Der Ruf der Seemöwe - Marita Conlon-McKenna - E-Book
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Der Ruf der Seemöwe E-Book

Marita Conlon-McKenna

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Beschreibung

Als Kate, Moya und Romy die Nachricht erhalten, dass ihre Mutter schwer erkrankt ist, reisen sie sofort aus Dublin, London und New York in den Ort ihrer Kindheit. Im Haus hoch oben auf den Klippen an der irischen See sehen sich die Schwestern nach langer Zeit zum ersten Mal wieder und werden unweigerlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert - und mit den Entscheidungen, die sie für ihr Leben getroffen haben.

Kate stellt plötzlich ihre Rolle als erfolgsverwöhnte Anwältin und alleinerziehende Mutter in Frage. Moya wirft einen nüchternen Blick auf ihre Ehe. Und Nesthäkchen Romy versucht, endlich den Mut aufzubringen, nicht mehr wegzulaufen und sich ihrer Familie zu stellen.

Die drei merken, dass sie endlich alle Eifersucht und Geheimnisse vergessen und als Schwestern zusammenhalten müssen, um wahres Glück zu finden. Werden sie es schaffen, alte Wunden zu heilen und einen Neuanfang zu wagen?

Eine wunderbare Geschichte über Liebe, Familie und Zusammenhalt.

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Das Steinhaus

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Danksagung

Weitere Titel der Autorin:

Der kleine Hutladen in der Anne Street

Über dieses Buch

Als Kate, Moya und Romy die Nachricht erhalten, dass ihre Mutter schwer erkrankt ist, reisen sie sofort aus Dublin, London und New York in den Ort ihrer Kindheit. Im Haus hoch oben auf den Klippen an der irischen See sehen sich die Schwestern nach langer Zeit zum ersten Mal wieder und werden unweigerlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert – und mit den Entscheidungen, die sie für ihr Leben getroffen haben.

Kate stellt plötzlich ihre Rolle als erfolgsverwöhnte Anwältin und alleinerziehende Mutter in Frage. Moya wirft einen nüchternen Blick auf ihre Ehe. Und Nesthäkchen Romy versucht, endlich den Mut aufzubringen, nicht mehr wegzulaufen und sich ihrer Familie zu stellen.

Die drei merken, dass sie endlich alle Eifersucht und Geheimnisse vergessen und als Schwestern zusammenhalten müssen, um wahres Glück zu finden. Werden sie es schaffen, alte Wunden zu heilen und einen Neuanfang zu wagen?

Eine wunderbare Geschichte über Liebe, Familie und Zusammenhalt.

Über die Autorin

Marita Conlon-McKenna ist eine der beliebtesten Autorinnen Irlands und vor allem für ihre Kinderbücher bekannt. Doch auch ihre Frauenromane erobern regelmäßig die Bestsellerlisten und sind bereits in viele Sprachen übersetzt worden. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Dublin.

Marita Conlon-McKenna

Der Ruf der Seemöwe

Aus dem Englischen von Marion Gieseke

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2004 by Marita Conlon-McKenna

Titel der britischen Originalausgabe: »The Stone House«

Originalverlag: Bantam Press, a division of Transworld Publishers, London

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2007 by Verlagsgruppe Random House

Verlag: Blanvalet Verlag, München

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG

unter Verwendung von Motiven © mycola | iStock / Getty Images Plus; zhuzhu | iStock / Getty Images Plus; WoutervandenBroek | iStock / GettyImages Plus; simongurney | iStock / Getty Images Plus; kama71 |iStock / Getty Images Plus; zoom-zoom | iStock / Getty Images Plus

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1852-3

be-ebooks.de

lesejury.de

Das Steinhaus

Maeve Dillon ging die Kieseinfahrt hinunter und überquerte die Hauptstraße, bevor sie durch eine Lücke in der Hecke schlüpfte und in den schmalen Weg zum Strand einbog. Sie genoss die Ruhe und Einsamkeit an diesem menschenleeren Strand. Sie zog ihre Flip-Flops und ihren bequemen Trainingsanzug aus und lief über den weißen Sand der einladenden, aufbrausenden Gischt entgegen. Sie liebte es, zu dieser Tageszeit schwimmen zu gehen. Es war Flut, und sie watete bis zur Hüfte ins Wasser. Als die eiskalten Wellen sie umhüllten, schrie sie wie ein fünfjähriges Kind und tauchte unter. Das Wasser war so kalt, dass es ihr beinahe den Atem verschlug. Sie war eine gute Schwimmerin und schwamm in langen, gleichmäßigen Zügen ungefähr fünf- oder sechsmal die Küste entlang. Das Meerwasser erfrischte sie, und das Blut pulsierte in ihren Adern. Sie fühlte sich jung und lebendig und ließ sich im Rhythmus der Wellen treiben. Es war einzigartig. Seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war, war sie hier schwimmen gegangen und jetzt, wo sie älter wurde, war es eine ihrer liebsten Freizeitaktivitäten. Leicht und zeitlos trieb sie dahin. Ihre Töchter waren ständig in heller Aufregung und warnten sie, dass es gefährlich sei, alleine schwimmen zu gehen, aber sie gab nicht viel auf ihre Bedenken – es war jedenfalls tausendmal besser, als ins Fitnessstudio oder zur Gymnastik zu gehen. Noch zwei Längen auf dem Rücken mit gestreckten Armen. Sie rannte aus dem Wasser, nahm ihr Handtuch und rubbelte Beine und Schultern trocken. Als sie die Fleecejacke über ihre blaurosa getönte Haut zog, wurde ihr wärmer. Dann ging sie wieder den Strand hinauf und nickte Philip Doyle kurz zu, der seine beiden goldenen Labrador-Hunde spazieren führte.

Raschen Schrittes ging sie über die Straße und auf das Granithaus zu, in dem sie aufgewachsen war und wo sie gemeinsam mit Frank die Kinder großgezogen hatte. Das Haus, das von ihrem Großvater erbaut worden war, lag auf einem kleinen Hügel mit Blick auf den Strand. Von dort hatte man einen wunderschönen Ausblick auf die Küste von Rossmore und die Schifffahrtswege. Der Klang und der Geruch des Meeres waren ständige Begleiter im Leben der Bewohner.

Nach dem Duschen bereitete sie ihr Frühstück. Sie hantierte in der Küche herum und machte sich Haferbrei, Tee mit Milch und etwas Toast mit Brombeermarmelade. Ein einsames Frühstück, sie hatte sich noch nicht an das Alleinsein gewöhnt, seit die Kinder erwachsen und Frank nicht mehr da war. Sie setzte sich auf die Fensterbank und blätterte in der Irish Times vom Vortag. Jinx, der Kater, miaute, weil er ein wenig Aufmerksamkeit brauchte. Sie ließ ihn nach draußen und beobachtete, wie er auf der Terrasse einem furchtlosen Rotkehlchen hinterherjagte.

Sie liebte dieses Haus und den Garten, der ihr viel Trost spendete. Seit sie verwitwet war, hatte sie dem Druck widerstanden, es zu verkaufen und sich ein kleineres Haus zu suchen. Dies war ihr Zuhause, und sie hatte nicht die Absicht, es zu verkaufen, denn mit diesem Haus waren zu viele Erinnerungen verbunden. Sie würde nicht im Traum daran denken, es zu verlassen. Als ihre Töchter heranwuchsen, hatten sie das Haus mit ihrem Lachen und ihren Geschichten erfüllt und viele Partys veranstaltet, und sie hatte an diesem Tisch mit Frank eine Menge Pläne geschmiedet. Unter diesem Dach hatten sie gestritten und geweint, geliebt und getrauert und manchmal darum gekämpft, ihre Ehe zu retten. Es waren gute und schlechte Zeiten, die sie in diesem alten Haus verbracht hatte. Aber Frank war tot, und ihre Töchter lebten ihr eigenes Leben. Daher war sie die meiste Zeit alleine. Sie tat ihr Bestes, um sich zu beschäftigen, entwickelte neue Gewohnheiten und genoss ihren Garten, den Kirchenchor, das Mittagessen und den Bridgeclub.

Maeve stand auf, denn sie hatte noch einiges zu erledigen, bevor sie sich mit ihrer Schwester zum Mittagessen treffen wollte.

1

Kate Dillon sah auf die Notizen, Briefe und die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. Der Firmenzusammenschluss von Bradley und Hughes hatte viel Arbeit bedeutet. Dies war jetzt also der Dank dafür. Sie lag mit ihrer Arbeit im Rückstand, und ihr Vorgesetzter saß ihr ständig im Nacken und suchte nach irgendeinem Termin und einer Zeitstrategie, um seine einflussreichen Geschäftskunden zu besänftigen. Sie massierte ihren Nacken und hoffte, dadurch die aufkommenden Kopfschmerzen etwas erträglicher zu machen. Sie streckte sich, bewegte den Kopf zur Seite und sah durch die getönten Fensterscheiben ihres Büros auf den Kai hinunter. Ein warmer Sonnenstrahl fiel auf das dunkle Gewässer des River Liffey, und der Feierabendverkehr war schon in vollem Gange. Wie eine Prinzessin in einem schillernden gläsernen Turm warf Kate einen Blick auf die Stadt, die unter ihr lag. Sie liebte Dublin mit seiner Mischung aus Altem und Neuem, die alten Straßen und die moderne zeitgenössische Architektur. Patterson, die große Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete, lag direkt im Herzen von Dublins geschäftigem Finanzdistrikt im modernisierten Hafenviertel. Alte Lagerhäuser und leer stehende Gebäude und Werften waren durch Häuser aus Glas, Stahl und Beton ersetzt worden. Die Dollars, Pfund, Euro und Yen der Banken- und Finanzwelt hatten hier ein künstlerisches Zeichen gesetzt. Kate hatte hart darum gekämpft, in einer solchen Umgebung zu arbeiten und hoffte darauf, bald zur Junior-Gesellschafterin befördert zu werden, eine Berufsbezeichnung, die nur wenigen Frauen ihres Alters vergönnt war.

»Kate, hast du dir schon die Unterlagen für Hughes angesehen? Sie wollen, dass sofort ein Vertrag aufgesetzt wird!«, unterbrach sie ihr Boss. Bill O’Hara, ein früherer Rugbystar, war jetzt Rechtsexperte und wog ca. 113 kg. Er hatte so viel Charme und Witz, dass er selbst den aufsässigsten Klienten Honig ums Maul schmieren konnte. »Colman Hughes möchte, dass bis nächsten Montag alles unter Dach und Fach ist.«

Kate atmete tief durch. Das bedeutete, sie musste noch mindestens vierundzwanzig Stunden stramm arbeiten, und in anderthalb Stunden musste sie Molly von der Kinderkrippe abholen.

Er sah auf den Stapel Unterlagen auf ihrem Schreibtisch.

»Lass alles liegen, und konzentrier dich hierauf. Es ist äußerst wichtig«, sagte er.

»Ich weiß.«

Bei Patterson wusste jeder, dass selbst die besten und treuesten Kunden nervös wurden, wenn jemand nicht spurte und ihre Arbeit rechtzeitig erledigte. Die Konkurrenz wartete schon mit offenen Armen.

»Ich verspreche dir, ich werde mein Bestes tun, aber ...«

»Sehr schön, Kate. Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen.« Ein Lächeln huschte über sein breites Gesicht, als er sie in seinem makellosen Louis-Copeland-Anzug verließ.

»Ich gehe mit diesen beiden Amerikanern zum Abendessen, aber ich werde bis zehn zu Hause sein. Dann kannst du mir deinen Entwurf mailen.«

Kate verfluchte ihren Ehrgeiz und ihr Bedürfnis, geschätzt zu werden. Sie rief Derry an, um ihm wieder einmal zu sagen, dass sie länger arbeiten musste, und ihn darum zu bitten, ihre dreijährige Tochter abzuholen.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie seine ruhige, entspannte Stimme hörte.

»Schon gut, Katie. Ich habe gerade an einigen Entwürfen gearbeitet. Aber es ist kein Problem für mich. Bis später.«

»Es tut mir leid, Derry, wirklich. Es liegt an Bill, er will, dass ich dableibe. Ich werde versuchen, rechtzeitig zu Hause zu sein, um Molly ins Bett zu bringen. Okay?«

»Ja. Molly und ich passen schon aufeinander auf, mach dir keine Sorgen. Ich werde ihr Pfannkuchen machen.«

Kate lachte. Molly hatte gerade einen Pfannkuchen-Tick, sie wollte bei jeder Gelegenheit Pfannkuchen.

»Heb mir welche auf!«, sagte sie.

Als sie den Hörer auflegte, dankte sie Gott im Stillen für Derrys unkompliziertes Wesen und dass er selbstständig war. Er arbeitete in einem kleinen Büro in einer Seitenstraße, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, wo er für eine Reihe von Kunden, unter anderem Bootsbauer, Jachten und Boote konzipierte. Ihre dreijährige Tochter war das Ergebnis eines leidenschaftlichen Flirts. Derry war ein guter Vater, der seinen Unterhalt zahlte und darauf bestand, sie bei der Erziehung von Molly zu unterstützen. Ihre Tochter war ein wildes Kind, das nur Unfug im Kopf hatte. Sie war der perfekte Ausgleich für ihre unterschiedlichen Charaktere.

Kate, eine allein erziehende Mutter, hatte hart für ihre Anwaltskarriere und ihre finanzielle Unabhängigkeit gekämpft. Sie hatte erlebt, dass viele ihrer Kolleginnen ihre Karriere in den Hintergrund stellten und den Forderungen ihrer egoistischen Ehemänner oder Kinder nachgaben. Sie hatte zu schwer gearbeitet, um das Handtuch zu werfen und die Position und den Respekt, den sie sich bei Patterson erworben hatte, aufzugeben. Sie hatte keinen reichen Ehemann und keine Familie, die sie unterstützten: Alles, was sie und Molly besaßen, hatte sie verdient. Als sie noch jünger war, hatte sie auf nicht gerade einfache Art und Weise gelernt, dass auf Männer kein Verlass war. Sie hatte auch nicht vor, jemals von einem Mann abhängig zu werden. Nein, sie war durchaus in der Lage, für sich selbst und ihr Kind zu sorgen, aber in diesem Augenblick war sie sehr froh darüber, dass Derry zugestimmt hatte, ihr zu helfen.

Da sie sich jetzt wieder auf ihre Arbeit konzentrieren konnte, räumte sie ihren Schreibtisch leer und öffnete den Ordner auf ihrem Laptop. Sie machte sich einige Notizen, während sie sich die Einzelheiten des Vertrages durchlas, der Teil von Colman Hughes’ neuestem Erwerb war. Es erinnerte sie an einen Fall, an dem sie vor drei Jahren gearbeitet hatte ... Sie verließ ihren Schreibtisch und machte sich auf den Weg in den dritten Stock, wo die Bibliothek und das Archiv der Kanzlei mit den zurückliegenden Fällen und Gutachten untergebracht waren. Dort suchte sie nach den Dokumenten, die sie benötigte und dem Schreiben der Steuerbehörde, mit der sie zu tun gehabt hatte.

Vonnie Quinn saß gemütlich bei Lavelle am Fenster und blickte auf die Seepromenade und den Hafen.

Sie setzte ihre Brille auf und studierte das Menu. Dann warf sie einen Blick auf die Tagesgerichte, die mit Kreide auf eine über der Theke angebrachten Tafel geschrieben waren. Sheila O’Grady, die Besitzerin des Restaurants, kam zu ihr an den Tisch.

»Wie geht es dir, Vonnie?«

»Danke, Sheila, es geht mir gut. Ich warte auf Maeve.«

»Möchtest du etwas, während du wartest?«

»Ich bin sicher, sie wird in einigen Minuten hier sein.«

»Dann lasse ich euch noch Zeit, etwas zu bestellen. Wie geht es Joe und der Familie?«

»Es geht ihnen gut. Die Jungen sind alle erwachsen und groß wie Baumstämme. Und wie geht es deinen Kindern?«, fragte Vonnie.

»Lisa macht soeben ihr Abschlussexamen. Anna hat gerade bei einer von diesen französischen Nobelbanken in Dublin als Volkswirtin angefangen. Deirdre und Tommy arbeiten mit mir hier im Geschäft, und Brian ist gerade aus Manchester wieder hierhergezogen.«

»Ist Brian der, der verheiratet ist?«, fragte Vonnie. Sie fragte sich, ob Sheila schon Großmutter war. Als der Name ihres Sohnes fiel, spürte Vonnie eine gewisse Zurückhaltung bei der anderen Frau. Vor Jahren war Brian mit Vonnies Nichte ausgegangen, sie kannten sich schon von Kindheit an und waren total verliebt ineinander gewesen. Dann war die Beziehung plötzlich auseinandergegangen. Vonnie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was der Grund dafür gewesen war, aber vielleicht war es das Beste für die beiden gewesen.

»Brian und seine Frau haben sich vor einiger Zeit scheiden lassen.«

»Oh, tut mir leid, das zu hören.«

»Nun, so etwas passiert heutzutage. Er arbeitet bei Jameson, einer großen Maschinenfabrik. Sie sind für die Arbeiten an der neuen Umgehungsstraße und der Autobahn verantwortlich.«

»Das ist ein Riesenprojekt.«

»Ja, aber es macht ihm Spaß, Straßen und Brücken zu bauen, und außerdem ist es schön, dass er wieder zu Hause ist.«

Vonnie lächelte. Sie bewunderte Sheila, die in den ganzen Jahren so hart bei Lavelle gearbeitet und ihren Kindern die Möglichkeit gegeben hatte, in die Schule und aufs College zu gehen. Die beiden Frauen waren Klassenkameradinnen im Kloster von Rossmore gewesen. Sheila, ein kluges Mädchen, hatte jung geheiratet, zu jung, und als sie dreißig war, war sie bereits verwitwet und musste fünf kleine Kinder großziehen, ohne einen Pfennig zu haben. Sie hatte sich jedoch nie über ihr Schicksal beklagt und war stattdessen zu Hazel Lavelle gegangen, um sich nach einer Arbeitsstelle zu erkundigen. Dann hatte sie die Ärmel aufgekrempelt und dort angefangen. Ihre Intuition und harte Arbeit hatten eine Menge dazu beigetragen, das kleine Café in eines der teuersten Restaurants in der Grafschaft umzuwandeln, und aus der bescheidenen Bäckerei war einer der Hauptlieferanten von Gourmet-Broten, Gebäck und Desserts im Südosten des Landes geworden.

Vonnie setzte sich, um die Passanten zu beobachten, und hoffte, irgendwo dort draußen ihre jüngere Schwester zu entdecken.

Sie unterdrückte einen Anflug von Ärger. Das war mal wieder typisch für sie. Seit einiger Zeit kam Maeve immer später, weil sie vorher noch etwas zu erledigen hatte. Seitdem Frank vor mehr als vier Jahren gestorben war, versuchte Maeve ständig, sich mit Bridge, Buchclubs, Gartenarbeit oder Chorsingen abzulenken. Wahrscheinlich musste sie noch die Pflanzen gießen oder einen Brief für eine der Wohltätigkeitsorganisationen, für die sie ehrenamtlich tätig war, schreiben und hatte vergessen, wie spät es war, und würde in ein paar Minuten völlig nervös und mit zerzaustem Haar hier auftauchen.

Während sie die handgeschriebene Speisekarte überflog, bemerkte sie, dass das Restaurant sich langsam füllte und die Leute anstanden, um auf einen Platz zu warten. Karotten und Pastinaken-Suppe mit etwas Ingwer, das klang gut, danach vielleicht den Gemüseauflauf und einen kleinen Salat und ein Glas Wein.

»Sie ist immer noch nicht da«, lächelte Sheila, als sie die Bestellung aufnahm.

»Du kennst doch Maeve!«

Vonnie beobachtete Sheila, als sie in die Küche ging. Sie beneidete sie um ihre schlanke Figur und ihr kurzes Haar mit den aschblonden Strähnen. Sie war sehr attraktiv und hatte trotzdem nie mehr geheiratet. Kein Wunder, dass es immer noch so viele Gerüchte über sie gab. Vor einigen Jahren erzählte man sich in der kleinen Stadt, dass sie eine Affäre mit einem verheirateten Geschäftsmann aus der Stadt hatte. Auch der Name von Vonnies Schwager war in diesem Zusammenhang gefallen. Maeve hatte niemals irgendetwas gesagt, um das Gerücht abzustreiten oder zu bestätigen und war die ganze Zeit über zu Lavelle gegangen, um Mittag zu essen oder Kaffee zu trinken, bis über die ganze Sache Gras gewachsen war.

Die Suppe, zu der frisch gebackenes dunkles Brot serviert wurde, war einfach köstlich, und Vonnie versuchte, ihre Verärgerung über Maeve zu ignorieren, während sie anfing zu essen. Sie hasste es, alleine dazusitzen, wenn um sie herum die Leute in ein Gespräch vertieft waren. Sheila war sehr taktvoll und brachte ihr den Irish Independent. Vonnie wählte die Telefonnummer ihrer Schwester, bekam jedoch keine Antwort. Bestimmt war sie unterwegs.

Ihre Verärgerung ging in Besorgnis über, als der Hauptgang serviert wurde. Sie aß die Mischung aus Lauch, Pilzen und Paprika, hatte aber keine Lust, noch einen Kaffee zu trinken, sondern bezahlte umgehend die Rechnung.

»Vielleicht hat sie es einfach vergessen«, tröstete Sheila sie beim Abschied.

»Vielleicht.«

Als Vonnie in ihren silbernen Volvo stieg, wurde sie von einer großen Unruhe ergriffen. Sie legte den Gang ein, und anstatt nach Hause zu fahren, fuhr sie aus der Rossmore Straße heraus, fest entschlossen, ihrer Schwester die Meinung zu sagen.

Vierzig Minuten später stürmte Lucy, die dienstälteste Sekretärin der Abteilung Unternehmensfusionen und Unternehmenskäufe, in die wissenschaftliche Bibliothek von Patterson und störte die Stille.

»Kate, da ist eine dringende Telefonnachricht für Sie. Ich wusste nicht, wo Sie waren und habe angenommen, Sie wären eventuell schon früher nach Hause gegangen.«

Früher nach Hause! Kate hob die Augenbrauen. Das wäre schön. Sie sprang auf. Vielleicht war Molly nicht abgeholt worden.

»Hat Derry angerufen?«

»Nein, eine Mrs. Quinn. Sie will unbedingt mit Ihnen reden.«

»Hat sie eine Nummer hinterlassen?«

»Sie sagte, sie sei nicht in Rossmore und würde Sie umgehend zurückrufen. Es sei dringend.«

Tante Vonnie. Warum rief ihre Tante sie in der Arbeit an? Sie hasste es, über die Zentrale zu gehen oder mit Sekretärinnen zu reden. Stattdessen zog sie es vor, Kate mitten in der Nacht in endlos lange Gespräche zu verwickeln. Während sie miteinander sprachen, trank sie gewöhnlich eine Tasse Tee oder ein Glas Wein. Kate war kaum wieder an ihrem Schreibtisch, als das Telefon läutete.

»Kate, bist du dran?«

»Tante Vonnie, was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«

»Nein, Liebes. Es tut mir leid. Es geht um deine Mutter. Wir haben uns heute bei Lavelle zum Mittagessen verabredet. Sie ist nicht aufgekreuzt, also bin ich zum Haus gefahren. Sie hat das Bewusstsein verloren, Kate. Sie wissen nicht, ob sie gefallen ist und eine Hirnblutung erlitten hat oder sogar einen Schlaganfall. Man hat sie ins Krankenhaus gebracht.«

Kate spürte, wie die Kälte in ihrer Magengrube aufstieg, während sie fragte: »Atmet sie? Ist sie bei Bewusstsein?«

»Sie bekommt Sauerstoff und ist noch nicht wieder bei Bewusstsein. Die Ärzte sind bei ihr. Sie wollen ihr Gehirn untersuchen und sind wirklich besorgt um sie. Sie haben mich gebeten, ihre nächsten Angehörigen zu verständigen.«

»Mein Gott, Vonnie. Sag das bitte nicht. Mama wird es bald wieder gut gehen.«

»Ich weiß nicht, Kate. Du musst unbedingt kommen und sie besuchen und mit den Ärzten reden.«

Kate hielt das Telefon eng umklammert und konnte es einfach nicht glauben. Ihre Mutter war stark wie ein Bär und nie krank. Sie hasste Ärzte und Krankenhäuser.

»Kate, komm bitte sofort. Deine Mutter braucht dich.«

»Ja, ich komme umgehend. Ich rufe auch Moya und Romy an, mach dir keine Sorgen.«

»Ich bleibe bei ihr, aber komm so schnell wie du kannst, Liebes.«

»Ich danke dir, Vonnie. Danke.«

Kate legte das Telefon nieder. Lucy starrte sie an.

»Bist du in Ordnung, Kate? Schlechte Nachrichten?«

»Es geht um meine Mutter. Sie ist im Krankenhaus.

Meine Tante ist bei ihr. Ich muss sofort nach Waterford fahren.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich erledige hier alles.«

Mechanisch räumte Kate vertrauliche Unterlagen von ihrem Schreibtisch und schaltete den Computer aus. Sie ging in das Büro ihres Chefs, um ihm zu sagen, dass sie früher gehen müsse. Er war jedoch schon weg, und die Sonne schien auf den Lederstuhl mit der hohen Rückenlehne.

Sie würde jetzt nach Hause fahren, eine Tasche packen und dann nach Waterford fahren. Gott sei Dank lag es auf der Strecke. Sie zog das Adressbuch aus ihrer Tasche und suchte nach den Telefonnummern ihrer Schwestern, während sie die Vorwahl für London wählte. Sie verfluchte ihre Schwestern und fragte sich, warum sie nicht wie andere Familienmitglieder waren, die sich umeinander kümmerten und sich gegenseitig unterstützten. Was war mit ihnen geschehen? Moya war so mit ihrem eigenen Leben in London beschäftigt, und Romy war einfach abgehauen, als sie noch ein Kind gewesen war, und hatte sich von ihrer Familie abgewandt. Sie hatte es noch nicht einmal für nötig gehalten, etwas von sich hören zu lassen. Vollkommen egoistisch hatte sie vor einigen Jahren die Herzen ihrer Eltern gebrochen. Am schlimmsten war jedoch, dass ihre jüngste Schwester sich noch nicht einmal bemüht hatte, zur Beerdigung ihres Vaters nach Hause zu kommen. Das war etwas, das Kate ihr nie verzeihen würde!

Moya hatte ihr Handy ausgeschaltet, und Kate versuchte, sie auf dem Festnetzanschluss zu erreichen. Sie hinterließ eine Nachricht und versprach ihrer Schwester, es später noch einmal zu versuchen.

Kate betrachtete die modernen Uhren aus Silber und Stahl, die an der Wand hingen. Hongkong, Tokio, New York und London. Jetzt war es Mittag in New York, und Romy war wahrscheinlich schon auf, dachte sie, während sie die internationale Vorwahl wählte.

Romy Dillon schlug die Eier aus Freilandhaltung schaumig und lockerte sie etwas auf. Dann goss sie das Rührei in eine heiße Pfanne. Jetzt noch ein wenig Käse, Tomaten und Zwiebeln, und sie hatte ein perfektes Frühstück. Das grelle Tageslicht ärgerte sie. Die Bewohner von New York waren jetzt auf dem Weg zur Arbeit oder eilten in ihre Geschäfte. Romy würde erst essen, dann ein paar Stunden arbeiten und danach ihre Freundin Diana besuchen. Sie war gerade dabei, die Kaffeemaschine anzuschalten, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Barfuß rannte sie über die saubere Diele, um es zu beantworten.

»Romy?«

Sie erkannte die Stimme sofort und hätte beinahe das Telefon fallen gelassen.

»Romy, bitte leg nicht auf, ich muss mit dir reden.«

»Geht es um Molly?«

»Nein, Molly geht es gut«, antwortete Kate. »Es geht um Mama. Sie ist im Krankenhaus. Vonnie hat mich gerade angerufen. Mama ist bewusstlos. Sie wissen nicht, was es ist, aber die Ärzte haben Vonnie gesagt, dass sie uns verständigen soll. Es ist sehr ernst, Romy.«

»Ich habe verstanden.«

Die Distanz, die zwischen ihnen lag, war unüberwindbar.

»Romy!«, schrie ihre Schwester. »Du bist ein kaltherziges Miststück. Es ist mir scheißegal, was in deinem verrückten Kopf vorgeht. Mama ist krank, sie stirbt, und das Mindeste, was du dieses Mal tun kannst, ist, nach Hause zu kommen und sie zu besuchen.«

»Wag es nicht, mir zu sagen, was ich tun soll!«, sagte Romy eiskalt, und ein Schmerz durchfuhr sie, denn sie hatte nicht die Absicht, mit ihrer Schwester zu streiten.

»Ich möchte dir auch nicht sagen, was du tun sollst. Ich wollte dir nur sagen, was mit Mama los ist. Es ist deine Entscheidung, ob du nach Hause kommst und sie besuchst.«

Romys Kopf raste. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte nichts versprechen, was sie nicht halten konnte, und von ihrer Schwester nicht zu irgendeiner unüberlegten Reaktion gezwungen werden. Sie wollte nicht zu einer automatischen Antwort gedrängt werden. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und sich zu schützen.

Das Schweigen hing zwischen ihnen, grausam und kalt wie der Atlantische Ozean, schlimmer als jede Entfernung.

»Danke, Kate. Danke, dass du mich angerufen hast«, sagte sie langsam, während die Verbindung abriss.

Sie kratzte die Pfanne aus und schüttete die verbrannten Eier in das Spülbecken. Nachdem sie sich auf dem gepolsterten Platz am Fenster zusammengerollt hatte, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein. Es hatte keine Höflichkeiten, keine netten Worte zwischen ihnen gegeben. Wie konnte sie nach Hause zurückkehren? An den Ort, den sie vor so vielen Jahren verlassen hatte! Nichts hatte sich dort verändert. Warum sollte sie auch nur in Betracht ziehen, zurückzugehen, und die Verletzungen und Schmerzen vergangener Zeiten wieder ausgraben, eine Zeit, die sie immer noch nicht vergessen hatte, obwohl sie sich so sehr darum bemüht hatte?

2

Der Zug war überfüllt, und Kate hatte Glück, noch einen Platz zu ergattern. Der Pendelzug schien eine Ewigkeit zu brauchen, um den Fluss zu überqueren. Er fuhr an Dublins Küste entlang und kam an Ringsend und Sandymount und Booterstown vorbei. Beinahe wäre Kate an der gewohnten Haltestelle in Monkstown ausgestiegen. Molly war schon abgeholt worden. In dem Augenblick, als Kate ihr Appartement betrat, kam ihre Tochter auf sie zugerannt und umarmte sie stürmisch.

»Mami! Mami, du bist zu Hause. Sieh mal, was ich heute gemacht habe.«

Molly verschwand in der Küche und brachte ihrer Mutter einen riesengroßen rosa und gelb bemalten Schmetterling, der so aussah, als sei er noch feucht.

»Der ist ja wunderschön, Süße. Du bist wirklich eine kleine Künstlerin«, sagte Kate, hob sie in die Höhe und verbarg ihr Gesicht in dem lockigen dunklen Haar. Molly kicherte, während Kate so tat, als würde sie sie beißen.

»Ich muss mich umziehen, Schatz, und werde dann aufs Land fahren, um Oma zu besuchen.«

»Kann ich mitkommen?«

»Heute Abend nicht, Schatz. Oma ist krank. Sie liegt im Krankenhaus.«

»Aber ich möchte sie sehen«, quengelte Molly und setzte eine Bettelmiene auf.

»Nein, tut mir leid, Molly. Kleine Mädchen dürfen nicht ins Krankenhaus. Du musst zu Hause bei Papa bleiben. Okay?«

Kate sah, wie ihre Tochter einen Augenblick überlegte. Ihre Lippe begann zu zittern, und sie wusste nicht, ob sie weinen sollte oder nicht.

Derry blickte von seinem Laptop auf. Überall auf dem Tisch waren Unterlagen verstreut. »Ich versuche gerade, meine Arbeit fertig zu machen. Morgen habe ich ein großes Meeting. Das mit deiner Mutter tut mir leid.«

Kate fühlte sich schuldig, weil sie ihn von seinen Kunden und seiner Arbeit weggezogen hatte, war jedoch erleichtert, dass Molly in guter Obhut war, da Derry ihre kleine Tochter abgöttisch liebte. Sie war äußerst gerührt, als er sie wie ein großer Teddybär umarmte, etwas, was sie noch immer verunsicherte. Sie umarmte ihn kurz und wünschte sich, dass sie mehr füreinander waren als lediglich Mollys Eltern und dass sie für den Rest des Abends dort bleiben konnte, wo sie jetzt war, anstatt nach Waterford fahren zu müssen.

»Du ziehst dich um, und ich mache dir eine Tasse Tee und etwas zu essen, bevor du losfährst«, bot er ihr an.

»Danke.« Die Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wischte sie weg, damit Molly nicht ebenfalls zu weinen anfing.

Im Schlafzimmer zog Kate ihre Schuhe aus und hängte ihren schwarzen Hosenanzog auf den Bügel. Sie zog ihre beige Cordhose an sowie ein langärmliges T-Shirt, ein cremefarbenes Jackett aus Wolle und bequeme Turnschuhe zum Autofahren. Sie packte Kleidung zum Wechseln, ihren Schlafanzug, Toilettenartikel und ihre Zahnbürste in ihre grüne Reisetasche. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, schaute Molly Fernsehen. Kate schlüpfte in die Küche.

»Mach dir keine Gedanken, Kate. Molly und ich kommen gut zurecht«, beruhigte Derry sie. »Bleib bei deiner Mutter. Sie braucht dich jetzt. Wenn es nötig ist, kann ich Molly morgen abholen und meinen Termin verschieben. Die O’Reillys werden zwar ein wenig verärgert sein, aber sie können warten! Ich werde die Unterlagen nächste Woche für sie fertig stellen.«

Sie trank den heißen süßen Tee und aß rasch den dünnen goldenen Pfannkuchen mit einer Prise Zucker und einem Spritzer Zitrone. Molly kam herein und setzte sich neben sie. Sie beobachtete, wie Derry mit Engelsgeduld Mollys klebrige Finger abwischte. Dabei beugte er seinen blonden Schopf über den Kopf ihrer Tochter. Es machte ihm nichts aus, dass seine beige Baumwollhose von einer Zuckerschicht überzogen war. Minnie und ihre Freundinnen sagten ihr immer, wie glücklich sie sich schätzen konnte, Derry an ihrer Seite zu haben, und dass er so ganz anders war als die meisten Männer. Er war nicht jemand, der sich vor der Verantwortung, die die Vaterschaft mit sich brachte, drückte. Sie wusste das, aber manchmal sehnte sie sich nach mehr, vielleicht nur um zu spüren, dass seine wöchentlichen Besuche und seine Anteilnahme an ihrem Leben nicht nur diesem dunkelhaarigen Ausbund an Unfug zuliebe waren, das die beiden in die Welt gesetzt hatten. Es war merkwürdig, das einzige weibliche Wesen, dem er sich voll und ganz widmete, war eine Dreijährige!

Kate stand auf, um zu gehen, und Molly musste schwören, sich gut zu benehmen.

»Hör mal, es tut mir leid, dass ich deine Dienste in Anspruch nehmen muss. Bist du sicher, es macht dir nichts aus?«

»Wir schaffen das schon.«

»Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn Mama stirbt.«

»Hey! Komm jetzt, sag so etwas nicht. Maeve ist eine starke Frau. Sie wird durchkommen, das wirst du sehen.«

»Ich bin mir nicht so sicher«, sagte Kate und versuchte, Haltung zu bewahren, als sie die Autoschlüssel nahm und Molly zum Abschied einen Kuss gab.

Sie fluchte über den starken Verkehr und die verstopften Straßen und betete, dass sie das Krankenhaus von Waterford bald erreichen und ihre Mutter dort wohlauf antreffen würde. Tante Vonnie war normalerweise keine Panikmacherin, aber manchmal sahen Stürze und Kopfverletzungen wesentlich schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit waren. Vielleicht saß ihre Mutter schon wieder aufrecht im Bett und konnte inzwischen wieder sprechen.

An der Ampel schaute sie nach, ob jemand auf ihrem Handy angerufen hatte: Ihre ältere Schwester hatte immer noch nicht geantwortet. Sie trat auf das Gaspedal ihres Golfs und überholte einen dahinkriechenden Viehtransporter, der zur Fähre fuhr. Die Kühe warfen ihr einen missmutigen Blick zu.

Sie legte den fünften Gang ein, während sie die Straße von Dublin nach Waterford hinunterfuhr und hoffte, dass sie bald da war. Sie stellte das Radio an, konnte sich jedoch nicht auf die Nachrichten konzentrieren. Stattdessen legte sie eine CD ein; die vertraute Musik hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.

Als sie die Stadt erreichte, war es fast dunkel. Banken und Geschäfte waren bereits geschlossen. Die Straßen waren wie leer gefegt, als sie durch die Stadt fuhr. Sie kam am College und der Glasfabrik vorbei und bog auf die Tramore Road, die zum Krankenhaus führte. Dort angekommen, fand sie sofort einen Parkplatz.

»Kate! Gott sei Dank, dass du da bist.«

Ihre Tante sah aus, als wäre sie in kürzester Zeit um zehn Jahre gealtert. Ihr von Natur aus lockiges Haar stand wild von ihrem Kopf ab, ihr Gesicht war blass und angespannt. Kate drückte ihre Tante an sich.

»Wie geht es ihr?«

»Immer noch unverändert. Ich frage ständig nach, aber das ist alles, was sie sagen.«

»Kann ich zu ihr?«

»Die Stationsschwester erwartet dich schon. Sie heißt Kelly.«

Die Schwester war nett und ruhig und erklärte Kate, dass sie noch nicht genau wüssten, was mit Kates Mutter passiert war. Sie hatte eine starke Gehirnblutung, aber es sei noch zu früh, das Ausmaß der Verletzung oder die Chancen, dass sie wieder gesund würde, vorherzusagen.

»Kann ich mit ihrem Arzt sprechen?«

Dr. Healy war bereits gegangen, würde aber am Morgen wieder da sein. Dann würde ihre Mutter von einem Neurologen und dem Ärzteteam untersucht werden.

Schwester Kelly reichte Kate einen Kittel und brachte sie zur Intensivstation, wo ihre Mutter lag.

Kate erschauderte, als sie den langen schmalen Raum betrat. Sie konnte nicht erkennen, in welchem der hohen schmalen Betten ihre Mutter lag. Eine starke Angst überkam sie, als sie bemerkte, dass fast alle dort liegenden Personen wie Leichen aussahen. Sie waren an Maschinen angeschlossen, die Luft in ihre Lungen pressten und jede Minute die kleinste Veränderung ihres Herzschlags und Blutdrucks kontrollierten. Die Schwester führte Kate zu einer Frau, die in einem Bett auf der rechten Seite des Zimmers lag. Es war ihre Mutter. Sie hatte die Augen geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck. Ihre Haut fühlte sich kühl an. Sie sah jetzt völlig verändert aus: Die Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden, das Haar war aus der Stirn gekämmt, und der graue Ansatz kam zum Vorschein. Sie trug ein einfaches Krankenhausnachthemd, das auf dem Rücken gebunden war. Automatisch beugte Kate sich nach vorne, um sie zu berühren.

»Warum ist sie so kalt?«, platzte sie heraus und rieb den Arm und die Schulter ihrer Mutter, um sie zu wärmen.

»Es ist besser so, als wenn sie Fieber hätte. Die Luft hier hat eine gleichmäßige Temperatur, damit die Patienten besser atmen können.«

»Mama! Mama«, flüsterte sie. »Ich bin’s, Kate.«

Ihre Mutter reagierte nicht. Kate beobachtete ihr Gesicht. Es war regungslos und ganz auf das Atmen konzentriert. Die Maschine neben ihr gab einen leisen, zischenden Laut von sich. Kate hatte Angst. Niemals zuvor hatte sie ihre Mutter in einem solchen Zustand gesehen.

»Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Wie lange wird sie in diesem Zustand bleiben?«

»Das können wir erst morgen sagen. Jetzt ist es am besten, wenn man sie völlig in Ruhe lässt. Das Gehirn ist äußerst empfindlich und noch geschwollen.«

»Wie sehr denn?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Kate betrachtete ihre Mutter und fragte sich, wie sie das Leben nur für selbstverständlich gehalten haben konnte. Ihre Mutter war nie krank gewesen. Das wussten in Rossmore alle. Maeve Dillon war eine Frau mit einer äußerst starken Konstitution. Sie hielt sich das ganze Jahr über mit Wandern, Radfahren und Schwimmen fit. Sie rauchte nicht, aß niemals zu viel und trank nur ab und zu ein Glas Wein oder Bier. Sie hatte immer für sich selbst gesorgt, und nach dem Tode ihres Ehemannes hielt sie sich ständig mit irgendetwas beschäftigt. Außerdem spielte sie Bridge und half bei Essen auf Rädern aus. Kate bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren.

»Kann ich bei ihr bleiben?«

»Wenn Sie wollen, können Sie ein paar Minuten bei ihr bleiben. Aber wie Sie sehen, müssen die Ärzte und Schwestern schnellen Zugang zu den Patienten haben. Für Besucher gibt es hier nicht die gleichen Möglichkeiten wie auf anderen Stationen. Ganz in der Nähe ist ein Wartezimmer, wo ein Kaffee- und Teeautomat steht. Dort kann man sich etwas ausruhen. Ihre Mutter steht unter völliger Überwachung, und wenn sich ihr Zustand auch nur ein wenig verändert, werden Sie sofort verständigt.«

Die Schwester ließ Kate einige Minuten lang allein. Es war so unwirklich, wie sie da auf dem schmalen Stuhl saß und darauf wartete, dass ihre Mutter das Bewusstsein wiedererlangte. Als Kate noch klein gewesen war, hatte sie ihre Mutter angefasst, sie geschüttelt und war auf sie draufgerollt, um sie aufzuwecken, wenn sie sie gebraucht hatte. Dann hatte ihre Mutter die Arme ausgestreckt und ihre Tochter in die Arme genommen, selbst wenn sie noch geschlafen oder ein Nickerchen gemacht hatte, und beide hatten angefangen zu lachen.

»Mama, ich bin hier bei dir. Du bist im Krankenhaus, aber du wirst bald wieder gesund, das verspreche ich dir.«

Mit Ausnahme des Geräuschs, das die Maschinen machten, war es vollkommen still in dem Zimmer. Sie wollte schreien und ihre Mutter schütteln.

»Mama, bitte wach auf.«

Schwester Kelly tauchte lautlos neben ihr auf und deutete an, dass es besser wäre, wenn Kate einen Augenblick draußen warten würde. Sie folgte der Schwester nach draußen und hängte den Kittel auf einen Haken.

»Haben Sie Maeves übrige Kinder schon verständigt?«, fragte die Krankenschwester.

»Ja, ich habe meiner Schwester in London eine Nachricht hinterlassen und mit Romy in New York gesprochen.«

»Sie wissen also, wie ernst der Zustand Ihrer Mutter ist.«

»Ich habe ihnen erzählt, was meine Tante gesagt hat. Ich werde Moya noch mal anrufen.«

»Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes getan«, lächelte die große dunkelhaarige Krankenschwester. »Bitte setzen Sie sich doch mit Ihrer Tante ins Wartezimmer. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie sofort holen werde, wenn es erforderlich ist. Sie sind doch sicher sehr müde nach der langen Fahrt.«

»Ich bin todmüde«, gab sie zu und hatte das Gefühl, als wäre jedes bisschen Energie aus ihr gewichen.

»Eine Tasse Tee würde Ihnen jetzt gut tun. Ihre Mutter ist in den besten Händen.«

Tante Vonnie saß in dem rosa gestrichenen Wartezimmer und tat so, als würde sie in einer älteren Ausgabe des Image-Magazins lesen.

»Was meinst du, Kate?«

»Ich weiß nicht«, gab sie ehrlich zu. »Ich weiß es einfach nicht. Meinen sie, dass sie sterben wird?«

In die hellblauen Augen ihrer Tante traten Tränen.

»Ich hoffe nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Maeve ist eine Kämpfernatur. Sie gibt nicht so schnell auf.«

»Aber ihr Gehirn ist angeblich geschwollen, was hat das zu bedeuten?«

Ihre Tante schüttelte den Kopf. »Wir müssen für sie beten. Gebete helfen. Wir müssen Gott bitten, sie zu retten.«

Kate wusste nicht, was sie sagen sollte. Im Gegensatz zu ihrer Tante glaubte sie nicht an Gott.

»Möchtest du Tee oder Kaffee?«, fragte sie.

»Ein Becher Tee wäre schön, Liebes.«

In einer Ecke des Zimmers gab es ein Spülbecken, einen elektrischen Kessel, Becher und Tassen, Löffel und Teller und verschiedene Tee- und Kaffeesorten sowie Kekse und Milch und Zucker.

Kate war froh, etwas tun zu können. Mit einem Tuch wischte sie das Spülbecken aus und reinigte die Arbeitsfläche.

Ihre Tante sah bedrückt aus, dachte sie, als sie ihr den heißen Becher Tee reichte. »Es muss ein Schock für dich gewesen sein, Mama so vorzufinden«, sagte sie.

»Gott sei Dank hatten wir uns zum Mittagessen verabredet. Ich habe mich so über sie geärgert, dass ich dann zum Haus gefahren bin. Gott weiß, was sonst passiert wäre.«

Kate spürte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme. Ihre Mutter wohnte am Rande der Stadt, und wenn sie keine Freundinnen oder ihre Freizeitaktivitäten gehabt hätte, hätte sie vermutlich tagelang mit niemandem Kontakt gehabt.

»Ich bin so froh, dass du bei ihr warst«, sagte Kate und drückte die Hand ihrer Tante.

Ohne ihre ältere Schwester wäre ihre Mutter verloren. Die Verbindung zwischen den beiden war immer noch sehr stark.

»Als ich ins Haus ging, war es dort sehr ruhig. Du kennst deine Mutter, sie hat immer das Radio an, aus dem Musik plärrt. Dann habe ich sie gefunden. Zunächst habe ich gedacht, sie wäre tot. Ich bin im Krankenwagen mit ihr hierhergefahren. Danach hat das Personal alles Weitere veranlasst, aber ich habe andauernd mit ihr geredet. Du kennst doch Maeve, sie liebt Gespräche.«

»Ich weiß nicht, was wir ohne dich tun sollten, Tante Vonnie. Ihr seid einander so nah, du und Mama.«

Ihre Tante nahm ein Paket Taschentücher aus ihrer Tasche und schnäuzte sich. Sie sah absolut erschöpft aus. Ihr Gesicht war abgespannt; sie hatte eine Laufmasche im Strumpf, und ihr helles blaubeiges Kostüm war verknittert.

»Möchtest du nach Hause fahren und dich etwas ausruhen?«, schlug Kate behutsam vor. »Du hast heute einen großen Schock erlitten, du musstest mich und den Krankenwagen anrufen und so viel organisieren.«

»Vielleicht hast du Recht«, stimmte ihre Tante zu und rieb sich die Augen. »Ich bin total fertig.«

»Ich bleibe hier bei Mama.«

»Was haben die Mädchen gesagt? Sind sie unterwegs?«

»Ich habe mit Romy gesprochen, aber«, sie zuckte die Schultern, »ich weiß nicht.«

»Diesmal muss sie nach Hause kommen, Kate. Gib mir ihre Telefonnummer, ich rufe sie an, wenn ich zu Hause bin. Ich werde ihr sagen, dass sie sofort kommen soll. Deine Mutter braucht sie!«

»Ich weiß.«

»Und was ist mit Moya?«

»Sie nimmt wahrscheinlich das Flugzeug. Ich bin nicht sicher.«

»In Zeiten wie diesen braucht eine Mutter ihre Kinder um sich, und ihr solltet alle zusammen sein, wenn irgendetwas passieren sollte.«

»Bitte, Tante Vonnie, sag das nicht.«

Kate war zu müde und verärgert, um mit ihrer Tante, die selber mit den Nerven am Ende war, zu diskutieren oder zu streiten.

»Draußen vor der Tür ist eine Telefonzelle. Ich werde Joe anrufen und bin sofort wieder zurück.«

Nach einigen Minuten war ihre Tante wieder da. »Er war schon auf dem Weg, um mich abzuholen. Er ist wirklich ein lieber Kerl.«

Kate lächelte. Ihr Onkel war einer der nettesten Männer auf diesem Planeten. Nach dreißig Ehejahren war er immer noch sehr fürsorglich und in seine Frau verliebt wie eh und je.

»Er möchte ohnehin sehen, wie es Maeve geht. Vielleicht solltest du noch mal versuchen, Moya anzurufen?«, sagte Vonnie.

»Ich rufe sie auf dem Handy an. Ich habe die Nummer gespeichert.«

»Du musst nach draußen oder nach unten gehen, wo wir reingekommen sind, um zu telefonieren. Hier hängen überall Verbotsschilder.«

Kate stieß einen Seufzer aus. Ihre Tante gab sich noch nicht geschlagen. Sie erhob sich von der niedrigen, mit Tweedstoff überzogenen Couch und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Sie ging am Tisch des Nachtportiers vorbei zur automatischen Tür.

Sie wählte Romys Nummer. Ihre Schwester antwortete nicht. Kate machte sich nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen. Sie blätterte in ihrem Adressbuch und wählte Moyas Nummer. Nach einer Weile antwortete ihre Nichte Fiona. Im Hintergrund dröhnte Rockmusik.

»Hallo Fiona. Hier ist deine Tante Kate, ist deine Mutter da?«

»Nein.«

»Dein Vater?«

»Er ist auch nicht da«, sagte sie langsam. »Sie sind zusammen unterwegs.«

»Hat deine Mutter die Nachricht, die ich wegen Oma hinterlassen habe, erhalten?«

»Das weiß ich nicht.«

Kate konnte das Desinteresse und die Verwirrung in der jungen Stimme ihrer Nichte hören.

»Hör mal, hat sie ihre Nachrichten abgehört?«

Am anderen Ende der Leitung war es still. Es war zwecklos.

»Fiona, ich muss dringend mit deiner Mutter sprechen. Wo ist sie? Ich brauche unbedingt ihre Nummer.«

Sie wusste, dass Patrick nicht gestört werden wollte und das Handy ausgestellt hatte, denn er liebte sein Privatleben. Ihre Schwester hinterließ jedoch immer eine Telefonnummer, wo sie zu erreichen war, wenn sie wegging, falls ihre Kinder sie brauchten.

Ihre eindringliche Bitte hatte sich gelohnt. Nach einigen Minuten hatte sie die Nummer. Es war ihr egal, ob ihre Schwester auf einer Dinnerparty war oder nicht. Sie musste Moya anrufen und ihr sagen, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kommen sollte.

3

In dem Haus in Ovington Gardens war es warm, beinahe schon heiß, denn die Mitchells hatten den Thermostat an ihrer Heizung immer voll aufgedreht, und der Boiler lief auf Hochtouren. In dem herrlichen Kamin loderte ein riesengroßes Feuer, und Moya Redmond war froh, dass sie ein im Nacken gerüschtes schwarzes Oberteil mit U-Ausschnitt von Synan O’Mahoney und einen figurbetonten schwarzen Rock angezogen hatte, der zwar klassisch geschnitten war, aber dennoch das gewisse Etwas hatte. Sie hatte den Rock bei ihrem letzten Besuch in Dublin gekauft. Ein Glück, dass sie nichts aus Wolle angezogen hatte, darin wäre sie wahrscheinlich eingegangen.

Patrick sah attraktiv wie immer aus, schwitzte jedoch etwas im Gesicht. Sie hoffte, dass die Männer beim Essen die Jacketts ausziehen konnten. Sogar der Champagner war warm!

Moya kannte fast alle auf der Dinnerparty. Sie konnte sich also entspannen und den Abend genießen.

»Moya, sag nicht, dass du dich versteckst!«, scherzte Hilary Mitchell, ihre Gastgeberin, und ihr rundes Gesicht war rot vor Aufregung.

Moya mochte die ältere Frau und umarmte sie herzlich.

»Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.«

»Ich habe nur in der Küche nach dem Rechten gesehen.«

Sie lächelten, denn beide wussten, dass ›nach dem Rechten sehen‹ bedeutete, dass sie Poppy und Rachel Belling beaufsichtigt hatte. Die Mädchen hatten einen Partyservice, der von einem kleinen Laden an der Ecke der Granville Street aus betrieben wurde. Dank einer erfolgreichen Mund-zu-Mund-Propaganda musste man die Dienste der beiden Frauen inzwischen einen Monat im Voraus buchen.

»Alles ist unter Kontrolle, und in circa zwanzig Minuten können wir mit dem Essen beginnen.«

Moya lächelte. Ken Mitchell achtete peinlich genau darauf, dass das Essen nicht zu spät stattfand. Er behauptete, dass man aufgrund von spätem Essen Magengeschwüre bekam. Normalerweise empfing er seine Gäste zu Hause, anstatt in teuren Restaurants zu speisen.

»Trink noch ein Glas Champagner«, drängte der Gastgeber und schenkte Moya nach. »Du siehst hübsch aus heute Abend, meine Liebe, wie immer.«

Er war ein netter Mann, aber Moya fragte sich, ob er seiner Frau auch solche Komplimente machte. Seitdem sie vor zehn Jahren von Irland hierhergezogen waren, waren Patrick und er in der erfolgreichen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Kollegen.

»Danke, Ken. Du siehst ebenfalls sehr gut aus«, scherzte sie.

Er war ein untersetzter, kräftiger Mann mit einem fast weißen Haarschopf, und in ein paar Wochen wurde er fünfundsechzig. Er hatte bereits seine Absicht verkündet, seine Position als Hauptgesellschafter und seine praxisorientierte Arbeit aufzugeben. Seinen Posten als Direktor wollte er jedoch beibehalten.

»Hilary hat mir erzählt, dass du in ein paar Monaten nach Südafrika fliegst«, sagte Moya.

»Ja, wir haben Vanessa und ihre Kinder seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen, und es wird höchste Zeit, dass wir sie in Kapstadt besuchen. Es ist sehr schwierig für sie, mit vier Kindern irgendwohin zu fahren.«

»Hilary freut sich schon sehr darauf.«

»Um ehrlich zu sein, ich auch. Wir werden ein wenig Golf spielen, und Vanessa organisiert für uns eine Safari zu einem der großen Tierreservate. Seit Jahren freue ich mich auf nichts so sehr wie auf diese Reise. In Pension zu gehen ist das Beste, was es gibt, und es wird langsam Zeit, den Stab weiterzureichen.«

Moya lächelte. Sie konnte es seinem Gesicht ansehen. Er hatte jahrelang hart gearbeitet und eine riesige Wirtschaftsprüfungskanzlei und einen Kundenstamm aufgebaut und hatte seinen Ruhestand jetzt wirklich verdient. Gott weiß, wie viele verpasste Abendessen, Gute-Nacht-Geschichten und Schulbesuche es unter diesem Dach gegeben hatte. Hilary hatte es immer irgendwie geschafft, die Familie zusammenzuhalten. Moya bemerkte, dass ihr Mann in eine Unterhaltung mit Simon Clifford, dem Direktor des Finanzamts, vertieft war.

Caroline Clifford wirkte gelangweilt und war mit ihren Gedanken weit weg, während sie sich mit Ruth Taylor, Toms Frau, unterhielt.

Moya mochte die Taylors. Ihr Sohn Max ging in dieselbe Schule wie Gavin, Moyas zwölfjähriger Sohn.

Moya ging zu ihnen, um sich ihrer Unterhaltung anzuschließen. Caroline entschuldigte sich, während sie über die bevorstehenden Osterferien und die Schulaufführung sprachen.

»Ich gehe mal eben auf die Terrasse und rauche eine. Sag Simon bitte nicht, wo ich bin.« In dem eng anliegenden Kleid sah Caroline aus wie ein großer Whippet, als sie auf die Terrasse hinausschlüpfte.

»Wie behält sie bloß diese Figur?«, seufzte Ruth neidisch. Sie hatte nach ihrem letzten Kind ungefähr zwölf Kilo zugenommen. »Meinst du, ich sollte es mal mit Rauchen versuchen?«

»Du spinnst wohl. Das würde dir und den Kindern schaden.«

»Das glaube ich auch.«

»Das weißt du«, sagte Moya.

Sie warteten noch auf zwei andere Paare: Susan Owens, Finanzexpertin in der Firma, und ihren Mann James, der im Aktienhandel tätig war, sowie Dudley Palmer und seine Frau. Moya freute sich darauf, Eleanor Palmer kennenzulernen. Die sechzigjährige Frau war eine bekannte Kriminalautorin und liebte es, ihren spießigen Ehemann zu ärgern, indem sie ihre Zuhörer mit schaurigen Einzelheiten über die Verbrechensfälle, an denen die Polizei arbeitete, aufheiterte.

Nach einem weiteren Glas Champagner bat Ken die Anwesenden zum Abendessen. Moya freute sich, dass sie in der Nähe von Hilary und Tom saß. Patrick verdrehte die Augen, als er feststellte, dass er zwischen Caroline und Ruth saß und von ihm erwartet wurde, dass er den Frieden wahrte. Zumindest war er nahe genug bei Ken, so dass er in dessen Unterhaltung mit einbezogen werden konnte, dachte Moya. Dieses Abendessen war mehr als ein gemütliches Beisammensein von Kollegen und deren Ehefrauen. Patrick war davon überzeugt, dass Ken sich die Zeit nahm, seinen künftigen Nachfolger auf Herz und Nieren zu prüfen.

»Er möchte, dass ein geeigneter Kandidat an seine Stelle tritt«, hatte Patrick ihr auf dem Weg hierher gesagt. »Der heutige Abend ist also äußerst wichtig.«

Moya spürte die Anspannung ihres Mannes und wünschte sich, dass er einfach entspannen und die unbeschwerte Gesellschaft der Anwesenden genießen und für einen Abend das Büro vergessen würde. Sie lächelte zu ihm hinüber und ließ ihre Schultern leicht kreisen, ihr geheimes Signal, das ›entspann dich‹ bedeutete.

Das Essen war ausgezeichnet. Die beiden Frauen hatten wie immer gute Arbeit geleistet. Hilary war ungezwungen, weil sie wusste, dass alles in den Händen von Profis war. Ein Gang nach dem anderen wurde aufgetragen. Moya hatte es aufgegeben, sich um Patrick Gedanken zu machen und beschloss, den Abend zu genießen. Momentan war sie müde und abgespannt, aber einige Stunden anregender Unterhaltung und ein paar Gläser Rotwein würden zweifellos Wunder bewirken.

Es gab Lammfilet mit Beilagen. Ken, dem das ganze neumodische Nobelessen nicht zusagte, hatte auf einem einfachen Menu bestanden.

»Das Lamm ist sehr gut, Hilary, einfach ausgezeichnet.«

Moya nahm sich neue Kartoffeln und Erbsen in Minzsoße und etwas von dem Karotten- und Pastinakenauflauf und bemerkte, dass die Männer das vorzügliche Essen genossen. Der Duft von gerösteten Zwiebeln und einer dampfend heißen Soße ließen Moya merken, wie hungrig sie war.

Wie immer wurde über Golf, Urlaub und Immobilien geredet. Moya setzte ein Lächeln auf und heuchelte Interesse, als Simon und Caroline mit ihren beiden Appartements prahlten, die sie soeben als Investition gekauft hatten.

»Der Preis wird sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln.« Caroline lächelte süffisant.

»Ich glaube, der Häusermarkt ist momentan etwas überhitzt«, murmelte Ken, während er sich noch mehr von dem Lamm nahm. Moya hätte ihn am liebsten für sein feines Gespür umarmt.

Das Essen und der Wein taten ihre Wirkung, und Moya fühlte sich entspannt und leicht. Sie bemerkte, dass Patrick sein Jackett über die Stuhllehne gelegt hatte. Auch er wirkte jetzt gelöst. Manchmal vergaß sie, wie attraktiv ihr Mann war. Da sie ihn jeden Tag sah, war es einfach, sein gutes Aussehen und seine Größe von 1,95 m für selbstverständlich zu halten. Nur wenn andere Frauen auf seine rein körperliche Präsenz reagierten, fiel es ihr auf. Wenn sie all die anderen Männer hier betrachtete, gab es für Patrick keine Konkurrenz. Patrick war einfach Patrick. Er lächelte sie an, und für einen Augenblick schien es so, als wären sie die Einzigen am Tisch. Er beherrschte es meisterhaft, seinen ganzen Charme spielen zu lassen, so dass die Frau, mit der er gerade redete, sich als etwas ganz Besonderes fühlte. Moya hatte das schon oft erlebt und kannte seine Wirkung auf Frauen aller Altersgruppen. Es hatte nichts zu bedeuten, wenn er vor seinen Kollegen den liebenden, treusorgenden Ehemann spielte. Moya ignorierte ihn und wandte sich Hilary zu, die soeben eine Frage über ihre Kinder an sie richtete.

»Ich habe gehört, dass dein ältester Sohn seit Neuestem das St. Andrew’s College besucht. Gefällt es ihm dort?«

Moya wurde rot. Gavin auf eine teure Privatschule weit weg von zu Hause zu schicken, hatte zwischen ihr und Patrick zu einem heftigen Streit geführt. Sie hätte es vorgezogen, wenn er in eine Schule nur für Jungen in der Nähe gegangen wäre.

»Es braucht seine Zeit, Hilary, aber er gewöhnt sich langsam ein«, mischte sich Patrick ein. »Im letzten Semester hat er Rugby gespielt und im nächsten wird es vermutlich Cricket sein.«

»Er ist also sehr sportlich.«

»Sieh dir doch mal deine Jungen an, wie gut die sich entwickelt haben«, fügte er hinzu. »Gavin kann von Glück reden, dass St. Andrew ihn aufgenommen hat und wenn alles gut geht, wird Danny es ihm gleichtun.«

Moya schwieg. Sie war diejenige, die sich mit Gavins Bitte, bei seinen Freunden bleiben zu können, anstatt in eine neue Schule gehen zu müssen, wo er niemanden kannte, beschäftigt hatte. Ihrer Meinung nach bestand nicht die geringste Chance, ihren jüngsten Sohn Danny ebenfalls dorthin zu schicken. Patrick hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was gut und richtig war, ohne die eigentlichen Bedürfnisse der Familie in Betracht zu ziehen. Er arbeitete so hart – Überstunden im Büro, Aktenlesen am Wochenende, Essenseinladungen für seine Klienten und die ständige Suche nach neuen Kunden –, dass es kein Wunder war, dass er sich von seiner Familie entfernt hatte. Er war ein distanzierter Vater, der aber dennoch alles unter Kontrolle haben wollte.

Sie war erleichtert, als das Gesprächsthema wechselte und die schaurigen Einzelheiten von Eleanors neuem Buch sowie die Möglichkeit, eine Fernsehserie daraus zu machen, erörtert wurden.

»Das wäre wunderbar«, schwärmte Ruth, die ein großer Fan von ihr war.

»Man glaubt diesen Film- und Fernsehtypen kein Wort, bis es dann so weit ist«, fügte Dudley hinzu.

»Ich habe schon überlegt, ich frage mal nach, ob ich eine kurze Nebenrolle bekommen kann, genau wie Hitchcock damals«, scherzte Eleanor. Der arme Dudley erschauderte bei der Vorstellung, seine Frau im Fernsehen zu sehen. Die übrigen Gäste am Tisch kringelten sich vor Lachen.

»Nimm sie nicht so ernst, Dudley«, beruhigte Hilary ihn. Sie wusste nur zu gut, dass ein derart ausgefallener Wunsch typisch für ihre beste Freundin war.

Moya hoffte insgeheim, dass sie es wirklich tun würde. Es würde die Seniorgesellschafter in der Firma in den Wahnsinn treiben.

Die Teller wurden gerade abgeräumt, als Moya ans Telefon gerufen wurde.

Sie sprang sofort auf, und Poppy zeigte ihr das Telefon im Flur. Aus Höflichkeit hatten alle ihre Handys entweder abgestellt oder zu Hause gelassen. Hoffentlich war nichts passiert.

»Ja«, sagte sie, während sie den Hörer in die Hand nahm.

»Moya, ich bin’s, Kate. Ich habe eine schlechte Nachricht, es geht um Mum.«

Das Blut schoss in ihre Wangen. Sie hatte lange nicht mehr mit ihrer Schwester gesprochen und musste sich gegen die Holztäfelung lehnen, während Kate ihr von ihrer Mutter berichtete.

»Ich hatte eine Nachricht hinterlassen, aber du hast nicht geantwortet. Fiona hat mir deine Handynummer gegeben und die Nummer, unter der du zu erreichen bist. Kommst du?«

»Ich komme so schnell wie möglich mit dem Flugzeug und nehme einen Mietwagen. Bleib bei ihr, Kate, ich komme so schnell ich kann, das verspreche ich.«

Sie konnte es kaum glauben und schloss die Augen. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen und einen klaren Gedanken zu fassen. Umgehend wählte sie die Nummer der Vermittlung und wurde sofort zur Fluglinie durchgestellt. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie könnten sie auf den letzten Flug von Heathrow nach Dublin buchen, aber sie müsste in zwei Stunden und fünfzehn Minuten am Flughafen sein. Sie buchte den Flug und stand zitternd an der Tür zum Esszimmer. Patrick kam aus dem Zimmer und stellte sich zu ihr.

»Ist etwas mit den Kindern? Was ist passiert? Ist eines von ihnen krank?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir müssen sofort gehen. Mama ist im Krankenhaus. Kate sagt, sie ist auf der Intensivstation, und sie tun ihr Möglichstes, um sie zu retten. Ich muss sofort gehen, ich bekomme einen Platz auf dem letzten Aer-Lingus-Flug von Heathrow.«

»Wir können hier doch nicht einfach so weggehen.«

»Es geht um meine Mutter, um Himmels willen!«

Sie konnte es an seinem Gesicht sehen. Er war hin und her gerissen, ob er auf der Party bleiben oder sie zum Flughafen bringen sollte.