagen.
Und sie musste den Motor eine Weile warm laufen lassen unter den kalten, spätherbstlichen Temperaturen. Dann drehte sie das Radio auf,
welches auf einem der lokalen Oldie-Sender der Kleinstadt einen
Song von Rod Stewart spielte und sie an bessere Zeiten erinnerte.
Auf dem Wellblechdach des Autos vernahm sie das tausendfache Trommeln der Regentropfen. Die Musik aus dem Radio untermalte ihre Stimmung, als sie auf die Landstraße einbog, Richtung Zuhause.
Emily, ein vierzehnjähriges Kind mit blonden, schulterlangen Haaren und einer Schleife im Haar, gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss am Frühstückstisch, als sie sich morgens zur Schule aufmachte.
Ihre Mutter Claudia hatte ihr eine Brotbox mit frischem Obst und Gemüse fertiggestellt und in ihren Schulranzen verstaut, neben all den Mathematik- und Schreibheften.
Sie hatte Mathematik in der vierten Stunde, und sie hasste dieses Fach.
Weil sie am Jahresende immer eine schlechte Note bekam.
Es war das einzige Fach, in dem sie fast durchfiel. Und es lag wie ein dunkler Schatten auf ihrem Zeugnis, wenn die schwarz gedruckte Vier auftauchte.
Wie immer gab es eine Diskussion warum und wieso.
Doch über all die Jahre blieb die schlechte Note und veränderte sich nur unwesentlich.
Emily freute sich dennoch auf die Schule heute und vor allem auf Sport in der ersten Stunde.
Sie war eine begeisterte Turnerin und am Reck eine der Besten, wenn sie eine Rolle machte oder sich an der Stange nach oben zog.
So machte sie sich auf den Schulweg.
