Der Puppenspieler - Samuel Zehendner - E-Book

Der Puppenspieler E-Book

Samuel Zehendner

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Beschreibung

Der neue Intendant aus Berlin hat große Pläne für das Tübinger Theater. Als er Theatersport vom Spielplan streicht, rastet die Spielleiterin Siggi von Schnackenberg aus. Kurz darauf wird Intendant Zachersky ermordet in seinem Büro aufgefunden - erschlagen mit seiner FAUST-Trophäe. Siggi beauftragt ihren Musiker Elmar Arnold und den Wagenburg-Detektiv Beppo Vogel, ihre Unschuld zu beweisen. Was verschlägt einen gefeierten Regisseur wie Zachersky überhaupt nach Tübingen? Warum hatte Zachersky kurz vor seinem Tod beinahe alle Mitarbeiter entlassen? Und, ... können die beiden der Spielleiterin überhaupt trauen? Beppo Vogels zweiter Fall führt das ungleiche Ermittlerteam immer tiefer hinein in die Vergangenheit zu einem dunklen Geheimnis, das sich in den alten Archiven der Staatssicherheit verbirgt.

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Samuel Zehendner,

Jahrgang 1984, lebt seit 2003 in Tübingen. Er steht regelmäßig als Schauspieler mit Theatersport auf der Bühne, ist Lehrer, Ehemann und Vater dreier Töchter. Außerdem schreibt er. Sein Debütroman mit dem ungleichen Ermittlerteam Elmar Arnold und Beppo Vogel erschien 2015 unter dem Titel »Ausgespielt«.

Samuel Zehendner

Der Puppenspieler

Ein Schwaben-Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2018Postfach 1642 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © canstockphotos Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenAutorenbild: Fani Fazii Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-016-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Prolog

Das entsprach nicht seinem Plan. Wieder und wieder öffnete er die Schubladen, eine nach der anderen, obwohl er um die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens bereits wusste. Das war nicht möglich. Er ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und starrte auf die Scheibe. Manchmal erschrak er vor seinem Spiegelbild, vor diesem Mann mit dem kahlrasierten Schädel, der ihm da entgegenstarrte. Klein, mit Tränensäcken unter den Augen, auf dem riesigen Sitzmöbel zusammengesunken, die Kleidung schwarz wie in der Kunstszene üblich. Das neutrale Schwarz hatte er sich bereits vor Jahren angewöhnt. Es machte den Kopf frei für das Wichtige. Das Elementare. Was seine äußere Erscheinung anging, war er nie eitel gewesen. Aber dieses verwitternde Männchen im Spiegel; konnte das wirklich er sein? Für einen Augenblick war ihm, als ob ihn jemand von draußen beobachtete.

Er mochte sein neues Büro nicht. Er hasste Fenster ohne Vorhänge, seit er lernen musste, dass manche Wände Ohren und die Dunkelheit Augen haben konnten. Aber er hatte seinen Posten hier in Tübingen so überstürzt angetreten, dass er noch keine Zeit gefunden hatte, sich um Vorhänge zu kümmern. Jetzt bereute er das. Er fühlte sich ausgeliefert. Langsam stand er auf, um das Fenster zu öffnen.

Im Innenhof davor war niemand, durch das spitzgiebelige Glasdach schimmerte das Licht des darunterliegenden Theaterfoyers herauf. Er wusste ja, dass sie alle unterwegs waren auf Abstechern, wo sie Stücke spielen würden, die er noch von seinem Vorgänger ererbt hatte. Das Landestheater war leer. Er wusste, man erwartete von ihm als neuem Intendanten, sich dort sehen zu lassen. Es wäre üblich gewesen, den Honoratioren vor den Kameras die machtverliebten Hände zu schütteln, Kunst musste sich mit Politik umgeben, wenn sie auch morgen noch finanziert werden wollte. Das alles wusste er. Aber er hatte Wichtigeres zu tun. Er verlor seine Zeit.

Immer noch stand er am Fenster. Die kühle Luft, die von draußen hereinströmte, tat wohl, beruhigte ihn aber kaum. Die Wut kochte zu heftig in ihm. Was waren die nächsten Schritte?

Er spürte, dass die Kraft aus ihm rann wie Sand durch die Verengung einer Sanduhr. Seit Monaten schon. Seine Körner waren gezählt. Wieder wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er sie nicht würde aufhalten können. Was er vorhatte, musste schnell geschehen.

Es klopfte an die Tür. Seine schöne Sekretärin wahrscheinlich. Sie würde sich zum Feierabend abmelden wollen. Weil er hoffte, dass es gegen seine Wut helfen könne, knetete er sich die Muskeln zwischen Daumen und Zeigefinger, bis es wehtat. Er wollte keinen Menschen sehen. Unter keinen Umständen.

Die Menschen. Wie falsch sie waren. Egoistisch. Kleingeister. Mochte die Fassade noch so edel sein. Freundschaft, Liebe, Mitgefühl, Reue – das waren auch nichts weiter als schlechte Masken, die die Menschen sich vor die eigene Selbstsucht hielten. Am Ende taten sie das, was ihrem eigenen Vorteil diente. Er hatte es erfahren müssen, auf bitterste Art und Weise. Wieder und wieder. Nun war es genug.

Es klopfte ein zweites Mal. Diesmal fordernder. Warum ging sie denn nicht einfach?

Zu diesem Zeitpunkt hatte er nur noch drei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden zu leben.

Noch hatte Elmar keinen Grund gefunden, den Sonnenschirm in die Abstellkammer hinunterzutragen; noch war es warm genug für die Basilikumpflanzen, die sich vor dem gusseisernen Geländer den letzten Sonnenstrahlen entgegenreckten; noch saß man gut hier oben, auch wenn der Wind schärfer wurde und er sich eine Fleecejacke übergezogen hatte, bevor er zu seinem Dachbalkon hinaufgestiegen war. Schmale Nebelfäden hingen über der Platanenallee auf der anderen Seite des Neckars, als hätte sich der Rauch aus seiner Gauloises ins Unendliche verlängert. Wie immer ein erhebender Anblick.

Die Marschmusik der französischen Blaskapelle, die in diesem Augenblick aus den Gassen der Altstadt heraufschallte, erinnerte Elmar an sein Rendezvous. Als Musiker hätte er auf diese Untermalung verzichten können, allzu eingängig waren die Rhythmen der Combo, aber sie gehörten in Tübingen ebenso zum Ende des Sommers wie die Invasion der Erstis auf der Wilhelmstraße. Elmar steckte Zigaretten und Feuerzeug in seine Jeanstasche, um sich auf den Weg die vielen Treppenstufen nach unten zu machen. Tinka hatte darauf bestanden, dass er am Stand vorbeikommen sollte, an dem sie auch dieses Jahr Entenconfit und Cuvées aus dem Lubéron verkaufte.

In der Altstadt war bereits die Hölle los. Der Umbrisch-Provenzalische Markt war seit Jahren ein Magnet für Menschen, die sich beim Flanieren zwischen Käseständen, Kunsthandwerkbuden und Lavendelgeruch der Illusion hingaben, die warme Jahreszeit möge niemals enden. So nah das Reich des ewigen Sommers – und gleichzeitig so fern.

Der Stand, an dem Tinka wie jedes Jahr aushalf, befand sich direkt unterhalb der Stiftskirche auf dem Holzmarkt. Sie stand hinter der Theke und bediente gerade zwei Damen mittleren Alters.

»Vom Ratatuuui brauchet Se net so viel druff mache«, befahl die Dickere, die rechte Hand stramm unter den Henkel ihrer Handtasche geklemmt. »Des hendma au dahoim.«

Ihre Begleiterin nickte würdevoll, bevor sie hinzufügte:

»Mir nehmet lieber noch ebbes mehr von der Ente.«

Elmar sah das Unwetter in Tinkas Augen grollen.

»Pro Portion nur ein Schlegel«, zischte sie, schluckte ihren Ärger jedoch herunter, als sie Elmar bemerkte.

Ehe er es sich versah, hatte sie ihn am Kragen seines offenen Hemdes über den Tresen zu sich herangezogen, um ihm ihre Zunge derart tief in den Rachen zu schieben, dass den beiden Damen im Angesicht der ungebändigten Leidenschaft Hören und Sehen vergehen musste. So was hatten sie mit Sicherheit auch nicht »dahoim«. Wortlos verzogen sie sich mit ihren Porzellantellern an einen der Stehtische vor dem Stand.

Elmar spürte, wie sich Tinka während ihrer Knutschorgie langsam entspannte. Als sie ihn schließlich freigab, atmete er auf, der Wutausbruch war gebannt; fürs Erste zumindest.

Hätte man ihm damals, vor etwas mehr als einem Jahr, erzählt, dass seine Affäre mit dem Blumenmädchen aus der Wagenburg nicht mit dem Sommer dahinwelken würde, hätte er nur lachend abgewinkt. Tinka war anders, anders als alle Frauen, mit denen er sonst etwas angefangen hatte, eigentlich auch anders als seine sonstigen Bekannten. Aber trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb zog sie ihn immer wieder in ihren Bann. Sie waren kein Paar im engeren Sinne, vielmehr vermieden sie tunlichst, genauer zu definieren, was das zwischen ihnen eigentlich war. Bisher gefiel es ihnen beiden jedoch zu gut, um es zu beenden. Nur ihre Gefühlsausbrüche, die hatte er regelrecht fürchten gelernt.

»Und du«, fragte sie ihn mit einem spitzbübischen Grinsen, »Ratatouille zur Ente?«

»Gib mir ordentlich«, sagte Elmar, »Entenschlegel im eigenen Fett einlegen kann ich auch selbst.«

»Alter Angeber«, lachte Tinka und zog ihre Schürze aus, »ich mache Pause und esse mit dir. Valérie, est-ce que tu peut assumer?«

Die Besitzerin des Standes nickte, Tinka füllte zwei Portionen ab, schnappte sich eine Flasche Wein und zwei Gläser und kam, Elmar konnte nur staunen, wie geschickt sie sich dabei anstellte, um den Tresen herum, um sich zu ihm an den leicht abschüssigen Stehtisch zu stellen.

»Freut mich, dass ich dich auch mal zum Essen einlade«, sagte sie, während sie die Gläser füllte, »schöne Abwechslung.«

Sie stockte, als sie bemerkte, dass Elmar sie belustigt anschaute. Dann zog sie den Mund schief und sagte:

»Jaja, ist ja gut. Ich kann die beiden da drüben auch ein bisschen verstehen. Was ändert sich hier? Absolut nichts. Seit Jahren derselbe Trott, kleinstädtische Idylle tagein, tagaus. Und Fachwerk.«

»Immerhin ist gerade der Umbrisch-Provenzalische Markt«, warf Elmar ein. Er wusste nur zu gut, wie schnell Tinkas Laune wieder kippen konnte.

»Ist doch auch jedes Jahr dasselbe«, sagte Tinka dumpf. »Dieselbe Kapelle, dasselbe Confit und ich möchte wetten, dass die beiden auch nächstes Jahr wieder hier ihren Schlegel futtern, um sich vom heimischen Sauerbraten zu erholen.«

Tinka nahm einen tiefen Schluck Wein. Nachdenklich betrachtete sie das Glas, auf dem ein Comic mit knutschenden Fischen vor einer Sonnengrimasse abgedruckt war.

»Ich korrigiere mich«, sagte sie pathetisch, »jedes Jahr bekommen die Weingläser auf dem Umbrischen Markt ein neues Motiv! Na dann: A votre santé!«

»Willst du gar nicht wissen, wie mein Gespräch mit dem neuen Intendanten gelaufen ist?«, fragte Elmar.

»Doch natürlich. Schieß los!«

Bevor er antwortete, steckte Elmar sich ein Stück der hauchzarten Ente in den Mund, wo er sie lange mit der Zunge hin- und herbewegte, um sich auch nicht das kleinste bisschen Aroma entgehen zu lassen. Tinka trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte.

»Jetzt sag schon, Elmar!«

»Na ja … einen Vertrag habe ich noch nicht, aber eine mündliche Zusage, dass ich für seine nächste Inszenierung Bühnenmusik komponieren soll.«

»Für welches Stück?«, fragte Tinka wie gebannt. »Elmar, jetzt lass dir doch nicht jede Information aus der Nase ziehen.«

»Der Besuch der alten Dame von Dürrenmatt.«

»Mensch, Elmar, ein Engagement beim Zachersky. Das ist ja mal ein echter Hammer.«

»Zugegeben, eine andere Liga. Immerhin hat der Zachersky europaweit praktisch an jedem Haus von Rang und Namen inszeniert.«

»Weiß man mittlerweile, warum er sich ausgerechnet auf die Intendantenstelle ans Tübinger Landestheater beworben hat?« Seufzend schaute sie zu den beiden Damen hinüber, die gerade dabei waren, die letzten Fleischfasern von den Knochen zu nagen. »Ich meine, Tübingen, come on. Was will einer wie der hier bei uns in der schwäbischen Provinz?«

»Solange ein Engagement für mich dabei herausspringt, ist mir das eigentlich herzlich egal. Ich mache wirklich gerne die Begleitung bei Theatersport, aber auf Dauer schmerzt das Improvisieren mit Menschen, die weniger musikalisch sind als ich.«

»Du verkanntes Genie.«

»Was willst du denn damit sagen? Bist du etwa neidisch?«

»Ach was«, sagte sie, »obwohl … in deinem Leben passiert wenigstens etwas. Das einzig Aufregende in meiner nächsten Woche ist die Abschiedsparty von Conny, die jetzt nach Freiburg zieht. Nicht gerade erhebend.«

»Du könntest dein Studium zu Ende bringen.«

»Iss deine Ente, Elmar!«

Während Tinka sich demonstrativ ihrem Teller widmete, ließ Elmar den Blick über die Menschen schweifen, die an ihnen vorbeiströmten. Hemdkrägen, aber keine Anzüge, die Männer mit Hornbrillen, leger um den Hals geschlungene Schals, viel Schwarz, als bunte Tupfer hier und da Halstücher der Tübingerinnen. Der Markt war wie gemacht für die Bewohner der Universitätsstadt, das Angebot war erlesen, die Preise waren happig und außerdem musste man schon mindestens das Abitur in der Tasche haben, um mit den auf Schiefertafeln ausgewiesenen Gerichten überhaupt etwas anfangen zu können, geschweige denn sie beim Bestellen korrekt auszusprechen. Auf dem Umbrischen blieben die Bildungsbürger unter sich. Die Studenten, die auf den Stufen vor der Stiftskirche billigen Wein aus Pappbechern tranken, waren ein stimmungsvoller Kontrast, der das eigene Savoir-vivre noch heller strahlen ließ.

Ein pummeliger Mann fesselte Elmars Aufmerksamkeit, der mit der Zielsicherheit eines Torpedos durch den träge dahingleitenden Menschenstrom pflügte. Sein Cordjackett, das vor langer Zeit auch in der Bauchgegend gepasst haben musste, trug er offen, um den Hals einen gestreiften Schal, auf dem Kopf einen ausgebeulten Borsalino. In ebendiesem Augenblick rammte er einen älteren Herrn, der nicht rechtzeitig zur Seite sprang und vor Schreck sein Weinglas fallen ließ. Zwei knutschende Fische und ein Sonnenuntergang zerbarsten in tausend Teile.

»Bring dich in Sicherheit«, lachte Elmar zu Tinka hinüber, »dein Privatdetektiv ist im Landeanflug.«

»Mein Privatdetektiv?«, gab sie zurück. »Wohl eher dein Privatdetektiv, wenn ich an eure gemeinsame Mordermittlungen letztes Jahr zurückdenke.«

»Aber du bist seine Nachbarin.«

»Nur weil wir beide auf demselben Wagenplatz wohnen, erhebe ich noch lange keine Besitzansprüche auf ihn. Aber – du hast recht, heute Abend habe ich ihn eingeladen. Wir haben uns lange nicht zu dritt getroffen. Da ist er ja auch schon. Grüß dich, Beppo.«

Etwas außer Atem ließ der kleinere Beppo Tinkas Umarmung über sich ergehen, schüttelte Elmar abwesend die Hand, bevor er lange den Inhalt ihrer Teller beäugte. Elmar schmunzelte. Er wusste, dass Beppo jeder Sinn für kulinarische Raffinessen vollständig abging.

»Gibt es vielleicht auch was … Normales«, fragte der Privatdetektiv kleinlaut, »so was wie Spätzle zum Beispiel? Oder Maultaschen.«

»Das hast du doch auch zu Hause«, sagte Tinka mehr als eine Spur zu laut. Sie lachte.

Bevor Elmar ebenfalls einen Kommentar einwerfen konnte, spürte er das Smartphone in seiner Tasche vibrieren. Überrascht erblickte er die Nummer von Siggi von Schnackenberg auf dem Display, die Spielleiterin des Improvisationstheaters, in dem Elmar seit vielen Jahren als Musiker auftrat.

»Musst du da jetzt rangehen?«, maulte Tinka, aber Elmar wiegelte mit einem genuschelten »Könnte wichtig sein!« ab.

Als er wenig später das Smartphone sinken ließ, blickten Beppo und Tinka ihn erwartungsvoll an.

»Ich muss zur Krisensitzung zu Siggi nach Hause«, sagte er knapp, »Intendant Zachersky hat die Zusammenarbeit mit dem Teatro Arlecchino beendet.«

Die Spielleiterin des Teatro Arlecchino hatte sie ohne große Begrüßungsfloskeln in ihre Dreizimmerwohnung gebeten. Beppos Anwesenheit kommentierte Siggi nicht weiter und er, Elmar, befand es nicht für nötig, dessen Hiersein zu erklären. Tinka war zu träge gewesen, um mitzukommen, aber Beppo hängte sich wie eine Klette an ihn, als wittere er hinter dem Anruf der Spielleiterin einen neuen Fall. Elmar wusste, dass Siggi Beppo nicht sonderlich gut leiden konnte. Zwar hatten der Musiker und der Privatdetektiv tatsächlich erfolgreich den Mörder von Patrick, einem Ensemblemitglied Elmars, gestellt, jedoch hatte Siggi Beppo nie völlig verziehen, dass sie bei dieser Recherche die meiste Zeit die Liste der Verdächtigen angeführt hatte.

Auf dem Couchtisch aus verschraubten Weinkisten stand eine Kaffeetasse voller Schokoladenpapierchen. Einige waren bereits gewandert, über den Rand bis auf den Parkettboden, wo sie es sich zwischen einer leeren Chipstüte, herumliegenden Zeichenskizzen und anderem Krempel gemütlich machten. Ordnung war noch nie Siggis Ding gewesen.

»Dieser Lackaffe! Dieser Kulturschnösel!«

Siggi rieb ihre Hände gegeneinander. Die kurz geschnittenen hennarot gefärbten Haare der Spielleiterin standen wirr und feucht von ihrem Kopf ab. Offenbar hatte sie nach dem Duschen keine Zeit mehr zum Föhnen gehabt.

»Er hat uns wirklich abgesägt«, zeterte Siggi und knallte ihre Faust so auf den Tisch, dass die leere Bordeauxflasche einen kleinen Sprung machte.

Zwischen ihren Augenbrauen zog sich eine beinahe senkrechte Zornesfalte hinunter zur Nase. Welche Anstrengungen es doch kostet, böse zu sein, dachte Elmar.

»Siggi«, unterbrach er sie, »fang bitte ganz von vorne an, damit wir verstehen, was überhaupt passiert ist.«

»Heute fand das Antrittsgespräch mit dem neuen Intendanten statt.« Siggi atmete tief durch, bevor sie weitersprach: »Eigentlich ein Routinetermin. Theatersport läuft zu gut, als dass es je ein Tübinger Theaterintendant gewagt hätte, ernsthaft mit dem Teatro Arlecchino zu brechen.«

»Frau Schnackenberg«, sagte Beppo, »so ganz habe ich den Zusammenhang nie begriffen: Ist das Teatro Arlecchino denn nicht ein fester Bestandteil des Landestheaters?«

»Nein, Beppo«, erklärte Elmar, »wir sind eine freie Gruppe, die aber regelmäßig auf den Bühnen des Theaters auftritt.«

»Das ist sogar vertraglich festgelegt«, ergänzte Siggi. »Das Theater erhält einen festgelegten Prozentsatz der Einnahmen unserer Shows und stellt im Gegenzug Technik, Beleuchtung, Einlasspersonal, ist für den Ticketverkauf zuständig und so weiter und so weiter. Für das Theater also eine Einnahmequelle mit wenig finanziellem Aufwand und einem kalkulierbaren Risiko. Aber anscheinend zählen diese harten Fakten nicht bei unserem gefeierten Globetrotter.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte Elmar ungeduldig.

»Der beendet die Zusammenarbeit«, schnaubte Siggi mit zusammengebissenen Zähnen, »sortiert uns aus. Ende der Fahnenstange.« Sie ballte ihre Fäuste. »Aber was erwartest du von jemandem, der vom deutschen Bühnenverein geadelt worden ist. Kaum funkelt der ›Faust‹ auf dem Schreibtisch, glauben diese überdotierten Intellektuellen, die ganze Welt tanze nach ihrer Pfeife. Als ich diesen legendären ›Faust‹ heute in der Hand hatte, habe ich ihn mir genau angeschaut. Soll ich dir etwas sagen? – Er ist innen hohl. Genauso hohl wie der Zachersky.«

Sie lachte trocken. Immer mehr glichen sich ihre Gesichtszüge den Fabelwesen an, die die Besucher aus allen Ecken des Zimmers anglotzten. Trolle, Kobolde, Froschmenschen und Nachtalben, von der Hausherrin persönlich gezeichnet, wie Elmar wusste. Ein Werk ihrer Fantasie oder ein Spiegel ihres wahren Innenlebens?

»Intendant Zachersky wollte also die Verträge mit dem Teatro Arlecchino nicht verlängern?«, fragte Beppo nüchtern.

»Theatersport ist ihm zu klamaukig. Eine solche Juxveranstaltung will er nicht weiter unterstützen …«

»Hast du Zachersky nicht erklärt, dass Theatersport am Landestheater eine Tradition hat, die man nicht einfach ausradieren kann?«, fragte Elmar. »Das ist er unserem Stammpublikum schuldig.«

»Worauf du einen lassen kannst, aber …« Siggi tippte sich gegen die Stirn, während sie weitersprach: »… meterdickes Holz. Ein Sturkopf, wie er im Buche steht.«

»Siggi«, begann Elmar vorsichtig, »du hast dich doch nicht wieder im Ton vergriffen?«

Siggi wies Elmars Vorwurf mit einer Handbewegung weit von sich.

»Ach was, Elmar«, schnaubte sie, »du kennst mich.«

»Eben, Siggi! Deshalb frage ich ja.«

»Also hör mal! Ich habe ihm ganz sachlich erklärt, dass wir so nicht mit uns umspringen lassen, ganz sachlich, wie es meine Art ist. Aber durch diesen Dunst aus Selbstverliebtheit dringt man nicht mit objektiven Argumenten.«

»Ist Theatersport am Landestheater also damit gestorben?«, fragte Elmar, der es immer noch nicht fassen konnte. »Vielleicht kann ich ja noch mal an seine Vernunft appellieren.«

»Vergiss es«, lachte Siggi trocken. »Wenn es um sein Ego geht, ist Zachersky ein knallharter Hund. Dafür geht er über Leichen.«

»Ich finde, du urteilst zu schnell«, widersprach Elmar. »Als ich heute Mittag bei ihm war, wirkte er auf mich ganz umgänglich.«

»Du warst auch bei ihm?«

»Ja, Zachersky hat mich für die musikalische Mitarbeit unter seiner Regie angefragt«, antwortete Elmar und verschränkte die Arme. Siggis Unterton gefiel ihm nicht.

»Elmar! Du wirst in keiner Produktion unter Zachersky mitarbeiten!«

»Warum denn nicht, Siggi? Nur weil du …«

»Weil ich es nicht dulde, wenn einer meiner Mitarbeiter diesem dahergelaufenen Geck auch noch in den Allerwertesten kriecht, nachdem er uns vor die Tür gesetzt hat, darum!«

»Siggi, es ist immer noch meine Entscheidung, für wen ich …«

»Elmar, mit dem Zachersky wird nicht mehr diskutiert«, sagte Siggi mit der Endgültigkeit einer fallenden Guillotine, »mit dem sind wir fertig. Selbst wenn er auf Knien angekrochen kommt und mich um Verzeihung anflehen würde, mein Entschluss steht fest. Es gibt genug Bühnen in der Region, die wissen, was sie an Theatersport haben.«

Es schellte im Flur. Dankbar für die Unterbrechung, die ihr das letzte Wort sicherte, stemmte sich Siggi aus ihrem Sessel und stapfte aus dem Wohnzimmer. Beppo und Elmar warfen sich vielsagende Blicke zu.

»Schon mal über Meuterei nachgedacht?«, wisperte Beppo, aber Elmar winkte ab.

»Das ist ihr Temperament. Sie beruhigt sich wieder.«

Im Flur musste Siggi die Tür geöffnet haben, denn eine knurrige Männerstimme schallte herüber. Siggi antwortete, ohne dass sie etwas verstanden. Dann wieder die Männerstimme. Irgendetwas an diesem brummigen Bass kam Elmar seltsam bekannt vor. Mit einem Mal saß Beppo kerzengerade auf seinem Sessel. Wer war das da im Flur?

»Elmar, wir müssen hier verschwinden«, sagte Beppo hastig.

Kaum gesagt, zerrte er den Musiker auch schon mit sich durch die Flügeltüren, die in das Nachbarzimmer führten, in dem Siggis Bett stand. Vorsichtig schloss er sie hinter sich, ohne das Licht anzuschalten. Elmars Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit.

»Warum verstecken wir uns?«, flüsterte er, aber Beppo legte nur mit Nachdruck seinen Zeigefinger auf die Lippen und tippte auf seine Ohren, denn jetzt betraten die anderen das Wohnzimmer.

»Haben Sie Besuch, Frau von Schnackenberg?«, fragte die Reibeisenstimme.

Zum Glück sprach er laut genug, sodass man ihn durch die geschlossenen Türen problemlos verstehen konnte.

»Wie Sie sehen, ist niemand in meinem Wohnzimmer.«

Elmar konnte die Verwunderung in Siggis Stimme deutlich hören, ebenso den Plumps, mit dem sie sich jetzt auf ihren Sessel fallen ließ.

»Dürfte ich erfahren, warum die Polizei mich zu so später Stunde mit einem Hausbesuch beehrt? Habe ich die Nachtruhe meiner Nachbarn gestört, Kommissar Baumann?«

Axel Baumann, Beppos ehemaliger Vorgesetzter beim Tübinger Kriminalkommissariat. Deswegen also dieses Versteckspiel. Elmar hätte beinahe laut gelacht. Kommissar Baumann war alles andere als gut auf den Privatdetektiv zu sprechen, nachdem der ihm im letzten Jahr in die Parade gefahren war. Nicht nur hatte Beppo einen Mörder überführt, vielmehr hatte die Kripo den Mord selbst gar nicht als einen solchen erkannt. Als er Kommissar Baumann den Täter präsentierte, war er doppelt brüskiert worden. Vermutlich wirklich besser, wenn er den Privatdetektiv hier nicht entdeckte.

»Frau von Schnackenberg, Sie waren heute Abend bei Intendant Zachersky im Büro?«

»Ja, wir hatten eine Besprechung«, antwortete Siggi.

Worauf wollte Kommissar Baumann hinaus? Wenn der Chef der Kripo persönlich erschien, konnte es sich kaum um einen Routinebesuch handeln, noch dazu um diese Zeit. Auch sein Tonfall verhieß nichts Gutes.

»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie das Theater verlassen haben?«

»Ich bin nach Hause gegangen«, sagte Siggi.

Elmar hörte, dass sie jedes Wort sorgfältig abwog. Kommissar Baumanns bedrohlicher Unterton schien also auch ihr nicht entgangen zu sein.

»Kann das jemand bezeugen?«

»Mein Mitarbeiter, Elmar Arnold. Er ist kurz vor Ihnen gegangen.«

Das war glatt gelogen. Nicht auszudenken, wenn der Kommissar die Tür öffnete und sie hier entdeckte.

»Und dieser Mitarbeiter war den ganzen Abend bei Ihnen?«

»Warum fragen Sie mich das alles, Herr Baumann?«

»Ich kann Sie auch vorladen, wenn Sie sich nicht kooperativ zeigen«, polterte Kommissar Baumann. »Es geht hier schließlich um einen Mord!«

Ein Mord? Elmar spürte, wie sich Beppo neben ihm näher auf die Türflügel zubewegte, um auch ja keine Kleinigkeit zu verpassen. Wenn er sich bloß nicht anlehnte. Jedes noch so kleine Knarzen könnte sie verraten.

»Ein Mord?«, hörten sie jetzt auch Siggi verdutzt fragen. »Wer ist denn ermordet worden?«

»Hagen Zachersky«, antwortete Baumann, »der neue Intendant an Ihrem Theater. In seinem Büro.«

Dann herrschte erst einmal Stille auf der anderen Seite der Tür. Totenstille.

»Möchten Sie ein Taschentuch?«, fragte eine weibliche, deutlich jüngere Stimme.

Kommissar Baumann war also nicht alleine. Siggi antwortete nicht. Zumindest hörten sie nichts.

»Es tut uns leid«, fügte die Stimme der Polizistin noch hinzu.

Aber Kommissar Baumann war wohl der Meinung, dass jetzt genug Zeit mit Gesten der Menschlichkeit verschwendet worden waren.

»Um was ging es in Ihrem Streit mit Zachersky?«, fragte er ohne Umschweife.

»Gestritten würde ich das jetzt nicht nennen«, wich Siggi aus, »eher eine Auseinandersetzung wegen künstlerischer Differenzen.«

»Man hat Sie bis draußen brüllen hören.«

»Ja natürlich, Kunst ist meine Leidenschaft«, gab Siggi zu, »da vergreife ich mich schon mal im Ton. Aber das hat nichts zu bedeuten.«

»Weichen Sie nicht aus, warum haben Sie gestritten?«

»Intendant Zachersky stellte die Kooperation mit unserem Theater infrage. Aber Streit würde ich das trotzdem nicht ne…«

»Sie haben den Intendanten einen blutigen Schwanzkopf genannt«, fuhr Kommissar Baumann dazwischen. »Außerdem«, die nächsten Worte las er anscheinend von einem Notizzettel ab, »einen überdotierten Sesselfurzer, einen verbohrten Elfenbeinturmnazi und einen skrupellosen Faschisten. Und dann haben Sie ihm gedroht, dass Sie dafür sorgen würden, dass er seinen Posten verlieren würde. Das ist kein Streit, das ist Eskalation.«

»Woher wissen Sie das alles so genau?«, fragte Siggi entrüstet.

»Netter Versuch, Frau von Schnackenberg«, sagte Baumann lachend, »als wenn ich Ihnen meine Quellen offenlegen müsste. Für heute haben wir genug von Ihnen gehört, halten Sie sich uneingeschränkt zur Verfügung, falls wir Sie zu einer weiteren Vernehmung vorladen müssen.«

Beppo und Elmar warteten mit angehaltenem Atem auf das Davonrauschen des Polizeiautos. Der Privatdetektiv unterbrach die Stille als Erster.

»Bei euch am Theater ist ja mal wieder mächtig was los«, flüsterte er.

»Wie schaffst du es eigentlich, Beppo, immer genau am richtigen Ort zu sein?«

»Intuition«, mutmaßte der Privatdetektiv, »oder Karma. Ich habe gespürt, dass bei dem Treffen was für mich rausspringen würde. Und wie du siehst: ein neuer Fall. Tatata.«

Stolz klopfte er sich gegen den Brustkorb und öffnete vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer. Siggi war verschwunden. Aus dem Bad rauschte leise das Wasser, das sie sich vermutlich literweise ins Gesicht schaufelte. Sie setzten sich, um zu warten. Beppo streckte sich auf dem Sessel wie eine Katze, die sich auf die Jagd vorbereitet.

»Ich bin schon etwas eingerostet, was die Mordermittlungen angeht«, sagte er und stopfte sein Hemd zurück, das aus der Hose gerutscht war. »Wo fangen wir denn an? Am Theater oder in Zacherskys Wohnung?«

»Mein Gott, Beppo, lass Siggi doch erst mal zu sich kommen. Und außerdem: Wer hat denn etwas von wir gesagt?«

»Ach so, ich dachte nur, weil wir beide letztes Jahr …«

»Hast du gerade zugegeben, dass du gerne mit mir zusammenarbeitest?«

»Na ja, gerne ist vielleicht etwas übertrieben.« Beppo rutschte auf seinem Sessel hin und her. »Aber du musst zugeben, dass wir es gemeinsam ziemlich weit gebracht haben. Weiter, als jeder für sich alleine je gekommen wäre.«

Im Flur ging die Badezimmertür. Noch bevor Siggi ins Wohnzimmer zurückgewankt kam, schnitt Beppo Elmar mit einer deutlichen Kopfbewegung das Wort ab. Es war besser, wenn er jetzt das Gespräch übernahm.

»Frau Schnackenberg«, fragte der Privatdetektiv mit einer ebenso deutlichen Geste in Elmars Richtung, »geht es Ihnen etwas besser?«

»Da seid ihr ja wieder«, sagte Siggi, ohne überrascht zu klingen. »Wart ihr im Schrank?«

Die winzige Frau versank in dem riesigen Sitzmöbel und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Es bekommt eine tragische Routine: Jedes neue Jahr bringt eine neue Mordverdächtigung gegen mich. Ich bin verflucht!« Sie starrte an der leeren Weinflasche vorbei ins Zimmer. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Dass ich aber auch ausgerechnet heute zum Termin in sein Büro gegangen bin.«

»Ich bin mir sicher, dass die Polizei den Fall objektiv und professionell lösen wird«, sagte Elmar. »Die haben doch bestimmt aus den Fehlern der letzten Ermittlung ihre Konsequenzen gezogen.«

Beppo grunzte nur. Wie professionelle Polizeiarbeit in der Tübinger Polizeidirektion aussah, hatten sie alle zu ihrem Leidwesen erfahren müssen. Und Baumanns Auftritt machte nicht gerade Hoffnung, dass es diesmal anders laufen würde.

»Wo ist eigentlich das Problem?«, fragte Elmar. »Warum sollten sie dich verdächtigen?«

»Weil es naheliegend ist«, blaffte Siggi zurück. »Weil ich ein Motiv habe. Ich könnte ihn ja umgebracht haben, um Theatersport zu retten.«

»Das ist doch absurd.«

»Man weiß nie«, sagte Siggi. »Und dass ich laut geworden bin, muss ich zu meiner Schande bestätigen. Seine Sturheit hat mich wahnsinnig gemacht.«

»Wenn du dir sonst nichts vorzuwerfen hast, Siggi«, versuchte Elmar sie zu beruhigen, »dann hast du auch nichts zu befürchten.«

»Sie haben sich doch nichts vorzuwerfen, Frau Schnackenberg?«, fragte Beppo jetzt auch noch mit Nachdruck.

Der Spielleiterin blieb der Mund offen stehen.

»Beppo«, ging Elmar dazwischen, »dieses Thema haben wir doch letztes Jahr zur Genüge ausdiskutiert.«

»Haben Sie oder haben Sie nicht, Frau Schnackenberg?«

Beppo knabberte an seinen Fingernägeln.

»Ich muss das fragen«, sagte er zu Elmar. »Bevor wir weitermachen, sollten wir genau bedenken, was eigentlich vorgefallen ist; was gegen Frau Schnackenberg verwendet werden könnte.«

Siggi antwortete, ohne Beppo anzusehen.

»Nichts! Absolut nichts, was ich bereue. Und ich habe ihm auch nicht gedroht. Das habe ich wirklich nicht.«

Beppo nickte. Fürs Erste schien ihm das zu genügen.

»Es scheint Sie also jemand angeschmiert zu haben«, kombinierte er. »Jemand hat Ihren Streit mitbekommen, davon der Polizei berichtet und kurzerhand ein paar kleine Details dazu gedichtet. Dieser Jemand muss sich in der unmittelbaren Nähe befunden haben, immerhin konnte Baumann Sie wörtlich zitieren.«

Siggi überlegte.

»Im Grunde kann es nur jemand im Vorzimmer des Intendantenbüros gewesen sein. Jemand muss auf der anderen Seite der Tür gestanden haben.«

Elmar nickte. Wie gut Gespräche auch von der anderen Seite einer Tür zu verstehen waren, hatten Beppo und er ja gerade selbst erlebt.

»Und wer könnte das gewesen sein?«

»Dort hat Virginia ihren Schreibtisch, die Sekretärin«, sagte Siggi. »Sie hat mich zu Hagen geführt, als ich ankam.«

»Aber die Sekretärin hätte doch auch gesehen, dass Sie das Büro nach dem Streit wieder verlassen haben.«

»Soweit ich mich erinnere, saß sie nicht an ihrem Platz, als ich rausstürmte«, überlegte Siggi. »Ich kann mich aber auch täuschen. Ich war etwas aufgewühlt.«

»Würde Virginia denn solche Lügen über dich erzählen?«, fragte Elmar. »Immerhin ist sie seit Jahren unsere Ansprechpartnerin am Theater.«

»Virginia war immer loyal. Ein Glücksfall, dass Zachersky sie nach seinem Amtsantritt übernommen hat.« Siggis Augenbrauen schnellten nach oben. »Wisst ihr was, sie wohnt in der Nähe. Ich gehe vorbei. Dann kann ich das direkt mit ihr klären.«

»Vielleicht ist es besser, wenn Beppo und ich das übernehmen«, sagte Elmar. »Wer weiß, was hinter diesem Mordfall steckt, und der Polizei wird es kaum gefallen, wenn sie dich um ihre Kronzeugin herumschleichen sieht, oder?«

Beppo nickte heftig zur Bekräftigung. Er war schon ganz kribbelig, Elmar erkannte es an seinen zuckenden Mundwinkeln.

»Nein, Elmar«, sagte Siggi schneidend, »das erledigst du alleine. Du kennst Virginia ebenfalls schon eine Weile. Und wenn du abends eine schöne Frau besuchst, wird das in Tübingen keinen Argwohn erregen.«

»Aber ich …«, versuchte Beppo sie noch umzustimmen.

»Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass ich für eine Undercover-Aktion ein Klischee wie Sie schicken würde? Nehmen Sie einige Kilo ab, waschen Sie sich die Haare und kaufen Sie sich einen neuen Hut!«

Virginia Escarate-Davila wohnte in der Einliegerwohnung eines Reihenhauses, tiefer drinnen in der Südstadt, wo die Gärten malerischer wurden. Den maulenden Beppo hatte Elmar auf einer der Bänke an der Steinlach geparkt, in deren schwarzem Wasser Unmengen Herbstlaub Richtung Bahnhof trieben. Warum Elmar die Anweisungen seiner Chefin widerspruchslos befolgte, wusste er selbst nicht genau, vielleicht leuchtete es ihm ein, sich unauffällig an die Angelegenheit heranzutasten. Noch wussten sie ja gar nicht, was eigentlich passiert war.

Virginia meldete sich nach kurzem Klingeln an der Sprechanlage.

»Olá! Wer ist da?«

»Hallo Virginia, ich bin es, Elmar Arnold. Der Musiker vom Teatro Arlecchino. Ich war heute Mittag bei dir im Büro.«

»Oh Elmar«, klang es aus der Sprechanlage.

Dann öffnete sich die Tür, allerdings nur einen Spalt breit. Virginia machte keine Anstalten, die Sicherheitskette auszuhängen.

»Was willst du denn hier?«, fragte sie stattdessen.

»Darf ich nicht reinkommen?«, fragte er.

»Ungern«, sagte Virginia durch den Spalt, »ich bin sehr durcheinander. Ich bin gerade erst heimgekommen.«

Der Spalt war breit genug, um hineinsehen zu können. Dort stand sie im Flur, von Halogenstrahlern beleuchtet. Ihre Haare, die wie frisch geschälte Kastanien glänzten, trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was sie streng wirken ließ, um einiges älter, als sie war. Das Make-up ebenfalls perfekt wie immer, so perfekt, als sei sie geradewegs vom Badezimmerspiegel aus an die Tür geeilt.

»Hagen Zachersky ist ermordet worden«, sagte Elmar.

»Dios mio, ich weiß«, sagte sie mit wackeliger Stimme. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Wie er dalag, ganz steif … schrecklich, que Horror.«

»Du hast ihn gesehen?«

Virginia Escarate-Davila nahm die Brille vom Gesicht. Ihre stahlblauen Nägel fingerten in ihrem Augenwinkel nach einer imaginären Wimper.

»Ja, ich habe ihn gefunden. Ich bin furchtbar durcheinander«, sagte sie, als sie sich die Brille wieder auf die Nase schob.

»Was ist passiert?«, fragte Elmar. »Wie ist er ermordet worden?«

»Ich weiß es nicht, Elmar«, antwortete Virginia mit leerem Blick, »ich weiß es nicht. Als ich die Bürotür öffnete, lag er auf dem Boden. Alles voller Blut. Ein Gemetzel, Por dios, so etwas habe ich noch niemals erlebt. Ich bin sofort rückwärts wieder raus und habe die Polizei gerufen. Hoffentlich finden sie den Täter bald. Es macht mir Angst, dass er noch da draußen unterwegs ist.«

»Hast du bereits eine Zeugenaussage gemacht?«

»Ja natürlich. Mich haben sie als Erste vernommen.«

»Aber du hast nicht mitbekommen, was vorher passiert ist?«

»Nada. Ich war nicht in meinem Büro.«

»Warum nicht?«

»Elmar, auch ich brauche manchmal Pausen. Ich war zum Abendessen im Theaterlokal.«

»Und als du wieder rauf bist, hast du den Intendanten gefunden?«

»Nein, nicht gleich. Die Tür war ja verschlossen. Und Hagen konnte keine Störungen leiden. Also arbeitete ich bis zehn. Ich habe mit den ganzen Kündigungen gerade so viel zu tun, dass ich Nachtschichten einlegen müsste, um alles zu schaffen. Als er dann immer noch nicht herausgekommen war, begann ich mir Sorgen zu machen. Auf mein Klopfen erhielt ich keine Antwort, da öffnete ich die Bürotür – und dort lag er. Auf dem Boden neben seinem Schreibtisch. Tot. Por dios.«

»Aber wer könnte Hagen Zachersky ermordet haben?«, fragte Elmar.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, keine Ahnung, wer so etwas tut.«

»Siggi soll bei ihm gewesen sein.«

»Eure Spielleiterin? Oh ja, sie war da. Es gab einen Streit zwischen den beiden, das konnte ich bis in mein Vorzimmer hören.«

»Vielleicht hat sie ihn ja niedergeschlagen. Immerhin soll sie ihm gedroht haben«, sagte Elmar, ohne anzudeuten, woher er diese Information erhalten hatte.

»Möglicherweise. Wir alle kennen Siggis Ausbrüche.«

»Und das hast du auch der Polizei erzählt?«, fragte Elmar.

Virginia zögerte einen Augenblick und betrachtete Elmar argwöhnisch.

»Als Zeugin habe ich doch eine Aussagepflicht.«

»Hast du auch mitbekommen, wie der Streit zu Ende ging?«

»Nein, ich bin ja dann essen gegangen.«

»Während die beiden so heftig stritten, dass Drohungen fielen?«

Wieder tat sie zwei Atemzüge, bevor sie antwortete.

»Aber das konnte ich doch nicht vorhersehen. Ich …«

Die Sekretärin verstummte und schaute Elmar mit Rehaugen an. Dass ihre Gedanken rotierten, sah er deutlich an ihren flackernden Pupillen. Sie atmete tief durch.

»Nein, ich bin nicht gleich zum Essen. Ich bin über den Flur zu Tarik«, sagte sie schnell, »um Hilfe zu holen.«

»Wer ist das?«

»Tarik Atasoy? Das ist unser neuer Oberspielleiter. Hagen hat ihn aus Berlin mitgebracht, als er seine Intendantenstelle antrat.«

»Und dieser Tarik Atasoy sollte dir also helfen, den Streit zu schlichten?«

»¡Ya esta! Ich traute mich nicht alleine rein, so laut wurde da gebrüllt. Als wir zurückkamen, war aber alles ruhig. Natürlich ging ich davon aus, dass sich das Problem von alleine gelöst hatte und Siggi nach Hause gegangen war.«

»Aber du hast nicht sofort im Zimmer nachgesehen?«

»Nein. Wer rechnet denn gleich mit dem Schlimmsten. Tarik und ich sind gemeinsam ins Lokal gegangen.«

»Weißt du ungefähr, wann das war?«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, so gegen acht wahrscheinlich.«

»Und später hast du die Leiche entdeckt?«

»Ja, so gegen zehn. Seitdem weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Elmar, ich bin wirklich erschöpft, desculpe-me. Das Ganze hat mich sehr aufgewühlt.«

»Glaubst du, Sigrid hat es getan?«

»Ich weiß es nicht, Elmar. Ich arbeite schon einige Jahren mit ihr zusammen. Da fällt es schwer, einen Mord zu unterstellen. So weit würde ich nicht gehen.«

»Aber du schließt es auch nicht aus?«

»Ich bin völlig durcheinander, Elmar, entschuldige, dass ich im Augenblick nur wirres Zeug von mir gebe.«

»Nur für den Fall, dass Siggi in dieser Sache zu Unrecht verdächtigt wird und wir eigene Ermittlungen aufnehmen: Könnten wir auf deine Unterstützung zählen?«

»Natürlich«, sagte Virginia schnell, »ich möchte auf keinen Fall, dass eine Unschuldige verdächtigt wird.«

»Danke, Virginia«, sagte Elmar, »das wird uns die Arbeit erleichtern, denn du kommst an alle wichtigen Dokumente heran.«

»Außer an die, die sich im Zimmer befinden«, schränkte die Sekretärin sogleich ein. »Der Tatort wurde ja versiegelt.«

»Dann will ich dich nicht länger stören«, sagte Elmar. »Falls wir dich brauchen, kommen wir bei dir im Sekretariat vorbei.«

»Wieso wir?«

»Ich und Sebastian Vogel.«

»Ist das dieser Privatdetektiv, mit dem du letztes Jahr unterwegs warst?«

»Genau der.«

»Ihr nehmt diese Sache ziemlich ernst.« Sie sah Elmar fest in die Augen. »Dann kann ich beruhigt schlafen gehen.«

»Gute Nacht, Virginia.«

»Boa noite, Elmar. Entschuldige, dass ich nicht helfen konnte.«

Sie schloss geräuschlos die Tür und klackerte davon, augenblicklich verlosch das Licht im Flur. Elmar stand alleine draußen. Aber nicht lange.

»Höchst mysteriös, die ganze Begebenheit«, erklang Beppos Stimme hinter dem Fächerahorn, der tagsüber im Vorgarten des Hauses für etwas Farbe sorgte, »höchst mysteriös.«

Wie ein riesiger Igel kroch er aus dem Busch, Mantel und Hut übersät mit Blättern, die im Licht der Straßenlaterne knallrot leuchteten. Der Privatdetektiv war Elmar tatsächlich gefolgt.

»Du hast alles mitgehört?«

»Natürlich!«

»Und? Was hältst du davon?«, fragte Elmar.

»Die spannende Frage ist, ob Siggi diese Drohung gegenüber dem Intendanten wirklich ausgesprochen hat. Die eine sagt so, die andere sagt so. Das heißt: Eine von beiden lügt. Entweder Siggi oder diese Tippse.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Sie hat sich in ihrer Geschichte vom Essen im Lokal dermaßen verheddert, dass da etwas nicht stimmen kann«, sagte Beppo. »Aus irgendeinem Grund war es ihr nicht recht, zu erwähnen, dass sie bei Tarik Atasoy war. Das hat sie erst nachgeschoben, als es brenzlig wurde. Und bei Siggi ist es das Gleiche. Erst streitet sie ab, dass es überhaupt einen Streit gegeben haben soll, mit dem Auftauchen der Polizei sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Vielleicht lügt sie in Bezug auf die Drohung ja auch.«

»Du glaubst ernsthaft, dass Sigrid von Schnackenberg den Intendanten ermordet haben könnte?«, fragte Elmar.

»Warum nicht?«

»Zugegeben, sie reagiert ziemlich rabiat, wenn sie erregt ist, aber sie würde doch nicht einfach ihr Gegenüber niederschlagen.«

Beppo nickte jedoch vehement.

»Sie wird verdächtigt, so wie alle anderen auch. Solange ich nicht das Gegenteil bewiesen habe, ist jeder verdächtig, Elmar.«

»Vielleicht nimmst du deinen Beruf etwas zu ernst«, sagte Elmar.

»Überhaupt nicht. Ich will dich auch daran erinnern, dass du es warst, der im letzten Jahr beschlossen hat, Patricks Tod genauer zu untersuchen. Nach einem Gespräch mit Sigrid Schnackenberg, wohlgemerkt. Also erzähl mir jetzt nicht, dass du ihr einen Mord nicht grundsätzlich zutraust.«

Elmar hielt sich die Hand vor den Mund, weil ein Gähnen sich ungehemmt Bahn brach. Wie spät mochte es sein? Zwei Uhr. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war.

»Denk nur an Siggis Haare«, fuhr Beppo fort. »Ist dir das nicht aufgefallen? Sie waren nass, als wir kamen. Vielleicht hat sie geduscht, um die Spuren des Mordes zu beseitigen.«

»Vielleicht«, sagte Elmar. »Aber dafür müssten wir ja erst mal wissen, wie der Intendant überhaupt zu Tode gekommen ist. Ich fürchte, das muss bis morgen warten.«

»Diesen Atasoy sollten wir auch unter die Lupe nehmen.«

»Ich muss wirklich dringend in die Horizontale.«

»Also gut«, sagte Beppo, »holen wir uns erst mal eine Mütze Schlaf. Und morgen, da sehen wir weiter. Um neun am Theater!«

Es war keine Frage; es war ein Befehl. Noch beim Heimradeln fragte sich Elmar, warum er sich heute von jedem einfach willenlos herumschicken ließ. Das war sonst eigentlich gar nicht seine Art.

Als Elmar spätnachts ins Bett gekrochen war, hatte Tinka schon geschlafen, jetzt, als er noch schlafen wollte, saß sie bereits auf der Bettkante und rührte so unruhig in ihrer Tasse, dass der Löffel gegen das Porzellan schlug.

»Ich habe mir Folgendes überlegt«, sagte Tinka und nippte an ihrem Café au Lait. »Ich muss etwas ändern in meinem Leben.«

»Okay«, brummte Elmar, »aber doch nicht morgens um halb acht.«

»Andere Leute, die nicht unverdient so viel Geld geerbt haben wie du, lieber Herr Arnold, sind bereits seit Stunden auf der Arbeit und kneten die Brötchen, die sie verdienen. Kaffee?«

»Tinka, zum hundertsten Mal, du sollst die Finger von meiner Kaffeemaschine lassen«, sagte Elmar, drehte sich zur Seite und zog die Decke über den Kopf. »Der Druck kann gefährlich werden, wenn man nicht genau weiß, was man tut …«

»Und da sind wir genau beim Stichwort: Ich weiß jetzt, was ich tue. Sieh her.«

Missmutig schälte Elmar sich unter seiner Decke hervor, kniff jedoch sofort die Augen zusammen, weil ihm die aufgehende Sonne durch die schrägen Dachfenster ins Gesicht strahlte wie ein Spotlicht. Nur langsam konnte er auf das Bild scharf stellen, das Tinka ihm vor die Nase hielt. Es zeigte vor allem eines: Brüste. Ein Paar wohlgeformte, straffe Brüste, die einer blonden Schönheit gehörten, die sie stolz der Kamera präsentierte.

»Du willst in die Erotikbranche einsteigen?«, fragte Elmar überrascht.

Tinka schnaubte. Sie nahm einen tiefen Schluck Kaffee, der eine Milchschaumhaube auf ihrer Nase zurückließ.

»Femen, Elmar, Femen. Schon mal gehört?«

»Du willst bei der Russenpeepshow mitmachen?«

»Ukraine, die Aktivistinnen kommen aus der Ukraine. Und nein, ich werde mich nicht dem hierarchischen Apparat dieser Organisation unterordnen. Aber ich werde mich ihrer Protestformen bedienen. Zwei Brüste werden die Eintönigkeit der Biedermeierei beenden und Tübingen aus seinem Dornröschenschlaf der politischen Gleichgültigkeit erwecken.«

Elmar rieb sich angestrengt seine Schläfen. Wo genau hatte Tinka den versprochenen Kaffee hingestellt?

»Tinka, hör mal, können wir das ein andermal besprechen? Ich habe eine turbulente Nacht hinter mir.«

»Hast du ein Problem damit, wenn ich mit meinen Brüsten die Welt verbessere?«, fragte Tinka entrüstet. »Lange genug haben die beiden sinnlos ihr Dasein unter Bergen von T-Shirts gefristet; es wird Zeit, dass ich die politischen Aspekte meines Körpers entdecke und zur Freiheit führe. Die Formen der Unterdrückung in diesem Land sind perfide.«