Der Raub der Erinnerungen - Uta Becker-Fernsler - E-Book

Der Raub der Erinnerungen E-Book

Uta Becker-Fernsler

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Beschreibung

Die Entdeckungen, die Lena Peters an ihrem elften Geburtstag in dem geheimnisvollen Berg, auf dem sie und ihre Eltern jetzt wohnen, gemacht hat, haben sie und ihren Vater in das »Archiv der Erinnerungen« geführt. Schon die ersten wiedergefundenen Erinnerungen an sein altes, richtiges Leben haben bewiesen, dass ihm vor 22 Jahren seine Erinnerungen nicht einfach nur abhandengekommen sind - sie wurden ihm geraubt! Und nicht nur ihm, sondern auch der neuen Nachbarin der Familie Peters. In ihr hat Lenas Vater seine Mutter erkannt und sie hat ihren Sohn Stefan wiedergefunden. Doch wo ist sein Vater? Bei der Suche nach ihm müssen sie vorsichtig sein, denn die Erinnerungsräuber sind ganz in der Nähe. Im Laufe ihrer Ermittlungen stoßen die Wiedervereinten auf weitere Personen mit Gedächtnisstörungen und gewinnen Freunde. Wird es ihnen gelingen, die Erinnerungsräuber zu entlarven und ihrer gerechten Strafe zuzuführen?

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Seitenzahl: 526

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Uta Becker-Fernsler

DER ZAUBER DER ORNAMENTE

Zweiter Teil:

Der Raub der Erinnerungen

Krimi-Märchen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.becker-fernsler.de

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Brummkreisel

Ungebetene Gäste

Endlich allein

Der Nachbar vom vorigen Sommer

Gedächtnislücken

Der Umhang

Das Geheimnis

Einsturzgefahr

Der Koffer

Der untere Kegel

Der Einmischer

Der Rosenkavalier

Der Oberwächter

Leon

Der Tunnel

Die Begegnung

Ein subjektives Porträt

Der Raub der Erinnerungen

Ein Geburtstagsgeschenk

Elf Erinnerungen

Klaus Brandstetter

Gezieltes Vergessen

Mittagessen in Hellersfurt

Der letzte Versuch

Die Abreise

Ausklang

Brummkreisel

Lena hebt den Kopf und blinzelt in die Sonne, die ihre warmen Strahlen zu den vier Menschen auf die Lichtung hinabsendet, als wäre nichts geschehen. Oma Marianne drückt den Moosdeckel ganz fest auf den Rand des großen Kegels und richtet sich auf. Reglos bleibt sie stehen und schüttelt ein wenig den Kopf.

Auf der Lichtung herrscht Schweigen.

Lena kann sich so ungefähr vorstellen, was ihre neue Oma jetzt empfindet, kommt ihr doch selbst alles, was sie heute erlebt hat, wie ein Traum vor! Ein Traum, aus dem man nicht erwachen möchte, denn wie furchtbar wäre es, wenn man sich dann eingestehen müsste, dass man all das Wunderbare nur geträumt hat!

Doch sie müssen aufwachen – der Vater hat gesagt, dass es zu tun gibt! Und die Oma hat gesagt …

»Das Archiv hat euch gehört?«, durchbricht Lena das Schweigen. »Aber wer hat es euch weggenommen? Etwa dieser Mistkerl?«

Sie läuft zum Moospolster, bückt sich und sucht hastig im Gras nach der Stelle, von der aus man den Riesendeckel öffnen kann.

»Warum machst du denn das Archiv schon wieder zu?«, fragt sie aufgeregt.

»Ihr müsst doch bestimmt noch ganz viele Erinnerungen sammeln, oder?« Oma Marianne hat sich zu Lena hinabgebeugt, hält ihre tastenden Hände fest und zieht sie sacht nach oben.

»Natürlich brauchen wir noch viele Erinnerungen«, sagt sie, »aber für heute muss es genug sein. Wir sollten erst einmal sortieren, was wir schon haben.« Sortieren – das hört sich gut an, findet Lena.

»Legen wir daraus ein Puzzle?«, fragt sie gespannt.

»Ja, ein Puzzle aus unseren Erinnerungen«, hört sie den Vater sagen, »das ist ein guter Vergleich!«

Ganz unerwartet lacht er auf – es ist ein bitteres Lachen – und fügt hinzu:

»Ein Puzzle aus verlorenen Jahren!«

»Kommt, gehen wir zu uns auf die Terrasse«, schlägt die Mutter behutsam vor,

»wir sollten erst mal wieder in die Wirklichkeit zurückfinden, meint ihr nicht auch?«

Der Vorschlag wird von allen erleichtert aufgegriffen – zu viel ist auf sie eingestürmt, also wird es gut sein, ein bisschen »Normalität« zu spielen.

Und so beginnen sie mit dem Abstieg zum Haus.

Oma Marianne schiebt die Büsche auseinander und geht voran. Die anderen folgen ihr im Gänsemarsch, der Vater trägt das »Diabolo«.

»Wir sollten auch etwas essen«, meint Oma Marianne, während sie sich zu ihnen umdreht, und ihr ist anzumerken, dass es ihr selbst recht seltsam vorkommt, solch einen alltäglichen Vorschlag zu machen. Dennoch versucht sie, ganz normal weiterzusprechen: »Wir können auch bei mir essen, bei euch geht doch sicher noch alles durcheinander.«

»Du wirst dich doch jetzt nicht an den Herd stellen«, wehrt der Vater ab,

»komm mit zu uns. Wir bestellen eine Pizza und zeigen dir das Haus …« Urplötzlich bricht er ab und bleibt lauschend stehen.

Oma Marianne blickt fragend zu ihm hinauf.

Der Vater ringt nach Worten – das »Normalitätsspiel« ist so schnell beendet wie es begonnen hat.

»Es wird immer undurchsichtiger«, sagt er schließlich leise, »du müsstest das Haus nämlich kennen – es gehört dir!«

Oma Marianne schüttelt den Kopf.

»Das kann nicht sein – dieses Haus gehört mir!« Und sie zeigt auf das Haus Nummer 11a, bei dem sie eben angekommen sind. Langsam gehen sie zur Terrasse.

»Was weiß ich, vielleicht gehören dir sogar beide Häuser«, überlegt der Vater laut, »aber die Nummer 11, die hast du von deinem Vater geerbt. – Als ich damals so wütend war, weil wir so plötzlich umziehen mussten, da hast du mir erklärt …«

»Papa«, ruft Lena empört dazwischen, »davon hast du aber unten im Kegel gar nichts erzählt! Wir wollten doch nichts verschweigen!!« Erschrocken steht er da und lauscht in sich hinein.

»Ich habe dir nichts verschwiegen«, sagt er dann und atmet hörbar auf, »wirklich nicht. Ich habe mich eben ganz von selbst an dieses Gespräch erinnert, habe es richtig vor mir gesehen, wie wir …«

»Von selbst?«, zweifelt Lena und wirft einen kurzen Blick auf die beiden Kegel des »Diabolo«, doch sie sieht nur zwei verschlossene Grundflächen.

»Schnell, Papa«, ruft sie, »schau ins ›Diabolo‹!«

Unsanft packt sie seine Hand, in der er das »Diabolo« hält, und schiebt sie nach oben vor seine Augen.

Er schaut nacheinander in beide Kegel hinein, dann nickt er – er hat verstanden.

»Das gehörte noch zu der blau-violetten Erinnerung«, sagt er mit einem Blick in den blasseren Kegel, »aber dieses Stück von dem Gespräch ist eben erst dazugekommen. – So, fertig«, fügt er hinzu und lässt den Arm wieder sinken.

»Wie schnell die Gedanken sind«, sagt er dann, »wenn ich mir jetzt dieses Gespräch über die Erbschaft wieder herbeihole, dauert es viel länger. Aber als ich es eben in meinem Erinnerungsfilm gesehen habe, ging es so schnell, dass ich nicht einmal begriffen habe, dass ich wieder einen Film sehe. – Nur, wo kam der her?«, fragt er mit einem Blick den Nasenberg hinauf.

»Der ist aus deinem ›Diabolo‹ gekommen«, sagt Lena sehr bestimmt. »Du hast dich an etwas erinnert, aber nur ein bisschen, und das ›Diabolo‹ hat dieses Bisschen irgendwie an sich genommen. Und dann konntest du deinen Film sehen.«

Überrascht schauen die Eltern Lena an.

»Woher weißt du das?«, fragt der Vater.

»Ich hab es gestern entdeckt, als ich mit dem ›Diabolo‹ im Hof saß«, teilt Lena mit.

Die Mutter schaut sie fragend an, hinter ihrer Stirn arbeitet es, und dann fragt sie aufgeregt: »Heißt das, dass deine Erinnerungen, von denen du uns heute nach dem Frühstück erzählt hast, aus dem ›Diabolo‹ gekommen sind?«

»Ja«, antwortet Lena, »und aus dem Schlüssel.«

»Aus dem Schlüssel? Und aus welchem?«, fragt Oma Marianne erstaunt und holt die beiden Schlüssel aus ihrer Hosentasche.

»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher«, gibt Lena Auskunft, »aber wahrscheinlich können sie es beide.«

Die Eltern schauen sich die bunten Schlüssel an, jeder nimmt einen davon in die Hand und dreht ihn im Sonnenlicht hin und her; dabei zählen sie die Ringe.

»Elf«, sagt der Vater, »immer wieder die Elf. Das scheint ja wirklich …«

Mitten im Satz verstummt er, schaut sich wieder lauschend um, hält den Schlüssel dicht vor seine Augen und nach wenigen Augenblicken erzählt er einen weiteren Erinnerungsfilm …

Der Film hatte anfangs einen hellblauen Rahmen und zeigte Stefan und seine Eltern im Auto auf der Fahrt nach Rauschenfelde. Ein schlecht gelaunter, trotziger Stefan war da zu sehen, der vom Rücksitz aus an Rauschenfelde herumnörgelte. Sein Vater wies ihn zurecht und gab ihm zu bedenken, wie sehr sein Gemaule die Mutter, die so hart an ihrer Zulassung als selbständige Gedächtnistrainerin gearbeitet hatte, kränken müsse. Stefan sah im Rückspiegel das müde und traurige Gesicht der Mutter und schwieg beschämt.

Kurz darauf passierten sie den Ortseingang von Rauschenfelde und fuhren dann vom Zentrum aus bei herrlichstem Sonnenschein bergan. Vorm Haus Nummer 11 brachte der Vater das Auto zum Stehen. Die Mutter drückte Stefan einen Schlüssel mit einem großen bunten Schlüsselkopf in die Hand und sagte: »Na, lauf schon und schließ uns die Tür auf!«

Ihr Gesicht strahlte jetzt und Stefan war erleichtert. Schnell stieg er aus und nahm den Anblick des Grundstücks in sich auf. Dann öffnete er mit dem sonderbaren Schlüssel das Gartentor, stieß es weit auf und stürmte die geschwungene Treppe hinan bis zum Haus …

Im Verlaufe dieses Erinnerungsfilmes wechselte der Rahmen seine Farbe. Zum Schluss sah Lenas Vater wieder sich selbst – er war auf der Rasenfläche vorm Haus angelangt, drehte sich um und winkte seinen Eltern, die noch unten auf dem Fußweg standen, übermütig zu. Dieses Bild war von einem Rahmen von hellem Gold umgeben und bevor es verschwand, verlor es an Schärfe – als sei es mit einem durchscheinenden goldfarbenen Schleier überzogen …

Oma Marianne hat der Erzählung angespannt gelauscht und Lena kann ihr geradezu von der Stirn ablesen, wie ihre Gedanken sich mühen der Erinnerung zu folgen. Doch dann schüttelt sie entmutigt den Kopf.

»Keine Spur«, sagt sie leise, »nichts. – Und du bist dir ganz sicher, dass es nicht die 11a war?«

»Ganz sicher«, meint der Vater mit fester Stimme, »ich sehe mich ja regelrecht vor mir, wie ich die Treppe hoch renne – ist denn deine Treppe hier auch so geschwungen?«

»Nein, sie ist völlig gerade – und ziemlich steil. Weißt du das schon nicht mehr?«, wundert sich Oma Marianne, »du hast mir doch erst vorhin unten im Kegel erzählt, dass du uns damals nicht nur im Haus, sondern auch nebenan gesucht hast.«

»Da habe ich die Treppe gar nicht benutzt«, gibt er zur Antwort, »der oberste Zaun war nämlich ausgehängt, im Gegensatz zu heute.« Und mit einem kurzen Auflachen fährt er fort: »Deshalb mussten Steffi und ich vorhin auch drüberklettern!«

Dabei zeigt er auf den Lattenzaun, der in Höhe der beiden Häuser seinen Anfang nimmt und auf dem »Nasenrücken« bis ganz nach unten verläuft – zur »Nasenspitze«, um die herum Fußweg und Straße einen Bogen beschreiben.

Die Mutter ist ein bisschen zusammengefahren, als der Vater ihren Namen genannt hat. Ganz gegen ihre Gewohnheit war sie nicht bei der Sache und hat von dem Gespräch zwischen ihm und Oma Marianne wohl nichts mitbekommen. Jetzt ist sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt, wie Lena es eigentlich nur von sich selbst kennt.

Die Mutter hat den zweiten bunten Schlüssel immer noch in der Hand, hält ihn ins Sonnenlicht und führt ihn ganz nahe an ihre Augen heran. Dann gibt sie ihn der Oma zurück.

»Bei mir klappt es nicht«, sagt sie enttäuscht.

»Wir kommen schon noch dahinter«, tröstet Lena, »vielleicht kann ja doch nur einer von beiden zaubern.«

Dann wendet sie sich etwas zaghaft an die Besitzerin des Kegels: »Darf Mama morgen auch mal ins Archiv?«

»Aber natürlich!«, kommt sofort Oma Mariannes Antwort, »doch heute sollten wir wirklich erst mal alles sortieren – wir sind schon wieder davon abgekommen vor lauter neuen Erinnerungen! Und wir sollten auch endlich etwas essen! – Wartet einen Moment!«

Sie läuft durch die geöffnete Terrassentür ins Haus und als sie kurz darauf wiederkommt, hält sie ein buntes Heftchen in der Hand – das Angebot eines Pizzalieferanten.

Schnell haben sie sich über die Bestellung geeinigt und dabei wieder ein bisschen Normalität gespielt, haben sich im Scherz gestritten, wer von ihnen wohl den größten Hunger hat und das größte Stück von der Pizza bekommt. Oma Marianne hat ein sehr lustiges Telefongespräch mit dem Pizzeria-Chef geführt und ihm das Versprechen abgenommen, schnellstmöglich in die Bergstraße 11 zu liefern, da sonst alle Anwesenden verhungern müssten.

»Er liefert bestimmt extra schnell, wir kennen uns nämlich schon lange«, sagt Oma Marianne nach dem Gespräch, »seine Oma ist in einer meiner Trainingsgruppen im Seniorenheim und dort besucht er sie mindestens einmal in der Woche. – Einen Bärenhunger hab ich jetzt!«

»Gehen wir«, sagt der Vater und lacht, »nicht dass die Lieferung am Ende noch eher da ist als wir. Wenn das nämlich mit den Erinnerungen so weitergeht wie bisher, habe ich alle zwei Meter einen neuen Film zu erzählen und die Pizza wird uns kalt!«

»Ja, das könnte leicht passieren«, meint Oma Marianne. »Hier ist man von Erinnerungen umgeben«, sagt sie und beschreibt mit dem Arm einen großen Kreis, der den oberen Teil des Nasenberges, das kleine »Diabolo« und sie alle einschließt, »nicht, dass es zu viele werden!«

Kaum hat sie das ausgesprochen, stützt sie sich mit beiden Armen auf dem kleinen Tisch ab, als sei ihr schlecht geworden. Die Mutter eilt zu ihr und hält sie fest.

»Was hast du?«, ruft sie besorgt.

Doch schon richtet sich Oma Marianne wieder auf.

»Es ist schon wieder vorbei«, sagt sie, »vielleicht habe ich nur den Hunger übergangen – so was habe ich öfter. Mir war auf einmal so heiß und dann wurde mir schwindlig, als ob sich unter meinen Füßen die Terrasse weggedreht hätte!« Vorsichtig schaut sie nach unten.

Lena weiß sehr genau, was passiert ist, sagt aber nichts. Sie wird später erklären, wodurch solche Hitzewellen und Schwindelanfälle zustande kommen. Jetzt wird es erst einmal Zeit, dass sie ungehindert nach drüben gelangen und mit dem Sortieren der Erinnerungen anfangen!

Während Lena hinter den anderen die steile Treppe hinabsteigt, versucht sie, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen: Das Archiv der Erinnerungen gehört also der Familie Petzold, so viel ist klar. Doch wer hat es gestohlen und warum hat er das getan? Und warum hat er diese schrecklichen Erinnerungslücken herbeigeführt – und wie hat er das gemacht? Da steckt bestimmt dieser Mistkerl dahinter, der in Vaters Erinnerungen so eine große Rolle gespielt hat – aber wer ist das?

All diese Fragen stürmen auf Lena ein, sodass sie kaum bemerkt, dass sie schon unten angelangt sind. Sie verlassen das Grundstück, Oma Marianne schließt sorgfältig mit ihrem bunten Schlüssel die Eingangstür ab und sie gehen das kurze Stück bis zur Ecke des Nasenberges. Doch kaum haben sie die Ecke hinter sich gelassen, werden sie von der Wirklichkeit eingeholt – vor der Nummer 11 stehen ein Möbellift und der Möbelwagen, um den ein sichtlich verärgerter Mann herumläuft. Die Fäuste in die Taschen seiner Arbeitshose gebohrt, den Kopf gesenkt, so tigert er um das große Auto herum. Sowie er die vier erblickt hat, fährt er auf den Vater los: »Herr Peters?!«

Der Vater nickt etwas unsicher – schließlich kann der Mann ja nicht wissen, dass er eigentlich Herrn Petzold vor sich hat – und öffnet gerade den Mund zu einer Antwort, da schimpft der Mann schon auf ihn ein: »Seit einer halben Stunde versuche ich Sie zu erreichen – wollen Sie Ihre Möbel nun haben oder nicht? Und wozu haben Sie eigentlich ein Handy, wenn Sie nicht rangehen! Meine Mannschaft habe ich inzwischen Kaffeetrinken geschickt, ehe die wieder da sind …«

Hier unterbricht die Mutter den erbosten Mann: »Es tut uns leid, wir haben vor lauter Wiedersehensfreude die Zeit verpasst. Kommen Sie mit nach oben, Sie sollen natürlich auch Ihren Kaffee haben!«

»Und ein Stück Pizza«, mischt sich Lena ein.

»Und Kuchen«, ergänzt Oma Marianne. »Ich gehe nochmal zurück«, schlägt sie dann vor, »und hole meinen Kuchen – Kaffee bringe ich auch gleich mit.« Und schon ist sie wieder hinter der Ecke verschwunden. Der Vater schaut auf die Uhr. »Kurz nach halb drei«, sagt er, »sollten die Möbel nicht erst um vier kommen?«

»Spätestens um vier«, knurrt der Mann und schaut nach oben zum Haus. »Was für ein Auftrag! Hoffentlich reicht unser Möbellift bis ans Haus heran! Und dann noch diese Hitze!«

Immer noch vor sich hin brummend, steigt er mit ihnen die Treppe hoch. Auf halber Höhe lacht er plötzlich laut heraus und haut dem Vater seine kräftige Hand auf die Schulter.

»Na, da kannste im Winter aber Schnee schieben«, ruft er begeistert aus und lacht noch einmal kurz und dröhnend.

»Ach«, meint der Vater friedfertig und zwinkert Lena zu, »es wird mir schon jemand helfen!«

Im nächsten Augenblick bleibt er wie angewurzelt stehen und hebt das »Diabolo« vor seine Augen.

Geistesgegenwärtig sorgt die Mutter dafür, dass der Möbelfahrer davon nichts mitbekommt, sie dirigiert ihn unauffällig weiter die Treppe hinauf bis auf die Terrasse.

Nur wenig später kommt auch der Vater dort an, stellt das »Diabolo« auf den Tisch und nickt Lena und der Mutter kurz zu – also hat er wieder einen Film gesehen, offensichtlich mit einer guten Erinnerung, denn er sieht ruhig und zufrieden aus.

Lena platzt fast vor Neugier, aber sie begreift, dass sie auf den neuen Erinnerungsbericht warten muss – jetzt ist erst einmal Normalität angesagt!

»Wir brauchen noch zwei Stühle«, sagt jetzt der Vater auch richtig in ganz normalem Tonfall, »komm, Lena, hilf mir!«

Sie gehen zusammen um das Haus herum und betreten durch die offenstehende Tür die breite Abstellkammer.

In der Außenwand rechts von ihnen befindet sich ein staubiges und mit Spinnweben halb bedecktes kleines Fenster. Nach ein paar Sekunden haben sich Lenas Augen an das Halbdunkel gewöhnt und sie schaut sich in der Kammer um. Der Raum ist mit allem erdenklichen Gerümpel vollgestellt, wie es sich für eine Abstellkammer gehört: Gartengeräte, mehrere Eimer, ein altes Dreirad, ein Wäschekorb, eine große ovale Zinkwanne, ein zusammengerollter Gartenschlauch, gegenüber der Tür ein Regal. An der linken Wand sieht sie einige hohe dunkle Bretter, wahrscheinlich die Türen und Seitenwände eines ausrangierten Schrankes. Vor einem dieser Bretter stehen aneinander gelehnt mehrere Klappstühle für die Terrasse.

Der Vater zieht zwei Stühle hervor. Draußen, neben dem Eingang, klappt er sie auf und Lena säubert sie notdürftig mit einem Handfeger, den sie in der Kammer gefunden hat.

»Die müssen wir noch mal richtig abwaschen«, meint der Vater und wieder klingt seine Stimme völlig normal, so, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres als diese Stühle! Lena ist kurz davor aus der Haut zu fahren und sie hält den Vater, der gerade mit einem Stuhl in der Hand wieder vors Haus gehen will, zurück.

»Und dein neuer Erinnerungsfilm? Du hattest doch eben auf der Treppe wieder eine Erinnerung, stimmt’s?«, drängt sie.

»Ja, hatte ich«, gibt er zu, »nur eine kleine Sache, was ganz Normales.«

»Warst du da noch klein?«, fragt sie gespannt.

»Nein, das muss kurz nach unserer Ankunft in Rauschenfelde gewesen sein. Ich erzähle es nachher, wenn wir wieder unter uns sind, okay?«

»Ach, Papa«, bettelt sie, »erzähl es mir doch jetzt schon!«

»Nachher«, beharrt er, »vielleicht kommt ja noch was dazu! Schließlich sind wir hier von Erinnerungen umgeben, da hat Oma Marianne ganz Recht!«

»Dass du so ruhig bleiben kannst, als ob nichts weiter passiert wäre!«

Da legt er den Klappstuhl, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, beiseite und nimmt Lena in den Arm.

»Wenn du wüsstest«, sagt er leise, »wie es in mir aussieht. Ich bin kein bisschen ruhig, das kannst du mir glauben!« Dann wird seine Stimme sehr eindringlich:

»Hör zu, Lena, wir müssen uns jetzt ganz normal und unauffällig verhalten, schließlich sind wir nicht allein auf der Welt, verstehst du?«

Lena umarmt ihren Papa ganz fest und in der Umarmung spürt sie, wie sein Herz hämmert.

»Wir müssen wirklich aufpassen!«, hört sie ihn sagen. »Wenn wir auch durch die paar Erinnerungen noch längst nicht alles erfahren haben – eins ist klar: vor 22 Jahren ist meinen Eltern und mir hier etwas ganz Schlimmes passiert. Wir wissen auch, wer dahintersteckt. Aber wie sie es gemacht haben, das wissen wir nicht, und vor allem wissen wir nicht, wo mein Vater ist.«

»Wir finden ihn«, tröstet Lena und hat alle Mühe, dass ihr die Stimme nicht versagt, »wir finden ihn bestimmt!«

Dann löst sie sich aus der Umarmung.

»Und was wollten die von euch?«, fragt sie.

»Denen ging es um unser Archiv und …«

»Und um das ›Diabolo‹«, fällt ihm Lena ins Wort, »aber du hast es nicht rausgerückt! Du hast dich gewehrt!«

»Und ob ich mich gewehrt habe«, sagt er und greift wieder nach dem Stuhl.

»Komm Lena, jetzt machen wir diese beiden Stühle ordentlich sauber und tun so, als ob alles ganz normal wäre.«

»Gut«, stimmt Lena zu und versucht einen Scherz: »Wir waschen jetzt ganz normal diese normalen Stühle und setzen uns auf unsere normale Terrasse. Komm, Herr Peters!«

Sie greift sich den zweiten Klappstuhl und zusammen gehen sie wieder vors Haus, wo sie die Stühle auf dem Rasen aufstellen. Der Vater holt Wasser und Putzlappen herbei und sie konzentrieren sich ganz auf ihre Arbeit – alles ganz normal!

Schnell sind die Stühle an der Sonne getrocknet und sie tragen sie auf die Terrasse. Das Küchenfenster steht offen und die Mutter reicht dem offenbar besänftigten Möbelfahrer Geschirr hinaus. Friedlich deckt er den Tisch für fünf Personen, dabei pfeift er sogar ein Liedchen!

Auf dem Tisch liegt Vaters Handy – es ist nur zu verständlich, dass er es vorhin vergessen hat, als er und die Mutter losgerannt sind, um über den Zaun in Oma Mariannes Grundstück zu klettern. Er schaut auf das Display des kleinen Telefons. »Oh«, sagt er zu dem Möbelfahrer und macht eine bedauernde Geste, »sieben Anrufe!«

Der Mann winkt nur ab, sein Ärger scheint endgültig verflogen zu sein. Vaters Blick sucht den Tisch ab und dann fragt er mit gekünstelter Freundlichkeit: »Ähm, Verzeihung, haben Sie vielleicht … hier stand doch vorhin …«, schnell bricht er ab.

»Das runde Dings meinen Sie wohl! Das war mir beim Tischdecken im Wege!«, sagt der Möbelfahrer, bückt sich und holt unter einem der Stühle das »Diabolo« hervor. »Hier, dein Brummkreisel«, sagt er zu Lena, »der stand auf dem Tisch, da gehört er doch aber nicht hin, stimmt’s?«

Und mit einem väterlichen Kopfschütteln hält er Lena das »Diabolo« hin. Hastig nimmt sie es an sich und registriert dabei den verwunderten Blick des Mannes – sicher denkt er, dass dieses Mädchen viel zu groß ist, um noch mit einem Brummkreisel zu spielen!

Ungebetene Gäste

Soll er es denken, Hauptsache, das »Diabolo« verschwindet aus seinem Blickfeld!

»Dankeschön«, sagt sie so normal wie möglich und wechselt einen verstohlenen Blick mit dem Vater.

Auch die Mutter hat vom Küchenfenster aus die kleine Szene verfolgt.

»Gib ihn her«, sagt sie scheinbar unbefangen und Lena reicht ihr den vermeintlichen Brummkreisel. Schnell verstaut die Mutter das »Diabolo« in dem Hängeschrank über der Spüle. »Der hat jetzt erst einmal Pause«, sagt sie und der Vater nickt dazu ohne eine Miene zu verziehen!

Der Möbelfahrer wirft noch einen nachdenklichen Blick auf Lena und sie hat Mühe nicht loszulachen. Das Normalitätsspiel kann ja sogar Spaß machen, denkt sie, auf jeden Fall ist es eine willkommene Ablenkung.

Der Tisch ist fertig gedeckt, die Mutter ist zu ihnen hinaus gekommen und wie aufs Stichwort kommt jetzt auch Oma Marianne, einen großen Einkaufskorb am Arm, auf der Terrasse an. Etwas außer Atem geraten, stellt sie eine Thermoskanne mit Kaffee, Kaffeesahne und Zucker, den am Vormittag angeschnittenen Marmorkuchen, ein paar Tetrapacks mit Kakao und eine große Gebäckmischung auf den Tisch. Den Korb stellt sie unterm Küchenfenster ab und lässt sich aufatmend auf einem der Stühle nieder.

»Wir sollten den obersten Zaun wieder herausnehmen«, schlägt der Vater vor,

»dann haben wir es nicht mehr so weit zueinander.«

»Ja, das sollten wir machen«, stimmt sie ihm erfreut zu. »Allerdings«, ergänzt sie nach einer kurzen Pause mit einem Seitenblick auf den Fahrer, »haben lange Wege auch ihr Gutes – man kommt dabei auf recht interessante Gedanken!«

Sie hatte mindestens eine neue Erinnerung, denkt Lena und freut sich darüber genauso wie über den Fortgang des Normalitätsspiels, dem sich die Oma ohne viel zu überlegen angeschlossen hat.

Geschirr klappert, Kaffee wird eingeschenkt – alles ganz normal! Lena schaut nach unten, um vor dem Fahrer ihr Lächeln zu verbergen, da streift ihr Blick den abgestellten Einkaufskorb. Oh je, in dem Korb liegt der Karton vom »Diabolo« und die Aufschrift auf dem Deckel lautet nicht etwa »Brummkreisel«! Der Karton muss weg, damit das Thema »Brummkreisel oder kein Brummkreisel« gar nicht erst aufkommt. Wie selbstverständlich erhebt sich Lena, greift sich den Korb und geht damit ins Haus. Nur die Mutter hat ihr kurz hinterhergeschaut und Lena ist sich sicher, dass sie den Mann, der von seinem Stuhl aus in Richtung Küche blickt, ein bisschen ablenken wird.

Schnell geht Lena in die Küche und stellt den Korb auf dem Fußboden ab. Dann öffnet sie den Karton und legt den Deckel neben den Korb. Den Rücken zum Fenster gekehrt, holt sie rasch das »Diabolo« aus dem Hängeschrank, beugt sich nach unten und legt es vorsichtig auf das Seidenpapier. Brummkreisel, denkt sie dabei, doch dann hebt sie das »Diabolo« noch einmal kurz an – irgendetwas ist nicht so, wie es sein soll. Ihr scheint, dass die Kegel nicht mehr so starr miteinander verbunden sind, dass sich die Verbindung zwischen ihnen ein wenig gelockert hat. Ob sich das »Diabolo« überanstrengt hat? Wie viele Male mag es sich gedreht haben, um bei der Herstellung haltbarer Erinnerungen behilflich zu sein!

Brummkreisel, Brummkreisel – wenn es auseinanderbräche, hätte man sogar zwei Kreisel! Ob der Möbelfahrer daran gedreht hat? Aber wozu sollte er so etwas tun?

Hastig legt Lena den Deckel mit dem Jongleur über das »Diabolo«, schiebt den Korb mit dem Karton in den leeren Schrank unter der Spüle und bedeckt ihn zur Sicherheit noch mit einem Geschirrtuch. Rasch verlässt sie die Küche, wobei sie sich bemüht, nicht auf die Terrasse hinauszuschauen, obwohl sie nur zu gerne wüsste, ob der Möbelfahrer sie beobachtet hat. Und selbst wenn, sagt sie sich, dann hat er nichts von dem gesehen, was sie gemacht hat – der mit seinem Brummkreisel!

Lena wird klar, dass sie zu aufgeregt ist, um gleich wieder zu den anderen hinauszugehen. Sie setzt sich auf die Treppe zum Obergeschoss und versucht ihre Gedanken zu ordnen.

Ob nicht doch der Möbelfahrer am »Diabolo« gedreht hat? Vielleicht arbeitet er ja im Auftrag der Erinnerungsräuber, da wird er aber kein Glück haben, sie werden schon auf ihr »Diabolo« aufpassen!

Lenas Phantasie macht Bocksprünge. Vielleicht, denkt sie, sollte der Mann sogar den Einbruch in den Möbelwagen ausführen und weil es ihm nicht gelungen ist, spielt er ihnen jetzt den netten Kumpel vor? Oder vielleicht gehört er gar nicht zu der Transportfirma, sondern hat nur die Pause der richtigen Transportarbeiter abgepasst? Sie hat schon davon gehört, dass Diebe sich als Arbeiter verkleiden und am helllichten Tag ganze Wohnungen leer räumen!

Durch die geöffnete Haustür hört Lena den Ruf: »Wünsche guten Hunger zum Appetit – Ihr Pizzabote ist da!«

Sie ermahnt sich – und ihre Phantasie – zur Ordnung. Schluss damit!

Jetzt spürt sie auf einmal, wie hungrig sie ist – höchste Zeit, dass sie etwas Ordentliches in den Magen bekommt. In ihrem Kopf summt und brummt und dreht es sich – wie ein Brummkreisel! Sie geht aus dem Haus, zieht sicherheitshalber die Haustür fest hinter sich zu, läuft durch den mit Rosen bewachsenen Torbogen hindurch und kehrt auf die Terrasse zurück. Dort bietet sich ihr ein ganz normales Bild: Vater, Mutter, Oma, ein netter Pizzabote, der gerade mit geübter Hand den großen Karton mit der in handliche Stücke zerteilten Pizza öffnet, und ein Zufallsgast, dem es jetzt bei diesen unpünktlichen Leuten ausnehmend gut zu gefallen scheint … also, wie ein gedungener Einbrecher sieht der Mann wirklich nicht aus! Aber der Vater hat vorhin gesagt, dass sie vorsichtig sein müssen! Trotzdem: Schluss damit!

Sie wird erst einmal in Ruhe essen, und übrigens sind ja genug Leute auf der Terrasse, da kann ein Dieb und Einbrecher sowieso nichts ausrichten! Lena setzt sich.

Sie nehmen ihre Pizza-Stücke gleich aus dem Karton, denn für diese Mahlzeit reicht das bisschen Geschirr, das sie für ihr erstes Rauschenfelder Frühstück mitgebracht haben, nicht aus. Der Pizzabote bekommt von Oma Marianne Grüße an seinen Chef aufgetragen. Dann verabschiedet er sich mit einer spaßig übertriebenen Verbeugung und den Worten: »Also dann, guten Appetit im Spukhaus!« – und weg ist er.

»Spukhaus?!«, fragen Lena und der Möbelfahrer wie aus einem Munde. Auch die Eltern gucken dem Pizzaboten ein wenig erschrocken hinterher.

»Ach was, Spukhaus«, sagt Oma Marianne wegwerfend, »so nennen es halt manche Leute hier – wahrscheinlich, weil es längere Zeit leer gestanden hat. –

»Noch einen Kaffee?«, wendet sie sich dann an den Möbelfahrer.

»Aber gern«, sagt der und hält der Oma seine Tasse hin. Auch die Mutter bittet um die nächste Tasse Kaffee, doch das kleine Ablenkungsmanöver hat nicht geklappt.

»Ja, bei so was sind die Leute schnell«, setzt der Möbelfahrer das Thema »Spukhaus« fort, »als wir vorhin hier hoch gefahren sind, haben wir einen Jungen nach dem Weg gefragt – der wollte auch gleich wissen, ob wir die Möbel etwa ins Spukhaus bringen.«

Behaglich lehnt er sich zurück und lässt sich den Kaffee und die Pizza schmecken.

»Na, Kleine«, sagt er dann zu Lena, »hast du denn auch keine Angst in eurem Spukhaus?«

»Nein, überhaupt nicht«, antwortet Lena in etwas patzigem Ton, »schließlich haben wir ja die erste Nacht schon lebend überstanden!« Der Mann lacht laut, klopft Lena anerkennend auf die Schulter und erhebt sich.

»Zeit, dass meine Leute kommen. Nicht, dass wir hier noch bis zur Geisterstunde Möbel schleppen müssen!« Er stellt sich auf die Wiese vorm Haus und betrachtet es noch einmal gründlich – vielleicht sogar zu gründlich?

»Ein schönes Haus«, sagt er dann, »wenn bloß die vielen Stufen nicht wären! – Ah, da kommen sie!«

Und er läuft zu seinen Arbeitern, die gerade in einem Jeep vorgefahren sind.

»Na, endlich«, atmet Lena auf, kaum dass der Mann außer Hörweite ist,

»komm, Papa, erzähl schon!«

»Na gut, aber es ist nichts, was uns weiterbringt. – Ich habe mal wieder eine Fortsetzung gesehen – in einem leuchtend goldenen Rahmen.« Und er erzählt, wie es damals mit seiner Ankunft in Rauschenfelde weitergegangen ist …

Beim Anblick des Hauses war sein Groll über den Umzug wie weggeblasen. Er rannte die Treppe wieder hinunter und rief den Eltern, die inzwischen ein paar Reisetaschen aus dem Kofferraum geholt hatten, begeistert zu: »Das ist irre, das ist einfach nur irre!« Zu dritt stiegen sie mit den Taschen langsam die Stufen wieder hinauf. »Aber so ein Haus macht auch Arbeit«, meinte der Vater, »denk nur mal an das Schneeschieben im Winter!« Und nach Stefans Antwort: »Ich helfe euch, ganz bestimmt, ich verspreche es!«, brach der Erinnerungsfilm ab …

Lena spürt, dass der Vater die kurze Szene beim Erzählen noch einmal durchlebt hat. Sein Blick ist auf die Stufen gerichtet und er horcht in sich hinein.

»Ja«, sagt er, »hier ist man wirklich von Erinnerungen umgeben – schon diese kleine Bemerkung von unserem Möbelmann hat einen neuen Film ausgelöst.«

»Zusammen mit dem ›Diabolo‹«, gibt Oma Marianne zu bedenken.

»›Diabolo‹?«, ruft Lena. »Was denn für ein ›Diabolo‹? Das ist ein Brummkreisel!«

Die Anspannung, die ihnen das Normalitätsspiel auferlegt hat, entlädt sich in einem stürmischen Gelächter. Doch für das Aufspüren und Erzählen weiterer Erinnerungen bleibt ihnen keine Zeit – die Arbeiter haben unten einen Zaun ausgehängt und ihren Möbellift bereit gemacht. Zwei Arbeiter sind nach oben auf die Wiese gekommen, die beiden anderen sind mit dem Chef unten beim Auto geblieben. Durch die Lücke im Zaun werden jetzt sozusagen portionsweise die Möbel, Kisten, Kartons, Körbe und Koffer auf dem Lift nach oben geschickt. Die Mutter hat in der alten Wohnung jedes Möbelstück und alle Behältnisse beschriftet: »Wohnzimmer«, »Küche«, »Bad«, »Arbeitszimmer«, »Kinderzimmer« … Lena staunt, wie schnell alles im Haus verschwindet. Die Eltern sind mit hineingegangen und zeigen den Arbeitern, wohin sie die Möbel stellen sollen. Zum Schluss werden noch Lenas Schlitten und die Fahrräder nach oben bugsiert. Sie gehören in die Abstellkammer. Lena zeigt einem der Transportarbeiter die Kammer und hilft ihm die Räder und den Schlitten nach hinten zu bringen. Nachdem alles verstaut ist, schließt der Arbeiter die Tür. Nur mit Mühe gelingt es ihm die schwere Holztür richtig einzuklinken.

»Die ist ja völlig verzogen«, sagt er, »bestimmt hat sie bei Wind und Wetter offen gestanden. Es fehlt auch der Schlüssel.«

Sie gehen beide wieder auf die Terrasse, wo jetzt alle versammelt sind, sich auf den Stühlen und auf dem Rand der Terrasse niedergelassen haben und ihren Durst löschen.

»Das war’s, Herr Peters«, sagt der Chef erleichtert und schiebt dem Vater ein Papier hin, »hier brauche ich eine Unterschrift, dass nichts fehlt. – Oder fehlt vielleicht doch was?«, fragt er dann unerwartet ernst.

»Ich denke, es ist alles mitgekommen«, antwortet der Vater und schaut fragend zur Mutter hinüber.

»Ja, es ist alles da«, bestätigt sie und beide unterschreiben das Papier.

»Hinten fehlt ein Schlüssel«, lässt sich jetzt der Arbeiter, mit dem Lena vorhin zur Abstellkammer gegangen ist, vernehmen, »ist der hier irgendwo?«

»Nein«, antwortet die Mutter, »ich habe schon heute früh gesehen, dass die Tür nicht abzuschließen geht.«

Der Chef schiebt ihr noch einmal das Papier hin und bittet sie, einen Vermerk zu schreiben, dass sie vorm Eintreffen der Transportfirma das Fehlen des Schlüssels zur Hintertür festgestellt hat.

»Ich muss meine Leute absichern«, erklärt er, »wenn nämlich eingebrochen wird – nicht dass es dann heißt, jemand von uns hätte einen Schlüssel mitgenommen, um dann – Sie verstehen!«

Die Mutter nickt, schreibt schnell ein paar Zeilen auf das Papier und sie und der Vater unterschreiben den kurzen Text.

Zufrieden steckt der Chef das Papier ein.

»Fertig, Leute!«

Der Chef und seine Arbeiter verabschieden sich und der Chef flüstert Lena mit einem Augenzwinkern zu: »Schlaf gut und verjag die Gespenster!«

»Klar, mache ich«, geht Lena auf den Scherz ein – bestimmt hat der Mann keine Kinder und deshalb weiß er nicht, dass sie schon zu groß für solche Späße ist. Aber er meint es nicht böse. Lena hegt jetzt keinen Verdacht mehr gegen ihn, trotzdem kehren ihre Gedanken bei der Verabschiedung wieder zum »Diabolo« und der gelockerten Verbindung zwischen den beiden Kegeln zurück. Vielleicht ist das ja wirklich eine Warnung, das »Diabolo« nicht zu sehr zu beanspruchen!

Schnell haben die Arbeiter den Möbellift wieder eingefahren und an den Jeep angehängt. Ebenso schnell haben sie auch die Lücke im Zaun wieder geschlossen. Sie winken noch einmal, der Chef steigt in die Kabine des Möbelwagens, die Arbeiter setzen sich in den Jeep. Man hört die Motoren aufheulen und dann sind die beiden Fahrzeuge verschwunden. Auf der Terrasse ist Ruhe eingekehrt. Aufatmend lassen sich die vier auf ihre Stühle sinken.

Oma Marianne schaut sich um.

»Dass ich mich aber auch gar nicht an das Haus erinnere«, sagt sie bedrückt, »dabei hatte ich es 22 Jahre lang direkt vor der Nase!«

»Sei nicht traurig«, sagt der Vater, »hol dir doch einfach das ›Diabolo‹ und schau dich im Haus um – bestimmt siehst du dann ein paar Erinnerungsfilme – so wie ich vorhin!«

Sie steht auf und sagt etwas zaghaft, dass sie allein durch das Haus gehen möchte. Das können die anderen gut verstehen.

»Geh nur«, sagt Lena, »das ›Diabolo‹ ist im Korb unter der Spüle. Aber sei vorsichtig damit, es ist ein bisschen wacklig in der Mitte.«

Oma Marianne nickt zerstreut und geht geradewegs zur Terrassentür, doch als sie merkt, dass die sich nicht öffnen lässt, steigt sie ohne weitere Umstände durch das geöffnete Fenster in die Küche, wobei sie sich geschickt an mehreren Kisten vorbeischlängelt, die jetzt unter dem Fenster stehen. Lena hört, dass die Schranktür geöffnet und der Korb hervorgezogen wird. Dann klappt die Küchentür zu und Oma Mariannes Schritte entfernen sich.

Die drei auf der Terrasse schauen ihr ein wenig besorgt hinterher; der Vater greift nach der Thermoskanne, um sich noch eine Tasse Kaffee einzuschenken.

»Hoffentlich findet sie da drin nur gute Erinnerungen«, sagt er – und stellt im nächsten Augenblick die Kanne, die er schon zum Eingießen angehoben hatte, mit einem lauten Knall auf den Tisch zurück. Mit beiden Händen hält er sich an der Tischkante fest und schließt sogar kurz die Augen. Die Mutter schaut ihn fragend an.

»Für heute hab ich wohl genug Kaffee getrunken«, erklärt er sein sonderbares Verhalten, »mir dreht sich schon alles.«

»Und ist dir auch heiß geworden?«, fragt Lena, obwohl sie die Antwort schon kennt.

»Ja, Fräulein Hellseherin«, antwortet er, »ja und nein. Denn eigentlich ist nicht mir heiß geworden – es war viel mehr so, als ob ich kurz in einer heißen Wolke gesteckt und als ob die Terrasse Beulen gemacht hätte.«

»Genauso war es auch«, bestätigt Lena, »aber nur für dich.«

»Und womit hab ich das verdient?«, fragt er mit etwas aufgesetzter Munterkeit.

»Du hast gesagt, dass das ›Diabolo‹ keine schlechten Erinnerungen zeigen soll – und so etwas darf man auf unserem Nasenberg nicht einmal denken!«

»Und im Berg auch nicht, stimmt’s?«, fragt der Vater nach kurzem Nachdenken.

»Stimmt«, bestätigt Lena, »und auf Oma Mariannes Seite auch nicht.«

»Und woher weißt du das alles?«, fragt die Mutter aufgeregt, »ist das noch ein Zauber, den du entdeckt hast?«

»Das kann gut sein«, antwortet Lena, »ich hatte so was heute früh beim Aufstehen schon zweimal, und dann noch einmal unten im Kegel. Es kommt immer, wenn man sich an etwas nicht erinnern will.«

»Wie eine Warnung«, meint die Mutter nachdenklich. »Aber wir wollen uns ja erinnern«, setzt sie dann hinzu und es klingt, als spräche sie gar nicht zu Lena und dem Vater, sondern zu einem unbekannten Zuhörer, den sie mit diesen Worten besänftigen will.

»Ja, das wollen wir«, bekräftigt der Vater, »wir wollen uns erinnern – auch an das, was schlimm für uns war – und auch an die Fehler, die wir gemacht haben.«

»Wann fangen wir denn mit unserem Puzzle an?«, fragt Lena erwartungsvoll.

»Ich denke, damit warten wir auf Oma Marianne«, meint der Vater, »bestimmt kommt sie gleich zurück und bringt gleich noch ein paar neue Teile für das Puzzle mit.«

»Halt noch ein bisschen aus, Lena«, bittet die Mutter, die sehr wohl Lenas Ungeduld erkennt, »es wäre unfair ohne sie anzufangen. Ihr könnt mir ja schon mal eine oder zwei Geschichten aus eurer Erinnerungsrunde erzählen, die für das Puzzle nicht so wichtig sind.« Sie lässt ihre Blicke über die Wiese und den unteren Teil des Grundstücks wandern und sagt vorsichtig: »Ich wäre auch mit schönen Erlebnissen zufrieden.«

»Au ja«, freut sich Lena, »mal sehen, ob du dich auch daran erinnerst!« Und sie erzählt noch einmal ihren gelben Bühnen-Film, in dem der Flug der kleinen Lena mit dem Kettenkarussell dargestellt war. Nach kurzem Besinnen erinnert sich auch die Mutter an dieses Erlebnis – und sie kann sogar zu Lenas Erinnerung noch etwas beisteuern!

»Das war kurz nach deinem dritten Geburtstag«, erzählt sie, »kurz davor waren wir nach Sprengelfeld gezogen, und es gab ein Sommerfest in der Stadt. Wir haben uns alle drei fein gemacht und sind hingegangen. Du hattest gar keine Angst vor dem Karussell, aber ich wollte lieber unten warten. Dann habe ich euch zugewinkt – genau, wie du es erzählt hast. Später haben wir dir eine Portion rosa Zuckerwatte gekauft, aber gleich gab es Tränen, denn ein Windstoß riss die Zuckerwatte vom Stiel, bevor du überhaupt daran geleckt hattest – weißt du noch?«, wendet sie sich an den Vater. Er nickt. »Ja, jetzt, wo du es erzählst, sehe ich es wieder vor mir – Lena im schicken Kleidchen und dann der Wind und die fliegende Zuckerwatte! Wir mussten uns nochmal nach Zuckerwatte anstellen. Mit der zweiten Portion ging es aber gut.«

»An Sprengelfeld kann ich mich gar nicht erinnern«, sagt Lena, »hast du dort auch im Stadtarchiv gearbeitet?«

»Ja, aber leider nicht lange«, antwortet er und wechselt einen Blick mit der Mutter.

Lena muss sofort an das Gespräch denken, das sie gestern Nacht im Auto belauscht hat.

»Haben sie dich da rausgegrault?«, platzt sie heraus.

»Ja, aber daran will ich gar nicht denken …« hastig bricht er ab. Dann erhebt er sich mühsam, geht zum Rand der Terrasse und weiter auf die Wiese. Dort bleibt er stehen und schaut hinunter zum Gartentor. Lena verwünscht sich innerlich für ihre unbedachte Frage.

»Woher weißt du denn, dass Papa von dort vergrault worden ist?«, hört sie die Mutter fragen.

»Ihr habt gestern im Auto darüber gesprochen«, antwortet Lena verlegen, »ich wollte aber nicht lauschen, wirklich nicht.«

»Schon gut«, meint die Mutter, »aber es ist leider wahr – er hatte es nicht leicht mit seinen Arbeitsstellen, immer wieder musste er gehen, das werde ich wohl nie begreifen!«

»Da steckt bestimmt auch der Mistkerl dahinter! Dem werden wir es zeigen!«

»Der auf dem Foto, das Papa in dem altem Schulranzen gefunden hat?«, fragt die Mutter gespannt, »aber wer ist das?«

»Das weiß ich auch noch nicht«, überlegt die Ermittlerin Lena laut, »aber der ist bestimmt der wichtigste Stein im Puzzle!«

Lena schaut zum Vater hin und sieht, dass er den Arm hebt, als ob er jemandem zuwinkt. Und richtig, er dreht sich zur Terrasse um und ruft: »Da will jemand zu uns!«

Endlich allein

Lena und die Mutter stehen auf und laufen auch nach vorn auf die Wiese um zu sehen, wer da kommt.

Ein Mann und ein Junge – etwa in Lenas Alter – steigen hintereinander die Treppe hinauf. Wer ist das und was wollen die hier? Der Mann streckt dem Vater zur Begrüßung die Hand entgegen und stellt sich vor: »Grimm ist mein Name, Kommissar Grimm. Sie sind Herr Peters?«

»Ja, der bin ich«, antwortet der Vater ungewohnt mürrisch, »Sie kommen doch hoffentlich nicht wegen des Möbelwagens?«

»Doch, aber es besteht kein Grund zur Sorge«, sagt der Mann ganz ernst, so, als meine er gerade das Gegenteil, »ich möchte Sie nur bitten, das Protokoll über den missglückten Aufbruchsversuch zu lesen und anschließend zu unterzeichnen.«

»Also ist doch irgendwas nicht in Ordnung«, zweifelt der Vater, »wozu sonst die Eile? Von mir aus können wir die ganze Sache vergessen!«

Im Nu ist die Mutter zum ihm hingelaufen und hat seine Hände ergriffen – und nur Lena kann erkennen, dass er sich von der Mutter stützen lässt und sie sieht auch, dass er es vermeidet nach unten zu schauen.

»Setzen wir uns doch«, schlägt die Mutter vor und die Erwachsenen nehmen am Kaffeetisch Platz.

»Es handelt sich um eine reine Formsache«, sagt jetzt Herr Grimm, »ich trete am Montag eine Dienstreise nach Wiesbaden an, und gerade weil der vom Vertreter der Transportfirma beanzeigte Aufbruchsversuch erfolglos verlaufen ist, möchte ich die Sache heute noch abschließen. Am Wagen wurden übrigens außer Kratzern im Bereich der Schließvorrichtung keine weiteren Spuren festgestellt, desgleichen keine Fingerabdrücke.«

Wie redet der bloß, fragt sich Lena, da war der Kommissar in unserer Projektwoche aber viel netter. Dann schaut sie zu dem Jungen hin, der in einigem Abstand von ihr auf der Wiese steht und sich das Haus ansieht. Er bemerkt Lenas Blicke gar nicht – wie gebannt starrt er an den Erwachsenen vorbei auf die geschlossene Terrassentür. Lena wird es unbehaglich zumute. Was ist das für einer – der soll gefälligst von hier verschwinden! Sie beschließt, ihn nicht zu beachten und setzt sich zu den Erwachsenen an den Tisch. Dort holt Herr Grimm gerade das Protokoll aus seiner Tasche und hält es dem Vater hin.

»Dass Sie sich extra den Weg gemacht haben«, versucht die Mutter das Gespräch in Gang zu halten, »wir hätten doch auch selbst zur Wache kommen können.«

»Der Weg hat wirklich keine besondere Mühe bereitet«, sagt Herr Grimm, wiederum ganz ernst, und Lena hat das Gefühl, dass er auch jetzt, hier bei ihnen auf der Terrasse, ein Protokoll diktiert.

»Es handelt sich doch nur um eine geringfügige Verlängerung meines Heimwegs«, fährt er fort, »ich wohne in der Bergstraße 7. Und mein Sohn«, – es folgt eine knapp bemessene Armbewegung in die Richtung des Jungen – »ist mitgekommen, da er mich nach Dienstschluss von der Dienststelle abgeholt hat.« Aha, denkt Lena, und formuliert – gleichsam als Echo des soeben Gehörten – unwillkürlich: Es handelt sich also um den Sohn eines Polizisten. Wenn die bloß schon weg wären – am liebsten würde sie dem Jungen die Zunge herausstrecken! Der lässt seine Blicke nochmals über die Vorderfront des Hauses wandern, dann fasst er wieder die Terrassentür ins Auge und bewegt sich geistesabwesend auf die Terrasse zu. Kaum ist er dort angekommen, setzt er sich wie selbstverständlich neben seinen Vater auf den letzten freien Stuhl. Herr Grimm schaut ihn an und fragt: »Na, Lonni, hast du die Lage überprüft?« »Papa, ich heiße Leon!«, sagt der Junge und wird rot.

Das hält Herrn Grimm jedoch nicht davon ab weiter zu reden, als wäre sein Sohn gar nicht da: »Lonni glaubt nämlich, dass es hier spukt – und nachdem er am Nachmittag dem Fahrer eines Möbelwagens den Weg erläutert hat …«

»Papa«, wiederholt der Junge und errötet noch mehr, »ich heiße Leon!«

Lena fängt Mutters mitfühlende Blicke auf – und obwohl sie ihn eben noch am liebsten auf den Mond geschossen hätte, empfindet auch sie jetzt Mitleid mit dem Jungen.

Sein Vater öffnet gerade den Mund um weiter zu reden, da erscheint Oma Marianne mit dem »Diabolo« auf der Wiese.

»Es gehört wirklich mir – ich habe es geerbt!«, ruft sie ihnen zu und verstummt sofort, nachdem sie die beiden Grimms entdeckt hat. Schnell verbirgt sie das »Diabolo« so gut es geht hinter ihrem Rücken und betritt die Terrasse, wobei sie an dem geöffneten Küchenfenster vorbei geht und sich dort kurz nach hinten neigt, um das »Diabolo« möglichst unauffällig auf einer der Kisten, die die Arbeiter vorhin dorthin geschoben haben, abzustellen. Danach begrüßt sie in ganz normalem Tonfall die ungebetenen Gäste. Lonni-Leon steht auf und bietet Oma Marianne seinen Platz an. Dann lehnt er sich mit dem Rücken an den Rahmen der Terrassentür und kommt so dem offenen Fenster gefährlich nahe.

Da steht die Mutter auf und klettert hastig in die Küche.

»Ich hole noch die Torte von heute Morgen«, erklärt sie, »und dann trinken wir eine Tasse Kaffee auf gute Nachbarschaft!«

Lena hält es nicht auf ihrem Platz. Empört springt sie auf und greift sich an den Kopf. Doch bevor sie ihren Protest laut werden lässt, fängt sie einen warnenden Blick von Oma Marianne auf und es gelingt ihr im letzten Augeblick, die unbedachten Worte zurückzuhalten. Um ihrem plötzlichen Aufstehen einen Sinn zu verleihen, ruft sie: »Warte, Mama, ich helfe dir!«, und steigt ebenfalls in die Küche. Dort sieht sie, dass das »Diabolo« bereits wieder verschwunden ist – ja, auf Mama kann man sich verlassen!

Sie beugt sich aus dem Fenster hinaus und ruft: »Uns fehlen saubere Tassen!« Der Vater reicht ihr durch das Fenster das benutzte Geschirr zu und Lena dreht den Wasserhahn auf. Das Wasser rauscht, die Tassen klappern – und im Schutze dieser Geräusche fragt Lena, warum um alles in der Welt die Mutter Leon und seinen Vater eingeladen habe.

Die Mutter nimmt sich ein Geschirrtuch, stellt sich ganz dicht neben Lena und flüstert ihr verschwörerisch zu, dass ihr in der Eile kein anderer Grund eingefallen sei in die Küche einzusteigen. Lena nickt ergeben; sie hat schon verstanden, dass das Erinnerungspuzzle noch warten muss. Die sauberen Tassen und die halbe Geburtstagstorte werden nach draußen gereicht und vom Gebäck ist auch noch genug übriggeblieben.

Die beiden Grimms schauen sich die Torte an und gratulieren dem Geburtstagskind. Dass es heute sogar drei Geburtstagskinder gibt, kommt aber nicht zur Sprache, also wollen auch die Erwachsenen nicht, dass die ungebetenen Gäste allzu lange bleiben. Um zu verhindern, dass noch ein Stuhl herangeholt und gesäubert werden muss, trägt Lena eilig zwei Kakao-Päckchen, einen Teller mit einem Stück Torte und einen weiteren mit etwas Gebäck nach vorn zum Rande der Terrasse, wo sie alles abstellt.

»Komm«, lädt sie Leon ein und winkt ihm zu, »wir machen es uns hier gemütlich.«

Die beiden setzen sich und Leon lässt sich Torte, Gebäck und Kakao schmecken. Und immer wieder wandern seine Blicke zur Terrassentür! Ob er etwas weiß, fragt sich Lena besorgt, das muss doch herauszukriegen sein! Aber so, dass er es nicht merkt!

»Sag mal«, beginnt sie vorsichtig, »glaubst du eigentlich wirklich, dass es hier spukt?«

»Ach Quatsch!«, wehrt er verlegen ab. »Na ja«, gibt er dann zu, »als ich noch klein war, da hab ich es geglaubt. Und als wir vor drei Jahren in die Bergstraße gezogen sind, haben mich in der Schule gleich alle ausgefragt.«

»Was wollten die denn wissen?«

»Na, ob es auf dem Berg wirklich spukt.«

Er lacht. »Du hättest mal hören sollen, was ich denen für Geschichten aufgetischt habe!« Er scheint sich an einige dieser Geschichten zu erinnern, denn seine blauen Augen funkeln vor Vergnügen.

»Aber wenn du nicht glaubst, dass es hier spukt«, bohrt Lena weiter, »warum starrst du dann unsere Terrassentür dauernd so an?«

»Doch nicht, weil es spukt!«, antwortet er ein wenig zu laut und ein wenig zu hastig, »es ist nur, … ich habe, … also ich wollte nur mal sehen, ob es noch Spuren von dem alten Brandstetter gibt!«

»Brandstetter?!«

»Na, der Alte, der vorigen Sommer hier gewohnt hat – der war doch nicht ganz sauber, der wollte ja sogar das Haus abfackeln!«

Neugierig, ob diese Sensation auch richtig bei Lena gelandet ist, schaut Leon sie an, doch sie wehrt ab: »Ach, das war doch nur in der Küche, und er hat es ja auch gleich selbst gelöscht.«

Dann fragt sie beiläufig: »Und woher weißt du, dass der Brandstetter heißt?«

»Weil er der Bruder vom Apotheker ist«, bekommt sie zur Antwort, »und der heißt auch Brandstetter.«

»Ach so«, meint Lena, »da hätte der Alte doch auch bei seinem Bruder wohnen und dort Feuer machen können, oder?« Leon muss lachen.

»Na, du hast vielleicht Einfälle«, sagt er, »als ob der Apotheker ihn bei sich wohnen lassen würde! Weißt du, die Leute hier sagen, dass die beiden Brandstetters sich verkracht haben. Wo der jüngere, also der, der hier rumgespukt hat, wohnt, weiß sowieso kein Mensch. Vielleicht auch in Rauschenfelde – er soll nämlich in letzter Zeit dauernd im Stadtarchiv sitzen und in alten Zeitungen schmökern.«

Leon ist richtig in Fahrt gekommen – die beiden Brandstetters scheinen ihn mächtig zu interessieren.

»Er sitzt im Stadtarchiv?«, fragt Lena neugierig. »Da kann ich ihn mir ja mal angucken. Mein Vater ist dort nämlich der neue Direktor.«

»Ach, deshalb seid ihr nach Rauschenfelde gekommen«, sagt Leon, »und ausgerechnet ins Spukhaus!«

Wieder funkeln seine Augen vergnügt, und Lena findet ihn jetzt schon sympathischer als vorhin. Trotzdem wünscht sie sich, dass er und sein Polizistenpapa bald nach Hause gehen, und sie schaut zu den Erwachsenen, die sich angeregt unterhalten. Leons Vater scheint jetzt in Feierabendstimmung zu sein – er sitzt ganz behaglich auf seinem Stuhl und knabbert Gebäck. Das sieht nicht nach einem baldigen Aufbruch aus. Also beschließt Lena, Leon noch ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Irgendetwas weiß er über das Haus am Hang, das spürt sie genau. Jetzt schaut er angespannt zu den Fliederbüschen hinüber.

»Schade, dass der Flieder nicht mehr blüht«, sagt er leise, mehr zu sich selbst, steht auf und geht hinüber zu den Sträuchern. Nachdenklich zupft er ein paar Blätter und eine verwelkte Blütentraube von einem der Sträucher ab und betrachtet sie gründlich.

Lena ist ihm gefolgt und fragt scheinbar beiläufig: »Du interessierst dich für unseren Flieder? Willst du mal Gärtner werden?«

»Nein«, antwortet er, »Schriftsteller!«

In plötzlicher Verlegenheit schaut er auf seine Schuhspitzen. »Zumindest wollte ich das mal«, sagt er dann.

»Und warum willst du es jetzt nicht mehr?«, fragt Lena vorsichtig. »Das ist doch ein toller Beruf! Und dazu noch mit so einem Namen! Leon Grimms neue Märchen in drei Bänden – hört sich doch gut an, oder?«

Das gefällt ihm, wieder funkeln seine Augen, und er lacht Lena an.

»Ja, das klingt gut. Und wovon soll das erste Märchen handeln?«

»Na, vom Flieder«, schlägt Lena vor und sucht gleich selbst nach einem Anfang für ein neues Grimmsches Märchen. »Das Märchen vom bunten Flieder«, sagt sie, als lese sie aus einem Buch vor. »Es war einmal ein kleiner Fliederstrauch«, fährt sie fort – und weiß nicht weiter.

Aber Leon greift blitzschnell ihren Gedanken auf.

»Doch nicht nur ein Fliederstrauch«, meint er, »das ist uninteressant. Mein Märchen geht so: Es waren einmal elf Fliederbüsche«, beginnt er und macht eine weit ausholende Geste, die die gesamte Fliederhecke umfasst. Elf – Lena muss sich wohl verhört haben!

»Das waren ganz besondere Büsche«, erzählt Leon weiter, »sie blühten nur alle elf Jahre und dann auch nur bei Vollmond und nur elf Minuten lang. Jeder Busch hatte seine eigene Farbe. Und wem es gelang, den Flieder zu ernten und daraus elf Liter Tee zu kochen …« urplötzlich verstummt er – seine Augen funkeln nicht mehr, viel mehr schaut er jetzt drein, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Lena hat zu tun, sich ihre große Erregung nicht anmerken zu lassen. Auf keinen Fall darf er merken, dass die Zahl Elf von besonderer Bedeutung für sie ist!

Sie ist sich jetzt ganz sicher: Er weiß etwas! Ja, er weiß etwas! Ein Gefühl des Triumphes steigt in ihr auf – wie leicht es doch war, ihn auf das richtige Thema zu bringen!

»Und wie geht es weiter?«, fragt sie in der Hoffnung, neue Hinweise darauf zu bekommen, was Leon über das Geheimnis der Bergstraße 11 weiß. »Was wird denn aus deiner Fliederernte, wenn der Himmel bewölkt ist? Kommt dann Aladin mit seiner Wunderlampe?«

Leon lacht und meint, dass Aladin in einem Grimmschen Märchen eigentlich nichts zu suchen habe.

Und dann legt er los wie gedruckt: »Für eine erfolgreiche Ernte des bunten Flieders benötigt man nicht nur den Vollmond, sondern auch elf ganz besondere Erntehelferinnen. Jede Erntehelferin bekommt ein Schleifchen um den Hals, passend zu den Farben des Flieders. Auf diese Weise wird nämlich dafür gesorgt, dass jede Helferin weiß, welchen Strauch sie abernten soll. Denn diese Arbeiterinnen verstehen die Sprache der Menschen nicht.«

Er macht eine Pause. An seinem Gesicht kann Lena sehen, dass er das Ganze nicht wirklich ernst meint. Wieder hat er dieses Funkeln in den Augen und um seine Mundwinkel zuckt es.

»Also, Herr Grimm«, wendet sich Lena an den Märchenerzähler, »dann handelt es sich bei Ihren Erntehelferinnen wohl um Elfen?«

»Nein, werte Dame«, antwortet er und bemüht sich sehr, ernst zu bleiben, »Elfen sind dafür nicht geeignet.«

»Also Gartenzwerginnen?«, rät Lena weiter.

»Auch keine Gartenzwerginnen«, antwortet er und Lena kann ihm geradezu vom Gesicht ablesen, dass er selbst noch nicht weiß, welcher Art seine Erntehelferinnen eigentlich sein sollen. Doch dann kommt ihm sichtlich ein rettender Gedanke: »Meine Erntehelferinnen eignen sich vorzüglich für diese Arbeit«, verkündet er, »denn sie bringen den Beutel für die Fliederblüten gleich selbst mit. Es handelt sich«, fährt er fort und hebt belehrend den Zeigefinger, »um australische Kängurus!«

Die beiden brechen in lautes Gelächter aus.

»Kängurus mit Schleifchen!«, prustet Lena und sie gehen zur Terrasse zurück, wo sie sich wieder hinsetzen und noch etwas Kakao trinken.

»Kängurus in einem Grimmschen Märchen – wie bist du nur darauf gekommen!«

»Das weiß ich selbst nicht so genau, vielleicht, weil die Leute sagen, dass das Spukhaus einem Australier gehört. Aber der hat sich hier noch nie blicken lassen.«

Das wird ja immer rätselhafter, denkt Lena verblüfft. Und laut sagt sie: »Was du für Ideen hast – und da sagst du, dass du nicht mehr Schriftsteller werden willst. Warum denn eigentlich nicht?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Früher habe ich mir immerzu Geschichten ausgedacht, aber seit einiger Zeit kann ich es nicht mehr so gut. Und da macht es eben keinen Spaß mehr.«

»Und warum kannst du es nicht mehr so gut wie früher?«, fragt Lena besorgt.

»Hast du etwa vergessen, wie es geht?« Er schweigt eine Weile.

»Nein«, sagt er dann nachdenklich, »vergessen habe ich es nicht. Ich glaube, ich habe es mir abgewöhnt.«

Er steht auf und schaut auf Lena herab.

»Und außerdem«, sagt er und auch seine Stimme kommt jetzt von oben herab, »führt das viele Geschichtenerzählen zu nichts. Das sagt mein Vater auch.«

Daher weht also der Wind, denkt Lena – der Herr Kommissar mag keine Märchen und Geschichten!

Sie steht ebenfalls auf, nimmt die Teller und die leeren Tetrapacks und stellt alles auf dem Kaffeetisch ab, wobei sie die Teller absichtlich laut aneinander klirren lässt. Doch die Erwachsenen setzen ihr Gespräch unbeeindruckt fort.

»Es ist kaum zu ertragen, wie sehr er sich verändert hat«, sagt Herr Grimm gerade zu Oma Marianne, »und er lehnt auch nach wie vor jede Hilfe ab.

Meine Frau und ich – und natürlich auch Leon – schauen ab und zu bei ihm vorbei, aber er will uns immer schnell wieder loswerden. Und von seiner Tochter darf man überhaupt nicht sprechen – schlimm genug, dass er sie vergessen hat, aber offensichtlich will er sich auch gar nicht an sie erinnern …« Lena, die eigentlich nur am Tisch stehen geblieben ist, um festzustellen, ob die Gespräche endlich zu Ende gehen, wird es richtig schwer ums Herz von Herrn Grimms Worten. Zwar weiß sie nicht, von wem die Rede ist, aber das tiefe Mitleid, das in Herrn Grimms Stimme mitschwang, hat sich auf sie übertragen.

Hat sie das richtig verstanden? Da gibt es einen guten Bekannten der Familie Grimm, der seine Tochter vergessen hat? Der sich nicht an sie erinnern will?

Oma Marianne scheint den Mann auch zu kennen, denn sie sagt zu Herrn Grimm: »Versuchen sie ihn doch noch einmal zu überzeugen, dass er das Training wieder aufnimmt. Ich hätte auch ganz kurzfristig einen Termin frei!«

»Ich rede noch mal mit ihm«, verspricht Herr Grimm, »ich gehe morgen Vormittag sowieso bei ihm vorbei – wegen des Riegels.« Mit Herrn Grimms Begründung für den Besuch bei seinem Bekannten kann Lena zwar nichts anfangen, doch sie stellt erleichtert fest, dass Herr Grimm wohl nicht gar so seltsam ist, wie ihr anfangs schien und sie freut sich für Leon. Vielleicht gibt es ja sozusagen einen dienstlichen und einen privaten Herrn Grimm.

»Ihr beide habt ja jede Menge Spaß«, stellt jetzt der private Herr Grimm fest und hat dabei ein richtig nettes Lächeln im Gesicht. Er ruft Leon heran und fragt ihn, ob er Lena nicht zu seinem Geburtstag am übernächsten Sonntag einladen möchte. Leon, sichtlich überrascht von dem Vorschlag, erklärt sich – halb erfreut und halb verlegen – einverstanden. Und Herr Grimm lädt gleich noch Lenas Eltern und Oma Marianne ein, denn, so meint er, schließlich sei er ja heute auch auf einer Geburtstagsfeier erschienen, noch dazu unangemeldet! Die Einladung wird angenommen und Lena freut sich darüber. Erstens findet sie Leon trotz aller Geheimniskrämerei jetzt richtig nett, und zweitens kann dieser Geburtstag eine weitere Gelegenheit sein herauszufinden, was Leon über das Haus am Hang und das Geheimnis des Berges weiß. Am besten wäre es natürlich, wenn sie noch vor dem Geburtstag dahinterkäme – bis übernächsten Sonntag will sie eigentlich nicht warten!

»Ich zeig dir mein Zimmer«, schlägt sie Leon vor – vielleicht gibt er ja im Haus etwas von seinem Wissen um das Geheimnis preis!

Die Eltern haben nichts gegen eine Hausbesichtigung einzuwenden und so steigen Leon und Lena nacheinander durch das Küchenfenster ins Haus. Lena sitzt noch auf dem Fensterbrett, da ruft ihnen die Mutter aufgeregt nach, dass sie auf keinen Fall auf den Dachboden gehen sollen.

»Du weißt ja, wegen der kaputten Treppe«, hört Lena und ist einmal mehr erstaunt über die Geistesgegenwart ihrer Mutter. Augenblicklich ist ihr klar geworden, warum die Mutter zu dieser Notlüge gegriffen hat – auf dem Boden liegen bestimmt noch das Faltblatt und all die Gegenstände herum, die dem Vater beim Erinnern geholfen haben!

»Versprochen!«, ruft sie zurück und eilt zu Leon, der schon an der Küchentür steht.

Während sie ihm die Zimmer zeigt, wird sie wiederum das Gefühl nicht los, dass er das Haus kennt – und nicht nur von außen! Und als sie an der Treppe zum Boden angelangt sind, wird dieses Gefühl zur Gewissheit.

Er setzt einen Fuß auf die unterste Stufe, seine Blicke tasten die Treppe ab und er späht angespannt nach oben.

»Man darf also wirklich nicht auf den Boden?«

»Nein, wirklich nicht, du hast es doch gehört: die Treppe ist kaputt.«

»Davon sieht man ja gar nichts. Sag mal, bist du eigentlich immer so lieb und artig?«

»Ach wo«, beschwichtigt ihn Lena, »ich habe halt keine Lust auf einen Beinbruch – vor allem nicht in den Ferien!«

Die Begründung scheint angekommen zu sein; erleichtert sieht Lena, dass Leon von der Treppe ablässt.

Doch abgesehen davon, dass sich ihr Verdacht, Leon wisse etwas über das Geheimnis, verstärkt hat, hat die Hausbesichtigung leider nichts Neues gebracht. Lena führt ihn noch einmal in ihr Zimmer und lässt sich von ihm die Aussicht aufs Städtchen erklären. Ganz offensichtlich hat er schon viele Male hier gestanden, denn er erklärt ohne Zögern, welches Dach zu welchem Gebäude gehört.

»Leon«, ruft jetzt Herr Grimm von unten, »wir müssen gehen!«

Die Erwachsenen verabschieden sich voneinander, und Herr Grimm sagt zum Vater: »Also dann, wenn mein Kollege den Riegel noch hat, komme ich morgen gegen elf vorbei. Werkzeug bringe ich mit.«

»Aber es ist wirklich nicht nötig …«, setzt der Vater an, doch Herr Grimm unterbricht ihn sogleich: »Wissen Sie, ich kann halt nicht raus aus meiner Haut. Wenn ich einmal von so einem Sicherheitsrisiko weiß, dann lässt es mir keine Ruhe. Sie wissen ja, Gelegenheit macht Diebe!«

Er winkt noch einmal kurz, auch Leon hebt den Arm, und endlich sind die vier allein auf der Terrasse.

Der Nachbar vom vorigen Sommer