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Wie weit würdest du gehen, wenn dein kleiner Bruder in einer magischen Welt entführt wird? Als Florence und ihr Bruder Max Tintris zum ersten Mal betreten, zieht sie die fremde Welt sofort in ihren magischen Bann. Am Himmel fliegen Muscheln, die Bäume und Pflanzen scheinen wie lebendig und der Herrscher des Landes ist ihnen wohlgesonnen. Alles deutet darauf hin, dass die Geschwister den perfekten Ort für ihr neues Zuhause gefunden haben. Doch dann findet ein Machtwechsel statt und Max wird entführt. Um ihren Bruder zu retten, muss Florence auf die Hilfe des zwielichtigen Yaris Raveja vertrauen, der sich selbst als Rebellenführer bezeichnet und das Land in einen schrecklichen Krieg führen könnte. Florence muss sich fragen: Wie viele fremde Leben ist sie bereit zu opfern, damit ihr Bruder frei sein darf? Aus dem Roman: "Ich weiß, du vertraust mir nicht, Florence", sagte Iblin. "Nein, du brauchst es gar nicht erst zu leugnen. Selbst wenn ich nicht im Besitz des zweiten Gesichts wäre, würde ich es erkennen. Du bist so durchdrungen von deiner Unfähigkeit zu vertrauen und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, dass es dir noch zum Verhängnis wird." Ein dystopischer High-Fantasy-Roman mit einem unerwarteten Ende, das die Leser mit offenen Mündern zurücklässt.
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Dieses Buch widme ich meinem Mann Dennis,
der mich von Anfang an unterstützt hat,
meiner Tochter Luna,
für die ich ein Vorbild sein möchte
und Lars Amend, für seine unermüdliche Motivation.
Landkarte von Tintris
Prolog
Teil 1 – Ankunft
Erstes Kapitel – Florence
Zweites Kapitel – Yaris
Drittes Kapitel – Florence
Viertes Kapitel – Yaris
Fünftes Kapitel – Florence
Sechstes Kapitel – Yaris
Siebtes Kapitel – Florence
Achtes Kapitel – Yaris
Neuntes Kapitel – Florence
Zehntes Kapitel – Yaris
Elftes Kapitel – Florence
Zwölftes Kapitel – Yaris
Dreizehntes Kapitel – Florence
Teil 2 – Verbindungen
- Zwischenspiel -
Vierzehntes Kapitel – Florence
Fünfzehntes Kapitel – Yaris
Sechzehntes Kapitel – Florence
Siebzehntes Kapitel – Yaris
Achtzehntes Kapitel - Florence
Neunzehntes Kapitel – Yaris
Zwanzigstes Kapitel – Florence
Einundzwanzigstes Kapitel – Yaris
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Florence
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Yaris
- Zwischenspiel -
Vierundzwanzigstes Kapitel – Florence
Fünfundzwanzigstes Kapitel – Yaris
Sechsundzwanzgistes Kapitel – Florence
Teil 3 – Angriff
Siebenundzwanzigstes Kapitel – Yaris
Achtundzwanzigstes Kapitel – Yaris
Neunundzwanzigstes Kapitel – Florence
Dreißigstes Kapitel – Yaris
- 5 Jahre zuvor -
Einunddreißigstes Kapitel – Yaris
Zweiunddreißigstes Kapitel - Florence
Dreiunddreißigstes Kapitel – Yaris
Vierunddreißigstes Kapitel – Florence
Fünfunddreißigstes Kapitel – Florence
- Zwischenspiel -
Sechsunddreißigstes Kapitel – Florence
Siebenunddreißigstes Kapitel – Yaris
Achtunddreißigstes Kapitel – Florence
Neununddreißigstes Kapitel – Yaris
Vierzigstes Kapitel – Yaris
Einundvierzigstes Kapitel – Florence
Zweiundvierzigstes Kapitel – Yaris
- Zwischenspiel -
Teil 4 – Tod
Dreiundvierzigstes Kapitel – Florence
Vierundvierzigstes Kapitel – Yaris
Fünfundvierzigstes Kapitel – Florence
Sechsundvierzigstes Kapitel – Yaris
Siebenundvierzigstes Kapitel – Florence
Achtundvierzigstes Kapitel – Yaris
Neunundvierzigstes Kapitel – Florence
- Zwischenspiel -
Epilog
Prolog
Meine liebe Freundin,
ein altes, tintrisches Sprichwort besagt, dass ein kluger Verstand in den richtigen Händen die schrecklichste Waffe von allen ist. Wer scharfsinnig ist, so sagen die Bewohner von Tintris, der vermag es mit den geeigneten geistigen Winkelzügen ganze Landschaften für sich einzunehmen und selbst die gewitztesten Wesensformen zu unterjochen. Unter seiner Herrschaft können Kultur und Gesellschaft erblühen oder für immer zugrunde gehen.
Unser Gebieter, der amtierende Gesetzeshüter Yaris Raveja, ist zweifellos ein kluger Mann und zugleich ist er mit einer Macht ausgestattet, die größer kaum sein könnte. Glücklicherweise kann selbst er nicht alle Schritte seiner Gegner vorhersehen. Er kann überlegen und sich errechnen, was die Zukunft wohl für ihn bereithält, aber wissen kann er es nicht.
Ich lernte Yaris Raveja kennen, als er noch kein bedeutender Mann war, denn mit allen Dingen, die die Geschicke der Weltenführung betrafen, wollte er nichts zu tun haben. Doch das Schicksal plante anderes für ihn. Er lag in einem weichen Federbett und schlief den Schlaf der Ahnungslosen, während ihm zur selben Zeit das entrissen wurde, was ihm auf der Welt das Liebste und das Begehrteste war.
Es war seine Frau, seine Bindungspartnerin, und sie war ihm so lieb und so begehrt, dass er für sie sogar das politische Ränkespiel um Macht und Reichtum bestritt. Er wurde zum Gesetzeshüter, zum Herrscher von Tintris und er setzte all seinen Einfluss und seine Scharfsinnigkeit für die Suche nach ihr ein.
Die Jahre zogen ins Land und sein Herz verkümmerte. Von Wahnsinn getrieben durchkämmt er noch immer jeden Winkel des Landes nach seiner ehemals großen Liebe. Der Wohlstand seines Landes stagniert und die Belange seiner Untertanen interessieren ihn nicht.
Wehe uns, wenn wir nichts dagegen unternehmen, denn dann werden Kultur und Gesellschaft für immer zugrunde gehen.
(Ein Brief des Landeshüters Leshtor Voltar an seine Vertraute Fejma Kandura)
Prinbi, eine weite Ebene vor dem flüsternden Wald; 10. Juli 2150 (Erdenzeit)
Florence war die Erste, die das Raumschiff verließ und den Planeten betrat, der ihr neues Zuhause werden sollte. Ihre Füße landeten auf einer weiten grünen Fläche, die bei genauerem Betrachten aus unzähligen Halmen bestand und einen Duft verströmte, den sie mit keinem bisher gerochenen vergleichen konnte. Aus ihren Logbüchern über die Erde wusste sie, dass es sich bei den Halmen um Gras handelte und die weite grüne Fläche eine Wiese war.
Vorsichtig machte sie ein paar Schritte und drehte sich im Kreis, um mehr von dieser neuen Welt in sich aufzunehmen. In der Ferne schloss ein sogenannter Wald an die Wiese an - eine Ansammlung von Bäumen, deren astlose Stämme in weit gefächerte Blätter übergingen. Florence kniff die Augen zusammen, um mehr Details zu erkennen, die sie später in ihrem Tagebuch festhalten konnte, aber die Sonne hing über den Wipfeln und blendete sie. Hinter ihr traten nach und nach auch die anderen viertausendfünfhundertdreiundneunzig Menschen aus dem Raumschiff ins Freie.
Ein Finger zupfte an Florences Unterarm und sie musste unwillkürlich lächeln. »Guck mal, da hinten.« Sie folgte dem Blick ihres fünfjährigen Bruders. Am Horizont waren schemenhaft eine Handvoll Lebewesen zu erkennen, die in eiligem Tempo auf sie zukamen.
»Nehmt die Hände hoch und macht einen freundlichen Eindruck!«, ertönte die laute Stimme von Kommandant Newman hinter ihr. Florence drehte sich um und sah gerade noch, wie er natürlich als letzter die Euphoria verließ und es dann auch nicht für nötig hielt, den fremden Wesen als Anführer entgegenzutreten. Dicht an die Raumfähre gedrängt blieb er stehen und hob die Hände, allzeit bereit, wieder ins Innere zu rennen.
Keine Waffen, hatte er vorher zu ihnen gesagt und dabei seinen roten Bart gezwirbelt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er Angst hatte. Wenn dieser Planet langfristig zu einer neuen Heimat für uns Menschen werden soll, müssen wir ihnen glaubhaft unsere friedlichen Absichten demonstrieren.
Florence riss ihren Blick von ihm los und die Arme hoch. Mit einem gezwungenen Lächeln grinste sie in Richtung der Angreifer und versuchte, einen harmlosen Eindruck zu machen. »Egal was passiert, du bleibst hinter mir«, ermahnte sie Max und positionierte sich so, dass sie seinen kleinen Körper mit ihrem komplett verdeckte.
Die fremden Wesen kamen näher, es waren nur etwa hundert. Mit langen Messern stellten sie sich vor den zahlenmäßig überlegenen Menschen auf und stießen dabei wilde Schreie aus. Doch die Schreie, so musste Florence feststellen, kamen nicht aus den lippenlosen Mündern. Nein, auf den Köpfen der Angreifer rissen drei Dutzend Würmer ihre Mäuler auf. Ebenso unmenschlich war der restliche Körper: nicht zwei, sondern drei runde Augen, – das dritte oberhalb der Stirn – zwei einfache Löcher statt einer Nase und Finger mit schwarzen Krallen.
Die Haut an ihren Armen und Beinen wirkte ledrig braun, als hätten sie zu lange in der Sonne gelegen, und war übersät von roten Punkten wie bei einer ansteckenden Krankheit. Um Hüfte und Oberkörper hatten sie kunstvoll einen weißen Stoff geschlungen, wobei eine Schulter stets unbedeckt war. Die langen Messer brachten sie jetzt in Wurfposition über ihre Köpfe, bereit zum Angriff.
Florence rührte sich nicht, während ihr Herz einen Marathon rannte. Max duckte sich hinter ihrem Bein. Sie beide standen an vorderster Front, vielleicht zwei Meter von den fremden Wesen entfernt. Hätten sie es doch nur Newman gleichgetan und bis zum Schluss in der Raumfähre gewartet. Doch Max hatte unbedingt als Erster diese neue Welt erkunden wollen und seine Begeisterung war schnell auf Florence übergesprungen.
Einer der Wurmköpfe, wie Florence sie für sich nannte, trat jetzt aus dem Halbkreis heraus und zischte in einer fremden Sprache, woraufhin sich alle anderen in Bewegung setzten. Florence erstarrte, als eines der Wesen direkt vor ihr stehen blieb. Drei Augen starrten sie an und trotz der wärmenden Sonne überlief sie plötzlich ein Schaudern. Max umklammerte ihr Bein und bohrte dabei seine Fingernägel in ihr Fleisch, aber sie ließ sich den Schmerz nicht anmerken. Über das nasenlose Gesicht zog sich eine wulstige Narbe vom Mund bis hinter das rechte Ohr. Die Haut des anderen war nur wenige Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt und Florence wusste nicht, ob er Freund oder Feind war.
Dann streckte der Fremde die ledrigen Finger aus, griff nach ihren schweißnassen Händen, die sie immer noch wehrlos oben hielt und zog ihr rechtes Handgelenk zu sich heran. Er zückte das lange Messer, ohne dass Florence sich rührte, und setzte es parallel zu ihrer Handinnenfläche am Arm an. Seine drei Augen starrten sie dabei weiter an, als erwartete er ihren Widerstand und er hielt den Blickkontakt, während er einen geraden Schnitt zog. Nicht tief. Aber es brannte. Gleichzeitig spürte sie, dass ihr Bein nass wurde. Max musste in die Hose gemacht haben. Florence biss die Zähne zusammen und blieb stumm. In Gedanken rezitierte sie Newmans Worte: Egal, was sie tun – wir greifen nicht an. Wir sind nur ein paar Tausend, wir können nicht gegen einen ganzen Planeten bestehen.
Trotzdem entfuhr ihr ein Keuchen, als das Wesen vor ihr seinen Kopf senkte, sich über die Schnittwunde beugte und einer der fleischfarbenen Würmer die Zunge herausschnellen ließ. Ernährten sich die Wurmköpfe von Blut? Doch das Tier leckte nur ein einziges Mal über den Schnitt und schon zog sich das fremde Wesen wieder von ihr zurück.
Florence starrte weiterhin auf ihr Handgelenk, bis der andere ihr unters Kinn griff und sie zwang, ihm wieder ins Gesicht zu schauen. Er öffnete den lippenlosen Mund und formte damit Zischlaute.
Was wollte er ihr sagen? Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Langsam wiederholte er die Worte und deutete dabei auf sich: »Ay Samas.«
»Florence Whitehead«, nannte sie ihm ihren vollen Namen. Ihre Stimme zitterte leicht, während sie sprach.
Der Wurmkopf wiederholte ihren Namen langsam zischend und seine klauenartige Hand ruhte dabei weiter an ihrem Kinn. Er war ihr so nahe, dass sie seinen heißen Atem an ihrer Wange spüren konnte, so nahe, dass Florence sich am liebsten losgerissen hätte.
Dann brüllte der Anführer der Wurmköpfe einen neuen Befehl, woraufhin sich die fremden Wesen wieder sammelten. Auch Ay Samas entfernte sich endlich und Florence atmete erleichtert auf. »Geht es dir gut?«, wisperte sie in Richtung Max und löste seine Hände von ihrem Bein. Seine Hose war durchnässt, aber er nickte tapfer.
Florence verstand nicht, was die Wurmköpfe miteinander berieten, doch es wirkte so, als hätten die Menschen die erste Prüfung bestanden. Als Nächstes wollten sie sich die Euphoria genauer ansehen, das Raumschiff, das Florences Zuhause gewesen war, seit sie lebte. Kommandant Newman schien nun seine Angst im Griff zu haben, denn er führte den Wurmkopfanführer ins Innere des Schiffes und redete dabei mit Händen und Füßen, um sich zu verständigen. Etwa die Hälfte der anderen Wurmköpfe folgte ihnen, während der Rest draußen vor dem Raumschiff blieb.
Unter den Menschen verbreiteten sich schnell Gerüchte, dass sie das Raumschiff verlassen mussten und schon folgten einige von ihnen den Wurmköpfen und Newman ins Innere. Als die Wurmköpfe vor dem Raumschiff dies scheinbar unbeteiligt geschehen ließen, nutzte auch Florence die Gelegenheit und schnappte sich ihren kleinen Bruder. Falls sie das Raumschiff wirklich verlassen sollten, war es besser, vorher in Ruhe die wichtigsten Dinge einzupacken.
Auf dem Weg zu ihrem gemeinsamen Zimmer bekamen sie mit, wie Newman und die Wurmköpfe das Cockpit verließen. Die fremden Wesen äußerten überraschte und begeisterte Laute und es war zu erkennen, dass sie Derartiges nie zuvor gesehen hatten. Florence wollte gar nicht wissen, was erst passierte, wenn sie ihre Handfeuerwaffen entdeckten.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, das Zimmer ihrer Kindheit und Jugend zu betreten und gleichzeitig zu wissen, dass es das letzte Mal war. Hier hatte sie zuerst mit ihrer Mutter zusammengelebt, bis zu ihrem Tod vor vier Jahren. Max war damals ein Kleinkind gewesen, das gerade seine ersten Worte lernte. An der Wand neben ihrem Bett hing ein Bild, das die Drei vereint zeigte, kurz bevor es passiert war. Eine Freundin ihrer Mutter hatte es mit einer Sofortbildkamera aufgenommen. Mit zitternden Fingern nahm Florence es jetzt herunter.
Das Bild zeigte ein junges rothaariges Mädchen mit markanten Gesichtszügen und genauso vielen Pickeln wie Sommersprossen im Gesicht. Ihre Lippen hatten sich zu einem seltenen Lächeln verzogen, auch wenn ihre Stirn leicht gerunzelt war, so als traute sie der Fotografin nicht, dass sie ihre Arbeit gut machen würde. Die Frau, die hinter ihr stand, lachte dagegen offen in die Kamera und hatte die Arme um Florences schmale Hüften geschlungen.
»Können wir Mama mitnehmen und ihr die neue Welt zeigen?«, fragte Max und schlüpfte in eine neue Jeans.
Florence antwortete nicht gleich, so sehr war sie in die Fotografie versunken. Auf dem Bild hielt die jüngere Florence Max im Arm. Sein Kopf ruhte auf ihrer Brust, aber er lächelte verschmitzt. Auch er hatte vereinzelte Sommersprossen, nur sein Kopf war damals noch beinahe haarlos gewesen. Heute wuchsen die braunen Locken auf seinem Kopf wild in alle Richtungen und waren kaum zu bändigen.
»Natürlich nehmen wir sie mit. Wirst du auf sie aufpassen?«, sagte Florence, riss sich von dem Bild los und steckte es ihrem Bruder zu.
»Emmi wird das tun«, antwortete Max und griff nach seiner schmuddeligen Teddybärin. Er steckte sie zusammen mit dem Foto in eine Sporttasche.
»Aber alle anderen Stofftiere bleiben vorerst hier«, ermahnte Florence ihn. »Wir sollten nur das Nötigste einpacken und nicht mehr als wir tragen können.« Sie nahm sich einen Satz Klamotten aus dem Kleiderschrank und stopfte sie zu den anderen Sachen.
Nach und nach kamen dazu noch eine leichte Decke, Streichhölzer, Verbandszeug für alle Fälle, zwei Wasserflaschen und das Tablet, das die Logbücher über den Planeten Erde enthielt, zusammen mit mehreren Päckchen Batterien, um es zu betreiben.
Früher oder später würde es trotzdem den Geist aufgeben, das wusste Florence, und sie musste die digitalen Bücher analog in dicken Wälzern verschriftlichen. Das war ihre Bestimmung. Zuerst war es ihre Mutter gewesen, die all das Wissen über die Erde als Informationssammlerin bewahrt hatte. Mit ihrem Tod war diese Aufgabe auf Florence übergegangen und sie würde ihrer Verpflichtung gewissenhaft nachkommen.
»Gut, ihr habt schon fertig gepackt«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. Xi Wang betrat den Raum, zusammen mit ihrer besten Freundin Rebecca Harbor. Misstrauisch beäugte Florence die beiden. Nach dem Tod von Florences Mutter waren die beiden ihre Zimmergenossen geworden, wenn auch nicht ihre Freundinnen. Was wollten sie jetzt von ihr?
»Wir haben gerade mit Newman gesprochen«, sprach Xi weiter. »Die fremden Wesen wollen uns an einen anderen Ort bringen, um die Euphoria noch gründlicher zu untersuchen. Wir sollen uns auf einen langen Marsch vorbereiten«, teilte Xi den Geschwistern mit.
Das bestätigte nur, was Florence sich bereits gedacht hatte. Sie tauschte noch ein paar belanglose Sätze mit Xi und Rebecca aus, dann schnappte sie sich Max und die beiden Rucksäcke. Hinter ihnen fiel die Tür zu ihrem alten Zuhause ins Schloss. Florence blickte nicht zurück.
Kaum eine halbe Stunde später brachen Florence und alle anderen Menschen auf. Wohin wussten sie nicht, wann sie ankommen würden auch nicht, und ob es ihnen dort dann gut ging, erst recht nicht. Die Wurmköpfe liefen vornweg, um den Weg anzuzeigen, und die Menschengruppe marschierte mit gemischten Gefühlen hintendrein. Am Anfang bestand Max noch darauf, seiner Schwester beim Tragen zu helfen. Nach einer Stunde Fußmarsch über die weite Wiese, ohne dass in der Ferne ein Zeichen von Zivilisation zu erkennen war, gab er auf und Florence trug fortan beide Taschen. Die Sonne schien ihnen auf die weltraumblasse Gesichtshaut und verursachte feurige Schmerzen. Sonnenbrand hatten sie es auf der Erde genannt und Florence fand den Ausdruck recht passend.
Zwei Stunden später trug Florence neben den beiden Taschen auch noch Max Huckepack. Zum Glück hatte sie jeden Morgen auf der Euphoria ihre Ausdauer trainiert, doch lange würde sie das nicht durchhalten können.
Die achtzigjährige Elisabeth Patterson war es schließlich, die den ersten Stopp einforderte. »Junger Mann«, sagte sie zu dem Wurmkopf, der hinten mitlief, und zwar kein Wort verstand, aber die Dringlichkeit einer Pause zu begreifen schien. »Meine Beine fühlen sich schon an, als wären sie aus Pudding und meine Kompressionsstrümpfe drücken komisch. Halten Sie doch endlich einen Moment an, sonst überlebe ich diesen glorreichen Tag nicht.«
Florences Armbanduhr zufolge rasteten sie eine halbe Stunde. Zeit, in der sie etwas essen wollte, um wieder zu Kräften zu kommen, doch dann entdeckte sie am Himmel ein Ding, was sie selbst aus ihren Logbüchern nicht kannte. Mit offenem Mund sah sie nach oben und schirmte ihre Augen vor der Sonne ab, bevor sie hastig ihr Tablet zückte. »Was ist das, Flo? Ist das ein UFO?«, fragte Max aufgeregt.
Sie antwortete nicht und zeichnete das Flugobjekt mit einfachen Strichen in ihr Büchlein und schrieb daneben, wofür sie es hielt: eine fliegende, übergroße Muschel.
Prinbi, Spiegelzimmer des Gesetzesturms; 457 Jahre bis zur Wiederkehr, 3. Nundartu-Zyklus, Tag 5 (Tintrische Zeitrechnung)
Wenn es eines gab, was Yaris Raveja zutiefst verabscheute, dann waren es Unterbrechungen. Wenn sich Gedanken mit Gedanken zu einem logischen Gebilde verknüpften und es nur noch eines winzigen Anstoßes bedurfte, um zu der Lösung des Problems zu gelangen. Doch im letzten Augenblick, wenn der Zielgedanke zum Greifen nah scheint, kommt es zu einer Unterbrechung und schwupps! - der Gedanke ist weg.
Er befand sich im Spiegelzimmer des Gesetzesturms und starrte in den Spiegel, dem der Raum seinen Namen verdankte. Es war kein gewöhnlicher Spiegel. Nein, dieser hier erlaubte dem Betrachter den Blick in jeden noch so kleinen Winkel von Tintris. Gerade hatte er das Spiegelauge auf ein Dorf im Lande Gan Hatra gerichtet, nahe an der Grenze zur Großen Mauer. Die Wahrscheinlichkeit, Sie dort zu finden, war gering. Trotzdem – er musste sicher sein.
Er untersuchte jede einzelne Wasserhöhle, ob bewohnt oder unbewohnt. Dann glitt sein Blick die Mauer entlang, Backstein zu Backstein, bis nach oben. Am Himmel flog eine Muschel ihren Weg hinüber zu -
Rums! Yaris zuckte zusammen, verlor für einen Moment die Konzentration und das Bild von Gan Hatra verschwand im Nebel. Er öffnete sein hinteres Auge und erblickte am Boden liegend vor dem Eingangsbogen den Landeshüter Leshtor Voltar, der sich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck den Kopf hielt. Offensichtlich war er gegen die unsichtbare Barriere gerannt, die Yaris zuvor errichtet hatte, um ungebetene Besucher fernzuhalten.
»Ich hatte darum gebeten, nicht gestört zu werden«, erinnerte er den Untergebenen milde und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Leshtor ergriff sie und rappelte sich benommen auf. Sofort war er ein ganzes Stück größer als Yaris, seine Würmer überragten ihn fast um einen Tentakel.
»Verdickte Lavempisse!«, fluchte der Landeshüter kaum hörbar, dann lauter: »Vergib mir, Oberster Gesetzeshüter! Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dich zu stören, wenn es nicht ein Problem von höchster Dringlichkeitsstufe gäbe.«
»So, sprich!«, forderte Yaris ihn auf.
»Ich habe sofort die nächste Muschel genommen, um dich zu unterrichten. Was passiert ist, ist ungeheuerlich.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Yaris ließ ihn gewähren, auch wenn er es kaum erwarten konnte, sich wieder dem Spiegel zuzuwenden. Interessiert nickte er ihm zu und der andere sprach weiter: »Ich hatte eine Sitzung mit den Ortsvorstehern von Prinbi, um mit ihnen die neuen Gesetze durchzugehen, die du in deinem nie endenden Großmut erlassen hast. Wir waren gerade bei dem Gesetz über die Meldepflicht von unterirdischen Tunnelsystemen zur Überwachung durch das Spiegelauge...«
»Ich hoffe, sie haben alle Gesetze gut aufgefasst und zeigen sich kooperativ«, unterbrach ihn Yaris. Gerade das Gesetz zur Überwachung von unterirdischen Tunneln war von großer Wichtigkeit für ihn. Wer konnte sonst wissen, welch grausame Verbrechen im Verborgenen blieben, nur weil der magische Spiegel sie nicht erfassen durfte.
»Natürlich, Oberster Gesetzeshüter«, versicherte Leshtor und hielt kurz inne. »Aber darüber können wir später reden. Jetzt gibt es Wichtigeres zu klären. Während wir also über deine wunderbaren Gesetzesänderungen sprachen, gab es ein Erdbeben. Das ganze Landesgesetzhaus wackelte. Ich habe meine Soldaten zusammengetrommelt und wir sind losgezogen, um den Ursprung dieses Bebens zu ergründen.«
»Du hast deine Armee gerufen, weil die Erde bebte?«, fragte Yaris belustigt. »Was machst du, wenn es ein Gewitter gibt? Rufst du gleich den Krieg aus?«
»Oberster Gesetzeshüter, wir sollten zum Punkt kommen. Es ist sehr dringend. Wir sind dem Beben auf den Grund gegangen und da haben wir es gesehen. Es war riesig und es muss vom Himmel gekommen sein, denn wo hätte es sonst herkommen sollen?«
»Was war es?« Yaris blinzelte mit seinem hinteren Auge in Richtung Spiegel. Hoffentlich war Leshtor gleich fertig.
»Eine Art Haus. Es muss bei seiner Landung das Erdbeben verursacht haben. Aus dem Haus heraus kamen Wesen, so fremdartig wie ich noch keine gesehen habe. Stell dir vor, ihre Würmer sind so dünn wie Fäden und sie haben nur zwei Augen. Keines auf der Stirn oder auf dem Hinterkopf.«
»Du sagst also, da sind Wesen aus einem Haus gekommen, das vom Himmel fiel? Was habt ihr mit ihnen gemacht? Wirkten sie freundlich?«
»Sie haben keinen Kampf begonnen, Oberster Gesetzeshüter. Unsere Würmer haben ihnen Blutproben entnommen.«
Yaris klatschte in die Hände, um seine Zufriedenheit zu zeigen. Es lag in der Natur der Wurmköpfe, dass sie mit ihren Würmern das Blut einer Spezies analysieren konnten.
»Und hast du schon irgendwelche Erkenntnisse?«
»Ihr Blut ist von geringer Qualität. Sehr dünn und nährstoffarm. Außerdem hohe Entzündungsparameter. Ihr Körper produziert weder Gifte noch andere toxische Substanzen. Das Blutbild passt zu ihrem allgemeinen Auftreten. Die Haut der Wesen ist so dünn, dass unsere schlechtesten Waffen sie durchdringen könnten. Was sich ihre Götter wohl dabei gedacht haben? Auch ihre Stärke und Ausdauer ist allenfalls durchschnittlich. Aber zur Sicherheit sollten wir weitere Untersuchungen durchführen. Dann wissen wir genau, womit wir es zu tun haben.«
So eine Idee konnte auch nur von dem kriegstreiberischen Leshtor Voltar kommen. Da kamen fremde Wesen, von wo auch immer, schutzlos, ohne kämpferische Ambitionen, und baten um Hilfe. Und alles, was dem Landeshüter von Prinbi einfiel, war, die Schutzsuchenden gleich den fürchterlichsten Untersuchungen auszusetzen, um zu wissen, »womit sie es zu tun hatten«.
»Wie viele Wesen sind es denn ungefähr?«
»Fünftausend, würde ich sagen. Genug, um einigen Schaden anzurichten in unserem wundervollen Land.«
Yaris lachte. »Schaden? Welchen Schaden, mein Lieber? Du sagtest doch, dass sie harmlos sind. Oder untertreibst du, damit ich glaube, dass du die Lage allein bewältigen kannst? Wo sind die gefährlichen Himmelswesen gerade?«
Mit diesen Worten schritt er endlich zurück zum Spiegel, der alles sieht, und visualisierte vor seinem inneren Auge Prinbi. Ein Abbild des Landes erschien auf der Oberfläche.
Leshtor grummelte etwas Unverständliches. »Sie sind vorerst im Vortragssaal des Landesgesetzhauses untergebracht, wo sie unter der strengsten Beobachtung meiner Leute stehen. Ich habe alles im Griff, keine Sorge.«
Kaum hatte der Landeshüter das Landesgesetzhaus von Prinbi erwähnt, da erschien es auf dem Spiegel, zuerst von außen. Dann spazierte Yaris geistig ins Innere und staunte nicht schlecht. Da waren die Himmelswesen. Gefährlich sahen sie nicht aus. Wie Leshtor gesagt hatte, sah die Haut weich und empfindlich aus. War das der Grund, warum sie so viel von ihrem Körper mit greller Kleidung bedeckten? Die Fäden auf ihrem Kopf hingen leblos herunter. Waren es Würmer oder doch eher Federn?
Die Zahl fünftausend erschien Yaris nicht zu hoch gegriffen. Dicht an dicht kauerten die fremden Wesen auf dünnen Decken in dem von der Abendsonne schwach beleuchteten Saal, während Leshtors Soldaten um sie herum patrouillierten.
»Ich denke nicht, dass Untersuchungen notwendig sind«, schlussfolgerte Yaris.
Leshtor wirkte höchst unzufrieden und drängte weiter mit Fragen auf ihn ein: »Oberster Gesetzeshüter, ich bin mir sicher, du hast gute Gründe für diese Einschätzung und natürlich werde ich mich deinem Beschluss beugen. Doch was tun wir mit ihnen, wenn wir sie nicht untersuchen? Wo sollen sie jetzt unterkommen?«
Yaris runzelte die Stirn und sah sich die fremden Wesen auf der Spiegeloberfläche erneut an. Dann traf er eine Entscheidung: »Nimm Kontakt zu Fejma Kandura auf, in Gan Hatra findet sich bestimmt noch ein Plätzchen für sie.«
Leshtor schnappte nach Luft. »Gleich nach Gan Hatra? Das kann nicht dein Ernst sein, Oberster Gesetzeshüter. Ich bitte dich inständig, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken. Sieh dir die fremden Wesen erst genauer an. Mach dir ein Bild, bevor du leichtfertig über ihr Schicksal urteilst.«
Leichtfertig über ihr Schicksal urteilen? Yaris betrachtete den Landeshüter von Prinbi eingehend. Verfolgte Leshtor seine eigenen Pläne oder war er wahrhaft in Sorge um die fremden Wesen? War es so wichtig, dass er sich selbst mit diesen fremden Wesen befasste? Yaris konnte nicht leugnen, dass er eine gewisse Unlust verspürte, wenn er an die bevorstehende Reise zum Landesgesetzhaus dachte.
Mit dem Spiegelauge hatte er schon das ein oder andere Mal seinen Blick auf Gan Hatra gerichtet und es dabei stets als paradiesisches Gebiet empfunden. Die Himmelswesen würden sich dort schnell einleben und nützlich machen.
Doch vielleicht hatte Leshtor Recht und es war dieses Mal wirklich besser, wenn er sich persönlich ein Bild von der Lage machte, bevor er eine endgültige Entscheidung traf. Vielleicht hatten diese fremden Wesen mehr zu bieten, als auf den ersten Blick ersichtlich war.
»Du hast recht, Leshtor. Es wäre unklug, vorschnell zu handeln. Ich werde mich umgehend zum Landesgesetzhaus begeben und mir die Situation genauer ansehen«, erklärte Yaris schließlich und versuchte dabei die Resignation in seiner Stimme zu unterdrücken. »Ich werde mit den Wesen sprechen und sie kennenlernen, bevor weitere Schritte unternommen werden.«
Leshtor atmete erleichtert auf und nickte eifrig. »Während deiner Abwesenheit werde ich mich um alle Angelegenheiten kümmern.« Auf einen Wink von Yaris war er entlassen und verschwand sogleich eilig aus dem Spiegelzimmer.
Yaris Raveja blieb einen Moment allein zurück in dem hohen Turmzimmer. Sehnsüchtig ließ er seinen Blick über das vertraute Gemäuer und den altehrwürdigen Spiegel gleiten. Er wusste, dass es nun viele Fragen zu ergründen gab, auf die er noch keine Antwort wusste. Woher kamen diese Himmelswesen? Zu welchem Zweck waren sie auf Tintris gelandet? Waren sie wirklich so ungefährlich wie es schien?
Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er vielleicht noch vor Sonnenaufgang zurück sein würde, wenn er sich nur beeilte. Noch immer zögernd durchquerte er den Eingangsbogen aus dem Turmzimmer hinaus und machte sich über die Wendeltreppe hinunter auf den Weg zum Landesgesetzhaus von Prinbi.
Prinbi, Vortragssaal des Landesgesetzhauses; 10. Juli 2150 (Erdenzeit)
Die Sonne neigte sich gerade dem Horizont zu, als die Menschen endlich ihre vorübergehende Bleibe erreichten. Ein rundes Backsteingebäude, auf dem eine gläserne Kuppel thronte, die im Licht der untergehenden Sonne in allen Regenbogenfarben erstrahlte. Im Inneren leuchteten ihnen ein paar Fackeln den Weg zu einem Raum, der Florence wie ein Versammlungsort erschien. Der Saal bot genug Platz für alle Menschen und in der Mitte erhob sich eine hölzerne Erhebung, eine Art Tribüne. Die Wurmköpfe liefen herum und verteilten zuerst wärmende Tücher, dann reichten sie Krüge mit Wasser herum.
Florence entschied sich dafür, ihr Nachtlager in der Nähe des Ausgangs aufzuschlagen. Von hier aus konnte sie neue Besucher bemerken und in einer Notsituation konnten sie und Max schnell flüchten. Ihr Bruder kuschelte sich mit ihr auf die dünne Decke, die sie im Raumschiff eingepackt hatten. Neben ihnen breitete ausgerechnet Gilbert Blane seinen Schlafsack aus. Florence mochte den jungen dunkelhäutigen Mann, der sich stets zufällig in Florences Nähe aufhielt. Allerdings sprach Gilbert nur sehr wenig und wenn doch, dann stotterte er so viel, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Das machte ein Gespräch mit ihm immer wieder schwierig.
Als Gilbert noch ein kleiner Junge war, hatten ihn seine Eltern regelmäßig deswegen zu dem Arzt auf der Euphoria geschickt, doch jede Therapie war fehlgeschlagen. Gilbert war mit den Jahren immer in sich gekehrter geworden.
Florence schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln, das er überschwänglich erwiderte, dann wandte sie ihren Blick von ihm ab und widmete sich wieder ihrem kleinen Bruder.
»Ist das unser neues Zuhause?«, wisperte Max ihr ins Ohr und kuschelte sich noch enger an sie.
»Nur vorübergehend, bis sie uns etwas Besseres geben«, beruhigte Florence ihn und strich ihm liebevoll durch die braunen Locken. »Es muss noch vieles geklärt werden, was als Nächstes passiert. Das ist nicht so einfach. Wir sind ja gerade erst angekommen. Aber mach dir keine Sorgen, alles wird ganz wunderbar werden. Ich verspreche es.« Sie sprach auch, um sich selbst Mut zu machen.
»Hier ist alles so groß. Ich wusste nicht, dass die Welt so groß ist«, sagte Max mit glänzenden Augen und geröteten Wangen.
»Sie ist noch viel größer. Wir haben bisher nur einen kleinen Teil gesehen. Komm, lass uns jetzt schlafen. Morgen wird sicher ein aufregender Tag und wir werden viel Kraft brauchen.«
Max gehorchte und schmiegte sich eng an sie. Seine kleinen Hände umfassten die schmuddelige Teddybärin Emmi und kaum hatte er die richtige Position gefunden, fielen ihm die Augen zu.
Florence betrachtete ihren Bruder einen Moment lang. Sie beobachtete, wie sich seine Brust hob und senkte, die Pausbäckchen, den zum Lächeln verzogenen Mund ... »Was auch passiert, ich werde immer auf dich aufpassen«, murmelte sie. Dann erfasste sie ebenfalls ein traumloser Schlaf, der ihre aufgewühlten Gedanken beruhigte und sie in wohligem Schwarz wiegte. Bis ein sehr menschliches Gefühl sie wenig später wieder zum Aufwachen zwang.
Niemand hatte ihnen die Toiletten gezeigt, also ging Florence davon aus, dass sie sich ins Gebüsch schlagen musste. Sie löste sich vorsichtig von Max und gab sich Mühe, ihn nicht zu wecken. Dann tastete sie sich auf Zehenspitzen durch die Reihen der Schlafenden.
Das Mondlicht wies ihr den Weg zum Ausgang, hinter dem sich ein paar Wurmköpfe postiert hatten. Florence überlegte, wie sie am geschicktesten auf sich aufmerksam machen konnte, da hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Es war Martha Elenaris, vor Angst klang ihre Stimme drei Oktaven höher. Florence streckte den Kopf durch den Eingang und sah die ehemalige Pilotin der Euphoria, flankiert von den Wurmkopf-Wachen, im Gang stehen. Eine gedrungene Mittvierzigerin mit strähnigem, blonden Haar, geröteter Haut und einem auffälligen Leberfleck auf der rechten Wange. Vor ihr hatte sich ein weiterer Wurmkopf aufgebaut. Dieser war ebenso scheußlich anzusehen wie seine Artgenossen: ledrige Haut, Würmer auf dem Kopf, tiefschwarze Augen ... Einzig das Gewand, in das er sich kleidete, war in einem satten Grün statt des schmutzigen Weiß der anderen Wurmköpfe. Doch es war noch etwas Anderes an ihm. Etwas, das Florence nicht in Worte fassen konnte, aber es zog sie in seinen Bann und sorgte dafür, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten.
Er sprach zu den Wachen am Eingang und sie verzogen sich sofort ins Innere des Saals. Florence presste sich an die Wand und gab keinen Mucks von sich, bis sie weit genug entfernt waren. Erst dann öffnete sie den Mund und gab ihrer Lunge die lebensnotwendige Luft zurück. Ihr Hals schmerzte beim Einatmen.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Geschehen, das sich unmittelbar vor ihr abspielte und streckte den Kopf um die Ecke. Sofort biss sie sich auf die Lippen, um nicht zu schreien.
Da war kein Wurmkopf mehr.
Nur Martha.
Zweimal Martha.
Die Martha, die mit dem Rücken zu Florence stand, glich der anderen vollkommen und umklammerte ihre Handgelenke.
Florence spielte gedanklich ihre Optionen durch. Sie konnte eingreifen und Martha vor diesem Doppelgänger-Monster befreien. Vielleicht schaffte sie es, den Angreifer in die Flucht zu schlagen.
Aber es würde sicher keinen guten Eindruck machen, wenn sie gleich am ersten Tag auf diesem Planeten mit einem der Einheimischen aneinandergeriet. Was konnte sie stattdessen tun?
Das Problem löste sich vor Florences Augen in Rauch auf. Buchstäblich. Die Konturen der zweiten Martha verschwammen, zerfielen aus ihrer starren Form und zurück blieb nichts, abgesehen von dichtem schwarzen Nebel. Dann wiederholte sich die Prozedur rückwärts: Der Rauch verformte sich, nahm Gestalt an und schon stand dort wieder der Wurmkopf mit der besonderen Ausstrahlung.
»Hab keine Angst, Martha«, sagte er zu der ehemaligen Pilotin in perfektem Englisch. »Ich habe mich nur kurz in dich verwandelt, um die menschliche Sprache zu erlernen. Es wird nicht noch einmal vorkommen. Möchtest du mich nicht deinen Mitreisenden vorstellen? Ich möchte eure Wesensart gerne besser kennenlernen.«
Florence reagierte blitzschnell und stürzte zurück ins Innere, um nicht entdeckt zu werden.
»Wwwwo b-iis-t du ggge-wesen?«, fragte Gilbert, kaum dass Florence ihren Schlafplatz wieder erreichte. Er hatte sich in seinem Schlafsack aufgerichtet und sah ihr mit sorgenvollem Blick entgegen.
Sie antwortete ihm nicht und beobachtete den dunklen Umriss des Wurmkopfes, der mit Martha im Eingangsbereich stand.
Stille. Nur das monotone Atmen der Schlafenden war zu hören.
Dann setzte sich die Gestalt in Bewegung, ließ Martha allein im Torbogen stehen, und bahnte sich wie Florence zuvor ihren Weg durch die Schlafreihen.
Er kam direkt auf sie zu.
Hatte er sie bemerkt? Wusste er, dass sie ihn und Martha beobachtet hatte, und wollte sie zur Rechenschaft ziehen?
Doch kurz vor Florences Schlafdecke drehte er ab und hielt auf die Mitte des Saales zu. Auf die runde Tribüne. Florence kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das Mondlicht zeichnete seine Silhouette nach, aber sein Gesicht blieb im Schatten. Mit einem Satz sprang er auf die Erhebung und verschwamm mit der Dunkelheit. Sie konnte nur noch erahnen, was er tat. Irgendetwas auf dem Boden erregte seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich und klopfte die Holzplatte unter ihm ab. Ein hohles Geräusch. Eine Öffnung in der Tribüne. Florence reckte den Kopf und –
Grell. Das gleißende Licht traf auf ihre Netzhaut und sie schloss die Augen, um nicht zu erblinden. Gleichzeitig tastete sie nach den Augenlidern ihres schlafenden Bruders und drückte sie fest zu.
Sie hörte Gilbert neben sich aufschreien und dann sagen: »Hey, wwwas soll dddas?«
Den anderen erging es nicht besser. Binnen Sekunden war der Raum gefüllt von ängstlichen Rufen. Max regte sich unter ihren Händen, wachte aber nicht auf.
»RUHE!«, donnerte eine Stimme und alles verstummte. »Ihr könnt die Augen jetzt öffnen.«
Florence blinzelte. Der Raum war tageslichthell. Das gleißende Licht war verschwunden, doch mit ihm auch die Finsternis der Nacht. Durch die Deckenfenster schien der Mond und im Schlafsaal war es, als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt. Nur dass nirgendwo eine Lampe zu sehen war.
Sie öffnete die Augen ganz und betrachtete argwöhnisch den Wurmkopf, der auf der Bühne stand. Er machte keinen bösartigen Eindruck. Die Arme hingen locker zur Seite ab und der linke Fuß ruhte auf einer nachtschwarzen Kugel.
»Das zu meinen Füßen ist eine Lichtkugel«, fuhr der Wurmkopf in perfektem Englisch fort, als hätte er nie eine andere Sprache gesprochen. »Sie absorbiert die Dunkelheit in diesem Raum und macht ihn hell, solange ich mit euch reden möchte.« Gemurmel hob an, aber er unterband es mit einer forschen Handbewegung. »Ich bin hergekommen, um euch auf Tintris willkommen zu heißen. Suno Yaris Raveja. Mein Name ist Yaris Raveja. Ya-ris wie der höchste Berg und Ra-we-dscha nach meinem Vater. Ich bin der Herr des Gesetzes oder Gesetzeshüter wie manche sagen und ich regiere das Hüterland – das größte Herrschaftsgebiet auf Tintris.
Da ihr meinen Grund und Boden betreten habt, liegt es nun in meiner Verantwortung zu entscheiden, was mit euch geschehen soll.
Habt ihr einen Anführer, der für euch sprechen möchte?«
Alle Blicke richteten sich auf Newman, der sich unweit von Florence entfernt mit Schweißperlen auf dem Gesicht in seine Decken kauerte. Unter der Aufmerksamkeit der anderen zwang er sich mit zitternder Stimme zu reden: »Es ist mir eine unvorstellbare Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Gesetzeshüter. Ich bin Alexander Newman, der Kommandant unseres Raumschiffes. Raumschiff, so nennen wir das fliegende Wunderwerk, mit dem wir ...«
Yaris Raveja unterbrach ihn ungeduldig: »Ja, ja, alles schön und gut, ich weiß bereits, was ein Raumschiff ist.«
Florence kicherte hinter vorgehaltener Hand. Es geschah Newman Recht, dass er nicht ernst genommen wurde.
»Kommen wir also zu eurer Eingliederung in diese wundervolle Welt. Fürs erste werdet ihr in dieser Halle bleiben und dann werdet ihr irgendwann artgerechte Unterkünfte erhalten. Wie diese aussehen, muss noch entschieden werden. Ich werde mir natürlich alles über eure Herkunft anhören und ihr dürft mir dann auch gerne noch erzählen, wie ihr mit eurem technischen Spielzeug durch den Himmel fliegen konntet. Aber nicht heute. Ich werde gelegentlich einen Diener von mir vorbeischicken oder selbst zu euch kommen, wenn es meine Regierungsgeschäfte zulassen.« Florence war sich nicht sicher, ob seine Worte nur unabsichtlich so gereizt klangen, weil er die Sprache zum ersten Mal gebrauchte. Er wirkte fast schon verärgert, so als wolle er sich nicht wirklich mit ihnen befassen.
»Bis auf mich gibt es niemanden hier, der imstande ist eure Sprache zu sprechen, also werdet ihr Unterricht erhalten, um euch halbwegs verständigen zu können und euch an unsere Kultur anzupassen. Natürlich nur, wenn ihr euch dafür entscheidet hier zu bleiben.«
Yaris Raveja atmete tief durch und richtete den Blick dann wieder auf den verängstigten Newman, der so aussah, als würde er sich am liebsten unter seiner Decke verkriechen.
»Ja, Herr Gesetzeshüter, wir möchten gerne bleiben«, bekräftigte Newman. »Und natürlich werden alle hier ihr Bestes geben, damit wir uns so schnell wie möglich in diese Gesellschaft integrieren.«
»Sehr gut«, erwiderte Yaris Raveja knapp. »Ich muss mich leider schon wieder verabschieden. Erwartet alsbald neue Anweisungen von mir und verhaltet euch in der Zwischenzeit ruhig.«
Kaum hatte der Herrscher des Hüterlandes, wie er sich selbst genannt hatte, seine Rede zu Ende gesprochen, verließ er mit wehendem Umhang die Tribüne und dann den Saal. Er hinterließ eine Anspannung in der Luft, die förmlich knisterte.
Florence beobachtete sein Fortgehen mit gemischten Gefühlen. Newman hatte verschwiegen, dass den Menschen nichts anderes übrig blieb als zu bleiben. Es hatte Jahrzehnte gedauert, diesen Planeten zu finden. Um wählerisch zu sein, hatten sie weder genügend Vorräte noch Treibstoff.
Ihre Zukunft auf Tintris hing von diesem Moment an stark von den Entscheidungen des Gesetzeshüters ab. Florence hoffte nur, dass er ihnen freundlich gesinnt sein würde.
Prinbi, Versammlungsraum des Gesetzesturms; 457 Jahre bis zur Wiederkehr, 3. Nundartu-Zyklus, Tag 5 (Tintrische Zeitrechnung)
Zufrieden mit seiner Ansprache vor den Menschen verließ Yaris das Landesgesetzhaus von Prinbi und machte sich auf den Weg zurück zum Gesetzesturm. Dank einem kurzen Blick in Marthas Kopf wusste er nun, dass die Himmelswesen oder auch Menschen, wie sie sich selbst nannten, nichts Böses im Schilde führten. Sie wollten nach einer langen Reise ein Zuhause finden und welchen Grund hätte er, ihnen diesen Wunsch zu verwehren? Im Hüterland war Platz genug für ein paar tausend Neuankömmlinge. Er würde einfach Leshtor Voltar damit beauftragen, sich um alles weitere zu kümmern. Dann konnte Yaris sich auch endlich wieder den wichtigen Dingen zuwenden. Vor dem Eingang zum Gesetzesturm waren zwei Wachen postiert. Der eine saß an die Wand gelehnt, den Kopf auf die Knie herabgesenkt und schlief. Der andere hielt den Prinbischen Boten in seinen Händen, die Zeitung mit den tagesaktuellen Nachrichten.
»Was gibt es Neues in der Welt?«, wollte Yaris wissen und lachte, als der Wachmann vor Schreck alles fallen ließ.
»Nichts, was dir entgangen sein könnte, Oberster Gesetzeshüter.« Und zu seinem Kameraden: »Nun wach schon auf, Terzifur. Der Gebieter ist wieder da.«
Yaris wartete nicht auf Terzifurs Erwachen. »Was bin ich froh, so fleißige Wachleute zu haben. Ihr seid es, die mich nachts ruhig schlafen lassen«, rief er ihnen beim Erklimmen der Wendeltreppe hinterher.
Er nahm es den Wachen nicht übel, dass sie ihrer Pflicht mehr schlecht als recht nachgingen. Ginge es nach ihm, müsste überhaupt niemand vor dem Turm stehen und ihn bewachen. Hier gab es nichts, was er vermissen würde, wenn es geklaut werden würde. Abgesehen von dem Spiegel, aber der wurde zusätzlich von magischen Barrieren geschützt.
Er erreichte die erste Ebene und hielt inne. Hörte er da Stimmen aus dem Versammlungsraum? Wer wollte denn um diese nächtliche Uhrzeit eine Besprechung abhalten und das ohne ihn?
Auf Zehenspitzen trat er an den schweren, roten Vorhang heran, der Saal und Flur voneinander trennte und lauschte. »Ich danke euch ... Ruf des Spiegels ... Obersten Gesetzeshüter für einen Moment ...«, drangen Gesprächsfetzen zu ihm und Yaris war sich sicher, dass es Leshtor Voltar war, der sprach.
Wenn er mehr hören wollte, musste er näher heran. Ohne gesehen zu werden, verstand sich.
Yaris atmete tief durch, schloss die Augen und sprengte im Geiste die Ketten des Körpers, die seine wahre Gestalt verschlossen hielten. Die ledrige Haut, die Würmer und auch das grasgrüne Gewand, das er trug, lösten sich auf in schwarzem Rauch. Er stand nicht mehr auf dem Boden, er schwebte als Rauchsäule in der Luft. Lange genießen konnte er diesen Zustand nicht. Stattdessen machte er sich klein, so klein und winzig, dass er kaum noch sichtbar war, und komprimierte seine Gestalt in einen Körper, in dem er Leshtor und dessen Zuhörern unmöglich auffallen würde.
Er öffnete seine neuen Augen und alles um ihn herum wirkte überdimensional. Der rote Vorhang, den er zuvor noch mit einer lässigen Handbewegung zur Seite wischen konnte, war farblos grau und ein unüberwindbares Hindernis geworden – wäre da nicht ein schmaler Schlitz, durch den er hindurch passte. Eine Todesfliege, so war der Name des Insektes, in das er sich verwandelt hatte. Ein Stich, und selbst der massigste Wurmkopf fiel tot zu Boden. Zum Glück hatten die Viecher nicht allzu viel Freude am Töten und nutzten ihre Fähigkeiten nur im Notfall.
Yaris flatterte probehalber mit seinen Mini-Flügeln. Es war schon etwas her, seit er sich das letzte Mal in ein solches Insekt verwandelt hatte. Linkisch schwirrend hob er vom Boden ab und flog durch den Vorhangschlitz ins Innere des Versammlungsraumes.
Die drei Landeshüter hatten sich tatsächlich zu einer geheimen Unterredung getroffen. Leshtor Voltar für Prinbi, Iven Castias für Libenum Distila und Fejma Kandura für Gan Hatra. Nur Fackeln beleuchteten ihre Silhouetten, die Lichtkugel durfte in dieser Nacht nicht ihren Dienst tun. Im Schutze der Dunkelheit saßen sie eng zusammengedrängt auf dem Fenstersims, die Blicke hinaus auf den Nachthimmel gerichtet.
»Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den Bürgern des Hüterlandes«, sagte Leshtor soeben zu den anderen beiden. »Als wir Yaris Raveja vor drei Jahren zum rechtmäßigen Hüter des Gesetzes wählten, konnten wir nicht wissen, dass er seine Macht nur für unnütze Zwecke missbrauchen würde. Alles deutete darauf hin, dass er nur das Beste für unser Volk im Sinne hat. Er hat uns und die ganze wahlberechtigte Bevölkerung getäuscht und enttäuscht. Jetzt liegt es an uns, ihm Einhalt zu gebieten. Es ist der Wille des Volkes, dass Yaris Raveja vor dem Ende seiner Zeit aus dem Amt des Gesetzeshüters enthoben wird.«
Was sagte Leshtor da? Yaris musste sich verhört haben. Sie wollten ihn aus seinem Amt vertreiben? Das war unmöglich. Es war bar jeder Gesetzesgrundlage. Noch zwei Jahre hatte er sein Amt inne. Solange war er der rechtmäßig gewählte Gesetzeshüter von Tintris. Was die drei Landeshüter dort trieben, war ein ganz übler Verstoß gegen das geltende Recht. Es sei denn, sie hatten hinter seinem Rücken ...
»Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken ihn zu verraten«, murmelte Iven Castias. Ein kleiner Hoffnungsfunken glimmte in Yaris auf, dann: »Wir wissen doch alle, dass er kein gewöhnlicher Wurmkopf ist. Er ist ein Gestaltwandler, ein Ventan. Er kann sich in jedes Wesen oder Tier verwandeln, das existiert. Und was, wenn das nicht alles ist? Wenn er neben dem ganzen Verwandlungshokuspokus noch ein paar tödliche Tricks auf Lager hat? Ich habe von einem anderen Raveja gehört, in den Bergen von Pervenia, der soll ...«
Die Landeshüterin von Gan Hatra lachte. »Diesen abergläubischen Blödsinn glaubst du doch nicht, oder?«
»Sein Blick soll auf der Stelle töten, erzählen sie sich.«
Leshtor brachte Iven mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass nichts davon wahr ist. Ich stehe lang genug schon unter seiner Fuchtel, um zu wissen, dass Yaris Ravejas Blicke zwar Nerven töten, aber keine Körper.«
Yaris schnaubte, doch mit der Fistelstimme einer Todesfliege verklang der Laut ungehört. Nein, er konnte natürlich nicht mit einem einzigen Blick töten, aber das bedeutete nicht, dass er vollkommen harmlos war. Schließlich war er gerade eine Todesfliege. Ein paar gezielte Stiche und die Verräter würden für immer in sich zusammenklappen. Ohne dass ihr Tod auf ihn zurückzuführen war.
Aber nein, ein solches Vorgehen war ihm fremd. Er war ein Mann, der das Gesetz achtete, schlimmer noch, er war der Hüter des Gesetzes und höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass es eingehalten wurde. Was also glaubte Iven Castias, was er tun würde? Yaris Raveja würde sich nicht auf das Niveau seiner Gegner herablassen, die ihre eigenen Befindlichkeiten über das Wohl des Volkes stellten.
Was ihn zu der Frage führte, wie sie die Absetzung begründen wollten. Im Gesetzbuch stand vermerkt, dass ein amtierender Gesetzeshüter nur dann vor Ende der Amtszeit abgewählt werden konnte, wenn in einer Bürgerwahl mehr als die Hälfte der Bevölkerung dafür stimmte.
»Es ist also beschlossen«, führte Leshtor das Gespräch fort. »Nun gebt mir eure zusammengetragenen Stimmzettel und lasst sie uns in die Amphore der Eingikeit werfen.«
So war das also. Sie hatten Stimmzettel. War er so verblendet gewesen, dass ihm die Organisation einer geheimen Volksabstimmung entgangen war? Nein, das war unwahrscheinlich. Vielmehr traute er es Leshtor zu, dass er die Zettel gefälscht hatte. Die drei Landeshüter erhoben sich von ihrem Fensterplatz. In der Mitte des Raumes, platziert auf einem irdenen Dreifuß, erhob sich prunkvoll die Amphore der Einigkeit. Auf ihrem runden Bauch hatte einst der berühmte prinbische Maler Vesto Mecino in verschiedenen Grüntönen eine Szene verewigt, die den ersten gewählten Gesetzeshüter des Hüterlandes bei seiner Amtsannahme zeigte. Der enge Hals des Gefäßes war mit magischen Symbolen verziert und die beiden Henkel mit Muschelsplittern besetzt.
Iven Castias und Fejma Kandura leerten die Taschen ihrer Gewänder und zum Vorschein kamen jeweils zwei Dutzend kleine Lederbeutel.
Sie gaben sie an Leshtor Voltar weiter und traten mit ihm gemeinsam an das prächtige Gefäß heran. Leshtor löste die Kordel des ersten Beutels und unzählige kleine Papierzettelchen fielen heraus in die Amphore der Einigkeit.
Dann verfuhr Leshtor mit dem nächsten Beutel auf dieselbe Weise. Yaris war sich mittlerweile sicher, dass die Stimmzettel gefälscht sein mussten. Es waren einfach zu viele, als dass er eine Volksabstimmung dieses Ausmaßes nicht bemerkt haben sollte. Jetzt galt es schnell zu sein. Sobald die Amphore mit genügend Stimmen gefüllt sein würde, die seine Absetzung im Sinne hatten, würden die magischen Symbole an ihrem Hals golden aufleuchten und damit wäre seine Amtsenthebung besiegelt. Doch bevor es dazu kam, musste Yaris das Einzige in seine Hände bekommen, was ihm auf der Suche nach Ihr helfen konnte.
Leise summend flog er zurück in den Flur. Kaum hatte er den Schlitz des Vorhanges durchquert, verwandelte er sich wieder. Zuerst in seine Rauchgestalt, dann in einen Wurmkopf. Am liebsten wäre er die Wendeltreppe hochgerannt, doch aus Sorge, von den Landeshütern ertappt zu werden, schlich er mit bedächtigem Schritt die Treppe nach oben. Ihm blieb noch genug Zeit, um die richtigen Vorkehrungen zu treffen.
Die Luft im Spiegelzimmer war stickig und warm, als Yaris es betrat. Es war die letzte Ebene des Turms, direkt unter dem Dach. Kurz dachte er darüber nach, ein Fenster zu öffnen, doch entschied sich dann dagegen. Er zündete auch keine Fackel an und ließ die Lichtkugel außer Acht, die neben dem Torbogen in einer Holzkiste lag. Das, was er jetzt tat, war selbst für einen Gesetzeshüter verboten und er durfte keineswegs erwischt werden.
Der Spiegel, der alles sieht, war unter schwerem grünen Stoff verdeckt. Yaris schob ihn beiseite, sodass er zu Boden fiel, dann betrachtete er ein letztes Mal die Weltkarte von Tintris, die darunter zum Vorschein kam. Nein, nicht ganz Tintris. Das Hüterland. Dort wo die nordischen Länder Pervenia, Ossa Mericus und Rusari sein müssten, waren Spiegelstücke herausgebrochen. Dies war noch vor seiner Geburt passiert, vor hundert Jahren, als der Norden und der Süden gegeneinander Krieg führte – der Große Unabhängigkeitskrieg, wie er später in den Geschichtsbüchern genannt wurde. Seit damals regierten sich die drei Länder selbst und der obere Teil des Spiegels war weggebrochen.
Da der Spiegel nicht nur zu schwer war, um ihn an einem Stück zu transportieren, sondern auch durch verschiedene magische Zeichen an seinem Platz gehalten wurde, musste Yaris ebenso verfahren wie die Sieger von damals. Er hob den rechten Zeigefinger, der mit einer gebogenen, scharfen Kralle abschloss. Er zögerte. Der Spiegel selbst war noch vier Mal älter, als der Krieg her war. Es tat ihm in der Seele weh, etwas so Altes und Magisches zu zerstören, aber es blieb ihm nichts Anderes übrig. Wenn er Sie finden wollte, brauchte er so viel von dem Spiegel, wie er kriegen konnte.
Zuerst richtete er seine Aufmerksamkeit auf Meramar - eine Insel, die unweit vom prinbischen Festland im Östlichen Ozean lag und seit ein paar Jahren ihm selbst gehörte. Wer auch immer den Spiegel nach ihm benutzen würde, hatte nun keine Möglichkeit mehr, ihn auf seiner Insel ausfindig zu machen. Er setzte die Kralle an und grub sie mühelos in das magische Glas. Es fühlte sich an, als ob er seine Finger in Wasser hielt, doch als er seine Kreisbewegung fortsetzte, blieb ein klarer Riss zurück.
Einen Moment später hielt er ein großes Stück in der Hand und fuhr vorsichtig an den Kanten entlang. Sie waren scharf und fügten ihm doch keinen Schmerz zu. Er steckte es an seinem grünen Gewand in die Halterung, die für ein Langmesser gedacht war und setzte dann den Finger erneut an, diesmal über dem Land Prinbi. Wieder grub er die Kralle in das Glas und -
Rums! Eine magische Kraft riss ihn plötzlich vom Spiegel weg und Yaris flog in hohem Bogen durch das Turmzimmer. Seine Wurmkopfknochen krachten mit lautem Knall auf den Holzboden und vor seinen Augen explodierten die Sterne.
Die Amphore der Einigkeit hatte ihre Arbeit getan. Yaris Raveja war nicht mehr der amtierende Herrscher von Tintris und durfte den Spiegel nicht mehr benutzen.
Die aufgeregten Stimmen der drei Landeshüter erklangen am Fuße der Wendeltreppe und Yaris rappelte sich unter Ächzen und Stöhnen wieder auf.
»Dieser lausige Abklatsch eines Gesetzeshüters«, hörte er Leshtor fluchen. »Wie kann es sein, dass er schon wieder zurück ist?«
Yaris reagierte instinktiv und entmaterialisierte sich in seine Rauchgestalt. Sofort verschwanden die Schmerzen, die ihm der harte Aufprall beschert hatten und er glitt ungesehen, noch bevor die drei Landeshüter das Turmzimmer erreichten, durch die schmalen Ritzen des Fensters.
Am Fuße des Gesetzesturms verwandelte er sich wieder in seine Wurmkopfgestalt und sofort waren die körperlichen Schmerzen wieder da. Das erbeutete Spiegelstück mit einer Klaue umklammernd, entfernte er sich schnellen Schrittes, bis er den nahe gelegenen Wald erreichte. Sein Ziel war es, ihn zu durchqueren bis zum Ufer der prinbischen Meerenge und von dort aus mit einem Boot zu seiner Insel hinüberzufahren.
Doch er kam nicht weit. Vom Himmel stürzte plötzlich eine Flugratte und stoppte ihren Flug kurz vor seiner Nasenspitze. Yaris erschreckte sich heftig und hob reflexartig die Hände zur Abwehr in die Luft. »Blödes Vieh«, fluchte er. Die taubstumme Flugratte legte den Kopf schief und riss das Maul auf. Unzählige gelbblitzende Reißzähne kamen zum Vorschein, doch Yaris hatte nur Augen für den Zettel, der auf der fleischigen Zunge lag.
»Nein, du willst mich nicht fressen«, beschwor er das gefährliche Fledertier. »Du hast mehr Angst vor mir, als ich vor dir.« Mit diesen Worten griff er in den Schlund.
Die Flugratte hielt still, bis er den spucketriefenden Zettel hervorgeholt hatte. Sofort stürzte sie sich wieder in die Luft.
Ich weiß bereits, was passiert ist. Triff mich in meiner Ruine. C.
Yaris seufzte. Konnte Corvo nicht weniger kryptisch schreiben? Er hatte seinen Bruder seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und keine Ahnung, wo sich seine Ruine befand. Trotzdem drehte er um. Schon seit ein paar Monaten hatte er die Vermutung, dass Corvo Raveja gemeinsame Sache mit dem pervenischen König machte und Iven Castias hatte vorhin von Gerüchten erzählt, die seinen Bruder in den Bergen von Pervenia verorteten. Irgendwie würde er ihn schon finden. Im Grunde musste er nur der Spur aus Leichen folgen, die er immer hinterließ.
Prinbi, Vortragssaal des Landesgesetzhaus und davor; 11. Juli 2150 (Erdenzeit)
»Erzähl mir eine Geschichte«, bettelte Max am nächsten Morgen, gleich nachdem die ersten Sonnenstrahlen in das Erstaufnahmelager gedrungen waren.
Florence blinzelte gegen die Helligkeit an und setzte sich langsam auf. »Wir sind auf einem fremden Planeten angekommen und anstatt die Umgebung zu erkunden, willst du eine Geschichte hören?«
»Nur eine Klitzekleine. Biiitte!«
Florence unterdrückte ein Grinsen. Auf dem Raumschiff war das immer so gewesen. Noch vor dem Frühstück und dem morgendlichen Sport hatten es sich die beiden unter Florences Bettdecke gemütlich gemacht und sie hatte eine Geschichte erzählt. Vielleicht würde ein bisschen Alltag Max guttun. Mit erhobenem Zeigefinger sagte sie: »Aber wirklich eine ganz Kurze. Ich will endlich wissen, was uns da draußen alles erwartet.«
Max nickte und setzte sich im Schneidersitz ihr gegenüber auf die zerwühlten Tücher.
»Heute erzähle ich dir von dem Jungen, dem eine ganz neue Welt offenstand.«
»Du sollst doch nicht immer von mir erzählen!«
»Hey, ich hab gar nicht gesagt, dass die Geschichte von dir handelt.«
»Lebt der Junge in einer Raumfähre?«
»Ja, schon. Aber es ist ein anderer Junge. Sein Name ist Zaudertnie.«
»Zaudertnie? Das klingt voll blöd.«
»Na, für den Namen kann er aber nichts. Zaudertnie lebte auf einer Raumfähre, weil sein Heimatplanet von einem großen Stein getroffen wurde. Einem Asteroiden.«
»Also erzählst du doch von mir. Die Erde wurde auch von so einem Astroding getroffen. Das hat mir Jodi erzählt.«
Jodi war eine der Erzieherinnen auf dem Raumschiff gewesen und was sie Max erzählt hatte, stimmte. Florence hatte von dem Ende der Erde in den Aufzeichnungen ihrer Mutter gelesen. Die Menschen mussten damals schnell handeln, um ihr Überleben zu sichern. Eine internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Ingenieuren hatte zum Glück bereits im Vorfeld Pläne für diese Art von Notfall entwickelt. Sie hatten die Euphoria gebaut, die groß genug war, um eine beträchtliche Anzahl von Menschen für längere Zeit zu behergen und sicher ins All zu bringen.
»Jetzt lass mich doch erst einmal weitererzählen. Also sein Planet war von einem Asteroiden getroffen worden, aber das machte Zaudertnie nichts aus, denn er wusste gar nicht, wie es auf einem Planeten aussieht. Er kannte nur das Raumschiff, auf dem er aufgewachsen war. Das war seine Welt.
Aber eines Tages landete er mit seinen Freunden auf einem fremden Planeten und aus der kleinen Welt, die er kannte, wurde eine große. Grüne weite Flächen, wohin er auch sah. Eine Sonne, die für Tag und Nacht sorgte. Gebirge, Flüsse und ein Himmel, der mit Wattebäuschen bedeckt war. Zaudertnie war begeistert von alldem Neuen und konnte sich kaum sattsehen. Er ging einen Schritt, dann noch ein paar weitere und plötzlich sah er sich Auge in Auge mit etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte.«
»W-w-w-wurmk-k-köpf-f-fe?«, kam es von Gilbert und Florence zuckte zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass er ihr zuhörte. Sie drehte sich zu ihm um, und unterdrückte ein Schmunzeln. Der Anblick war aber auch zu komisch. Ein junger Mann in Florences Alter, dessen braune Gesichtshaut um den Mund herum einen dunklen Bartschatten aufwies, lag bäuchlings auf der Decke, den Kopf auf die Hände gestützt und die Augen aufgerissen vor Spannung. Aber so war Gilbert. Immer schon ein bisschen merkwürdig und verträumt, sodass kaum jemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. Er selbst zog seinerseits die Gesellschaft von Pflanzen vor. Auf der Euphoria war er als Gärtner in dem riesigen Gewächshaus tätig gewesen.
»Nein, nein. Es waren keine Wurmköpfe. Es waren andere Wesen, aber nochmal ganz anders. Riesige Insekten mit Netzaugen, so groß wie mein Fuß, und einem Rüssel, aus dem sie komische Laute tröteten.
Zaudertnie reagierte auf die Wesen, die er nie zuvor gesehen hatte, so wie er nie zuvor reagiert hatte: Er zauderte – er hatte also Angst. Deshalb zog er sich zurück. Er wollte nichts zu tun haben mit den Fremden, die dieses unbekannte Gefühl in ihm auslösten und baute sich eine Höhle, die kaum größer als sein Zimmer auf dem Raumschiff war und verkroch sich darin vor der großen weiten Welt. So lebte er ein paar Wochen lang in vollkommener Abgeschiedenheit und keine Menschenseele durfte ihn besuchen kommen. Aber dann passierte etwas ganz und gar Grauenvolles, womit er nicht gerechnet hatte: