Der Puppenspieler von Palermo - Anna Castronovo - E-Book

Der Puppenspieler von Palermo E-Book

Anna Castronovo

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Beschreibung

Endlich hat Linda ihren Vater gefunden. Sie reist nach Palermo, um ihn kennenzulernen und ihre Eltern nach sechsundzwanzig Jahren zu einer Aussprache zu bewegen. Doch als ihre Mutter - die exzentrische Bayerin Mitzi - auf den sizilianischen Puppenspieler Gaetano trifft, erweist sich das als ziemlich kompliziert. Und dann sind da auch noch Silvo und Mario, die Lindas Gefühle gehörig durcheinander wirbeln. Auf der Suche nach ihrer verschwundenen Zwillingsschwester gerät Linda ins Visier eines Mafia-Bosses und bringt damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie in Gefahr – ein riskantes Spiel beginnt. Kann Linda ihre Schwester finden und die Familie vereinen?

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Der Puppenspieler von Palermo
Prolog
Der Brief
Schickeria
Der Anruf
Vucciria
Slow Motion
Gaetano
Die Friseurin
Palermo Shooting
Kaltes Wasser
Das Angebot
Der Kuss
Der Besuch
Einsamkeit
Don Vincenzo
Katakomben
Die Höhle des Löwen
Freiheit
Einschusslöcher
Der Film
Messina
Die Überraschung
Das Geschenk
Letizia
Epilog
Die Kinder der ‘Ndrangheta
Lindas Tomatensoße
Danke
Die Autorin
Post aus Sizilien
Kaktusfeigen
Klosterkind
Fluch der Saline
Dark Way: Die Geschichte eines Suizids
Impressum

 

 

 

 

 

 

Der Puppenspieler von Palermo

 

Roman

von Anna Castronovo

 

 

 

 

 

 

 

»Unsere wahre Aufgabe im Leben ist es,

glücklich zu sein.« (Dalai Lama)

Prolog

Ein halbes Jahr zuvor

 

 

Die Alpenkette hebt sich glasklar vom Himmel ab, der Föhn schärft alle Konturen und es ist viel zu warm für Mai. Migränewetter. Aber ein irres Licht. Ich spüre ein feines Ziehen hinter meinen Schläfen. Bitte nicht auch noch Kopfschmerzen. Ich suche das Weitwinkel-Objektiv aus meiner Fototasche und schraube es auf die Kamera. Dann lasse ich meinen Blick schweifen, um ein Motiv zu finden. Meine Augen wandern über das dunkle Wasser des Ammersees. Was ist das? Ich starre auf die Wasseroberfläche, kneife die Augen zusammen. Da ist doch was. Mein Blick verschwimmt. Die kleinen, hektischen Wellen des Sees werden zu großen, sanften Wogen. Das sizilianische Meer?

Da ist sie. Erst gleiten ihre Umrisse unter der Oberfläche entlang, dann bricht ihr Kopf mit den langen dunklen Haaren durch das Wasser. Sie schwimmt auf mich zu, schließlich steht sie auf. Das Wasser reicht ihr bis zum Bauch und an ihrem Körper klebt das weiße Nachthemd, das ich als Kind hatte. Das trägt sie immer noch, obwohl sie genauso alt ist wie ich.

Ciao Lucia, flüstere ich in Gedanken, setze mich im Schneidersitz auf die Kieselsteine und lege die Kamera in meinen Schoß. So ein Scheißtag. Sie schaut mich an, mit ihrem milden Blick und lächelt. Sie sieht genauso aus wie ich, bis auf die Haare. Mitzi ist mal wieder in Hochform, Berlusconi wurde wiedergewählt und der Erzeuger ist sowieso ein Arsch. Ich seufze. Außerdem hat Hanna nach ihrem Opa gefragt. Weißt du, ich würde ihn so gerne kennenlernen. Manchmal frage ich mich, ob du unseren Vater kennst. Nickt sie, oder bilde ich mir das ein? Vielleicht lebst du ja sogar bei ihm. Ich beobachte ihr Gesicht genau, aber sie lächelt nur immer weiter ihr sanftes Lächeln, dann verblasst sie und ist weg.

Ich weiß, dass sie nicht tot ist. Lucia ist ein Teil von mir. Ich sehe sie oft, in meinen Träumen, aber auch tagsüber, wenn es mir nicht gut geht. So wie jetzt. Dann kommt sie zu mir. Ich weiß nicht genau, wie sie das macht. Sie taucht einfach in meinem Kopf auf und ich sehe sie, ohne sie zu sehen, und höre sie, ohne sie zu hören. Ich glaube, das ist so ein Zwillingsding.

Als ich klein war, habe ich meiner Mutter ein paar Mal davon erzählt, aber sie ist jedes Mal traurig geworden, also habe ich damit aufgehört. Wenn es um Lucias Tod geht, schweigt sie. Da flucht sie nicht mal mehr, da herrscht nur noch eine Stille, die die ganze Luft um sie herum einsaugt wie ein Vakuum. Manchmal glaube ich, meine Mutter erstickt an ihrer eigenen Einsamkeit.

Sonst weiß niemand davon, dass ich Lucia sehe, sie ist mein Geheimnis. Die Leute würden mich für verrückt erklären, wenn ich ihnen erzähle, dass ich so eine Art telepathischen Kontakt zu meiner Schwester habe.

Welche Gemeinsamkeiten haben Lucia und ich wohl? Ob sie so aussieht wie ich?

Ich streiche mir mit der flachen Hand über das Gesicht, nehme die Kamera aus meinem Schoß und stehe auf. Lucia ist weg, und das Licht auch. Die einzigen fünf Schäfchenwolken am Himmel haben sich genau vor der Sonne gruppiert. Heute ist wirklich ein Scheißtag.

Der Brief

 

 

»Wie jetzt. Des war‘s schon? Von mir hat er gar nix geschrieben, oder was?« Meine Mutter schürzt beleidigt die Lippen.

»Von dir?« Ich hebe den Blick von Gaetanos steiler Handschrift und wische mir mit dem Unterarm die Tränen vom Gesicht. »Ich glaub‘s nicht. Mein ganzes Leben lang hast du mir jede Information über meinen Vater vorenthalten ...«

»Ich hab dir doch die Briefe gegeben.«

»Ja, nach fünfundzwanzig Jahren! Und jetzt bist du beleidigt, weil ich ihn ausfindig gemacht habe und er mir auf meinen Brief geantwortet hat?«

»Des sieht diesem Katzelmacher ähnlich. Nicht ein Wort über mich.«

Ich tippe mir an die Stirn. »Du hast doch einen Vogel. Waren wir uns nicht einig, dass Gaetano dich gar nicht betrogen hat, sondern du einfach Hals über Kopf abgehauen bist?«

Meine Mutter schaut mit erhobenem Kinn zur Seite. »Des ist fei schon ein bisserl nachtragend, findst nicht?«

»Boah!«, mache ich, lege den Brief auf den Tisch und gehe zum Herd. Der Duft nach Tomaten und frischem Basilikum erfüllt unsere Küche, kleine rote Blasen zerplatzen im Topf. Ich schiebe ihn von der Herdplatte, damit die Soße nicht anbrennt, und werfe die Spaghetti ins kochende Wasser. Ich brauche jetzt dringend Nudeln mit Tomatensoße. Die helfen gegen alles. Zum Beispiel gegen lebenslange Sehnsucht, Angst vor der eigenen Courage und noch mehr Angst vor der möglicherweise größten Enttäuschung meines Lebens.

Zwei Monate sind vergangen, seit ich ihm geschrieben habe. Ich hätte nicht gedacht, dass sich Gaetano noch meldet. Aber jetzt ... Ich atme tief durch, um nicht schon wieder zu heulen.

Mitzi lässt die violetten Holzperlen ihrer Kette durch die Finger gleiten. Die Farbe ist perfekt auf das grün-senfgelbe Muster ihres Kaftans abgestimmt. Den hat sie bestimmt an irgendsoeinem Dritte-Welt-Stand auf dem Tollwood-Festival geshoppt. Zusammen mit den roten Haaren sieht das aus, als wäre sie eine ihrer Farbpaletten aus dem Atelier.

»Willst du den wirklich kennenlernen?«, fragt sie. »Du bist doch bisher auch wunderbar ohne diesen ... diesen ... Italiener ausgekommen.« Es klingt, als sei mein Vater eine Nacktschnecke.

»Nein.« Ich schniefe und wische mir mit dem Handrücken über die Nase. »Bin ich eben nicht.« Ich zeige mit dem Kochlöffel auf den Brief. »Aber jetzt werde ich ihn endlich treffen, und du wirst mich nicht davon abhalten.«

Meine Mutter seufzt und schüttelt den Kopf. »Bürstel dich halt nicht gleich so auf. Keiner will dich von irgendwas abhalten. Ich mach mir nur Sorgen, dass des ein totaler Reinfall für dich wird. So einer, von dem du dich nie mehr erholst. Ich mein, du bist ja eh schon angeschlagen, und du weißt ja gar nicht ...«

»Hör auf!« Ich schmeiße den Kochlöffel nach ihr. Sie weicht aus, der Löffel scheppert auf den Boden und verspritzt Soßenkleckse auf den Fliesen. Das habe ich mir bei meiner Zia Mimma abgeschaut. Funktioniert immer. Sogar Mitzi kneift jetzt die Lippen zusammen und schweigt.

Ich will ihre Worte nicht mehr hören, sie treffen nämlich volle Granate in das Vakuum, das sich in meinem Magen gebildet hat, seit mir der Postbote vorhin den verknitterten Brief aus Sizilien überreicht hat. Mitten rein in diesen Unterdruck aus Hoffnung und Panik. Die Wahrheit ist: Ich habe höllische Angst davor, dass der große Traum von meinem perfekten Vater zerplatzt wie eine dieser Tomatensoßenblasen.

Die Stimme des Tagesschau-Sprechers tönt durch unsere WG-Küche. Er redet über Silvio Berlusconi. Der italienische Ministerpräsident wird eingeblendet, wie er zu Dmitri Medwedew sagt, die russisch-amerikanischen Beziehungen könnten sich mit dem neuen US-Präsidenten Barack Obama durchaus verbessern, schließlich sei der jung, schön und gut gebräunt.

»Ja spinnt der Beppi?«, entfährt es Mitzi.

Mit zitternden Händen gieße ich die Pasta ab, stelle den Topf zurück auf den Herd und verteile Spaghetti auf die Teller.

»So ein damischer Zipfiklatscher.« Mitzi schüttelt den Kopf. »Von gut gebräunt versteht der ja was. Aber des war‘s dann auch schon. Sind doch alle gleich, diese Italiener.«

»Genau wie mein Vater, oder?« Ich knalle den Teller vor sie auf die Tischplatte.

»He!« Sie rutscht ein Stück zurück. »Ich will doch nur dein Bestes.«

»Bei dem Spruch kriege ich sofort Ausschlag. Es juckt schon.« Ich kratze mich demonstrativ am Unterarm.

»Der wird dir nichts als Probleme bringen, wirst schon sehen.« Mitzi nimmt die Gabel in die Hand und stochert in ihren Nudeln herum.

»Wird er nicht. Er ist ein ... also ein ...« Ich ringe um das richtige Wort. »... ein Puzzleteil meiner Identität, verstehst du das nicht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Dir hat doch nie was gefehlt. Ich bin schließlich auch ohne Vater aufgewachsen und hab ihn nie vermisst.«

»Aber ich schon. Und ich muss endlich meinen Seelenfrieden finden.«

»Seelenfrieden«, äfft sie mich nach. »Mei, bist du pathetisch.«

Ich gieße einen Schöpflöffel voll Tomatensoße von möglichst weit oben auf ihre Nudeln, dass es nur so spritzt.

»Obacht!« Meine Mutter nestelt an ihrem psychedelischen Kaftan herum. »Des geht fei nimmer raus.«

»Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. Das hat schon der Goethe gesagt. Und ich muss endlich meinen Vater kennenlernen, damit ich meine Wurzeln finde ...«

Sie verdreht die Augen. »Fragt sich halt, ob dir dieser gamsige Himbeertoni die überhaupt geben kann.«

»Mitzi!«

»Ist doch wahr!«

Am liebsten würde ich noch etwas nach ihr werfen. »Du bist doch nur beleidigt, weil sich einmal nicht alles um dich dreht«, fauche ich sie an. »Und du hast in Wirklichkeit gar keine Angst davor, dass ich einen Reinfall erlebe, sondern du selbst.«

»Schmarrn!« Mitzi stopft sich eine große Gabel Spaghetti in den Mund, damit sie nichts mehr dazu sagen muss. Der Punkt geht klar an mich. Sie kaut extralang und an ihren Mundwinkeln setzt sich Tomatensoße ab. Als sie die Nudeln endlich heruntergeschluckt hat, fragt sie: »Und jetzt?«

»Ist doch klar«, sage ich, obwohl mir gar nichts klar ist. »Ich fliege nach Sizilien.«

»Aha.«

»Jawohl. Sobald ich Semesterferien habe. Und Hanna Schulferien. Das wäre dann, glaube ich, äh ...« Ich rechne, und ein Teil von mir ist erleichtert, dass die Herbstferien gerade vorbei sind und es noch so lange hin ist. »Also an Weihnachten nicht, da ist das Wetter bestimmt total scheiße ... Außerdem .... nein, Weihnachten feiert man daheim. Aber an Ostern ginge es, oder?«

»So so. An Ostern.« Mitzi grinst vielsagend und mein Blutdruck steigt schon wieder.

»Weißt du was? Ich esse später.« Ich schiebe den Teller von mir weg. »Ich rufe Nunzia an. Die versteht mich wenigstens.«

»Machst du jetzt einen auf beleidigte Leberwurst?«

Ich falte den Brief zusammen, schiebe ihn in das Kuvert zurück und lasse meine Mutter vor ihrem halb aufgegessenen Nudelteller sitzen. Dann zeige ich auf unseren Koch- und Putzplan, der am Kühlschrank hängt. »Heute bist ja eh du dran mit Spülen.«

Ich brauche Luft. Auf dem Weg durch den Flur schnappe ich mir meine Jacke und das Telefon von der Kommode. Die Novembersonne wärmt mein Gesicht, der Ammersee glitzert durch die Bäume. Zwischen Iris und Herbstanemonen lasse ich mich ins Gras fallen und wähle die Nummer meiner Cousine in Sizilien. Sie geht nach dem ersten Klingeln dran.

»Ciao Linda, come stai?«

»Benissimo! Stell dir vor, es gibt Neuigkeiten. Gaetano hat mir geschrieben.«

»Nooo!«

»Doch! Mitzi hatte alte Briefe von ihm, mit einer Adresse in Palermo.«

»Ich dachte, er lebt in der Schweiz?«

»Dachte ich auch. Stimmt aber nicht. Jedenfalls habe ich dort hingeschrieben, und heute kam seine Antwort.«

»Und?«

»Er hat Hanna und mich nach Palermo eingeladen. Hör zu, ich lese dir den Brief vor.«

»Schieß los.«

»Cara Carmelinda. Ich bin so froh, dass du mir geschrieben hast. Ich habe die letzten fünfundzwanzig Jahre darauf gewartet, und ich habe diese Hoffnung nie aufgegeben. Ich würde mich unendlich freuen, wenn du nach Palermo kommst und wir uns treffen können. Dann erzähle ich dir alles, was passiert ist, persönlich. Bring auch deine Tochter mit. Bitte komm. Dein Papa.« Meine Stimme bricht und ich muss mich räuspern.

»Yes! Warum heulst du denn?Ist doch toll!«, ruft Nunzia in den Hörer. »Wann kommt ihr?«

»An Ostern haben Hanna und ich beide Ferien.«

»Was? Das sind noch fünf Monate.«

»Na ja, Hanna hat Schulpflicht, sie hat doch gerade mit der ersten Klasse angefangen.«

»Ach komm, für so einen wichtigen Anlass kannst du sie doch ein paar Tage beurlauben lassen, oder?«

»Außerdem würde Hannas Vater da nicht mitspielen.«

»Als hätte dich seine Meinung je interessiert.«

»Und ich habe gerade mein Studium wieder aufgenommen, da kann ich doch nicht gleich lauter Vorlesungen schwänzen.«

Stille.

Dann fragt Nunzia: »Kann es sein, dass du Angst hast?«

»Nein!« Das kam viel zu schnell.

»Sei ehrlich.«

Ich seufze. »Na gut. Ich habe eine Scheißangst.« Jetzt sprudelt es aus mir heraus. »Was, wenn Mitzi recht hat und das Treffen einfach nur eine große Enttäuschung wird? Wenn Gaetano überhaupt nicht so ist, wie ich ihn mir mein ganzes Leben lang ausgemalt habe? Vielleicht ist er wirklich so ein Arsch, wie meine Mutter sagt, vielleicht verletzt er mich nur und verlässt mich gleich wieder? Dann bin ich noch einsamer als vorher. Dann habe ich gar nichts mehr, nicht mal einen Traum.« Meine Stimme kiekst schon wieder.

»Dai, so schlimm kann es gar nicht werden. Er ist bestimmt total nett. Wenn er so wäre, wie Mitzi behauptet, hätte er dir nicht diesen Brief geschrieben.« Nunzia redet beruhigend auf mich ein, als wäre ich ein Kleinkind. »Und selbst wenn er ein Idiot ist: Immerhin weißt du es dann und kannst ihn dir aus dem Kopf schlagen.«

»Trotzdem.« Ich drehe den Brief um und erstarre. Mein Herz beginnt zu stottern wie der Motor eines altersschwachen Fiats. Auf der Rückseite steht eine Telefonnummer, die ich vorhin gar nicht gesehen habe.

»Linda? Bist du noch dran?«

»Ja ja.« Nunzia sage ich lieber nichts davon, sonst lässt sie mich nicht mehr in Frieden, bis ich Gaetano anrufe. Bei dem Gedanken daran zieht sich mein Magen zusammen. »Ich muss das erst mal sacken lassen.«

Sie lacht. »Du lässt das schon seit fünfundzwanzig Jahren sacken. Aber gut, wie du meinst. Wann immer ihr kommt: Solange ihr in Palermo seid, könnt ihr in meiner Studentenbude wohnen.«

»Danke, du bist ein Schatz.«

Die Idee gefällt mir. Seit Hannas Geburt beschränken sich meine sozialen Kontakte auf andere Mütter, die alle zehn Jahre älter sind als ich. Seit ich wieder studiere, lerne ich zwar auch jüngere Leute kennen, aber Anschluss habe ich noch nicht gefunden. Nunzia und ich haben unsere abgebrochenen Studiengänge gleichzeitig wieder aufgenommen. Sie Jura, um Sizilien zu einem besseren Ort zu machen. Und ich Tourismus, um ... Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht so genau. Jedenfalls klingt Studentenbude mitten in Palermo definitiv nach Spaß.

»Und danach fahren wir alle zusammen nach Santa Lucia del Monte und machen Urlaub im Haus am Meer«, schlage ich vor.

»Yes!«

»Und Nunzia ...«

»Ja?«

»Könntest du in der Zwischenzeit mal deinen Vater fragen, welche ehrenwerte Familie in Palermo eine Tochter hat, die fünfundzwanzig ist und aussieht wie ich?«

»Du hast deinen Plan also nicht aufgegeben.«

»Spinnst du? Natürlich nicht. Ich werde Lucia finden.«

»Und wenn du sie gefunden hast, traust du dich nicht, sie zu treffen. Wetten?«

Touché.

»Blöde Kuh.« Ich muss lachen, aber ich bin auch ein bisschen sauer. Erstens, weil Nunzia mich durchschaut hat und zweitens, weil sie versprochen hat, mir zu helfen. »Du kannst nicht verstehen, wie das ist. Wenn du spürst, dass deine Zwillingsschwester irgendwo lebt, während alle versuchen, dich davon zu überzeugen, dass sie tot ist. Nach all den Jahren habe ich endlich herausgefunden, dass sie wirklich noch am Leben ist, und ...«

Nunzia seufzt. »Ja ja, ist gut. Ich frage meinen Vater, ob er etwas herausfinden kann.«

»Danke.«

Nunzia hält wohl den Hörer zu, denn ihre Stimme klingt gedämpft, als sie ruft: »Es ist Linda.« Stimmengewirr im Hintergrund. »Hier grüßen dich alle«, sagt sie, wieder in normaler Lautstärke. »Meine Eltern, Nonno und Nonna ... Wir sitzen beim Essen.« Ich höre mehrere Stimmen »Ciao Linda!« durcheinander schreien.

»Grüße zurück. Was gibt’s denn?«

»Gegrillten Tintenfisch.«

»Lecker!« Fast kann ich das rauchige Aroma durch den Hörer riechen und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

»Ich muss Schluss machen. Nachrichten«, sagt Nunzia.

Im Hintergrund ruft Zio Calzone »Silenzio!«.

Ich stelle mir vor, wie Zia Mimma schon ihren Löffel bereithält, um nach ihm zu werfen, wenn er wieder anfängt, über Politik zu schimpfen, und halte den Telefonhörer ganz fest. Sie fehlen mir. Wie gerne würde ich jetzt mit ihnen an diesem riesigen Tisch inmitten von Porzellanfiguren und Glitzernippes sitzen und mich über den Nachrichtensprecher mit Toupet wundern.

»Hast du schon gehört, was Berlusconi über Barack Obama gesagt hat?«, frage ich Nunzia.

»O dio, ja, was für eine figura di merda! Was für ein scheiß Rassist! Aber das Jahr zweitausendacht wird zum Glück nicht wegen Berlusconi in die Weltgeschichte eingehen, auch wenn er das gerne hätte, sondern wegen des ersten schwarzen Präsidenten Amerikas. Yes! Ich muss jetzt wirklich Schluss machen.«

»Nur eins noch: Sag bitte den anderen nicht, dass Gaetano in Palermo lebt. Ich glaube, der Nonna würde es das Herz brechen, wenn sie wüsste, dass er all die Jahre ganz in ihrer Nähe war.«

»Geht klar.«

»Also, ciao. Und Grüße an Silvo, wenn du ihn siehst.«

Sie macht Kussgeräusche. »Richte ich aus.«

Ich lege auf.

Der Garten kommt mir plötzlich still und leer vor. In meinem Kopf dagegen geht alles durcheinander: Gaetano, Silvo, Lucia. Um meinen Vater und meine Zwillingsschwester zu finden, bin ich vor ein paar Monaten nach Sizilien gereist, habe meine italienische Großfamilie kennengelernt, mich in Silvo verknallt und herausgefunden, dass Lucia gar nicht bei der Geburt gestorben ist, sondern noch lebt. Die Frage ist nur wo.

Seit ich das weiß, erscheint sie mir nicht mehr. Vorher habe ich sie vermisst, ja, aber immerhin hatte ich eine Verbindung zu ihr. Jetzt habe ich sie ganz verloren. Nicht mal in meinen Träumen taucht sie mehr auf. Sie fehlt mir so sehr. Und ich habe schreckliche Angst davor, dass es mir mit meinem Vater genauso gehen wird. Aber vielleicht wird auch alles gut werden. Endlich.

Und jetzt habe ich Gaetanos Telefonnummer. Bei dem Gedanken daran, meinen Vater einfach anzurufen, wird mir heiß. Panikhitze.

Ich schließe die Augen und atme tief ein. Die Luft riecht klar und ein bisschen modrig. Nach See eben. Enten schnattern, der Wind rauscht in den Bäumen über mir und der Bach, der durch unseren Garten fließt, plätschert. Eigentlich total meditativ, das alles. Aber heute können nicht mal diese nature sounds, wie Mitzi immer sagt, das Chaos in mir beruhigen.

Einatmen. Ausatmen.

Es hilft nichts. Egal wie tief ich atme und wie fest ich die Augen zusammenkneife, ich sehe die steilen Ziffern ständig vor mir. Die Telefonnummer meines Vaters.

 

 

Schickeria

 

 

Ich springe auf, kann nicht mehr stillsitzen. Mein Hosenboden ist feucht vom Gras. Zum Glück ist heute ein sonniger Samstag, der Föhn hat die Temperaturen auf fast zwanzig Grad hochgetrieben und ich habe Dienst in der Gelateria al Lago. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad. Macht nichts, wenn ich zu früh dran bin. Bei dem Wetter wird die Hölle los sein.

Ich radle den Uferweg entlang, der Ammersee verschwindet hinter einem dichten Schilfgürtel und ich muss immer wieder Spaziergängern ausweichen, die versuchen, durch die Thujahecken einen Blick auf die Villen zu erhaschen, die dahinter versteckt liegen. Dann öffnet sich der Weg zur Uferpromenade. An den Stegen schaukeln Segelboote auf und ab und machen ein Geräusch, das sich anhört wie das Gebimmel von Kuhglocken. Ich sperre mein Rad vor dem Eingang der Eisdiele ab.

»Ciao bella.« Mario küsst mich links und rechts, sein Dreitagebart kratzt über meine Wangen. »Gut, dass du da bist.« Er schwitzt. Fast alle Tische sind besetzt, er ist heute bestimmt schon ordentlich gerannt und sein Stresslevel ist auf zweihundertachtzig, aber wie immer strahlt er mich an.

Ich gehe nach hinten, um mir eine Schürze umzubinden, da sehe ich einen Mann mit einem weißen Polohemd vor der Wand stehen, an der meine Fotos hängen. Die Sizilienbilder haben Maria so gut gefallen, dass sie im Flur eine richtige kleine Ausstellung aufgehängt hat. Die Gelateria al Lago ist zwar nur ein Bistro mit Eisdiele, aber jedes Mal, wenn ich sehe, wie einer der Urlauber meine Fotos anschaut, fange ich an zu grinsen und kann gar nicht mehr aufhören. Wahnsinn. Was muss es erst für ein Gefühl sein, eine richtige Ausstellung in einer Galerie zu haben?

Der Typ reibt sich übers Kinn, macht einen Schritt zurück, dann wieder einen zur Wand, streckt den Kopf wie eine Schildkröte nach vorne und sieht sich die Fotos von ganz nah an. Er nickt und geht Richtung Klo.

»Linda! Komm!« Maria bimmelt hinter der Bar mit ihrem Glöckchen. Ich reiße mich los, nehme das Tablett mit drei Eisbechern und zwei Latte Macchiatos und trage es auf die Terrasse. Als ich zurückkomme, ist der Typ weg.

»Wer war das?«, frage ich Maria.

»Der Mann, der die Fotos angeschaut hat? Wusste ich‘s doch, dass deine Bilder gut sind.« Sie tätschelt mir die Schulter.

»Die sind nicht nur gut, die sind phänomenal«, mischt sich Mario ein und zwinkert mir zu. »Schöne Frau, schöne Fotos ...«

Mein Gesicht wird heiß. »Jetzt übertreib mal nicht. Also, wer war das?«

»Der war schon gestern Abend da, hat eine Flasche Barolo und Spaghetti mit Trüffel bestellt.«

»Iiih!« Angeekelt verziehe ich das Gesicht. »Trüffel ist eklig. Schmeckt irgendwie nach untenrum.«

Mario fasst sich verlegen an die kleine Narbe, die an seinem Kinn durch den Bartschatten leuchtet, und wird rot. »Dicker Porsche, Rolex, hübsche Blondine dabei«, lenkt er ab.

Ich verdrehe die Augen. »Bestimmt Münchner Schickeria.«

»Los, weiterarbeiten ihr beiden. Hört auf zu turteln«, ruft Maria von der Bar und Mario wird schon wieder rot.

Mein Blick streift das Foto von Silvo. Mein Lieblingsbild. Er von rechts hinten in Schwarz-Weiß, sein Grübchen, seine gestikulierende Hand in der Bewegung leicht verschwommen, der Fokus liegt auf den Lederbändern, die sich um sein Handgelenk schlingen. Der Rockstar-Effekt funktioniert immer noch. Jedes Mal, wenn ich das Foto sehe, zieht sich mein Magen zusammen.

»Mach schon, Linda!« Mario raunzt mich an. Er hat gemerkt, dass ich wiedermal das Bild von Silvo anstarre. Es ist, als hätte er einen An- und Ausknopf für gute Laune, und der steht jetzt definitiv auf aus. »Los, los, los!«

»Ist ja schon gut.« Ich hole die nächste Bestellung von der Bar ab und bringe sie hinaus. Da draußen an der Uferpromenade steht der Typ im Polohemd, um ihn herum zwei Fotografen mit Profi-Ausrüstung. Beinahe rutscht mir ein Eisbecher herunter, ich kann das Tablett gerade noch ausbalancieren. Wer zum Teufel ist das?

»Passen Sie doch auf!« Ich habe einen Gast an der Schulter angerempelt.

»Tschuldigung.« Das Trinkgeld kann ich vergessen.

 

Als ich abends nach Hause komme, steht mein Teller Spaghetti mit Tomatensoße noch auf dem Tisch. Mitzi hat einen Topfdeckel darüber und den Kochlöffel daneben gelegt. Ich weiß nicht, ob das eine demonstrative Geste sein soll, weil ich sie heute Mittag damit beworfen habe, oder ihre Art, Fürsorge zu zeigen. Wahrscheinlich beides.

Sie hat mich wohl gehört, denn sie ruft durchs Haus: »Bist du da-ha?«.

Ich kann nicht antworten, weil ich mir gerade eine Gabel kalte Pasta in den Mund gestopft habe und mit dicken Backen kaue.

Meine Mutter rüscht in einem pinken Leinenkaftan in die Küche. »Ich gehe au-haus.« Dabei flötet sie so komisch.

»Mit dem Leoparden?«, nuschle ich. Oh Mist, das ist mir jetzt so rausgerutscht.

»Mit dem was?« Sie hält inne und starrt mich an.

Ich schlucke und winke ab. »Nichts.«

»Jetzt sag schon. Wie hast du ihn genannt?«

»Uwe. Einfach Uwe.«

»Schmarrn!«

»Was willst du denn noch von dem? Ich dachte, den hättest du weitergeschickt? Frauenbild und so?«

»Bist du eifersüchtig?«

»Quatsch. Ich dachte nur, wegen seinem Gerede über das schwache Geschlecht.«

»Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken. Oder besser der Starken. Des hat fei schon der Gandhi gesagt.«

Ich seufze. Es ist sinnlos. »Dann geh, sonst kommst du noch zu spät und der Herr Lehrer gibt dir einen Strich.« Ich wedle mit den Händen.

»Du brauchst fei nicht wieder auf mich warten, gell?«

»Wie kommst du jetzt darauf?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Mei, nur so.«

Also ich glaube ja, es geht ihr vor allem um das, was sie Mehrwert nennt. Es schüttelt mich bei dem Gedanken an meine Mutter mit dem ... Bah! Mitzis Affäre mit diesem Grundschullehrer, der fast zwanzig Jahre jünger ist als sie, geht mir so was von auf die Nerven.

»Guten Abend, Linda.«

Oh nein, da ist er ja. Heute mit ausgebeulter, brauner Cordhose und kariertem Flanellhemd. Die Haute Couture in Person.

»Hallo Uwe.«

Ich möchte gar nicht wissen, was er unter dieser Beulenhose trägt. Nein, möchte ich wirklich nicht. Aber seit er eines Morgens mit Hühnerbrust und Leoparden-Unterhose an unserem Frühstückstisch erschienen ist, muss ich immer, wenn ich ihn sehe, an seinen Slip denken. Und ich fürchte, er wird da jetzt öfter auftauchen. Nein, nicht der Slip. Uwe natürlich. Mit Slip. Am Frühstückstisch. Und das, obwohl er Mitzi verbieten wollte, nach Sizilien zu reisen, so als Frau allein.

Ha! Als würde sich meine Mutter etwas vorschreiben lassen, und das noch von einem Mann. Ich kratze den letzten Rest Soße aus dem Teller. Und dann heißt er auch noch Uwe.

»Und, was machst du Schönes heute Abend?«, fragt er mich und lächelt sein blödes Karma-Lächeln.

»Nichts.«

Er schiebt seine Brille zurecht und blinzelt mich an. »Aber eine junge Frau sollte doch am Samstagabend nicht allein daheim sein.«

Ich kneife die Lippen zusammen.

»Da habe ich jetzt aber kein gutes Gefühl dabei.« Er presst sich die rechte Hand aufs Herz. »Wäre es nicht viel schöner, wenn wir alle drei ...«

»Nein!«, rufe ich.

»Nein!«, ruft Mitzi. Endlich sind wir uns mal einig. Dann schaut sie mich an, als wäre ich so spannend wie ein Kieselstein im See. »Mei, die Linda war halt noch nie so gesellig.« Sie packt Uwe am Arm und tänzelt aus der Tür. »Servus!«

 

Ich schiele zum Nachtkästchen. Da drin liegt Gaetanos Brief. Mit seiner Telefonnummer. Soll ich anrufen? Sofort beginnt mein Herz, wie irre von innen gegen die Rippen zu hämmern. Besser, ich räume zuerst auf. Und abstauben müsste ich auch mal wieder.

Die Wahrheit ist: Ich hasse Putzen. Aber jetzt gerade habe ich ein unheimliches Bedürfnis, Ordnung um mich herum zu schaffen. Vielleicht ordnet sich dadurch auch gleich dieses ganze Chaos in mir drin. Ich sortiere sogar meine Schreibtisch-Schublade, die so voll ist, dass ich sie kaum auf und zu bekomme.

Als ich fertig bin, setze ich mich auf meinen Drehstuhl, schiebe mich mit den Füßen hin und her und starre auf die einzige Schublade, die ich nicht sortiert habe. Ich summe vor mich hin: »Ruf ihn an, du feige Kuuuh ... Ich mach mir aber in die Hooosen.«

Mein Handy klingelt und ich falle fast rückwärts vom Stuhl. Ich schaue auf das Display. Mario.

»Ja?«

»Hallo Linda, also ... äh ... Ich wollte fragen, weil ja Hanna heute bei ihrem Vater ist, ob du Lust hast, mit mir was trinken zu gehen?« Er redet schnell und abgehackt, und es hört sich an, als hätte er seinen Text vorher geübt.

»Ja klar, warum nicht.«

»Perfetto!« Er klingt erleichtert. »Ich hole dich in einer halben Stunde ab.«

»Super, bis dann.«

Das ist meine Rettung. Sonst würde ich den ganzen Abend um die Schublade herumschleichen und grübeln, und am Ende würde Mitzi wieder denken, dass ich auf sie warte. Ich ziehe mich um, gehe ins Bad und hübsche mich ein bisschen auf. Aber nicht zu viel. Nur Wimperntusche und Kajal.

Es klingelt.

»Gut siehst du aus«, sagt Mario, als ich die Tür öffne.

»Danke.« Ich küsse ihn links und rechts auf die Wangen und atme tief ein. Er riecht nach Lederjacke und Fahrenheit. Mein Lieblingsparfüm.

»Wo geht‘s hin?«

»Nach Dießen?«

»Gute Idee, da ist es fast wie in Italien. Die bunten Häuschen, die Piazza ... Ich vermisse Sizilien so.«

Wir gehen durch das feuchte Herbstlaub zum Auto, er hat die Hände in den Hosentaschen versenkt.

»Du vermisst deine Heimat bestimmt auch, oder?«

»Manchmal«, sagt er, aber dann schüttelt er den Kopf. »Eigentlich sind es eher die schönen Kindheitserinnerungen, die ich vermisse. Und davon gibt es nicht sehr viele.«

»Warum denn das?«

Er winkt ab. »Kein gutes Thema. Lass uns von etwas anderem reden.«

»Okay. Wie lange bist du denn schon in Deutschland?«

Er überlegt. »Ich bin jetzt dreiunddreißig und mit achtzehn bin ich hergekommen. Ich habe schon fast genauso viel Lebenszeit in Deutschland verbracht wie in Italien.« Er lacht. Ich mag sein Lachen, es klingt hell und offen.

»Hast du noch Familie in ... äh ... wo kommst du eigentlich genau her?«

»Aus einem kleinen Dorf in Kalabrien.«

»Bist du oft dort? Ich würde gerne viel öfter nach Sizilien fliegen.«

Mario öffnet mir die Autotür und ich schiebe mich an ihm vorbei in seinen Lancia. Er steigt auch ein und schlägt die Tür hinter sich zu. »Magst du Cocktails?«

»Lenkst du vom Thema ab?«

Er antwortet nicht, sondern dreht den Zündschlüssel um, lässt die Kupplung kommen und fährt los.

»Also, was ist jetzt mit deiner Familie?«, hake ich nach.

»Du bist vielleicht hartnäckig.« Er lacht wieder, aber diesmal klingt es gekünstelt.

»Interessiert mich eben.«

»Ach, es ist irgendwie, als würde mein Dorf auf einem anderen Planeten liegen.«

»Wie meinst du das?«

»Das Problem ist, dass der Planet von der ‘Ndrangheta beherrscht wird.«

»Oh«, sage ich betreten. »Die ‘Ndrangheta ist die kalabrische Mafia, oder?«

»Genau.«

»Und was hat die mit deiner Familie zu tun?«

Mario schaltet und tritt aufs Gas. Ich sehe, wie sich seine Hände so fest um das Lenkrad krallen, dass die Fingerknöchel weiß leuchten. »In dem Dorf, aus dem ich komme, hat sie mit jeder Familie zu tun. Bei der ‘Ndrangheta wirst du in einen Clan hineingeboren und gehörst automatisch dazu, verstehst du? Du hast gar keine andere Wahl, die Mitgliedschaft wird vererbt. No exit.«

»Das heißt, deine Familie ist ...?«

»Vergiss es einfach«, unterbricht er mich. »Ich hätte dir das gar nicht erzählen sollen.«

Der Wagen rast durch die Dunkelheit, nur das Laub der Bäume leuchtet im Scheinwerferlicht braun, gelb und rot auf. Mario starrt durch die Windschutzscheibe, seine Kiefermuskeln treten hervor. Ich bin jetzt besser still. Was für eine Scheiße ist das denn?

Mario setzt in eine Parklücke am Dießener Bahnhof, stellt den Motor ab und kommt wieder ums Auto herum, um mir die Tür zu öffnen. Als er mein geschocktes Gesicht sieht, sagt er: »Das ist alles ewig her. Ich habe seit meiner Kindheit keinen Kontakt mehr mit denen. Komm, lass uns einen Cocktail trinken gehen.«

Die Luft ist immer noch föhnig-mild. Wir schlendern durch die Gassen, zwischen bunten Häusern hindurch, und schauen in die Auslagen der Kleinkunst-Ateliers. Marios Gute-Laune-Knopf ist wieder gedrückt. Mafia aus, Cocktail an. Ich kann das nicht.

»Komm, wir gehen auf die Piazza«, schlägt Mario vor und nimmt den Weg am Mühlbach entlang, der vom Marienmünster durchs ganze Dorf rauscht, bis er in den See mündet. Die Glocken des Münsters läuten.

»Neun Uhr«, sage ich. Etwas Klügeres fällt mir nicht ein. Der Duft nach geräucherten Ammersee-Renken weht durch die Gassen.

»Hier ist die Bar«, sagt Mario.

Ich nicke. So langsam komme ich wieder zu mir. Er kann ja nichts für seine Familie.

Wir bestellen Mojitos und als die Gläser vor uns stehen, sagt er: »Jetzt erzähl mir endlich mal die Geschichte von deinem Vater und deiner Schwester.«

Ich nippe an meinem Cocktail und ein Minzblatt bleibt an meiner Lippe kleben. Ich zupfe es ab und werfe es zurück ins Glas. »Mein Vater war Gastarbeiter. Er hat in den Fünfzigern in einer Eisdiele gearbeitet.«

»Wie ich.« Mario grinst.

»Stimmt. Jedenfalls hat er meine Mutter kennengelernt, als beide noch ganz jung waren. Sie waren viele Jahre lang heimlich zusammen, dann wurde Mitzi mit mir schwanger. Sie sind gemeinsam nach Sizilien abgehauen, weil sie nicht den Mut hatte, ihrer Mutter zu beichten, dass sie ein uneheliches Kind von einem Ausländer erwartet.«

»Und seine Familie in Sizilien hat das besser aufgenommen?« Mario zieht die Augenbrauen hoch.

»Kann man nicht direkt sagen.«

»Hätte mich auch gewundert.«

Ich trinke noch einen Schluck. »Seine Mutter wollte, dass Mitzi wieder abreist und Gaetano ein Mädchen aus dem Dorf heiratet. Sie ist aber geblieben und hat uns dort zur Welt gebracht – mich und meine Zwillingsschwester. Man hat ihr gesagt, Lucia sei bei der Geburt gestorben.«

»Oh, das tut mir leid.« Mario rührt mit dem Strohhalm in seinem Glas.

»Die Beziehung meiner Eltern ist an der Trauer zerbrochen. Als Gaetanos Mutter auch noch behauptet hat, dass eine Frau aus dem Dorf von ihm schwanger ist, hat Mitzi ihre Sachen gepackt und ist Hals über Kopf mit mir zurück nach Deutschland gegangen.«

»Kann man ihr nicht verdenken.« Er schaut mich an, und weil ich nicht weiterspreche, sondern nur einen Bierdeckel in kleine Fitzel zerlege, fragt er: »Und dann?«

Ich klopfe mir die Pappkrümel von der Hand. »Nichts. Er hat ihr Briefe geschrieben, aber sie hat nie darauf geantwortet. Das war‘s.«

»Das ist traurig.«

Ich nicke und schlürfe noch einen Schluck Mojito. »Ich habe immer gespürt, dass meine Schwester noch lebt. Und als ich letzten Sommer nach Sizilien geflogen bin, habe ich herausgefunden ...« Ich zögere. Soll ich ihm das echt erzählen? Das klingt so unglaublich. Andererseits: Wenn irgendjemand diese Welt kennt, dann er.

»Was hast du herausgefunden?« Mario schaut mich über den Rand seines Glases hinweg an. Seine Augen sind groß und dunkel wie der Nachthimmel.

»Na gut. Der Arzt, der bei der Geburt dabei war, hat Lucia einem Mafiaboss gegeben, der ihn erpresst hat, weil seine eigene Frau keine Kinder bekommen konnte.«

Mario reißt die Augen auf. »Deine Schwester ist in einer Mafia-Familie aufgewachsen?«

»Dann haben wir wohl was gemeinsam, oder?«

Marios Gesichtszüge frieren ein. »Das ist nicht lustig.«

»War auch nicht als Witz gemeint.« Ich schaue in meinen Cocktail. »Jetzt bist du dran. Also, was war auf deinem Planeten los?«

Er presst die Handflächen zusammen. »Es ist einfach so, dass die Bosse in meinem Dorf über alles bestimmen.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, wer für wen welche Jobs erledigen muss, wer wen heiratet, wer lebt und wer stirbt, welches Kind in die Schule gehen darf, welches als Drogenkurier eingesetzt wird und welches als Killer.«

»Waaas?«

»Ich hab doch gesagt, dass das kein schönes Thema ist.«

»Kinder als Drogenkuriere und Killer?«

Mario zuckt die Schultern. »Unter vierzehn sind sie nicht strafmündig, verstehst du? Ich habe schon mit zehn Jahren schießen gelernt.«

Ich starre ihn an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Doch. Du gehörst deinem Boss, und der kann dich einsetzen, wie es ihm passt.« Er holt Luft. Jetzt wollen die Wörter doch aus ihm heraus. »Die Familien halten zusammen und es ist lebensgefährlich, sich von ihnen zu lösen. Einer Frau aus unserem Dorf haben sie Salzsäure zu trinken gegeben, weil sie sich von ihrem Mann getrennt hat und abgehauen ist.« Marios Stimme hat sich verändert. Sie klingt wütend, aber hinter der Wut höre ich ganz tief unten einen dunklen Schmerz.

»Oh Gott!«

»Du hast da niemanden, der dir hilft, verstehst du?« Er starrt in sein Glas und fuhrwerkt mit dem Strohhalm darin herum, als wolle er den Cocktail totrühren.

»Und wie bist du da rausgekommen?«

Er winkt ab. »Jetzt lass uns bitte wirklich von etwas anderem reden, das Thema verdirbt mir sonst den ganzen Abend. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen. Vergiss das alles einfach.«

»Vergessen? Spinnst du?«

Er greift nach meiner Hand und drückt sie, so als müsste er mich trösten, dabei ist es doch genau andersherum. »Erzähl mir lieber, was du wegen deiner Schwester unternehmen willst.«

»Ich werde sie finden.«

»Und wie?«

Ich räuspere mich. »Darüber darf diesmal ich nicht sprechen. Ich kenne jemanden, der jemanden kennt ...«

Mario verdreht die Augen. »Du redest schon wie eine richtige Sizilianerin.«

Jetzt muss ich in diesem ganzen Drama doch ein kleines bisschen grinsen. »Meinen Vater habe ich schon gefunden«, erzähle ich weiter. »An Ostern fliege ich nach Sizilien, um ihn kennenzulernen.«

»Erst an Ostern?« Er starrt mich fassungslos an. »Warum nimmst du nicht ein paar Tage frei und fliegst sofort hin?«

Ich umklammere mein Glas. Jetzt fängt der auch noch damit an! »Hanna muss in die Schule ...«

»Deine Mutter kann doch auf sie aufpassen.«

»Und meine Vorlesungen?«

»Linda! Ich bitte dich!«

Zum Glück klingelt mein Handy. Silvo. Mein Herz macht einen Salto und ich fahre so schnell vom Stuhl hoch, dass er fast umfällt.

»Alles klar?«, fragt Mario.

»Ich komme gleich wieder.« Während ich nach draußen gehe, nehme ich den Anruf an. »Pronto?«

»Ciao bella. Wie geht‘s? Was machst du?«

»Alles gut, danke. Ich bin mit einem Kollegen was trinken. Und du?«

»Was für ein Kollege?«

»Aus der gelateria.«

»Mit ihm allein?« Silvos Stimme klingt plötzlich kalt. Was hat er denn? Ich trete hinaus in die kühle Luft, hier ist es nicht so laut.

»Na ja, allein kann man nicht gerade sagen. Das Lokal ist ziemlich voll.«

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Bist du eifersüchtig?«

Schweigen.

»Ach komm, das ist nur ein Kollege, da ist doch nichts dabei. Erzähl mal, was machst du heute Abend?«

»Na, dann will ich nicht länger stören.«

»Du störst doch nicht ...«

Tut-tut-tut.

Ich starre mein Handy an. Der hat einfach aufgelegt. Ich fasse es nicht. War das jetzt eine original sizilianische Eifersuchtsszene? Eine Frau darf nicht mit anderen Männern reden, oder was?

Wut steigt in mir hoch. Dem werde ich was erzählen! Ich wähle seine Nummer und laufe vor der Bar hin und her. Es klingelt zwei Mal, dann wieder tut-tut-tut. Er hat meinen Anruf abgewiesen. Das gibt‘s doch nicht. Ich schalte das Handy aus. Stronzo.

So ist das also. Silvo ist ein richtiger Macho. Mitzi hatte doch recht. Alles Süßholzraspler, Hallodris und Schürzenjäger, diese Sizilianer. Aber nicht mit mir. Das habe ich nicht nötig. Besser, ich weiß gleich Bescheid, dass das mit uns nicht passt, bevor ich mich so richtig verliebe. Er ist schließlich nicht der einzige Mann auf diesem Planeten, der mich gut findet.

»Was ist?«, fragt Mario, als ich wieder zurück zum Tisch komme.

»Nichts.« Ich winke ab und nehme einen langen Zug von meinem Mojito. »Ich will noch einen.«

Er hebt mein Glas hoch, wartet bis die Kellnerin ihn anschaut und zeigt darauf. Dann fragt er mich: »Also?«

Ich schüttle den Kopf. »Will nicht drüber reden.«

»Im Nicht-Drüber-Reden-Wollen sind wir schon mal ein tolles Team, oder?« Er grinst. Hat wohl wieder den Gute-Laune-Knopf gedrückt. Dann versuche ich das jetzt eben auch mal und zwinge mich, ihn anzulächeln.

»Hast du eigentlich eine Freundin?«, frage ich.

Er hustet.

»Also nicht.«

Er wird schon wieder rot. Total süß. Ich mag ihn. Wirklich. Und er ist definitiv verknallt in mich. Warum kann es nicht auch bei mir funken? So ein ganz kleines bisschen? Das würde vieles leichter machen.

Die Kellnerin stellt den Cocktail vor mich hin und ich rühre, damit sich der Rum gut verteilt.

»Weißt du, was Frau Hirndobler heute bestellt hat?«, fragt Mario.

»Wieder Bruschetta mit sch?«

»Nein, Pizza Tonno ohne Pilze.«

»Aber auf einer Tonno sind doch gar keine Pilze ...«

»Eben.« Mario hebt die Hände. »Also ich so: Sie meinen eine Thunfischpizza ohne Zwiebeln? Und sie: Nein, ich esse keinen Thunfisch.«

»Leute gibt‘s.« Ich muss lachen und lege dabei meinen Kopf in den Nacken. »Und, was hast du ihr gebracht? Eine Margherita?«

»Ja. Und dazu wollte sie einen Cappuccino.« Er schüttelt sich.

Ich weiß, dass es nicht okay ist, wie ich an Marios Lippen hänge, dass ich ihn anstrahle, dass ich kichere wie ein Teenie, wenn er etwas Lustiges sagt. Aber ich kann nicht damit aufhören. Ich lege meine Hand auf seine, um auszuprobieren, wie sich das anfühlt. Eigentlich ganz nett. Ja, ich weiß, nett ist die kleine Schwester von scheiße. Ich ziehe meine Hand wieder zurück, doch jetzt greift Mario danach und hält sie fest.

Ist es gerade dunkler geworden? Ich sehe ein bisschen verschwommen, die Bar dreht sich. Linda, mach dir nicht immer so viele Gedanken, sage ich mir. Genieß doch mal den Augenblick. Mitzi würde jetzt sagen, du musst die Geschenke des Universums annehmen. Recht hat sie.

Mario winkt der Kellnerin und zahlt. »Lass uns gehen.« Er steckt den Geldbeutel weg, zieht mich hoch und bugsiert mich durch den Gang. Ich spüre seinen Körper, der mich vorwärts schiebt, seine Hände auf meinen Hüften.

Als wir draußen in der Dunkelheit stehen, dreht er mich um und küsst mich. Ich lasse es geschehen. Schließe die Augen, versuche mir Silvo vorzustellen, aber es funktioniert nicht. Marios Lippen fühlen sich anders an, und er schmeckt auch anders. Seine Hände wandern unter meinen Pulli, in meinen BH. Als er meine Brustwarze berührt, wache ich auf. Öffne die Augen, trete einen Schritt zurück.

»Was ist?« Seine Stimme ist heiser.

»Lass mal«, lalle ich.

Er zieht die Hände unter meinem Pulli hervor, streckt den rechten Arm aus und streichelt meine Wange.

Ich trete noch einen Schritt zurück. »Sorry. Hab zu viel getrunken. Bringst du mich nach Hause?«

Er schaut mich einfach nur an und seine Augen laufen über vor Traurigkeit. Dann sagt er: »Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen.«

»Nein, nein, damit hat das gar nichts zu tun.«

»Mit was dann?«

Ich schweige. Schließlich kann ich ihm nicht sagen, dass ich gerade sauer auf meinen sizilianischen Lover bin, weil er mir eine Eifersuchtsszene gemacht hat.

»Siehst du.« Er zuckt die Schultern. »Komm, ich fahr dich heim.«

Das schlechte Gewissen springt mich an wie eine Hyäne. Was bin ich nur für eine blöde Kuh.

 

 

Der Anruf

 

 

Eine Woche später habe ich Gaetano noch immer nicht angerufen. Sein Brief liegt unberührt in der Schublade. Ich habe niemandem erzählt, dass mein Vater seine Telefonnummer auf die Rückseite geschrieben hat, weil kein Mensch verstehen würde, warum ich nicht zum Telefon greife. Ich kapiere es ja selbst nicht.

Ehrlich gesagt fühle ich mich mies. Ich stelle ihn mir mit hängenden Mundwinkeln und Falten auf der Stirn vor, weil ich mich nicht melde. Nie hätte ich gedacht, dass das so schwer wird. Sich etwas zu wünschen, davon zu träumen und es sich immer und immer wieder auszumalen ist das eine. Aber es dann Realität werden zu lassen, das andere. Und mit jedem Tag, der verstreicht, wird es schwieriger.

Ich starre auf mein Handy. Was kann schon passieren? Los, sage ich mir, ruf da jetzt an. Es ist genau wie damals, als ich im Freibad auf den Zehn-Meter-Turm geklettert bin. Erst war ich wild entschlossen zu springen, aber mit jeder Stufe wurden meine Knie weicher, mein Mund trockener und mein Mut durchsichtiger. Als ich schließlich oben stand, alle Augen auf mich gerichtet, legte ich mich auf den Bauch und robbte rückwärts wieder zurück zur Leiter. Auf dem Weg nach unten zitterten meine Hände so sehr, dass ich Angst hatte, zu fallen.

Der Blick auf mein Handy fühlt sich genauso an. Eine Mischung aus Feigheit, Scham und Versagen. Was für ein beschissenes Gefühl.

Spring jetzt, sage ich mir. Ruf ihn einfach an, du feige Nuss. Aber was soll ich sagen? Na, irgendwas halt. Und wenn ich heulen muss? Oder wenn er total bescheuert ist? Los jetzt!

Ich atme tief durch, hole den Brief aus der Schublade und tippe mit zitternden Fingern die Nummer in mein Handy. Ich schließe die Augen. Einatmen, tuuut, ausatmen, tuuut. Einatmen, tuuut, ausatmen, tuuut.

»Ciao, hier ist Gaetano Inguanta.«

Ich reiße die Augen auf, will etwas sagen, verschlucke mich, huste.

»Hinterlasst mir eine Nachricht auf meiner Mailbox.«

Ahhh! Ich schmeiße das Handy aufs Bett, als würde es glühen. Die ganze Anspannung weicht aus mir und zurück bleibt eine Leere, die noch trostloser ist als vorher.

Das Handy klingelt.

Ich bekomme fast einen Herzinfarkt. Das ist er. Bestimmt. Er ruft zurück, weil er die deutsche Nummer gesehen hat. Ich will das Telefon greifen, es fällt mir aus der Hand. Am liebsten würde ich schreien. Das Klingeln verstummt. Oh Gott, ich dreh noch durch. Endlich bekomme ich es zu fassen. Auf dem Display steht Nunzia.

Ich atme tief durch, reibe mir übers Gesicht und rufe zurück.

»Mein Vater hat es herausgefunden«, ruft sie ohne Begrüßung aus dem Hörer.

»Was?«

»Wo Lucia aufgewachsen ist.«

Ein Schlag durchfährt mich, als hätte ich an den Stromzaun einer Kuhweide gefasst. »Nein!«

»Doch!«

»Du weißt, bei welcher Familie sie lebt?« Das Adrenalin schießt in Wellen durch meinen Körper.

»Yes.« Sie seufzt. »Aber das ist genau der Punkt. Es ist die Familie von Don Vincenzo.«

»Und wer ist das?«

»Er war in den Achtzigern einer der ganz großen Bosse in Palermo. Anfang der Neunziger wurde er verhaftet und saß lange im Knast.« »Okay ...« Ich schlucke. »Und warum?«

»Erpressung, Entführung, Prostitution, Drogen ...«

»Krass, ich hätte nicht gedacht ...«, stammle ich. »Fuck. Und Lucia?«

»Keine Ahnung. Seit er aus dem Knast raus ist, hat er sich aus den Geschäften zurückgezogen. Angeblich.« Sie schnauft demonstrativ. Dann senkt sie die Stimme. »Wenn du Lucia finden willst, musst du echt vorsichtig sein. Sie gehört zu denen.«

»Ja und? Ist ja nicht ihre Schuld.« Meine Stimme klingt patziger, als ich wollte.

»Natürlich nicht. Aber sie ist Teil dieser Welt. Und du bringst dich in Gefahr, wenn du sie betrittst.«

»Das bekomme ich schon irgendwie hin. Wenn du mir hilfst. Ich bin vorsichtig, versprochen.«

»Wenn Don Vincenzo merkt, dass du in seiner Dreckwäsche rumschnüffelst, hast du echt ein Problem.«

Ich schweige.

»Hast du das verstanden?«

»Ja.«

»Und willst du Lucia immer noch unbedingt finden?«

Ich räuspere mich. »Ja klar. Ich bin vorsichtig, ich verspreche es dir.«

»Du solltest es vor allem Hanna versprechen.«

»Ja.«

»Also, wann willst du kommen? In zwei Jahren?« Ich höre, dass sie grinst.

»Du bist so doof. Sofort natürlich. Also so bald wie möglich.«

»Linda!«

»Ich rede mit meiner Mutter, dann melde ich mich.«

»Okay. Ciao.« Sie legt auf.

 

Der Bildschirm meines Computers fährt hoch und ich tippe Don Vincenzo und Palermo in die Suchmaschine. Werbung für ein Ferienhaus. Ich füge Mafia und Prozess hinzu. Jetzt kommen jede Menge Infos über den Maxi-Prozess, den die beiden Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger gegen die Mafia geführt haben, bis sie in die Luft gesprengt wurden. Ich schlucke. Dann versuche es mit Prozess, Mafia, Don Vincenzo. Da gibt es nur aktuelle Zeitungsartikel, in denen aber der Begriff Vincenzo nicht vorkommt. Mist. Ich brauche genauere Informationen.

Ich rufe Nunzia noch mal zurück. »Hey, ich bin gerade im Internet. Weißt du den richtigen Namen von Don Vincenzo? Oder das Jahr, in dem sein Prozess stattgefunden hat?«

»Ich glaube, er heißt Vincenzo Lo Giudice.«

»Der heißt mit Nachnamen Richter?« Ich lache auf. »Was für ein Hohn.« Ich tippe den Namen ein. Da. Ein Zeitungsartikel über die Geschichte der Mafia in Palermo, in dem eine kurze Notiz zu ihm steht. »Nunzia, ich hab was.«

»Und?«

»Der Boss von Palermo wird wegen mehrfachen Mordes angeklagt.«

»Mord?«

»Ja. Hier steht: Vincenzo Lo Giudice soll Auftraggeber mehrerer Morde gewesen sein. Das war’s. Scheiße. Warum findet man so wenig über ihn?«

»Keine Ahnung. Komm nach Palermo, sobald du kannst. Ich frage meinen Vater noch mal nach Don Vincenzo. Und ich kenne hier jemanden, der uns weiterhelfen kann.«

»Alles klar. Ciao.«

Ich laufe in meinem Zimmer hin und her, vom Bett zum Fenster, zum Schreibtisch und wieder zurück. Lucia ist bei einem Mörder aufgewachsen. Ich muss sie da rausholen, und zwar schnell. Oder ist sie eine richtige Mafiaprinzessin? Nein, das kann nicht sein. Nicht meine Schwester.

Das Telefon klingelt schon wieder. Ich erstarre. Eine italienische Nummer. Silvo? Wird auch Zeit. Nein, den habe ich ja mit seinem Namen eingespeichert. Mir wird heiß. Das ist er. Mein Vater. Ich höre mein Herz hämmern. Will schreien. Davonlaufen. In den eiskalten See springen.

Ich hebe ab.

---ENDE DER LESEPROBE---