Der Rote Umschlag - Juschi Seifried-Otte - E-Book

Der Rote Umschlag E-Book

Juschi Seifried-Otte

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Beschreibung

Konzerthaus Baden-Baden, der 30. Oktober 2015. Eine Dame wählt ihren Platz, ein Herr sitzt bereits. Sie kennen sich nicht und doch werden sie bald in ein lebhaftes Gespräch verwickelt sein. Denn zu ihrer Überraschung stellen sie fest, dass sie nicht nur die Liebe zur Musik teilen, sondern auch eine Familiengeschichte mit vielen dramatischen und tragischen, aber auch sehr viel schönen Erinnerungen. Eine ganz besondere Rolle spielen dabei ihre Mütter, die beide Natalia hießen und unglaubliches geleistet hatten. Anschaulich beschreibt die Malerin und Autorin Juschi Seifried-Otte in diesem Buch nicht nur das Leben dieses Paares, sondern auch das ihrer beider Vorfahren. Packend und authentisch skizziert sie Lebensläufe und Schicksale. Schildert scheinbar alltägliches, aber auch die Zerstörung Königsbergs, die Flucht aus Ostpreußen und die Verwicklung in den Volksaufstand von Ungarn. So spannt sie einen zeitlichen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Entstanden ist ein zeitgeschichtliches Dokument, das Erlebnisse, Tragödien und Glücksgefühle im Kampf ums Überleben so beschreibt, als wäre man dabei gewesen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der feste Wille, mutig anzupacken und mit Humor nach vorne zu blicken.

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Seitenzahl: 1062

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Konzerthaus Baden-Baden

Istvàn

Juschi und. István

Elisabeth.

Mussik

Begegnung mit Marie Curie

Helsinkfors

Der General

Chabarowsk

Oktoberrevolution

Helsingfors 1914

Umbruch

1917

Abreise

Endlich zu Hause

Natàlia

Elimar Edelmann

Rita Weise- Meinl

Der Rote Umschlag

Prinz Wilhelm Karl, Enkel Kaiser Wilhelms II.

Flucht aus Ostpreußen

Esslingen, Juni 1946

Die Firma 1947

Kindheit

Die Schwestern

Die erste Ausfahrt 1951

14. September 1953

England

Auf Freiersfüßen

Hochzeitsreise

Rechberghausen

Hobbymalerin

Fahrt in die DDR

Das Fest

Von der Montagsmalerin zur Naiven

Unglück

Onny wird Hundert

Banküberfall

Zweite Hochzeit.

Föhr

Maleralltag

Telefonat

Wende 1989

Galsan Tschinag

Weichenstellung

1995 Amerika

Einschnitt

Das Leben stand erst einmal still.

Blaibach.

Natàlia

Kinderjahre

Vertreibung

Natàlia in Holland

Leben in Budapest

Ein Glücksfall für Natàlia.

Es kam zur Unzeit

Istvàn hatte seine Mutter nie gekannt.

Der Krieg kommt näher

Apàtfalva

Marosleie

Tòtkomlos.

Mezőkovàcshaza

Politische Veränderungen

Szigetvàr

Komlò

Der Ungarische Volksaufstand

27. November 1957

s-Hertogenbosch

Familiengründung

Amerika

Turbulenzen

Vater Istvàn

Neues Leben

Marci kommt

Abschied von Holland

Wiedersehen

Berufsalltag

Einschnitt

Auf den Spuren der Ahnen

Was für ein verrücktes Jahr 2015!

Nachtrag.

Vorwort

Eigentlich wollte ich gerade zum 60. Geburtstag einer Freundin gehen, als es an der Haustüre klingelte. Die immer freundliche Postbotin:

„Entschuldigen Sie, dass ich extra läute, aber das hier ist einfach zu dick und passte nicht in den Briefkasten. Ich wollte es nicht knicken, ist wahrscheinlich mal wieder Reklame.“ Lachend streckte sie mir einen roten Umschlag entgegen. Beiläufig legte ich ihn auf den Esstisch, um noch schnell den Lippenstift nachzuziehen und die Frisur zu prüfen. Ein Blick auf die Uhr — wie üblich war ich zu früh dran.

„Hübscher roter Umschlag“, dachte ich, als ich winzig klein auf der Rückseite den Absender meines Bruders ausmachte. Seltsam, wann hatte er mir jemals etwas mit der Post zukommen lassen? Ich öffnete gespannt. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, als ich die Handschrift meiner verstorbenen Mutter erkannte. Zettel und Briefe, von ihr dicht beschrieben auf schlechtem Papier, aber recht gut erhalten! Jetzt war ich doch neugierig geworden. Ich setzte mich hin, um nur kurz einmal durchzublättern. Und konnte einfach nicht mehr aufhören zu lesen. Die Briefe waren in einem Zeitraum von 1942 bis 1946 geschrieben worden. Nachdem ich alles in einem Zug durchgelesen hatte, legte ich den Umschlag zu den wichtigsten Dokumenten in den Schrank.

Schnell noch die feucht gewordenen Augen abgewischt, das Make-up etwas korrigiert, es war höchste Zeit zum Geburtstag der Freundin zu gehen. Natürlich verspätet und irgendwie ging das Fest an diesem Abend an mir vorbei. Dieser Umschlag, dieser rote Umschlag, er wirkte auf mich wie ein Weckruf. Endlich hatte ich ein fehlendes Puzzleteil zu meiner Familiengeschichte gefunden. Die mehr angedacht als geschrieben war, zu der ich schon etwas recherchiert und nachgeforscht hatte, zu der es aber bislang nur viele lose Zettel in einer Mappe und noch mehr halbfertige Dateien gab, die im Computer vor sich hindämmerten. Schade, man hatte die Eltern ja nie gefragt, als es noch möglich war. Man interessierte sich eigentlich nicht zu sehr für deren Vergangenheit, sondern mehr für die Schule, die eigenen Freunde und die eigene Zukunft. Meist hatte man ja schnell abgewunken:

„Ach, ihr immer mit euren alten Geschichten!" Jetzt aber würde ich alles bündeln und fertig schreiben, sobald ich Zeit hätte. Leider sollte es vorerst bei dem Vorsatz bleiben und die Jahre brachten immer neue Vorsätze!

Doch manchmal klopft das Schicksal an die Türe und überrascht, wenn man überhaupt nicht damit rechnet. Genau das passierte mir aber und ich machte mich an die Arbeit. Auslöser dafür war der...

Konzerthaus Baden-Baden

„Was? Du hast den Pianisten Sokolov noch nicht gehört? Aber Juschi, das ist einer der Größten, ein Muss! Ich kann dir sagen, Sokolov hat gestern gespielt, einfach unglaublich." Ja, leider, leider hatte ich ihn gerade in Stuttgart verpasst. So wie es aussah, war es das letzte Konzert in diesem Jahr, wirklich ein Jammer. Jetzt wollte ich erst einmal wissen, ob er wirklich so großartig war. Wie schön, das Internet macht’s möglich, ich hatte mich gleich auf die Suche begeben. Die Auswahl der CDs war zwar mager, aber gleich bestellt war ich sofort begeistert. Schon bei den ersten Takten wurde der Wunsch übermächtig, ihn unbedingt auf der Bühne zu erleben.

Baden-Baden, die neue Broschüre mit der Programmübersicht lag im Briefkasten. Da es von mir aus nicht gerade um die Ecke liegt und Staus auf der Strecke fast tägliche Begleiterscheinung sind, blätterte ich relativ desinteressiert in der Programmübersicht. Aber halt!

Wieder zurückgeblättert, beinahe hätte ich das Wichtigste übersehen. Sokolov, da war er in Großformat und ganzseitig. Tatsächlich, im Oktober 2014 würde er mit einem wunderbaren Programm auftreten. Natürlich hatte ich gleich die Karte gekauft, den bestmöglichen Platz im Saalplan ausgewählt, die Vorfreude war groß. Die Karten steckte ich in einen Briefumschlag, und mit großer Schrift stand „Sokolov Oktober 2014“ darauf.

Im Regal wurde es an einer täglich sichtbaren Stelle deponiert, damit ich es ja nicht übersehen konnte. Aber wie es so geht mit Terminen, die man lange im Voraus festlegt, es kam etwas dazwischen. Unaufschiebbar, unabwendbar, keine Ahnung mehr, was es war. Ich weiß nur noch, dass ich meinem Enkel, einem großartigen, heranwachsenden Klaviervirtuosen, meine Karte schenkte, dazu noch zwei weitere für die Eltern. Auch bei ihnen währte die Freude nicht lange, Sokolov hatte abgesagt, krankheitsbedingt, ersatzlos. Das Jahr ging vorbei, der Frühling fing an, seine Pracht zu entfalten, wieder flatterte der Katalog mit dem neuesten Konzertprogramm ins Haus. Jetzt durchwühlte ich regelrecht die Seiten und hatte Glück, da war er wieder, Sokolov gibt sich die Ehre. Wieder ein wunderbares Programmangebot. Chopin, einer meiner Lieblingskomponisten. Wahrscheinlich war ich die erste Käuferin eines Tickets im April, obwohl das Konzert erst am 30. Oktober gegeben wurde. Endlich hatte es also geklappt und ich steckte die Karte wieder in einen Briefumschlag.

Mit großer Schrift stand „Sokolov Oktober 2015“ darauf. Im Regal wurde es wieder an einer täglich sichtbaren Stelle deponiert, damit ich es ja nicht übersehen konnte. Das Jahr ging mit anderen Konzerten in anderen Städten genauso weiter. Herrliche Erlebnisse, jedes Konzert war eine Reise wert.

Was soll's, mit meinen 72 Jahren war ich ja noch fit genug und die Kilometer spielten keine Rolle. Endlich hatte ich Zeit und Muße, meiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen und Konzerte zu besuchen. Ob Frankreich, Schweiz oder Österreich, keine Reise war zu weit für beste Interpreten. Nur die interessierten mich, für andere war mir die Zeit zu schade gewesen.

Baden-Baden. Ich freute mich darauf, wieder einmal hinzufahren, denn mit dieser Stadt verbanden mich nur die schönsten Erinnerungen. Es war schon lange her, dass ich das letzte Mal dort gewesen war.

Eine Galeristin hatte mir angeboten, meine Ölbilder bei ihr auszustellen. Alles schon lange vorbei! Mittlerweile hatte sich vieles in meinem Leben radikal geändert.

Nachdem ich meinen zweiten Mann zwei Jahren zuvor durch längere Krankheit verloren hatte, musste das Leben allein in die Hand genommen werden. Da half nur, aktiv zu werden und auch wieder zuzusagen, wenn Freunde mich einluden. Das taten sie auch, das war mein Glück. Endlich war es auch soweit.

Der Kalender zeigte mir den 30. Oktober 2015, auf nach Baden- Baden! Wie lange hatte ich mich schon darauf gefreut!

Dieses Mal sagte Grigory Sokolov nicht ab. Das Wetter war prächtig, der Verkehr erfreulicherweise ohne Stau. Das Hotel war gebucht, leider war mein favorisiertes Hotel wegen Umbau geschlossen. Ich versuchte es mit einem direkt angrenzenden Hotel.

Nicht ganz meine erste Wahl, aber für eine Nacht? Sollte schon gehen. War auch schön, nur aus dem Konzerthaus ins Hotel zu laufen, ganz ohne Parkplatzproblem und Taxinotstand.

Der Parkplatz war schnell gefunden, ab in die Stadt. Bummeln, Kaffee trinken, den Abend gemütlich ausklingen lassen und übernachten, darauf freute ich mich in dieser angenehmen Stadt, die alles zu bieten hat.

Schicke Leute, Shopping das reinste Vergnügen, bei Sonnenschein durch den herrlichen Park zu schlendern. Das wunderbare Café mit den köstlichen Kuchen ein Muss und gottlob gab es noch den Kastanienkuchen, eine Geschmacksexplosion.

Baden-Baden, Konzerthaus. Was hatte dieser umgestaltete frühere Bahnhof für einen Charme! Herrlich die Atmosphäre in diesem Haus. An der Türe wurde man freundlich empfangen, herzlich begrüßt und mit nützlichen Hinweisen weitergeleitet, endlich sah man wieder elegant gekleidete Konzertbesucher. Dicht gedrängt ging es im Fahrstuhl erst mal in die obere Etage, um die launigen und interessanten Informationen über das Konzertereignis vermittelt zu bekommen. Nach der Einführung, die humorvoll, spritzig und auch spannend dargeboten wurde, bestellte ich im ersten Stock noch schnell einen kleinen Tisch für die Pause. Etwas Käse, ein Gläschen Sekt, so kam ich mir nicht so alleine und verloren vor in einem Haus, in dem man niemanden kannte. Ich hatte keine Lust, mit der einen Hälfte der Konzertbesucher die andere Hälfte der Konzertbesucher im Rundgang in Augenschein zu nehmen.

„Ja Juschi, was machst Du denn hier?“

„Hallo, das ist ja eine freudige Überraschung!“ Brigitte und Heiner, wie lange hatten wir uns nicht gesehen.

„Darf ich den Damen ein Glas Sekt spendieren?“ Schon war Heiner in der Zielgerade der Theke und brachte nicht nur Sekt für uns, sondern auch gleich einen guten alten Bekannten mit. Der dritte Gong ertönte, unsere Geschichten und Erzählungen mussten ihre Fortsetzung in der Pause finden.

„Wieder am selben Tisch!“ Ich nickte: „Ja, wunderbar, ich bringe meinen Teller mit den Häppchen herunter, das teilen wir.“

„Also, viel Vergnügen.“

„Viel Vergnügen.“ Schon war jeder zu einem anderen Seiteneingang in den Saal eingetaucht. Oh, ich war entzückt und gefangen von der Atmosphäre. Nach einem gründlichen Rundumblick stellte ich erfreut fest, dass ich mich für einen super Platz entschieden hatte, nicht zu weit von der Bühne entfernt, aber mit einem breiten Durchgang. Noch hatte ich erst einen Nachbarn zur Linken, der in sein Programmheft vertieft war. Aber das Haus füllte sich schnell und bald war jeder Platz besetzt. Gut gelaunt, wie ich mich fühlte, genoss ich die große Beinfreiheit und ließ es meinen Nachbarn zur Linken natürlich gleich wissen.

„Große Beinfreiheit hier, wirklich super.“, sagte ich und wippte mit meinen Fußspitzen in der Luft, um das Gesagte noch etwas zu unterstreichen.

„Ja, hier hat man wirklich große Beinfreiheit.“ Kurz ein seitlicher Blick, schon war mein Sitznachbar wieder in sein Programmheft vertieft. Der schweigsame, seriös wirkende Herr mochte ungefähr im gleichen Alter sein.

„Na gut, dann halt nicht“, dachte ich, aber so richtig geistreich war meine Bemerkung mit der Beinfreiheit ja auch nicht gewesen. Aber ein Versuch war es wert. Das Ehepaar zu Rechten, das sich jetzt in Konzertlaune an seinem Platz bequem einrichtete, war da schon gesprächiger. Aber da hatte ich dann schnell keine Lust mehr.

Nicht, dass ich das erste Mal hier gewesen wäre, aber das Konzerthaus in Baden-Baden ist immer wieder einen Rundblick wert. Wie gebannt saugte sich mein Blick plötzlich an der Bühne fest. Im noch schwach beleuchteten Hintergrund standen rechts und links zwei schmale, große, schwarz glänzende hohe Blumenvasen, in denen wunderbar arrangierte Rosen ein Blickfang waren. Als Malerin faszinierte mich dieses Bild!

„Schöne Blumen dieses Jahr“, bemerkte der graumelierte Herr plötzlich zur Linken. Ich war so in den Anblick vertieft, dass ich fast erschrocken reagierte. Hatte er sich in meine Gedanken eingeschlichen? Lächerlich eigentlich, aber kurz hatte ich so ein Gefühl. Wie konnte er wissen, was ich gerade dachte? Verblüfft schaute ich ihn mit großen Augen an.

„Wie konnten Sie wissen? Genau das habe ich gerade auch gedacht!“ Auf einmal waren wir mitten im Gespräch. Ich erzählte die verzwickte Geschichte mit der Karte und Sokolovs damaliger Absage, er schilderte mir begeistert alles über das Leben und Wirken Sokolovs. Er kannte sich aus, er wusste Bescheid, hatte ihn schon oft und oft gehört und erlebt. Unser Gespräch nahm immer mehr Fahrt auf. Ich erzählte von meinen Reisen, warum ich sie allein unternahm. Da erfuhr ich, dass auch er als Witwer schon acht Jahre ein Abonnement in Baden-Baden hatte. Für ihn günstig, weil er nur 50km zu fahren hätte.

Für mich immerhin 200km, und so weiter und so fort.

Licht aus, Sokolov spielte wie von einem anderen Stern. Mein Nachbar flüsterte mir immer wieder Informationen zu. Der Applaus war gewaltig und in der Pause schob ich mich mit den Besuchern zur oberen Etage. Nahm meinen Teller samt Sekt und jonglierte zwischen lustwandelnden Menschen umständlich die Treppe hinunter. Da standen sie schon, die Freunde, und meine Häppchen und ich wurden mit freudigem Hallo begrüßt. Eher unbewusst blickte ich mich um. Wo steckte dieser charmante, attraktive Herr?

Wir hatten uns viel zu erzählen, aber merkwürdiger Weise war ich doch nicht so ganz bei der Sache. Der Pausengong nicht überhörbar, die Flügeltüren öffneten sich und man versicherte sich gegenseitig, sich nachher wieder in derselben Ecke zu treffen.

„Also tschüss, bis später Juschi.“

„Auf jeden Fall, ich freu mich!“ In den Saal eingetaucht, saß ich wieder in der 11. Reihe — mit wunderbarer Beinfreiheit. Groß, schlank und sehr elegant, das fiel mir jetzt auf, kam er, um sich wieder neben mir auf seinen Platz zu setzen. Dieses Mal redeten wir eigentlich gleichzeitig. Nur die ersten Töne des Klaviers stoppten unseren Redefluss. Es gab Zugaben, meine Bravorufe gingen unter in dem nicht enden wollenden Applaus. Aber da waren wir schon in einen heftigen Dialog eingetaucht, nahmen die Umwelt gar nicht mehr richtig war. Warum ich ihm erzählte, dass ich gebürtig ein internationaler Mischmasch von Nationen bin, weiß ich nicht mehr.

Ich weiß nur, dass er sich an sein perfekt sitzendes Revers fasste und auf das goldene Abzeichen in Form einer Lilie zeigte, als ich ihm gesagt hatte, dass meine Urgroßmutter Französin war.

„Und ich habe Vorfahren derer von Anjou!“ Wir standen uns gegenüber und wurden von den zu Bus und Auto drängenden Konzertbesuchern hinausgeschoben. Er immer dicht an meiner Seite.

„Darf ich Sie zum Essen einladen?“

„Warum nicht?“Was??? Hatte ich das soeben gesagt? Bin ich noch zu retten? Ich ließ mich grundsätzlich nie von Fremden nach einem Konzert zum Essen einladen, obwohl es mir schon öfter passiert war. Aber schon half er mir in den Mantel, geleitete mich galant zum Ausgang, legte seinen Arm dezent um meine Taille, damit ich die Treppen im Dunklen (so dunkel war es gar nicht) nicht verfehlte. Da er ausnahmsweise im selben Hotel wohne wie ich, weil er dieses Mal zu spät reserviert habe, steuerten wir die Pizzeria in eben diesem Hotel an.

Kaum konnte man das eigene Wort verstehen, so voll war es.

„Was darf ich Ihnen bestellen?“, fragte er.

„Was empfehlen Sie? Sie sind doch schon öfter hier gewesen!“

„Ja gut,“ entgegnete er, „ich esse hier immer Rindercarpaccio, ist leicht für den Abend und es schmeckt ganz ordentlich.“

Jetzt war Rindercarpaccio in Wirklichkeit nicht gerade meine erste Wahl. Genau genommen hätte ich mir das ganz sicher nicht bestellt, schon gar nicht in einem Restaurant, dessen Kochkünste und Qualitätsgefüge mir unbekannt waren. Aber schließlich hatte er mich eingeladen, da hatte ich mich einfach seiner Bestellung und Weinempfehlung angeschlossen. Bei der Weinempfehlung konnte man allerdings auch nichts falsch machen. Es gab nur die Auswahl zwischen schlecht und auch nicht besser.

Warum nur hatten wir uns so viel zu erzählen? Wir redeten und redeten, bemerkten weder, dass das Essen gebracht wurde, noch dass es abgeräumt wurde. Wir bemerkten nicht, ob wir Rotwein oder eben doch zwischendurch das Wasser leer tranken. Verblüfft stellten wir fest, dass unsere Mütter beide auf den Vornamen Natàlia hörten. Welch wundersamer unglaublicher Zufall. Irgendwann sagte er, er habe den Eindruck, als würden wir uns schon immer kennen. Aber genau das beschrieb meinen „Ist-Zustand!“

„Wollen wir nicht du sagen?“, bemerkte ich spontan.“ Ja, warum nicht?“ Ein wenig befremdlich für ihn, im Nachhinein gesehen. Dieser seriöse Ungar, für den Umgangsformen und Höflichkeitsregeln in angenehmer Weise hochgehalten wurden! Wir bemerkten auch nicht, dass sich das Lokal inzwischen gelehrt hatte und die Tische abgeräumt worden waren. Und auch nicht, dass die Kellner nur noch gelangweilt herumlungerten und immer wieder auf die Uhr sahen. Erst als sie anfingen, die Stühle umgedreht auf die Tische zu stapeln, stellten wir mit dem Blick auf die Uhr fest, dass es schon zwei Uhr morgens war und wirklich Zeit zu gehen. Das hieß Abschied nehmen. Meine Visitenkarte hatte er beiläufig eingesteckt, ich hatte nichts. Aber ich wollte auch nicht fragen. Wusste nicht, ob ein Wiedersehen erstrebenswert war, da war ich hin und hergerissen, hatte auch gar nicht daran gedacht. So trennten wir uns mit einem seriösen „Auf Wiedersehen“ und jeder ging auf sein Zimmer.

Das war's!

„Hm, eigentlich schade? Oder doch nicht? Oder doch schade?“ Danach überlegte ich:

„Hätte ich nicht auch fragen können?“ Nein, niemals, das hätte mein Stolz verboten. Wollte ich mich doch in keiner Weise aufdrängen, war mir auch gar nicht so sicher, ob ich ein Wiedersehen überhaupt wollte. Das würde doch wieder Abhängigkeiten schaffen oder...was auch immer! Kein bisschen müde, aber trotzdem ab ins Bett.

„Bling, bling“, das Handy klingelte.

„Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen und mich für den schönen Abend bedanken!“ Samtweich seine Stimme, wohlklingend tief. Da war ein elektrisierendes Gefühl, das tat gut.

„Oh wie schön, danke, für mich war es auch ein wunderschöner Abend.“, flötete ich ins Telefon, von einer Gefühlswelle getragen. Meine Freunde? Die hatte ich total vergessen! Herrlich tief und fest bin ich dann eingeschlafen. Ich erinnerte mich, dass er sein Auto auf dem Parkplatz in der Nähe meines Zimmers geparkt hatte. Ich schob die Gardine ein wenig zur Seite, da stand er und hantierte an seinem Auto herum. Aber doch ein wenig enttäuschend, am Frühstücksbüfett war er nicht mehr zu sehen. Ein eher karges Frühstück verlangte auch nicht nach einem ausgedehnten Aufenthalt. Also schnell aufs Zimmer, zum Balkon rausgeschaut.... sein Auto schon weg.

Schade, doch ein leeres Gefühl, schade, das war's. Nach Hause, in den Alltag eingetaucht, abgelenkt. Aber irgendwie ging er mir nicht aus dem Kopf. Was machen? Sollte ich? Oder lieber doch nicht? Oder vielleicht doch? Hatte er bei mir einen starken Eindruck hinterlassen? Eigentlich einen sehr starken! Trotz allem, ich wollte jetzt keine Kompliziertheit mehr. Er war nur zwei Jahre älter als ich, das hatten wir sehr schnell geklärt, aber ich wollte nicht mehr abhängig sein, nicht abhängig von eventuellen Krankheiten, wollte auch keine Einschränkungen in meinem Freiheitsradius hinnehmen, so verlockend Zweisamkeit auch sein konnte. Ich musste niemanden fragen, wenn ich an die Nordsee fahren wollte, oder einen Kurztrip nach Frankreich oder Graz. Ich konnte es einfach machen. Morgens aufstehen und losfahren. Ganz zu schweigen vom Thema Essen. Mal hatte man Lust zu kochen und mal nicht. Mal kochte man später und dann eben früher. Gerade so, wie es einem einfiel.

Einfach so, das war Freiheit pur! So gingen die ersten Tage der Woche vorbei.

Allmählich gewann die Vernunft Oberhand, dass das das Beste sei! Dachte ich! In Stuttgart im Opernhaus sang ein mir bekannter Tenor die Hauptrolle und lud mich zum Besuch der Vorstellung ein. Man könnte sich doch hinterher in der Cafeteria treffen. Seine Frau, die auch Sängerin war, würde erfreulicherweise dazu stoßen, so würde ich sie auch einmal kennen lernen. Oh, da freute ich mich drauf und sagte gleich zu. Hoppla, da kam mir doch ein brillanter Gedanke.

Istvàn liebte doch Musik über alles, den könnte ich doch dazu einladen? Natürlich in aller Form, ohne anbiedernd zu wirken. Istvàn, so hieß der elegante Herr aus Baden-Baden. Istvàn, weil er Ungar war, mit holländischem Pass und schon seit 35 Jahren in Deutschland lebend. Das alles hatten wir schon am ersten Abend geklärt.

Drei Mal für ja entschieden, Drei Mal entschieden für nein!

Aber dann eben doch!

Ich schrieb ihm eine völlig „neutral“ gehaltene SMS (ich hatte ja dank seines Anrufes seine Handynummer). Ob ihn denn diese Oper interessieren würde?

„Oh, herzlichen Dank für das Angebot, aber es sei ja Feiertag (Volkstrauertag), da würde seine Tochter zum Essen kommen und sie würden irgendwelche schwermütige Trauermusik hören. So hatte er es eigentlich nicht gesagt, aber so hatte ich es interpretiert. Da er mir erzählte, dass er jeden Tag seit acht Jahren zum Friedhof ging, hatte ich in meiner Fantasie die Trauermusik gleich dazu fantasiert. Somit war mein Interesse recht schnell abgekühlt. Also gut, vergiss es! Man weiß ja, Ungarn können auch schwermütig sein und das auch noch genießen. Also nicht mein Ding. Und schon gar nicht jeden Tag Trauer tragen. Nein, also wirklich, nur keine Probleme aufhalsen.... das war's! „Warum war ich bloß so blöde?“, dachte ich kopfschüttelnd. Ganz ehrlich, ein etwas enttäuschtes Gefühl blieb. Letztlich war es dann gerade gut, dass er nicht kommen konnte, denn dieser Novembertag verwandelte sich schon bei beginnender Dunkelheit in eine entsetzliche Nebelsuppe.

Nur eine kurze Begrüßung, den Sänger und seine Frau mit Bussi, Bussi und Hallo umarmt, um die 30 km vorbei am Neckar zurück zu schleichen, denn es war kaum noch etwas von der Straße zu erkennen. Ja, ich war froh, dass ich mich nicht sorgen musste, eine Gefahr für ihn heraufbeschworen zu haben. So weit, so gut.

Die neue Woche brachte neue Gedanken. Erstaunlich, die umkreisten eben doch wieder diesen Istvàn, diesen beeindruckenden „Typen.“

Am Mittwoch fiel mir dann ein, dass er irgendetwas von einem Klavierkonzert mit Pollini erwähnt hatte. Aber wann? War es der 7. oder die Woche drauf? Letztlich war dieses Rätsel schnell zu lösen und dank Internet auch noch ein passabler Platz erstanden. Schnell noch das Hotel vom letzten Mal gebucht, nicht prickelnd, aber praktisch. Und jetzt?

„Komm Juschi, was soll's, mehr wie nein sagen kann er doch nicht!“ Gerade als ich fast schon beschlossen hatte, nichts zu unternehmen, schrieben meine Finger schon die kurze SMS. Ich käme zum Pollini-Konzert nach Baden- Baden. Mir war nicht ganz wohl in meiner Haut, aber egal, jetzt war die SMS gesendet, fast zeitgleich kam auch schon eine Antwort:

„Oh, da würde ich mich aber freuen!“

„Darf ich dich zum Essen einladen?“

Schau an, da hatte mein Herz Kapriolen geschlagen. Wie herzlich und spontan er reagiert hatte! Mit sehr widersprüchlichen Gedanken machte ich mich also auf den Weg.

Dabei hatte ich doch ein recht mulmiges Gefühl, wie das zweite Wiedersehen verlaufen würde. Freudig erregt auf jeden Fall, aber würde man sich fremd gegenüberstehen? Peinlich berührt, sich wieder zu treffen?

Denn jetzt kam es ja einer Verabredung gleich. Als ich ausstieg und froh war, den letzten Parkplatz vor dem Hotel ergattert zu haben, sah ich ihn! Da er mir den Rücken zuwandte, weil er im Kofferraum seine Ordnung arrangierte, hatte ich natürlich Oberwasser:

„Hallo, schön, dass man sich wieder zufällig trifft in Baden- Baden! Er dreht sich um und strahlte:

„Wie schön, dass du gekommen bist, darf ich dich zum Essen einladen?“

„Aber gerne, ich freue mich schon darauf!“ Da war nichts Fremdes, alles fühlte sich normal an, so als hätten wir uns schon immer gekannt. Wir bummelten noch etwas durch die Stadt.

Mit besten Umgangsformen platzierte er mich galant auf einem Barhocker in seinem Lieblingscafe.

Ein Espresso, ein Sekt, eine Kleinigkeit essen, viel reden, umziehen, Konzert — natürlich wieder ein Klavierkonzert.

Nur dass wir dieses Mal nicht zusammensaßen, ich hatte ja verspätet gebucht. Aber durch Überredungskünste gelang es mir, mit einem reizenden Pärchen zu tauschen. Pollini, ein Meister der Tasten, Jubelstimmung im Herzen, begaben wir uns wieder in ein Restaurant.

Hatte ich dieses Mal Pizza bestellt? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß auch nicht mehr, ob es beim ersten oder zweiten Glas Rotwein passierte. Seine Nähe war so präsent, seine Stimme berührte mich und die Hand, seine Hand, die eigentlich eher auf meiner Tischhälfte lag, erweckte in mir das unwiderstehliche Verlangen, ihn zu berühren.

Er zog sie nicht zurück, nur ganz leicht, um sie dann doch wieder zu positionieren, noch etwas näher, ließ dieses elektrisierende Gefühl zu, um dann doch wieder zwei Zentimeter abzurücken. Aber schon lag sie wieder da, und wieder war die Versuchung groß und irgendwann berührten wir uns einfach beim Reden.

Nein, ganz so war es nicht.

Er gab noch zu bedenken, dass daraus etwas entstehen könnte, ohne dass wir uns näher kannten, und überhaupt nichts voneinander wussten. Ob unsere Charaktere nicht zu unterschiedlich wären?

Das fand ich total erheiternd, weil er es so umständlich mit leicht holländischem Akzent formulierte. Obwohl, er hatte ja Recht, aber letzten Endes war das Gefühl stärker als Logik! Wir hatten wieder denselben Weg ins Hotel und der Hotelschlüssel ließ sich nicht gleich finden.

Aber dieser hingebungsvolle, schöne, warme, intensive Kuss!

Oh mein Gott, was für ein wunderbares Gefühl.

Irgendwie fanden wir dann doch den Schlüssel. Das Frühstück nahmen wir dieses Mal gemeinsam ein.

Istvàn

Endlich mal wieder etwas Abwechslung. Wieder ein Konzert in Baden- Baden. Seit meine Frau vor acht Jahren verstorben war, hatte ich mich kurzentschlossen von meinem Haus getrennt. Dieses große Haus, der überdimensionierte Garten. All die Blumen, der Rasen, wer sollte das pflegen? Woran sollte ich mich erfreuen? Ich saß eines Abends auf der Terrasse, mit einem Mal wurde mir plötzlich die ganze Bürde eines Rentners bewusst. Wozu und für wen? Alles kam mir so überflüssig und unnötig vor. Verkaufen? Ja, das war die Lösung. Ich musste verkaufen und an einen anderen Ort ziehen. Alles hinter mir lassen, neu anfangen. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich umgezogen war.

Dann ging es auch ganz schnell. Nach einem Käufer musste ich nicht lange suchen. Das Haus war groß, dass Haus war schön, der Garten prächtig und die Lage besonders. Genau genommen benötigte ich doch all den Plunder, den man in den letzten Jahren angehäuft hatte, gar nicht. Wer sollte all diesen Nippes abstauben? Meine Tochter? Sie hatte selbst ihren Hausstand, wollte kaum etwas davon haben, und ich? Ich bestimmt nicht! Aber die Bücher! All die Bücher über ungarische Geschichte, die ich mir im Lauf der Jahre erstanden hatte, die musste ich natürlich mitnehmen. Und die holländischen Bücher? Oh ja, die benötigte ich auf jeden Fall auch noch. Sie symbolisierten einen Teil meines Lebens, einen Neuanfang, waren mir wichtig, um in dieser zweiten Sprache in Übung zu bleiben.

Gerade die deutschen Bücher hatte ich mit Bedacht ausgewählt, historische, geschichtsträchtige Bücher, die es wiederum nur in dieser Sprache gab. Sie wollte ich lesen, sobald ich alles geregelt hatte.

Das aufreibende Berufsleben, das Hin- und Herreisen durch Europa und Amerika hatte mir dafür einfach keine Zeit gelassen. Da waren zudem auch meine musikalischen Leckerbissen in viertausendfacher Ausgabe. Sorgfältigst ausgesucht, und nur von besten Interpreten!

Genau genommen hatte ich bei der Wohnungssuche hauptsächlich darauf geachtet, dass all diese Schätze unterzubringen waren.

Der Rest interessierte mich nicht. Möbel wurden auf ein Minimum reduziert, Tisch und Stühle, ein paar Sesselchen und selbstredend Erinnerungsstücke aus meinem geliebten Ungarnland, meiner Heimat, meiner Geburtsstätte und meiner heimlichen, immerwährenden Sehnsucht!

Gut, das hübsche Kleinstädtchen ganz in der Nähe wäre mein Wunschoption gewesen, aber die Wohnungen waren entweder im Preis weit überzogen oder mir gerade vor der Nase weggeschnappt worden. Es wollte einfach nicht klappen und die Zeit drängte. Ich hatte nicht darauf geachtet, dass das kleine Dorf genau genommen nur aus einer langgezogenen Straße mit ein paar Abzweigungen bestand. Ich hatte nicht darauf geachtet, dass es in diesem Dorf nichts, aber auch gar nichts gab, was in irgendeiner Weise das Zwischenmenschliche fördern könnte.

Ein kleiner Laden, ein nicht gerade einladendes Stehkaffee, und die Pizzeria, naja! Keine Verantwortung für ein Haus tragen, nur Mieter wollte ich sein. Mit berechenbaren Kosten, möglichst keinen Pflichten wie Kehrwoche und Gartenpflege. Das musste von einem Hausmeister erledigt werden. Soweit der Plan.

Der Wohnungszuschnitt passte, Bücher und CDs hatten ihre Räumlichkeiten, das Bett seinen Platz und viel Platz für Garderobe benötigte ich ja auch nicht. Wie einfach, alle Garderobe in schwarz, gleich von allem 50 Mal. Also 50 Sockenpaare, da spielte es keine Rolle, wenn ein Strumpf mal nicht zu finden war. Die anderen rutschten an seine Stelle. Alles passte zu allem, abgesehen davon, dass ich seit dem Tod meines Vaters nur noch schwarz trug und mir schwarz ganz gut stand, so ganz ohne Eitelkeit bemerkt. Das Garderobenproblem hatte ich somit in meinem „Single“-Dasein stark vereinfacht. Nichts konnte verfärben, nie vergriff man sich bei der Garderobenwahl, alles wurde mit derselben Temperatur gewaschen und die Krawatten hatten gleich nach der Pensionierung ausgedient.

Es war mir auch nicht aufgefallen, dass die Bewohner, also meine lieben Mitmenschen in diesem Haus, nicht gerade prickelnd waren.

Das eingesperrte Hunde zur Unzeit bellten, Kinder im Keller schon mal die Elektronik der Waschmaschine vernichteten, ein Hammer- und Sägeweltmeister im Obergeschoß lautstark und. ausdauernd seinem unsäglichen Hobby nachging, die Umgangsformen vehement gemieden wurden und der Hausbesitzer als Choleriker den Blutdruck in ungeahnte Höhen schnellen lassen konnte.

Erst zu spät bemerkte ich, dass er einer der übelsten Sorte war, und die Mieter ständig wechselten. In der Nachbarschaft wurden dann Asylbewerber angesiedelt, die es eigentlich überhaupt nicht verstanden, dass man Müllcontainer für Müll bereitgestellt hatte, die Straße nicht als Sammelplatz ihrer Abfälle gedacht war. Kurzum, es gab nichts und niemanden, mit dem man hätte kommunizieren können oder wollen, was mir aber erst mal völlig egal war, mich nicht interessierte. Selbst der Kaffeemaschine hatte ich mich auf Geheiß der Tochter entledigt:

„Papa, so kommst du wenigstens unter die Leute!“

„Geh in ein Kaffee, wenn du deinen geliebten Espresso trinken willst!“

Wie Recht sie hatte. Morgens nix wie raus aus dem Haus, hingefahren in die nette Kleinstadt in der Nähe oder in eines der hübschen Kurorte hier im Schwarzwald. Alles war nicht allzu weit entfernt und Autofahren entspannte mich eher. War man schon mal außer Haus, obendrein in einer landschaftlich reizvollen Gegend, bot sich ein Spaziergang am rauschenden Wildbach, oder in einem schön arrangierten Kurgarten an. Früher hatte ich die große Welt gesehen, mindestens einmal im Monat war ich nach New York oder nach Chicago geflogen, hatte in England der Firma Resultate geliefert, war verantwortlich für die Firma in Europa.

Mein Leben bestand bis dahin nur aus Arbeit, Arbeit und nochmal Arbeit. Wirklich, sie hatte mir Spaß bereitet, ich habe meinen Traum gelebt. Es hätte nie besser laufen können. Meine Tätigkeit war unglaublich abwechslungsreich gewesen, die interessantesten, oft bemerkenswerten Charaktere hatten meinen Weg gekreuzt. So viele Begegnungen blieben unvergessen. Aber Zeit, um private Freundschaften zu pflegen?

Nein, diese Zeit hatte ich nicht! In all den Jahren, den kurzen Wochenenden, die ich mit meiner Frau im Tennisclub verbrachte oder Freunde nach Haus einlud zu zünftiger, echter Gulyassuppe, diese Jahre lagen schon einige Zeit zurück. Denn wie es so oft mit Vereinen ist, ausgetreten bedeutet weggetreten, als wäre man nie dabei gewesen! Jetzt, nach der Pensionierung, die ich sowieso hinausgeschoben hatte, war da nichts, niemand, gar nichts. Meine Musik, meine Bücher waren jetzt ausschließlich meine Wegbegleiter und füllten mich restlos aus.

Außer meiner Tochter, die ich nicht zu häufig sah...nichts.

Nein, in diesem Nest hatte ich in dieser Zeit überhaupt niemanden kennen gelernt. Die wenigen Freunde lebten zumeist verstreut oder im Ausland. Tenniskollegen? Niemand hatte mehr Interesse signalisiert, seit ich allein lebte. Was hatten wir für Feste gefeiert! Wir Ungarn sind gastfreundlich, und jeder wollte dabei sein, wenn wir einluden. Und sie waren in großer Zahl gekommen, jeder hatte dabei sein wollen. Mit den Gegeneinladungen hatte es dann allerdings gehapert, da hatte es viel Ankündigungen gegeben und Willensbezeugungen, und noch mehr Ausreden! Kurzum, es war zumeist dabei geblieben. Nein, kein Mensch meldete sich mal oder fragte nach, wie es einem geht.

So lebte ich mit meinen Interessen, las die Bücher, die ich schon immer lesen wollte. Die Geschichte Ungarns, die Geschichte auch meiner Familie, die bis in 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Die besten Konzerte nummeriert und katalogisiert, wollten gehört werden, die sich jetzt bestens platziert in den Regalen angesammelt hatten. Und wenn es zu eintönig wurde, setzte ich mich in meinen Opel Bus und fuhr zu meinen Freunden ins Ausland.

Da war das Hallo immer groß und ich wurde mit offenen Armen aufgenommen. Allerdings bedeutete das schon eine ziemliche Wegstrecke nach Italien, oder Holland aber am liebsten nach Ungarn.

Kaum vorstellbar diese Herzlichkeit, sah man sich doch nur ein oder zweimal im Jahr. Man war willkommen, egal wie oft man kam. Grade so, als würde man zur Familie gehören. Das Reisen gehörte jetzt zu meinem zweiten Leben.

Aber auch schon acht Jahre Abonnement im Festspielhaus Baden-Baden. Bedeutete aber, festgelegte Termine, das war für meine Reiselust doch immer wieder etwas hinderlich. Eigentlich hatte ich in diesen Jahren alles gehört, was es an herausragenden Konzerten, Dirigenten, Sängern und Instrumentalisten gab. Noch ein Jahr, dann hatte ich vor zu kündigen, um ungebunden mehr Zeit für das spontane Reisen zu haben.

30. Oktober 2015, in Baden- Baden stand ein Klavierkonzert auf dem Programm. Schön! Auf Sokolov freute ich mich. Wie oft hatte ich ihn gehört, wie viele Zugaben hatte der große Virtuose schon am Klavier gegeben. Seinen Lebenslauf, seine Konzerte, seinen Werdegang, ich wusste alles über ihn. Das Wetter war mal wieder prächtig, den Koffer hatte ich gepackt, am Revers des Jacketts dieses Mal statt des ungarischen Wappens ein Anjou Abzeichen angesteckt. Gefiel mir an diesem Tag besser. Wie immer startete ich schon am Vormittag, um noch einen guten Parkplatz zu erwischen. Mit meinem Bus war das nicht so ganz einfach. Für eine Person war dieser Bus mit seinen sieben Sitzen vielleicht etwas sehr geräumig. Aber ich hatte mich an das Fahrzeug, an die Sicht so von oben herab auf den Verkehr zu schauen, gewöhnt. Und Gepäck war nie ein Thema. Alles, aber auch alles konnte man unterbringen. Für meine Körpergröße ideales Einsteigen.

30. Oktober 2015! Wie die Zeit verging. Ein Rundgang durch die Stadt, ein Espresso Doppio, ein Gläschen Sekt zur Einstimmung, etwas Bummeln durch den Park. Umziehen, natürlich die schwarze Garderobe in schwarze Garderobe ausgetauscht. Allerdings den eleganten Blazer dazu ausgewählt, das Anjou-Abzeichen am Revers überprüft und dann tauchte ich ein in die Welt des Konzertes.

Ich liebte diese Atmosphäre, mochte es, die Leute zu beobachten und bei einem Gläschen Sekt auf den Gong zu warten, um einzustimmen in ein wunderbares Musikerleben. Seit dem ersten Tag in Baden- Baden hatte ich meinen Platz in der 11. Reihe. Das bedeutete, nicht zu weit weg vom Konzertgeschehen, aber mit großer Beinfreiheit! Für meine Körpergröße ein Geschenk. Ich war auch fast bei den Ersten, die ihre Plätze aufsuchten. Das Programm vorher lesen, ließ die Zeit schneller vergehen. Eigentlich kannte ich alles, aber trotzdem.

Allmählich fing der Saal sich an zu füllen, und mit energischen Schritten näherte sich ein weibliches Wesen meinem Platz zur Rechten. Gerade, als ich dachte, dass sie vorbei gehen würde, blieb sie neben meinem Platz stehen und schaute im Saal umher.

„Na, was macht ihr bemitleidenswert unmusikalischen Menschen in diesem edlen Konzerthaus?“, schien sie zu denken — so jedenfalls wirkte das auf mich. Besitz- und Raum ergreifend ließ sie sich tatsächlich ein wenig majestätisch neben mir nieder, fast so, als wäre es ein Thron. Also so ein Gefühl hatte ich. Verstohlen blickte ich ganz kurz nach rechts, um dann wieder in mein Programmheft zu sehen. Interessante Dame, schick, wirklich sehr geschmackvoll angezogen, aber sicher arrogant! Na egal, in all den acht Jahren hatte sich sowieso nie ein Gespräch oder eine Unterhaltung ergeben. Aber ihr Parfüm war sehr angenehm und kaum wahrnehmbar. Da hatte ich schon Schlimmes erlebt. Die meisten älteren Damen rochen für mich nach, na ich drücke es mal vornehm aus, nach Toiletten-Reiniger. Das war schon einmal sehr positiv!

„Schöne Beinfreiheit hier!“ Sie schaukelte mit ihren Beinen hin und her, um ihre Worte noch zu unterstreichen.

„Ja, gute Beinfreiheit hat man hier!“ So ähnlich muss ich wohl geantwortet haben. Na, da war mir aber etwas außerordentlich Geistreiches eingefallen!

Natürlich schaute ich augenblicklich wieder in mein Programmheft, ohne auch nur eine Zeile zu lesen. Gott, was blöde. Hätte ich nicht ein Gespräch anfangen können? Irgendwas? Wie gesagt, ich hatte niemals das Bedürfnis, mit meinen Nachbarn rechts oder links zu kommunizieren, aber dieses Mal! Eigentlich passierte erst mal gar nichts und dann, nach einer langen Pause:

„Schöne Blumen auf der Bühne, nicht? Hatte ich das gerade wirklich gesagt?“ Ich hätte mir auf die Zunge beißen können, half ja nichts, war schon passiert! Allerdings hatte ich diese sehr spontane Reaktion von ihr nicht erwartet.

Fast erschrocken schaute sie mich mit weit geöffneten, übrigens hübschen Augen, an: „Wie können Sie wissen, was ich gerade denke?“

Sie wirkte richtig ertappt, eher leicht verwirrt, aber dadurch gerade anziehend. Überraschender Weise musste ich dann gar nichts mehr überlegen, es entwickelte sich von selbst eine lebhafte Unterhaltung. Wie schön, sie wusste so gut wie nichts über den Pianisten, regelrecht dankbar fragte sie mein Wissen ab. Dass sie so nebenbei erwähnte, dass sie Witwe sei, hatte ich wohlwollend registriert. Schade, dass es zu schnell dunkel wurde und das Spiel begann. Ich konnte nicht an mich halten, musste einfach immer wieder kleine Informationen über den Künstler einstreuen.

Pause. Kaum erhoben, war die Dame nicht mehr gesehen! Ach, wie schade, aber sie war spurlos verschwunden.

Mein üblicher Rundgang führte mich zum Sektstand, aber da war sie auch nicht. All die vielen Leute redend, gestikulierend oder flanierend. Ich konnte Ausschau halten, wie ich wollte, ich hatte sie nicht mehr gesehen. Nach der Pause schwebte sie wieder herein. Und herrlich, gleich sprudelte es wieder aus ihr heraus. Erzählte von Freunden, die sie gerade getroffen habe, erzählte mir, warum sie überhaupt am 30. Oktober da war, und nur der dann dunkle Saal und das berauschende Klavierspiel stoppte den Redefluss. ln acht Jahren, es war das erste Mal! Der Pianist Sokolov war grandios. Die Zugaben wunderbar, meine Nachbarin aufgelöst vor Begeisterung. Euphorisch ihre Bravorufe ohne jede Scheu und mit viel Temperament. Wir redeten und redeten, auch als sich der Saal fast gleichzeitig erhob und dem Ausgang entgegen strömte. Dicht aneinander gedrängt, erzählte sie irgendetwas von ihrer französischen Urgroßmutter, da kam mein Familienabzeichen der Anjou doch gerade recht. Wie gut, dass ich mich gerade dazu entschieden hatte! Stolz zeigte ich auf mein Revers:

„Und ich, ich bin ein Anjou!“ Der Stammbaum ging zwar über hundert Ecken, aber immerhin! Natürlich war es mir komplett entgangen, dass die Leute an uns vorbei nach Hause wollten. Denn mir schoss in einem Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf: „Wenn Du jetzt nichts sagst, siehst du sie nie wieder!“ Zeit für Überlegungen war nicht:

„Darf ich Sie zum Essen einladen?“ Ich? War das ich? Hatte ich das soeben gesagt?

„Ja, warum nicht?“, hörte ich sie jetzt deutlich sagen. Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie mir einen Korb geben würde!

„Umso besser!“ So schoben wir uns aus dem Saal, ich half ihr in den Mantel, und beim Treppenabgang legte ich schützend meinen Arm um ihre Taille. Ich gebe zu, es war ein Bedürfnis, sie leicht anzufassen, und es elektrisierte mich, als ich einen Hauch ihres Körpers spürte. Den kurzen Weg zum Restaurant war sie etwas schweigsam. Wahrscheinlich ging es ihr so wie mir:

Was tun wir hier eigentlich? Wie oft habe ich schon allein in diesem Restaurant gesessen! Habe die Menschen an den Nebentischen beneidet, die fröhlich gestikulierend, stimuliert von einem gelungenen Konzertbesuch, später mit einem durchschnittlichen Wein Erlebtes austauschen konnten. Ihre Zurückhaltung hatte Charme: „Ja, ich esse hier für gewöhnlich Carpaccio. Pizza und dergleichen esse ich nie, aber dieses Gericht ist schnell zubereitet, und schmeckt eigentlich ganz ordentlich.“ Sympathisch, sie hatte spontan auf meine Empfehlung dasselbe bestellt. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was mein Mund in die körperlichen Abgründe beförderte, ich hatte nur Augen und Ohren für mein Gegenüber. So nebenbei bemerkte ich auch, dass ihr Teller zur Hälfte stehen blieb. Wir hatten uns so viel zu erzählen, und redeten und redeten, und waren uns doch gerade erst begegnet. Wie war so etwas möglich? Und dann noch etwas Verrücktes, ihre Mutter hieß genauso wie meine Mutter, wie konnte so etwas sein?

„Wirklich? Ihre Mutter heißt auch Natàlia?“ Ich hatte das Gefühl, als kannten wir uns schon ewig. Aber überrascht war ich dann doch, dass sie so mir nichts dir nichts sagte:

„Sollen wir nicht Du zueinander sagen?“ Ich bin die Juschi.“

„Ich heiße Istvàn“.

Ja, das war etwas plötzlich und fühlte sich ungewohnt an. Aber ja, warum eigentlich nicht? So anders als sie in ihrem Verhalten war, anders, als ich sonst andere Frauen wahrnahm, so anders verhielt sie sich eben auch in diesem Punkt. Lustig, fröhlich, nichts Fremdes, alles so selbstverständlich und unkompliziert.

Nach einem Glas Wein suchte ich für gewöhnlich mein Zimmer auf, ohne irgendjemanden gesprochen zu haben. Erstaunlich, heute war alles ganz anders. Warum gähnte der Kellner ganz unverhohlen und fing an, in unverschämter Weise aufzustuhlen? Da sah ich dann auch, dass wir die Letzten waren. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich überrascht, es war weit nach Mitternacht.

Wo war nur die Zeit geblieben? Schade, wir mussten gehen, wirklich schade. Als wir uns höflich voneinander verabschiedet hatten und ich in meinem Zimmer angekommen war, war nur ein Gedanke: „Diese Frau muss ich wiedersehen! Und ich Stoffel hatte zwar ihre Visitenkarte, aber sie nichts von mir. Hatte auch nicht danach gefragt, aber trotzdem. Sie konnte unmöglich schon schlafen. Also rief ich sie an, damit sie auf jeden Fall meine Telefonnummer auf ihrem Handy hatte. Gut, ich habe mich bedankt für den schönen Abend, ihre Stimme klang weich und angenehm. Wie schön, überrascht klang sie auch und ich meinte heraushören zu können, dass sie sich über meinen Anruf gefreut hatte. Ich fuhr wieder nach Hause, nachdem ich sie beim Frühstück leider nicht mehr gesehen hatte. Mit diesem Frühstück war man allerdings schnell fertig. Uninspiriert und relativ freudlos, aber in Konzertnähe. Der Alltag und die Einsamkeit hatten mich wieder. Einfach anrufen, ich wollte schon, aber ich gebe zu, ich war etwas aus der Übung. Ich traute mich dann doch nicht mehr. Wollte nicht aufdringlich sein.

Am Wochenende kam dann eine SMS. Da hatte ich mich richtig gefreut. Vergessen hatte sie mich offenbar nicht. Wie schade, wirklich schade, dass ich ausgerechnet an diesem Tag mit meiner Tochter verabredet war. Sie wollte mit ihrem Mann zum Essen kommen, das war leider schon fest versprochen und ausgemacht. Dass es auf den Volkstrauertag traf, war reiner Zufall und spielte auch keine Rolle. Ein kurzes zur Kenntnis nehmen ihrerseits. Das war’s! Schade! Ärgerlich, ach wirklich bedauerlich. Als ihre zweite SMS kam, nach einer leidvollen ganzen Woche, schlug mein Herz höher. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, etwas von ihr zu hören. Eine kurze SMS: „Am Samstag habe ich eine Karte für das Polin! Konzert!“

„Da lade ich dich aber zum Essen ein.“ Spontan schickte ich ihr eine SMS zurück. Da musste ich gar nicht lange überlegen. Dieses Mal hatte sie auch gleich zugesagt.

„So, machen wir Ordnung von der Ordnung im Gepäckraum?“ Ich fuhr regelrecht zusammen, als ich ihre Stimme hinter meinem Rücken erkannte!

„Nein, nein, ich suche etwas. Ich nehme das Wasser immer mit aufs Hotelzimmer.“

Rot geworden? Nein, das nicht, aus dem Alter war ich wohl raus, aber doch etwas verlegen, als sie so plötzlich hinter mir aufgetaucht war.

„Aber weißt du was? Das kann ich auch später erledigen.“

Und mir kam eine gute Idee: „Wollen wir in die Stadt gehen?“ Als hätten wir uns schon immer gekannt, bummelten wir gemütlich in die Stadt. Na, bummeln traf es nicht ganz. Ich bemühte mich vielmehr zu verbergen, dass ich gerade kurz zuvor am Bordstein leicht ausgerutscht war und deswegen ziemliche Kreuzschmerzen hatte. Es war ein Segen, als wir In meinem Stammcafe auf den Barhockern endlich Platz nehmen konnten. Das Wiedersehen musste erst mal mit einem Sekt gefeiert werden und der Espresso gehörte einfach dazu. Wir redeten und redeten und erzählten, so dass wir darüber fast vergaßen, rechtzeitig ins Hotel zu kommen, um uns für das Konzert umzuziehen.

Der Weg war kurz, die Garderobenabgabe konnten wir uns schenken, aber ein Gläschen Sekt zur Einstimmung musste sein.

Leider hatte sie einen anderen Sitzplatz. Drei Sitze hinter mir, kein Drama, aber wäre doch schön, so eng nebeneinander! Offensichtlich hatte sie denselben Gedanken. Schon war sie in betörender Verhandlung mit einem netten Pärchen, die verständnisvoll lächelten, und bereitwilligst die Plätze tauschten. Unglaublich, wie sie das spontan gemanagt hatte, dass gefiel mir. Das gefiel mir sogar sehr gut.

Nach dem herrlichen Konzert lud ich sie wieder ins Restaurant ein, damit sich der Abend möglichst in die Länge zog. Und wieder redeten und redeten wir, erzählten uns immer mehr doch sehr Persönliches. Warum meine Hand sich ihrer immer mehr näherte? Ich weiß es nicht, aber das Gefühl war nicht beherrschbar. Wie ein kleiner elektrischer Schlag wirkte die Berührung ihrer Finger.

Völlig unbeabsichtigt — oder vielleicht doch nicht? Wie schnell man in Sekunden von Bruchteilen denken kann!

Doch bloß nicht auf eine Affäre einlassen! Das hätte doch Konsequenzen, was wir da machten!

Jahre hatte ich jetzt ein zwar einsames, aber doch ausgefülltes Leben geführt. Wenn ich aufwachte und das Wetter schlecht war, verstaute ich meinen kleinen Koffer, der schon zu Geschäftsreisen mein ständiger Begleiter gewesen war, in meinen geräumigen Opel Bus und fuhr los. Ob nach Holland, Italien, oder zu meinen ungarischen Freunden, egal, ich fuhr einfach los. Ich reiste zu Musikfestivals, zu den besten Interpreten. Spazieren gehen im Park mit Kopfhörer und sich berauschen lassen von der einmaligen „Callas“ oder dem Meistertenor „Di Stefano“! Kochen wann man wollte, essen, was man wollte, in ein Restaurant gehen oder doch lieber ein frischgezapftes Bier trinken, Livemusik und Brezel genießen.

Das war schön, das war Freiheit! Niemanden fragen, niemandem Rechenschaft abliefern, auf niemanden Rücksicht nehmen. Ausgerechnet in diesem Jahr hatten bei mir zudem die gesundheitlichen Probleme zugeschlagen und gelegentliche Unwägbarkeiten wie Kreuzschmerzen oder Herztabletten machten mir zu schaffen. Wollte ich das so einer netten Person zumuten? Also gab ich ihr zu bedenken, dass wir unseren Charakter doch gar nicht kannten. Natürlich war das ziemlich unbeholfen ausgedrückt, aber dieses Gefühl, dass da plötzlich etwas geschah, was ich vielleicht nicht mehr steuern konnte, dieses Gefühl war mir etwas unheimlich. Aber, wie gesagt, das waren nur Gedankensplitter, die in Bruchteilen einer Sekunde durch mein Gehirn rauschten, letztlich war der Drang stärker, nochmal und nochmal und immer intensiver ihre Finger zu spüren.

Es wurde dann doch die ganze Hand. Ich spürte Ihre in meiner und dieses Gefühl war warm und wunderbar. Das Denken war ausgelöscht, verstummt, weg! So standen wir in der Kälte vor unserem verschlossenen Hotel, ohne Mantel bei mittlerweile Minusgraden, und dieser Kuss, also dieser Kuss, dieser nicht endend wollende Kuss ließ uns irgendwann auch den Schlüssel finden, ließ uns mit den Gesprächen verstummen. Das Frühstück nahmen wir dann gemeinsam ein.

Juschi und. István

„Übrigens Juschi, du hast mir doch etwas angedeutet von deiner internationalen Familie — was hat es denn damit auf sich?“

„Oh Istvàn, das ist eine lange Geschichte!“ Lachend kamen wir überein, dass ich ihn in seiner sogenannten Junggesellenwohnung besuchen würde, denn beim Frühstück in Baden- Baden ließ sich das nicht klären. Natürlich auch nicht nur bei ihm und bei einem Besuch. So belebten ewige Staus auf der Autobahn, Baustellen, die heute entfernt, morgen an einer anderen Stelle wieder eingerichtet wurden, Verabschiedungen und freudiges Wiedersehen unseren Alltag. Dabei erzählten wir uns so nebenbei viel über und immer ausführlicher über unsere Familien.

„Weißt du was Juschi, wenn man die Geschichte genau betrachtet, müssten wir eigentlich Feinde sein! Grund genug, um darauf anzustoßen!“ Und die Gläser klangen fröhlich, als István schon weiter ausholte:

„Wahrscheinlich haben unsere Vorfahren gegeneinander gekämpft! Österreich- Ungarn gegen Preußen oder gegen Russland? Oder auch wieder nicht. Ein Desaster und Durcheinander, aber wir sitzen hier friedlich und reden miteinander.“

Kurioseiweise hatten beide Mütter denselben Vornamen, Natàlia und Natàlia, nur die Schreibweise unterschied sich. Nein, ähnlich sahen sich die beiden Frauen anhand der Fotos, die wir austauschten, überhaupt nicht, und doch schienen sich beide sehr ähnlich in ihrer ausgeprägten Charakterstärke zu sein.

„Weißt du, Istvàn, die Familienfeste waren bei uns legendär.“ Neugierig sein Blick, er schien sich wirklich für meine Familie zu interessieren, was ich mir nicht zweimal sagen ließ und einfach drauflos erzählte.

Jeder war bei uns willkommen, alles redete grundsätzlich durcheinander und das in großer Lautstärke. Bot nicht meine Mutter ständig Essen und Trinken an, bemühten sich die Tanten, denn Gastfreundschaft wurde hochgehalten aber zumeist auch fürchterlich übertrieben:

„Nu nimm doch noch! Schmeckt es dir nicht? Ich sehe schon, dir schmeckt es nicht, du isst ja nichts mehr!“ Man schämte sich, wenn man dankend ablehnen musste. Die angeheiratete Verwandtschaft aus dem Schwabenland sagte nur:

„Typisch, diese Balten!“ Ablehnen half nicht, schon landete die Portion ostpreußischer Heringssalat oder das fünfte Tortenstück auf dem Teller. Sobald aber Schwager Eberhard mit Schwung und großem Können das Klavier virtuos zum Leben erweckte, der Alkoholpegel mit Wein und Wodka reichlich Nachschub erhalten hatte, wurde der Teppich zur Seite gerollt und es wurde getanzt, wobei das Alter keine Rolle spielte. Man erzählte sich Klatsch und Tratsch, keiner hörte dem anderen wirklich zu. So konnte man bestgelaunt auseinander gehen und freute sich auf das nächste Familienfest. So war das schon immer bei uns und so würde es auch immer bleiben. Nur einmal war alles viel größer und aufwendiger.

Wir feierten einen runden Geburtstag von Großmutter Onny, die jeder nur Mussik nannte. Aus aller Welt waren die Verwandten angereist, ob mit Flugzeug, Bahn, Auto oder Schiff. Australien, Kanada oder Amerika von überall her kamen sie zusammen. Die Familie war zu groß, als dass man genau wissen konnte, wer zu wem gehörte, nach und nach musste die Familienzugehörigkeit erfragt werden.

Die meistgehörte Antwort war:

„Oh ich? Sorry, ich habe keine Ahnung“, das Gelächter war groß. Nur die „Ausländer“ verstanden nicht, warum wir „Europäer“ uns untereinander nicht alle kannten. Viele der jüngeren oder angeheirateten Verwandten konnten sich nur noch auf Englisch verständigen. Eine große Ahnentafel hing eigens dafür angefertigt an einer Wand des Festsaales und nicht nur mich faszinierten die Verzweigungen und Verwicklungen. Ich fand es ungeheuer spannend und schnappte mir meinen lustigsten Onkel:

„Hör mal, Onkel Stioppa, nie erzählt ihr etwas von früher und wenn, dann nur in homöopathischen Häppchen. Bald wird niemand mehr da sein, der sich überhaupt noch an etwas erinnert. Erzähl doch mal, an was du dich noch so erinnerst.“ Er war gleich begeistert bei der Sache, rückte seinen Sessel näher, beugte sich vor und senkte dabei etwas die Stimme:

„Also da gibt es mehrere schwarze Flecken in unserer Familie!“

„Ach ist ja herrlich, erzähl!“ Begeistert wollte er weitumfassend ausholen, das machen wir immer so, bis wir den roten Faden vor lauter Ausschmücken verlieren. Mit einem Wodkaglas in der Hand kam mein zwar blendend aussehender, aber eher etwas langweiliger älterer Onkel Alexei und setzte sich auf die freie Sessellehne:

„Das erzählst Du nicht!“, sagte er sehr bestimmt und streng zu seinem jüngeren Bruder.

„Aber selbstverständlich erzähle ich das, Ihr wisst doch sowieso alle Bescheid!“

„Nein, dass erzählst du nicht!“ Es entstand ein kurzes Geplänkel, während ich jetzt richtig neugierig geworden war. Natürlich ließ sich mein Onkel Stioppa überhaupt nicht beeindrucken. Mit dem größten Vergnügen begann er zu erzählen. Sein Gedächtnis war erstaunlich und wir amüsierten uns köstlich besonders über die pikanten Details.

„Aber stell Dir vor, Istvàn, nur ein paar Tage später, fast zeitgleich nach unserem Gespräch, kam ein dickes Päckchen aus Australien. Meine älteste Tante hatte bis zu ihrem 90. Lebensjahr die Familiengeschichte aus ihrer Sicht am Computer in englischer Sprache zusammengetragen.“

Computer? Sie hatte es am PC geschrieben, da war ich überrascht! Ich hatte mich zwar von Anfang an mit großer Begeisterung sofort für dieses neue Medium Computer begeistert, aber meine Freundinnen wollten von diesem Monstrum, wie sie es nannten, von Elektronik und dem neumodischen Zeug alle nichts wissen, mit dem Kommentar:

„Des Zeug brauch i net, bin seither ja au immer gut z'hechtkomma au ohne des neumodische Zeugs!“, oder: „Hör mir doch auf, so ein Computer wird sich doch nie durchsetzen, also ich brauch das nicht!“, hatten sie nur desinteressiert abgewunken.

„Entschuldige Istvàn, ich verliere mich schon wieder in Details, aber ich war meiner Tante so dankbar, weil ihre Erinnerungen auch ein Teil Familiengeschichte sind.“

Fragend schaute er mich an:

„Wieso auch?“

Da erzählte ich ihm von dem roten Umschlag aus dem Nachlass meiner Mutter, der mir vor einiger Zeit mit der Post zugesandt worden war. Erzählte ihm von den persönlichen Briefen und meinen bereits weit gediehenen Recherchen, die ich jetzt endlich fortsetzen würde, dank unserer intensiven Gespräche.

Jetzt ließ er nicht locker:

„Juschi, ich habe dir einiges über meine Familie erzählt. Jetzt bist aber du dran, du hast es mir versprochen!“

„Sorry, das wird jetzt aber wirklich etwas dauern.“

Aber er winkte nur ab:

„Macht doch nichts, meine Geschichte wird ja auch dauern.“

Er hatte mir den notwendigen Motivationsschub gegeben.

Ich würde fertig schreiben.

Jetzt allerdings unser beider Familiengeschichten.

Elisabeth.

Elisabeth, Urgroßmutter mütterlicherseits, kam in Königsberg/Ostpreußen zur Welt, mitten im bitterkalten Winter 1850. Der herbeigerufene Arzt und die Hebamme hatten große Mühe, bei tiefverschneiten Wegen mit der Kutsche nicht im Graben liegen zu bleiben, weil sie die Pferde zur Eile antrieben, um noch rechtzeitig die Hausgeburt einzuleiten zu können.

Im Schoße wohlhabender Eltern aufgewachsen, wurden die Mädchen im heranwachsenden Alter üblicherweise nicht auf eine öffentliche Schule geschickt. Man engagierte Privatlehrer, die ins Haus kamen. Unterrichtet wurden ein wenig Mathematik und Sonstiges, Handarbeiten, Stickereien und Praktisches für die Aufgaben des täglichen Lebens als Ehefrau.

Wichtig waren in diesem Grenzland im Baltikum aber Sprachen. Russisch war selbstverständlich, dazu kamen Französisch und Englisch, das sie zumeist bei den jeweiligen Kindermädchen aufschnappten. Natürlich Hochdeutsch, Dialekt, das sprach man in vornehmen Kreisen in Ostpreußen nicht. Die Eltern gingen ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, die Kinder sprachen sie ehrfurchtsvoll mit „Sie“ an und die meiste Zeit war es Aufgabe der Kindermädchen, sich um die Erziehung zu kümmern, sie waren die eigentliche Bezugsperson.

Zumeist eine Stunde am Tag wurde man den Eltern vorgeführt und dann ging es wieder ab in die Freiheit. Tanz und Musik waren Elisabeths Lieblingsfächer, das lag ihr am meisten. Sie wurde eine blendende Pianistin, hatte keinerlei Schwierigkeiten, Melodien zu improvisieren, Mathematik erledigte sie spielerisch, die Malerei war ihre große Leidenschaft und wann immer sie konnte, fand man sie hinter einer Staffelei. Als sie sich dem heiratsfähigen Alter näherte, hatte sie zwar ein Auge auf einen feschen jungen Mann geworfen, dem ihre schmachtende Liebe galt, der aber in den Augen ihrer Eltern nicht die nötige gesellschaftliche Stellung und nicht die nötigen finanziellen Mittel besaß. Er hatte nichts, er war nichts — kurzum — er kam als Schwiegersohn nicht in Frage und ein Mädchen hatte sich zu fügen und den Eltern zu gehorchen.

Es wurde nicht gefragt und passend verheiratet. Der beste Freund ihres schon kränkelnden Vaters war immerhin Inhaber einer der ersten Apotheken am Platz und wahrscheinlich waren sie schon aus diesem Grund besonders eng miteinander verbunden. Sein Freund Adolf Albert war zwar beträchtlich in die Jahre gekommen aber sehr vermögend, wurde ihr Bräutigam und Ehemann und der Vater ihrer drei Kinder. Diese arrangierte Ehe endete mit dem relativ frühen Ableben des Herrn Gemahls und Urgroßmutter dachte gar nicht daran, die Apotheke weiterzuführen. Für solche schnöden geschäftlichen Tätigkeiten hatte sie überhaupt keinen Sinn.

Aber ganz so ungeschickt war sie doch nicht, was den Handel anbetraf. Sie verkaufte die florierende Apotheke mit großem Gewinn an den meist bietenden, kaufte in bester Wohnlage ein riesiges Areal in Königsberg auf und ließ darauf zwei große Mehrfamilienhäuser errichten, ganz nach ihren Entwürfen und Plänen. Bezog auch selber eines der Häuser in diesem neuerschlossenen Gebiet, die restlichen Wohnungen wurden vermietet. Die Fabriken schossen hier wie Pilze aus dem Boden und die Fabrikbesitzer benötigten für ihre Mitarbeiter dringend Wohnraum. Eine gelungene, lukrative Investition. Als erste Bauherrin in der Straße wurde ihr die Ehre zuteil, der Straße einen Namen geben zu dürfen.

Zum feierlichen Akt spielte eine Kapelle einen Marsch und unter großem Applaus wurde das Schild „Moltke Straße“ enthüllt.

Eines Tages kam überraschend ihr Bruder Alexander zu Besuch. Alexander war nach Libau gezogen, nachdem sein bester Freund Paul ihn überzeugt hatte, dass eine aufblühende Wirtschaft dort lukrativste Geschäfte versprach.

So hatten sich die Geschwister in letzter Zeit wenig gesehen und die Freude war natürlich groß, als er plötzlich vor der Türe stand.

„Ich bin Paul unendlich dankbar, dass er mich überredet hatte, in diese Stadt zu kommen, es hat sich wirklich gelohnt, sich dort sesshaft zu machen. Denn die Geschäfte laufen gut, sogar viel besser als erwartet.“, schwärmte er seiner Schwester vor.

Libau im Kurland gelegen, hatte eine wechselvolle Geschichte. Das Land war mit einer teils lettischen Bevölkerung fast 50 Jahre bis 1609 an Preußen verpfändet worden. Danach Herzogtum und Kriege, so dass die dadurch verpflichtenden Kontributionszahlungen der durchziehenden Heere eine harte Belastung bedeuteten. Wiederholte Pestepidemien hatten viel Leid gebracht und immer wiederkehrende Brände hatten zusätzlich in den letzten Jahrhunderten verheerende Schäden angerichtet. Obwohl zuvor der Hafen durch einen Großbrand vernichtet worden waren, wurde er an alter Stelle wieder neu errichtet.

Jetzt allerdings baute man aus Stein statt aus Holz. Die Bevölkerung wuchs zu dieser Zeit rapide durch den Zuzug deutscher Siedler, die sich hier ein besseres Leben erhofften. Man brauchte Platz, Wohnungen, obendrein auch eine große Anlegestelle für die Schiffe. Nach der Eroberung des Kurlandes durch den deutschen Orden wurde die lettische Bevölkerung, die hauptsächlich auf dem Land lebte, als „Undeutsche“ für unwert empfunden. Sie wurden mehr oder weniger als Leibeigene gehalten, die keine Bürgerrechte in den Städten Kurlands erwerben durften.

Der Zugang zu den Handwerkszünften und Kaufmannsgilden war somit für sie verschlossen. Die deutschen Kaufmannsgilden hatten das Sagen und es änderte sich auch nicht wesentlich, als sich das russische Kaiserreich des eisfreien Hafens an der Ostsee bemächtigte.

1795 wurde es zum Gouvernement Kurland ernannt. Sehr zur Genugtuung der Adligen und Gilden behielten sie ihre Rechte und Privilegien. Die Untergebenen hatten trotz allem ihr Auskommen. Die meisten Gutsherren wussten genau, dass es wichtig war, ihren Bauern und Dienstboten ein erträgliches Leben zu ermöglichen, da man nur in Gemeinschaft voneinander profitierte.

Seit Libau aber an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen war und russische Schiffe im Hafen anlandeten, stieg der Handel sprunghaft an.

„Weißt Du, Elisabeth, mein Freund Paul hat Recht behalten mit der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage. In Libau entsteht überall Neues in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Du würdest überrascht sein.“

„Ich wusste nicht, dass dein Freund Paul dich überredet hat, ich dachte, das wäre deine Idee gewesen, von hier so Knall auf Fall weg zu gehen. Ehrlich gesagt, hatte ich Dich nie wirklich verstanden.“

Neugierig fuhr sie fort:

„Wieso ist Paul eigentlich in Libau? Hattest du nicht gesagt, dass er in England studiert?“, schickte Elisabeth noch neugierig hinterher.

„Ja schon, er hatte sogar erst in Deutschland studiert, dann fanden aber seine Eltern, dass er beruflich größere Möglichkeiten hätte, wenn er auch in England studieren würde, was er dann auch getan hat.“

Sie wusste schon aus früheren schwärmerischen Erzählungen, dass er oft auf dem Gut der Eltern seines Freundes in Schlesien nahe Sprottau gewesen war. Wusste auch, dass Pauls Vater nach seiner Tätigkeit als Präsident der Stock Exchange Bank als Garnfabrikant ein Vermögen erworben hatte. Er leistete sich daraufhin ein sagenumwobenes Rittergut in der Gegend von Ober/Niederradchen, dass er gerade restaurieren ließ, um demnächst dorthin umzusiedeln.

„Elisabeth, kannst du dich noch erinnern, wie ich dir von den wunderbaren Gemälden auf Pauls Gut erzählt hatte? Als ich ihn damals fragte, wer denn dieser großartige Künstler sei, hatte er mit stolz geschwellter Brust erzählt, dass die allesamt von seinem Großvater gemalt worden waren.

„Großvater war in jungen Jahren mit der ehrenvollen Aufgabe betraut worden, die Restaurierung des Schlosses Wallenstein in Sagan auszuführen. Das muss eine große Herausforderung mit gewaltigen Dimensionen gewesen sein. Als die Arbeiten schon recht weit vorangeschritten waren, wollte der damalige Herzog als Auftraggeber und großer Kunstliebhaber die Qualität höchstpersönlich in Augenschein nehmen. Die künstlerische Arbeit muss ihn so begeistert haben, dass er ihm das Kunststudium bezahlt hat. Was für eine große Auszeichnung und äußerst ungewöhnlich“, schwärmte Alexander. Kurzum, jetzt redete ihr Bruder nur noch von Paul, jedes zweite Wort war „und Paul meint, und Paul sagt“ und er drängte sie geradezu, doch einmal nach Libau zu reisen, um das alles persönlich in Augenschein zu nehmen.

„Um deine Frage zu beantworten, ja, er hat sein Studium auch in England abgeschlossen, hat gleich danach eine Garn- und Tuchfabrik in Deutschland aufgebaut. Danach hatte er aber kurzerhand seine Geschäfte nach Libau verlegt, unternehmungslustig wie er ist, weil er hörte, dass man dort momentan sehr lukrative Geschäfte machen könnte. Deswegen bin ich ja auch hingegangen und habe es weiß Gott nicht bereut.“ Kurz nur die Pause und schon wieder war er bei Paul: