Der Schafe Tod - Jutta Gerecke - E-Book

Der Schafe Tod E-Book

Jutta Gerecke

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

SEIN DRANG ZU TÖTEN WURDE IMMER STÄRKER Ein blutrünstiges Wolfsrudel hetzt ihn erbarmungslos durch den Wald. Er spürt die Schläge des Unterholzes auf seiner Flucht an seinen aufgerissenen Waden. Er vernimmt das schnelle, gleichmäßige Atmen der Meute, ihren scharfen Raubtiergeruch in den Sekunden, bevor die Tiere ihn zu Boden reißen. Der Alpha-Rüde setzt blitzschnell den Kehlbiss, Blut spritzt und läuft als warmer Strom an seinem Hals herunter. Als sein Kehlgangsknorpel wie ein großer Kloß in seinem Hals verrutscht, kann er endlich dem Traum entfliehen und schreckt schweißgebadet auf. Der Wolf ist da! Gravenstedt ist in heller Aufregung. Wolfsberaterin Henrike Schnabels hat es schwer, die aufgebrachten Dorfbewohner zu beruhigen. Ihr plötzliches Verschwinden und ein Toter im Wald stellen Kommissarin Sabine Lüschen vor ihre größte Herausforderung.

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Jutta GereckeUwe JarkWerner Kunst

Der Schafe Tod

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2018 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8342-2

Jutta GereckeUwe JarkWerner Kunst

Der Schafe Tod

Drei Veterinäre – ein Roman Dr. Jutta Gerecke, geboren 1955 in Hannover, verheiratet, wohnt bei Bremen, Studium der Veterinärmedizin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, berufstätig in Bremen und Oldenburg, Dr. Uwe Jark, geboren 1964 in Braunschweig, verheiratet, zwei Töchter, wohnt in Hundsmühlen, studierte ebenfalls an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover, berufstätig in Cuxhaven und Oldenburg, und Dr. Werner Kunst, geboren 1950 in Bremerhaven, verheiratet, zwei erwachsene Töchter, wohnt in Quakenbrück, Studium der Veterinärmedizin an der Freien Universität Berlin, berufstätig in Berlin, Osnabrück und Oldenburg. Sie verbindet die gemeinsame Arbeit im gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Oldenburg. Die drei fanden sich auf einer Wellenlänge, wurden Freunde und treffen sich auch privat. Alle drei sind fasziniert von der Rückkehr der Wölfe nach Niedersachsen. Alle drei sind Tierärzte und verstehen auch die Sorgen der Landwirte um ihre Nutztiere, ein Spannungsfeld, in dem der Wolf im Kampf um seinen Lebensraum einen schweren Stand hat. Jutta, mit Spaß an dunklen Charakteren und rührseligen Geschichten, Uwe, über- sprudelnd vor bizarren Ideen, und Werner, mit realistischen Recherchen und dem glücklichen Händchen für geschliffene Übergänge, ergänzten sich zu dem vorliegenden Erstlingswerk.

Homo homini lupusDer Mensch ist dem andern ein WolfLateinisches Sprichwort

PROLOG

Vor vier Tagen hatte er mit der ersten Etappe seiner Wanderung begonnen und war dann nur noch ziellos umhergelaufen. Seitdem hatte er mit keinem Menschen mehr gesprochen. Gestern sah er in weiter Entfernung eine Wandergruppe. Die Zuversicht, nach ein paar Tagen der Ruhe in der südlichen Heide zu sich selbst und seinen eigenen Werten zurückzufinden, war mittlerweile durch eine tiefe Traurigkeit abgelöst worden.

Drei Monate zuvor war sein Antrag auf erneute Verlängerung seiner Stelle an der Universität in Hannover endgültig abgelehnt worden. Über einen Zeitraum von mehr als fünfzehn Jahren war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von einer befristeten Anstellung in die nächste übernommen worden. Anfänglich hatte er diese unbefriedigende Situation durch beruflichen Ehrgeiz, seinen jugendlichen Elan und viel Zuversicht kompensieren können. Als seine Freundin jedoch immer häufiger über den Wunsch nach einer Familiengründung und gemeinsame Kinder sprach, zog er sich mehr und mehr in sein Schneckenhaus zurück. Mit einem befristeten Arbeitsvertrag bekam er nicht einmal einen Autokredit.

Am letzten Sonntag saß er noch gemeinsam mit seiner Freundin am Frühstückstisch, viel gesprochen hatten sie nicht miteinander. Dann verabschiedete er sich und fuhr mit der Bahn von Hannover nach Celle. Vom Celler Hauptbahnhof aus wanderte er mit Rucksack, Isomatte und Schlafsack zu seinem ersten geplanten Ziel, einer Schutzhütte am Teichgut Wildeck nahe der Gemeinde Eschede. Die Absicht, von hier am nächsten Tag seine Wandertour fortzusetzen, geriet noch am selben Abend ins Wanken, seine tiefe Depression und die damit verbundene Antriebslosigkeit ließen ihn zweifeln am Sinn seiner geplanten Wanderung, nicht nur den Weg durch die Heide, sondern vor allem den zu sich selbst zu finden.

Er verbrachte die nächste Zeit, indem er in den Tag hineinträumte, in seiner Vergangenheit lebte oder in rastlosen Momenten ziellos durch die Heide streifte. Abends kam er ein wenig zur Ruhe, dann genoss er – nach den ersten Bechern Rotwein – die schönen Sonnenuntergänge der schon warmen Aprilsonne mit einer selbstgedrehten Zigarette. Er durchlebte wieder seine ersten Studienjahre und freute sich auf seinen Schlafsack. Euphorisiert durch den Alkoholgenuss erwartete er die letzten, einzig förderlichen Gedanken des Tages, die ihm kurz vor dem Einschlafen ein gutes Gefühl für seine Zukunft gaben – Hoffnung.

Am Tage hatte er eine geeignete Stelle für ein Nachtlager gefunden und in einem Kiefernwäldchen eine mit weichem Moos bewachsene Mulde auf einer kleinen Anhöhe entdeckt. Ein paar Schritte trennten ihn noch von der Vertiefung. Als er mit seinem rechten Unterschenkel in die von einem kurzen metallischen Schleifgeräusch begleiteten, in Sekundenbruchteilen zuschlagenden Stahlzähne eines Tellereisens geriet, war es für weitere Gedanken an seine Zukunft zu spät.

Kapitel 1

Hermann Hemmling hörte ein leises Wimmern. War es ein Traum? Ein Albtraum? Langsam wurde er wach, es war halb fünf am Morgen, und es sollte ein sonniger Tag werden. Es war der 14. April. Noch anderthalb Stunden würde es dauern, bis er die Sonne über dem Horizont würde sehen können, noch war es der Mondschein, der den Schatten des Fensterkreuzes auf das Federbett warf und den Möbeln so viel Konturen gab, dass er nirgends anstoßen würde, wenn er sich denn entschließen könnte aufzustehen. Er war viel zu müde, der gestrige Abend im Dorfgasthaus „Zur Krone“ steckte ihm noch in den Knochen. Natürlich war es wieder mal zu viel Bier und Heidegeist gewesen. Und spät war es auch schon, als er endlich zu Hause war. Es ging halt hoch her bei der Diskussion, nur die engagierte Frau Schnabels bot ihnen Paroli, doch sie wurde von den übrigen Dorfbewohnern nicht ernst genommen. Sonst waren sie einer Meinung: Der Wolf musste weg.

Keiner der Dorfbewohner hatte den Wolf je gesehen. Im Lokalteil der Celler Nachrichten war vor einigen Wochen ein Artikel erschienen, in dem der Verdacht geäußert wurde, bei einem in der Nähe tot aufgefundenen Schaf würde es sich um den Riss durch einen Wolf handeln. Der Kadaver wies zahlreiche Verletzungen auf, und ein Abstand von vier Zentimetern zwischen den Löchern im Fell am Hals des Tieres sprach nach Ansicht der von der Zeitung befragten Wolfsberaterin Henrike Schnabels für einen Kehlbiss durch einen noch nicht ganz ausgewachsenen Wolf. Der Abstand der Fangzähne war der einzige Hinweis, die Beweislage sonst eher dürftig. Dennoch hielt sich hartnäckig die Furcht, es könnte, nachdem schon 1872 der letzte Wolf in der Region erlegt wurde und nicht weit entfernt 1948 noch einmal ein Wolf auftauchte, Isegrim wieder für Schrecken sorgen.

Das Wimmern wollte nicht aufhören. Hermann Hemmling setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und verharrte einen Moment auf der Bettkante. Die Nacht war klar und kühl, wie es in dieser Gegend im April nicht selten war. Die Temperatur an diesem frühen Morgen lag nur einige Grade über dem Gefrierpunkt, und bis zu den Eisheiligen in vier Wochen musste man weiter mit Nachtfrösten rechnen. Eine Heizung hatte sein Schlafzimmer nicht. In dem alten Resthof aus dem 19. Jahrhundert konnte er nur den Herd in der Küche heizen und den Kachelofen in der Wohnstube, doch der wurde nur an Feiertagen befeuert. Mit Pantoffeln über den Füßen und bekleidet mit der Unterwäsche, in der er zu schlafen pflegte, stolperte er zur Schlafzimmertür. Er wollte so schnell wie möglich wieder ins Bett, musste aber zuvor nach seinen Schafen sehen, denn im Halbschlaf war ihm bewusst geworden, dass das Geräusch nur vom Unterstand der Schafe kommen konnte. Eines seiner Mutterschafe stand kurz vor der Geburt, es war die letzte noch zu erwartende Geburt in diesem Frühjahr, und wenn auch Schafe eigentlich leiden, ohne zu wimmern, schien sich hier doch etwas Dramatisches zu ereignen.

Aus dem Schlafraum gelangte Hemmling in die Küche, von der die Wohnstube und ein weiteres Zimmer zu erreichen waren, das Schlafzimmer seiner alten, gebrechlichen und beinahe tauben Mutter. Auch in der Küche war es kalt, er war am Vorabend nicht mehr willens gewesen, den Herd noch einmal anzuheizen. Auf der kleinen Tenne, wo rechts einmal vier Kühe gestanden hatten und links die zwei Buchten für Schweine ebenfalls seit langem mit allerlei Gerümpel vollgestellt waren, nahm er die Taschenlampe, die an einem Nagel am Balken nahe der Tür zur Küche hing, und gelangte durch das Tor nach draußen und auf die Weide am Haus, auf der ein kleiner, nach drei Seiten geschlossener Unterstand seinen Schafen Schutz gewährte.

Bevor er am Abend in die „Krone“ gezogen war, hatte er seine 21 Schafe wie gewohnt in den Unterstand gebracht und dessen offene Seite durch hüfthohe Absperrgitter, wie sie voriges Jahr beim Straßenbau an der Bundesstraße 214 nahe Wietze verwendet wurden, verschlossen. Er wusste, seine Tiere würden nicht darüberspringen, die Nacht geduldig in diesem Unterstand verbringen und darauf warten, dass er ihnen die Gitter am Morgen wieder öffnen und den Zugang zur Weide freigeben würde. Für Hemmling war die Schafhaltung Hobby, er mochte seine weißen gehörnten Heidschnucken, weil sie anders waren als die sonst in der Heide vorkommenden Schafrassen, weil sie genügsamer waren, weil sie schmackhafter waren. Sie waren etwas Besonderes, eine bedrohte Nutztierart, gut geeignet für die karge Umgebung von Hemmlings Hof, wenn auch die meisten Schafe dieser Rasse inzwischen im Gebiet zwischen Weser und Ems mit den fetteren Böden gehalten wurden. Der Fleischertrag war eher gering, doch wenn beim Gasthof „Krone“ im Herbst ein Lammbraten von weißen gehörnten Heidschnucken auf der Speisekarte stand, kamen Gäste aus Celle und sogar aus Hannover. Man wusste nicht, ob dieser Lammbraten über die Dorfgrenzen hinaus berühmt war, weil er so konventionell oder obwohl er so zubereitet wurde. Die Küche verwendete für die zuvor in Buttermilch eingelegte Hammelkeule vor allem Thymian und Salbei, ein Lorbeerblatt, etwas Zwiebel, ein paar Nelken. Und Knoblauch gerade so viel, dass die Gäste, die das Gericht ohne Knoblauch bestellten, auch zufrieden waren. In den Hammelwochen im Herbst bot der Gasthof „Krone“ auch Hammelrippe auf dem Rost, Lammtopf mit Zwiebeln und gefüllte Lammschulter an. Die Gerichte waren außerordentlich schmackhaft und eines Sternekochs würdig, aber dem Geist der Region entsprechend eben auch sehr traditionell. Die Zubereitung einer Hammelkeule mit Parmesan war hier ebenso undenkbar wie die Verwendung von Oliven, Oregano oder die Umhüllung des Lammfleisches mit Speck.

Hemmling hatte den Hof von seinem Vater übernommen und sich gegen das Wachsen-oder-Weichen und die agrarindustrielle Entwicklung nicht behaupten können und auch nicht wollen. Er hielt sich am Leben, indem er nach und nach die zum Hof gehörenden Flächen zunächst verpachtete und später auch verkaufte, Erben hatte er schließlich keine. Die Umwidmung eines kleinen Teils seiner Flächen am Dorfrand in Bauland hatte ihm so viel Geld gebracht, dass er auch ohne Gewinne aus der Landwirtschaft bescheiden, aber gesichert leben konnte. Sogar einen Volkswagen, ein Modell mit Ladefläche, hatte er sich vor Jahren von seinem Landverkauf am Dorfrand von Gravenstedt geleistet, er hatte das Fahrzeug noch immer und nicht die Absicht, sich jemals davon zu trennen.

Vielleicht wäre manches anders gekommen, wenn seine Maria ihn damals hätte heiraten wollen. Dass sie, wie er glaubte, einen anderen ihm vorzog, nagte noch lange an ihm, war es doch nach seinem Empfinden eine Beziehung voller Leidenschaft und Liebe. Maria mochte das anders gesehen haben, er hatte jedenfalls nicht verstanden, weshalb sie plötzlich verschwunden war. Er hatte viele Jahre nichts von ihr gehört und dennoch, wenn er nachts wach lag, gern an seine Liebschaft mit Maria gedacht. Es hatte ihn manches Mal am Einschlafen gehindert, dass er nicht einmal wusste, ob sie schwanger war, als sie ging. Bis vorige Woche ein Brief von ihr kam, der ihm nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte.

Trotz seines Rheumas hatte Hemmling tapfer bis zur Regelaltersgrenze durchgehalten und bezog nun seit dem vorigen Jahr eine bescheidene Rente von der Landwirtschaftlichen Alterskasse. Doch das Alter hatte noch weitere Spuren hinterlassen, und es fiel ihm inzwischen schwer, seinen Schafen ein guter Hirte zu sein. Wäre das Wimmern nicht so herzzerreißend, hätte ihn um diese Tageszeit nichts zum Aufstehen, zum Zurückschlagen des warmen Federbetts bewegen können. Jetzt aber stand er mit seiner Taschenlampe vor dem Unterstand seiner Schafe.

Was Hermann Hemmling im hellen Mondschein und im Licht der Lampe sah, als er hinter das Gitter leuchtete, war weit mehr als nur sein Herz zerreißend, schlimmer als alles, was einem kleinen Tiere haltenden Landwirt je widerfahren konnte. Das Fell der meisten seiner einst hellen Tiere war dunkelrot verfärbt, es roch nach Blut und nach dem Inhalt von Pansen und Därmen. Acht Lämmer lagen regungslos in der Einstreu, mit tiefen Wunden in den Schenkeln, am Hals und in der Brustwand. Das Mutterschaf, das kurz vor der Geburt stand, lag wimmernd in der hinteren Ecke, das Loch in der linken Brustwand war so groß, dass Hemmling darunter das Herz schlagen sehen konnte, der Bauch war aufgerissen, und die Frucht, die in diesen Tagen das Licht der Welt erblicken sollte, war in den herausgequollenen und aufgerissenen Eingeweiden verendet. Der gekörte Bock, auf den Hemmling so stolz war, lag in der anderen hinteren Ecke, er atmete schwer und tief, war dem ersten Anschein nach aber unverletzt. Von den Muttertieren waren weitere blutüberströmt, und Hemmling konnte im Schein der Taschenlampe nicht erkennen, in welchen Tieren noch etwas Leben war, geschweige denn, welche Tiere der Tierarzt vielleicht noch retten konnte. Hemmling musste sich an den Absperrgittern festhalten, er ging langsam in die Knie und vergrub sein Gesicht schluchzend in den Händen.

Kapitel 2

Der Opel Zafira mit den Fotoamateuren war um vier Uhr in der Früh vor dem Oldenburger Hauptbahnhof gestartet. Achim, der erste Vorsitzende des Vereins „Blitzlicht Oldenburg“, hatte bei einem der letzten Vereinsabende vorgeschlagen, doch einmal das erste Sonnenlicht über der niedersächsischen Heidelandschaft für eine Wanderung mit der Kamera auszunutzen. Sie verfolgten seit Wochen den Wetterbericht. Heute sollte es passen, und so hatten sie sich diesen Samstag frei gehalten, am Abend würden sie in Oldenburg zurück sein.

„Das fantastische Licht wird euch für das frühe Aufstehen entschädigen“, sagte Achim, als drei recht müde ausschauende Frauen mit ihren Rucksäcken und schweren Kamerataschen in den Van stiegen.

Nach zwei Stunden waren sie am Ziel in der Nähe von Eschede angekommen. Achim hatte vor der Vereinsreise eine etwa zehn Kilometer lange Wanderroute ausgearbeitet. Es waren einige Pausen und die Einkehr in einem typischen Heiderestaurant eingeplant. Die morgendliche Heidelandschaft war perfekt ausgeleuchtet für ihr Vorhaben. Die Sonne war vor Minuten aufgegangen, ein leichter Bodennebel umschloss die Vegetation etwa bis zur Hälfte der Höhe der Kiefern, die neben Birken und Wacholder zu den häufigsten Baumarten dieser Gegend gehörten. Die Verbindung aus Sonnenstrahlen und der hohen Luftfeuchtigkeit in Bodennähe ergab ein wunderbares, warmes und weiches Licht mit zahlreichen Spiegelungen.

Anne, ein junges Vereinsmitglied, erkannte diese Stimmung sehr schnell und hoffte auf ein paar schöne Schnappschüsse, war doch auch für diesen Ausflug ein interner Fotowettbewerb eingeplant. Auf die Weichzeichnerlinse konnte sie in den nächsten Minuten, bis die Sonne an Kraft zunehmen und den Bodennebel vertreiben würde, verzichten. Wenn sie dort an den Waldrand ginge, müsste sich doch ein schönes Motiv finden, dachte Anne. Inmitten der Heide- und Wacholderlandschaft war ein Kiefernwäldchen eingebettet. Anne ging ein paar Meter in das Waldstück hinein, drehte sich um und erkannte, dass es sich lohnen würde, gegen die Sonne ein paar Fotos zu machen. In Verbindung mit den in Nebel eingehüllten Stämmen der Kiefern, dem großen Spinnennetz und dem Kleiber, der gerade einen Baumstamm kopfüber herunterlief, würde sie hier schöne Motive finden. Sie musste sich dazu nur ein wenig Zeit nehmen. Nach ein paar ersten Fotos legte sie sich bäuchlings mit ihrer wasserabweisenden Cargohose und ebenso präparierter Jacke auf den feuchten und weichen Waldboden. Sie erwischte den Kleiber mit dem Teleobjektiv und robbte langsam weiter, als der zunächst kaum wahrnehmbare süßliche, moschusartige Geruch deutlich intensiver wurde. Als vor ihrem Sichtfeld eine Schuhsohle auftauchte und sie dann ein Hosenbein erkannte, erahnte sie die Quelle des Geruchs.

Das Entsetzen bei Anne Schumann war unbeschreiblich. Sie hatte solche Situationen schon erlebt, im Fernsehen, freitags und samstags im ZDF, aber das hier war real. Sie kam auf die Knie, und um ganz aufzustehen, musste sie sich an einem kleinen Baum festhalten. Und dann sah sie, was sie niemals wirklich sehen wollte, den Körper eines Mannes, offenbar im besten Alter, die Augen weit aufgerissen, der Mund offen, tot.

Sie hatte schreien wollen, aber sie konnte nicht. Sie wich einige Schritte zurück, ohne dabei den Blick von dem Toten abwenden zu können. Sie griff instinktiv in die linke Brusttasche ihrer Jacke, zog das Handy heraus und wählte Achims Nummer.

„A..., A..., Achim“, stammelte sie, „ein Toter.“

„Lass die Scherze“, hätte jeder geantwortet, doch Achim war sensibel, er hörte die Panik in ihrer Stimme und fragte zurück: „Wo bist du?“

„Ich ..., ich ..., ich weiß nicht“ antwortete sie. In Achim regte sich Beschützerinstinkt. Er hatte zu dieser Fototour eingeladen, er fühlte sich verantwortlich für die Teilnehmer.

„Du kannst noch nicht weit von unserem Ausgangspunkt weg sein“, sagte Achim, „was siehst du vor dir?“

„Einen toten Mann!“

„Nein, hebe deinen Blick, schildere mir die Landschaft.“

„Ich sehe Birken, Wacholder, Kiefern, Heidekraut …“

„OK, so kommen wir nicht weiter. Du weißt sicher den Weg zurück zum Ausgangspunkt? Nimm den Plan aus deiner Tasche und komm zurück zum Treffpunkt!“

„Ich kann nicht … es ist so fürchterlich …“

„Anne, du bist alt genug, Du stehst mit beiden Beinen im Leben, du bist eine toughe Frau, bitte benimm dich jetzt auch so.“

Anne Schumann kam langsam in die Realität zurück. Sie orientierte sich in der Landschaft und wusste, dass sie sich vom Startpunkt der Wanderung noch nicht weit entfernt hatte. Sie wandte den Blick ab von dem Toten, drehte sich um und lief zurück. Schon nach kurzer Zeit fiel sie Achim in die Arme.

„Ruf die Polizei“, stammelte sie, und Achim wählte die bekannte Notrufnummer.

„Wir haben in der Heide einen Toten entdeckt“, teilte Achim dem diensthabenden Polizisten mit.

„Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind und wo Sie sich gerade aufhalten.“ Polizeioberkommissar Holzmüller hatte Dienst an diesem Wochenende. Achim machte die gewünschten Angaben. „Können Sie den Ort beschreiben, an dem Sie den Toten gefunden haben?“, fragte Holzmüller weiter.

„Wir sind beim Eiscafé Florenz in Eschede gestartet mit unserer Wanderung, Celler Straße Ecke Bahnhofstraße, und noch nicht sehr weit gekommen“, antwortete Achim und fügte hinzu: „In etwa einer halben Stunde können wir dort wieder zurück sein, wir können uns dort treffen und Ihnen den Weg zeigen.“

„Die Polizeistation Eschede ist direkt gegenüber“, antwortete Holzmüller, „bitte finden Sie sich dort ein. Ich rufe dort an, und man wird Sie erwarten.“ Dann rief er die Polizeikommissarin Niedorf, und die beiden machten sich von Celle aus mit dem Streifenwagen auf den Weg. Achim und Anne waren bereits dort, als sie ankamen.

Von der Polizeistation Eschede aus fuhren sie mit dem Streifenwagen bis zum Ortsrand und noch ein kleines Stück einen Feldweg entlang, bevor sie zu Fuß weitergehen mussten. Anne Schumann erinnerte sich gut an den Weg. Am Ort des Geschehens angekommen, bot sich Holzmüller das grausige Bild. Er hatte gleich erfasst, dass hier ein Mensch in eine Falle geraten war, mit der Tiere gefangen werden sollten. Und er sah den qualvollen Tod, den der Mensch in dieser Falle erlitten haben musste, vor sich.

„Das ist eine Nummer zu groß für mich“, gestand Holzmüller sich ein, „ich werde den Ort weiträumig absperren und alles Weitere dem Landeskriminalamt überlassen.“

Er wählte die eingespeicherte Nummer des LKA in Hannover und schilderte kurz, worum es ging. Der Diensthabende sagte zu, die Kripo sofort zu informieren, bat Holzmüller um die Rufnummer seines Mobiltelefons und versprach ihm einen schnellen Rückruf. Dann informierte Holzmüller die Kriminalrätin.

„Lüschen, was gibt’s?“, meldete sich eine energische Stimme auf Holzmüllers Handy.

„Polizeioberkommissar Holzmüller, Polizeiinspektion Celle“, antwortete er irritiert, war er sich doch nicht sicher, ob es sich am anderen Ende der Leitung um eine Alt- oder eine Tenorstimme handelte, und fügte hinzu: „Ich melde einen Leichenfund.“ Dann schwieg er.

„Geht’s etwas genauer?“, kam prompt die Rückfrage.

„Wanderer haben in der Heide nahe Eschede einen Toten entdeckt, der nach meinem ersten Eindruck in eine illegal aufgestellte Falle geraten und dann verstorben ist, weil er sich daraus nicht wieder befreien konnte. Es könnte sich um ein Tötungsdelikt handeln, zumindest um fahrlässige Tötung. Ich habe den Fundort mit Absperrband gesichert und nicht weiter betreten. Es hat ja in der ganzen Woche nicht geregnet, und ich dachte, es könnten noch verwertbare Spuren gefunden werden.“ Holzmüller hatte zu seiner Selbstsicherheit zurückgefunden.

„Wie viele Beamte sind Sie vor Ort?“, war Lüschens nächste Frage.

„Nur Polizeikommissarin Niedorf und ich.“

„Gut, wo können Sie mich in Empfang nehmen und mich zum Fundort der Leiche führen?“, fragte Lüschen.

„Ich schlage die Polizeistation in Eschede vor.“

„Es ist jetzt Viertel vor neun, ich werde in einer Stunde dort sein“, bestimmte Lüschen, „Ihre Kollegin soll derweil den Fundort bewachen.“

„Wer da wohl aus Hannover kommt?“, fragte sich Holzmüller und war gespannt, was nun auf ihn zukommen würde. Eine Leiche hatten sie in der Heide auch nicht alle Tage, und mit geregelter Dienstzeit würde es an diesem Wochenende wohl erst einmal vorbei sein, der heutige Feierabend schien in weite Ferne zu rücken.

Kriminalrätin Lüschen war tatsächlich fast genau eine Stunde später in der Polizeistation in Eschede eingetroffen, begleitet von einem Pathologen und einem Mitarbeiter der Spurensicherung. Die drei stellten sich kurz vor. Holzmüller war angenehm überrascht vom sportlichen, schlanken Äußeren der Kriminalrätin. Ihr kaum angreifbares Selbstbewusstsein hatte sie sich während ihres Scheidungsverfahrens zulegen müssen. Ihr Exmann, Vater ihrer Tochter, war als Bauingenieur immer wieder in Geschäfte am Rande der Legalität verwickelt, für Sabine Lüschen ein unhaltbarer Zustand. Der Rosenkrieg war heftig, und für Sabine war es schwer, die Geschäfte ihres Mannes hinzunehmen und nicht zur Anzeige zu bringen. Doch er drohte damit, das Sorgerecht für die Tochter einzuklagen, und hätte vielleicht auch damit Erfolg gehabt, da sie beruflich sehr eingespannt war und unvorhersehbar lange Arbeitstage hatte. Er dagegen konnte sich seine Arbeitszeit einteilen und auch im häuslichen Büro arbeiten. Die Tochter war kürzlich sechzehn geworden, ein Alter, in dem auch Sabine Lüschen sich Sorgen machte, wenn das Mädchen einmal nicht pünktlich nach Hause kam. Sie selbst ging nur wenig abends aus, auch wenn sie sich gelegentlich nach der Geborgenheit einer festen Beziehung sehnte. Der Weg dahin war ihr viel zu beschwerlich.

Holzmüller kannte natürlich nicht den Hintergrund, der zu der Mauer führte, die Sabine Lüschen um sich herum gezogen hatte, und fühlte sich durch ihr selbstbewusstes Auftreten schnell wieder verunsichert. Er war froh, dass die Hannoveraner Kriminalisten in ihrem eigenen Auto dem Streifenwagen hinterher in die Heide fuhren.

Kapitel 3

Hemmling fiel nichts Besseres ein als die Notrufnummer, nachdem er sich von seinem ersten Schmerz erholt hatte. Er wankte mit zitternden Knien ins Haus zurück, um zum Telefon zu gelangen, und hinterließ dabei eine Blut­spur. Er hatte die Blutlache, in der er vor seinem Schafstall gestanden hatte, gar nicht wahrgenommen.

Der Streifenwagen vom Kommissariat in Celle war nach einer halben Stunde vor Ort. Während Polizeioberkommissar Holzmüller das Fahrzeug so parkte, dass das Scheinwerferlicht auf den Unterstand der Schafe fiel, bemerkte er als Erstes die Absperrgitter, die denen, die im Vorjahr bei der Straßenbaustelle entwendet worden waren, zum Verwechseln ähnelten. Es war ihm jedoch das Ausmaß dessen, was hier passiert war, schnell klar. Er fluchte leise. Immer kam alles auf einmal. Gestern eine Leiche in der Heide, heute ein Blutbad auf Hemmlings Hof. Er ging in Richtung Streifenwagen zurück, seine junge Kollegin im Auge behaltend, und telefonierte mit seinem privaten Handy, ohne dass es seine Kollegin oder Hemmling mitbekommen hätten.

„Ich habe eine sensationelle Geschichte für dich“, sprach er ins Telefon, „du weißt, wo der Hof von Hermann Hemmling ist, komm dorthin und bring deine Kamera mit.“

Er legte schnell wieder auf und sah, wie seine junge Kollegin nach dem Blick in den Unterstand um die Ecke verschwinden musste, um ihren Würgereiz zu bekämpfen, was sie gern vor ihrem Kollegen und vor Hemmling verbergen wollte. Polizeikommissarin Daniela Niedorf hatte ihre Dienstmütze abgesetzt, strich sich durch das lange, zum Pferdeschwanz gebundene blonde Haar und ging zum Streifenwagen zurück. Sie hatte sich wieder im Griff und funktionierte, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte. Für sie war es jetzt das Wichtigste, den leidenden Tieren zu helfen. Die Nummer der Rettungsleitstelle im Celler Kreishaus war eingespeichert. Sie wählte und ließ sich mit dem diensthabenden Veterinär verbinden.

Amtstierarzt Dr. Hanno von Wabern war Leiter des Veterinäramtes und hatte den Bereitschaftsdienst nur übernommen, weil einer seiner Kollegen plötzlich erkrankt war. Ansonsten bestand er zwar darauf, stets über alles Wichtige informiert zu sein, teilte sich selbst aber zum Bereitschaftsdienst nicht ein. Seine drei Kollegen waren deshalb nicht gut auf ihn zu sprechen, durften sie doch alle drei Wochen während dieses Dienstes das Kreisgebiet auch an Wochenenden nicht verlassen. Als von Wabern auch noch durchsetzen wollte, dass sie sich im Urlaub und in Krankheitsfällen gegenseitig vertreten, baten sie gleichzeitig den Verwaltungsleiter des Veterinäramtes um ein Zwischenzeugnis, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich woanders bewerben wollten. Von Wabern lenkte notgedrungen ein und übernahm bei Urlaub und Krankheit die Dienstbereitschaft.

Als um kurz nach sechs das Telefon klingelte und den Amtstierarzt aus dem Schlaf riss, fluchte er, besann sich aber schnell, als das Display seines Telefons anzeigte, dass der Anruf von einer unterdrückten Rufnummer kam. In seiner beruflichen Laufbahn hatte von Wabern bei Verstößen gegen das Tierschutzgesetz oder das Lebensmittelrecht gelegentlich mit der Polizei und auch der Staatsanwaltschaft zu tun, und daher wusste er, dass diese die Rufnummernanzeige meist unterdrückten.

„Von Wabern“, meldete er sich und versuchte dabei seiner Stimme einen Klang zu verleihen, als sei er schon munter. Er ließ sich von der Polizeikommissarin kurz schildern, was auf Hemmlings Hof vorgefallen war, und sagte zu, innerhalb der nächsten vierzig Minuten dort einzutreffen. Als er auflegte, war er tatsächlich hellwach.

Von Wabern ging ins Bad. Während er sich die Zähne putzte, wurde ihm klar, dass die Ereignisse auf dem Hof Hemmling von größerem Medieninteresse sein könnten. Die Celler Nachrichten würden ganz sicher berichten, und wenn vielleicht die ersten Fernsehprogramme dem Besuch der Kanzlerin beim Papst den Vorzug in ihrer Berichterstattung geben würden, so konnte er doch mit einem Kamerateam von der Lokalredaktion des Norddeutschen Rundfunks rechnen. Er verzichtete auf das Rasieren, die Bartstoppeln würden im Fernsehen oder dem Bild in der Zeitung gut wirken und seine aufopfernde Dienstbereitschaft betonen, die ihm nicht einmal Zeit zum Rasieren ließ. Der Blick in den Spiegel offenbarte ihm wieder sein Problem mit dem schütteren Haar, wie er es nannte. Tatsächlich waren ihm schon mit Mitte dreißig die ersten Haare ausgefallen, und es dauerte dann nur noch wenige Jahre, bis die Glatze durchschimmerte und an seinem Ego nagte. Er zog sich an, wohl darauf bedacht, dass das Krokodil-Emblem auf seinem leichten Pullover zur Geltung kam, setzte seinen Hut auf, einen Filzhut von Borsalino im Bogart-Stil, und machte sich in seinem G-Klasse-Mercedes auf den Weg zu Hemmlings Hof.

Kapitel 4

Sie lag seit einigen Minuten wach, dachte an den harmonischen gestrigen Abend und erfreute sich an den Vögeln im Garten, die lautstark einen wunderschönen Frühlingstag ankündigten.

Gero hatte Stunden zuvor den Grill angeheizt und sie beide mit einem leichten, wohlschmeckenden Abendessen verwöhnt: Streifen vom Rehrücken an einem Sommersalat mit Himbeervinaigrette. Seitdem Gero von ihr den berühmten Kugelgrill mit Deckel und indirekter Grillzone zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, ließ er es sich nicht nehmen, immer wieder für ein Überraschungsessen zu sorgen.

Gero von Bargen war Berufsjäger – Revierjäger für einen Unternehmer, der reich geworden war durch den Erfolg seiner mittlerweile bundesweit in allen Einkaufszentren und Innenstädten zu findenden Drogeriemärkte, ein Magnet für jede Hausfrau, und der zahlreiche Waldgebiete im Raum Celle und im Heidekreis zu seinem Eigentum zählen durfte. Gero war seit Kindesbeinen mit der Natur in seiner Heimat verwurzelt, setzte er doch in dritter Generation die Zunft der Berufsjäger in seiner Familie fort. So blieb es auch nicht aus, dass er immer wieder ein Stück Wild über oder neben der Grillzone seines Weihnachtsgeschenkes platzierte.

Neben der Hege und Pflege des ihm anvertrauten Reviers war er vor Jahren mit der Aus- und Weiterbildung von Jägern durch die Landesjägerschaft betraut worden, ein deutliches Zeichen der Anerkennung seitens der Jägerschaft aufgrund seiner Leistungen und Errungenschaften in dem von ihm betreuten großräumigen Revier und der Achtung seines großen Fachwissens. Vor mehr als einem Jahr lernte er Anke in einem Fallenlehrgang kennen, den er als verantwortlicher Dozent in Theorie und Praxis durchführte.

Es dauerte nicht lange, bis sich aus anfänglicher Neugier füreinander eine starke Liebesbeziehung entwickelte, die zu einer Lebensgemeinschaft in dem alten Försterhaus am Wietzenbrucher Forst führte. Anke liebte das Haus mitten im Grünen, das Geros Urgroßvater vor über 100 Jahren für den damaligen Revierförster erbaut hatte, sie versorgte mit Sachverstand und Tierliebe die Jagdhunde in der großzügigen Zwingeranlage und erfreute sich an dem kleinen Heidebach, der den Garten mit seinem leisen Plätschern durchzog, wenn sie nach einem anstrengenden Arbeitstag auf einer Gartenliege neben dem Bächlein neue Kraft schöpfte. Sie verspürte an diesem Ort eine entspannende Ruhe, wie sie sie niemals zuvor erlebt hatte – auch dafür war sie Gero sehr dankbar.

Gero schlief noch, er atmete ruhig und gleichmäßig. Er war völlig entspannt, dennoch zeichneten sich die Muskeln seines durchtrainierten Körpers, seiner von der Bettdecke entblößten rechten Schulter bis hin zu seinem Gesäß deutlich ab. Anke verspürte bei diesem Anblick eine wohlige Wärme, ein starkes Verlangen in ihrem Schoß, den Wunsch, die letzte Nacht fortzusetzen, und sie schob ihren Körper vorsichtig näher an Gero heran, als ihr Handy schnarrte.

Auf dem Display ihres Smartphones erkannte sie, dass es kurz vor halb sieben war – wer konnte das nur sein, an einem Sonntagmorgen?

„Heubach … hallo!“, entgegnete sie dem Anrufer noch leicht schlaftrunken.

Im Aufstehen begriffen strich sie die Bettdecke zur Seite und war ein wenig zerknirscht, als sie Hanno von Waberns Stimme hörte, bevor sie in ihre Hausschuhe stieg und im Morgenmantel in der Küche verschwand, um Gero nicht zu stören. Die besondere Wichtigkeit, die in von Waberns merklich lauten und bestimmenden Worten zu ihr drang, war nichts Neues für Anke. So und nicht anders kannte man den leitenden Amtstierarzt, vor allem bei öffentlichen Auftritten. Er berichtete ihr von dem nächtlichen Geschehen auf Hemmlings Hof, über das er soeben durch die Polizei telefonisch informiert worden war, und bat sie darum, schnellstmöglich zum blutigen und gleichermaßen traurigen Schauplatz zu kommen.

Zu oft hatte Anke ähnliche Situationen in den vergangenen Monaten erlebt. Vor vier Jahren hatte das Umweltministerium in Hannover gemeinsam mit der Landesjägerschaft Niedersachsens Frau Dr. Anke Heubach zur Wolfsbeauftragten des Landes ernannt. Die Tätigkeit war hochinteressant und spannend, entsprach ihrem wissenschaftlichen Anspruch, war aber mittlerweile anstrengend geworden, seitdem die Grauhunde in die Heide und in die Kreise Cuxhaven und Vechta eingewandert waren. Natürlich bedeuteten durch Wölfe gerissene Schafe und Kälber einen zusätzlichen Aufwand an Ermittlungstätigkeiten und Aufklärungsarbeit. Vor allem aber, wenn solche Vorfälle auch noch pressewirksam ausgeschlachtet wurden, gelangte Anke oft an ihre Grenzen. Spätestens dann machten ihr die „staatlich akkreditierten Naturschützer“ und organisierte „Wolfsstreichler“ das Leben zusätzlich schwer.

Anke sah sich im Badezimmerspiegel, den Anblick einer Frau in den besten Jahren, mit einem schlanken, sportlichen und dennoch weiblich geformten Körper, ihr schulterlanges rötlichblondes Haar, die vollen Lippen, umgeben von einer Schar Sommersprossen, gaben ihr sowohl einen sinnlichen als auch geheimnisvollen Ausdruck, der ihre Mitmenschen immer wieder faszinierte. Sie wusch ihr Gesicht mit einem Schwall des angenehm frischen und kalten Heidewassers, das aus dem Wasserhahn spritzte, bevor sie sich abtrocknete und in ihre bequeme grüne Cargohose stieg, die sie besonders gern an den Wochenenden trug.

Sie bereitete sich einen schnellen Milchkaffee mithilfe einer Kapsel, dem dazugehörigen Automaten und einem ordentlichen Schuss Milch aus dem Kühlschrank, ein morgendliches zeitsparendes Ritual, dessen Anblick manch einem der Anhänger der Öko-Partei, die vor zwei Jahren in das Umweltministerium eingezogen war, sicherlich die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Im Flur stieg sie in ihre Jagdstiefel und eine mittelbraune Barbourjacke, nahm den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und ließ die schwere, mit einer kunstvollen Heidelandschaft verzierte Haustür mit leichtem Schwung ins Schloss fallen. Anka – die kleine Münsterländerin hatte ihr Gehen bemerkt – stand winselnd und mit aufgeregter Rute vor der Zwingertür. Anke ließ die Hündin durch das Gitter an ihrer linken Hand schnuppern.

„Heute nicht, meine Beste. Wir gehen später!“, begrüßte sie ihre Hündin, bevor sie in den jagdgrünen SUV stieg, der ihr als Dienstwagen, von einem namhaften Autohersteller aus Niedersachsen gesponsert, zur Verfügung gestellt worden war.

Der Hof von Hemmling war etwa 15 Kilometer entfernt, Zeit genug für ein paar Minuten ihrer Lieblingsmusik, die sie über ihr Smartphone und Bluetoothfunktion auf die Audioanlage ihres VW Touareg übertrug. Ihr war nach Mark Knopfler und seinem Album „Screenplaying“, Filmmusik, dessen Musikstücke ein großer Automobilclub vor Jahren als die ideale Begleitmusik beim Autofahren empfohlen hatte. Sie verbrachte als Wolfsbeauftragte viele Stunden im Auto, brauchte man sie doch nach jeder neuen Spur eines Wolfes oder einer Wolfsichtung als wichtigste Person vor Ort. Bei Fahrleistungen von über 40.000 Kilometern pro Jahr genoss sie den Komfort, vor allem die erhöhte, aufrechte Sitzposition, die ihr ein vorausschauendes, sicheres Fahren ohne Rückenschmerzen ermöglichte, und natürlich die Audioanlage. Was für ein Luxus im Vergleich zu ihrem ersten Auto, das sie während ihrer lehrreichen und gleichzeitig aufregenden Studienzeit in Göttingen fuhr.

Sie hatte schnell Karriere gemacht. Ihre von der internationalen Fachwelt anerkannte praktische Feldforschung und Tätigkeit zu ihrem Dissertationsthema aus dem Bereich des Wildtiermanagements, die entbehrungsreichen, aber von Erfolg beschiedenen Jahre der Forschung im Institut für Wildtierforschung an der Tierärztlichen Fakultät in Hannover, die sie über Monate ins Feld zu den Wölfen Sasketchewans und noch weiter in den Norden Kanadas zu den großen Polarwölfen gebracht hatte, hatten ihre Berufung zur ersten Wolfsbeauftragten des Landes möglich gemacht. Aber auch die Tatsache, selbst seit Jahren Jägerin zu sein, und zu guter Letzt die Nähe ihres Vaters zu vertrauten Jagdfreunden in der Landesjägerschaft und der Politik waren dabei hilfreich. Nach den Feierlichkeiten zur Ernennung hatte Gero von Bargen sie zu sich in die alte Försterei eingeladen. An dem Abend verwöhnte und umgarnte er Anke, wie er es nie zuvor bei einer Frau getan hatte. Während der langen Autofahrten dachte sie häufig an ihn, an seine raue und zugleich zärtliche Stimme, seinen feinfühligen Humor, der auch sehr britisch sein konnte, sein Geschick in der Küche, seine Tierliebe, seine Jagdfertigkeiten. Sie dachte an all das, was sie so sehr an ihm schätzte, an seine zarten Hände, wie sie liebevoll ihr Gesicht streichelten oder zu einem späteren Zeitpunkt kräftig und wild ihre Handgelenke oder ihren Po umfassten, wenn sie sich hemmungslos liebten.

Dr. Hanno von Wabern war schon vor Ort. Als Anke Heubach den Wagen anhielt, sah sie ihn vor dem Anwesen Hemmlings auf den ersten Blick. Nicht nur seine körperliche Größe überragte die Anwesenden, sondern auch sein lautes, wichtiges Wort, das Anke noch im geschlossenen Wagen deutlich vernehmen konnte. Sie stieg betont gelassen aus, ging erhobenen Hauptes mit sicherem, zielstrebigem Schritt und einem Lächeln im Gesicht auf die Gruppe zu.

„Guten Morgen zu früher Stunde, na Hanno, hast du mal wieder Bereitschaftsdienst? Dann lasst uns anfangen, bevor die Vertreter der Medien und andere Schaulustige hier eintreffen.“

Kapitel 5

Als Veterinäramtsleiter hatte von Wabern zwar viel Schreibtischarbeit zu erledigen, doch, das musste man ihm lassen, er kannte seinen Landkreis. Während andere vielleicht noch damit beschäftigt waren, die Adresse ins Navigationsgerät einzugeben, hatte er schon die halbe Strecke zu Hemmlings Hof zurückgelegt, wohl wissend, dass die Polizei dort auf ihn wartete und ihm folglich nicht mit einem Radargerät am Straßenrand auflauerte. So brauchte er kaum eine halbe Stunde und war noch vor Anke Heubach, die er vom Autotelefon angerufen hatte, am Ort des Geschehens eingetroffen, obwohl jene den kürzeren Weg hatte.

„Nun halt dich mal schön zurück, Anke, das dürfte wohl zuerst mein Fall sein“, entgegnete von Wabern der Landeswolfsbeauftragten bei deren Eintreffen, obwohl ihm bewusst war, dass seine eigene Funktion als Wolfsberater auf die Landkreise Celle, Uelzen und Gifhorn begrenzt war und Anke Heubach die übergeordnete Person war. „Sei froh, dass ich dich gleich informiert habe.“

Sie gerieten fast jedes Mal aneinander, wenn sie sich trafen, und es lohnte sich nicht, sich wieder mit von Wabern anzulegen. Dazu war der Samstagabend zu schön gewesen, an den sie gerade dachte, als sie dem Tierarzt nur mit einem Lächeln antwortete.

„Ich bin nicht nur sachkundig, was Wölfe anbelangt, ich bin auch Jäger und Amtstierarzt, und was hier erforderlich ist, ist eine sachgerechte Sektion der toten Tiere, um Hinweise auf die Todesursache zu sichern, und das kann wohl außer mir hier keiner“, setzte von Wabern seine Argumentation fort, vor allem den zu erwartenden Besuch der Presse vor Augen. Je nachdem, wann Presse und Fernsehen auftauchen würden, würde man ihn entweder mit einem großen Messer in der Hand zwischen den blutigen toten Tieren fotografieren, oder aber er hätte bei der Sektion die notwendigen Erkenntnisse gesammelt, um im Interview die Fragen richtig beantworten zu können. Er hatte vor allem Respekt vor dem Chefredakteur der Celler Nachrichten, dem nachgesagt wurde, dass er gern Schlechtes über die Menschen schrieb, mit denen er zu tun hatte.

Hermann Hemmling hatte indes das Gefühl, dass sich um ihn keiner kümmern wollte. Holzmüller hatte gerade so viel Taktgefühl, dass er die Frage nach der Herkunft der Absperrgitter in dieser Situation nicht stellte, obwohl er es gern getan hätte. Heubach und von Wabern waren noch mit sich beschäftigt, Hemmlings Mutter war, wie er annahm, noch gar nicht wach, und Hemmling hatte gerade keine Lust, sich jetzt auch noch um sie zu kümmern. Er hatte aber das Verlangen nach etwas Beistand und rief trotz der frühen Zeit seinen Freund Kurt Hagen an, der schon seit vielen Jahren das Bürgermeisteramt in Gravenstedt bekleidete. Auch er war am Samstagabend im Gasthof „Krone“ gewesen und hatte nicht nur ins leere Glas geschaut, doch seine dritte Wiederwahl verdankte er auch der Tatsache, dass er stets Herr seiner selbst war und man ihn nie volltrunken gesehen hatte.

„Kurt, es ist etwas Furchtbares passiert auf meinem Hof und ich brauche jetzt einen Freund an meiner Seite“, sprach Hemmling fast weinerlich ins Telefon, „der Wolf war da!“

„Oh Gott!“, war Hagens Antwort, „ich mache mich gleich auf den Weg zu dir.“ Kurt Hagen war kein Freund der Wölfe. Er war als Bürgermeister gewohnt, Stellung zu beziehen, was ihm als Konservativer in einem Dorf mit fast ausnahmslos konservativen Bewohnern leichtfiel und sein Ansehen mehrte. Er würde nicht nur Informationen aus erster Hand benötigen, sondern selbstverständlich auch den Celler Nachrichten als Interview-Partner zur Verfügung stehen. Und außerdem empfand er wirklich so etwas wie Freundschaft gegenüber Hermann Hemmling.

Derweil hatte Dr. von Wabern den Kofferraum seines G-Modells geöffnet. Bei dem heutigen schönen Wetter störte es ihn nicht, dass das sonst so perfekte Fahrzeug eine Hecktür statt einer Heckklappe hatte, die bei Regen doch einen gewissen Schutz geboten hätte. Er nahm einen grünen Baumwoll-Overall aus einer Kiste und ein paar grüne Gummistiefel, zog Overall und Stiefel über, nicht ohne vorher seinen Pullover ausgezogen und über die Kopfstütze des Beifahrersitzes gelegt zu haben. Aus einem umfunktionierten Werkzeugkoffer entnahm er zwei Messer, die er regelmäßig schärfen ließ, wenn er auf dem Schlachthof zu tun hatte. Das Tragen eines Stechschutzhandschuhs mit langen Stulpen hatte er sich angewöhnt, nachdem er sich beim Aufbrechen eines Stücks Wild einmal eine tiefe Schnittwunde in der linken Hand beigebracht hatte. Wie durch ein Wunder hatte er sich damals keine Sehne durchtrennt, und er wollte sein Glück nicht ein zweites Mal herausfordern. Aber auch dass seine Jagdkollegen sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen konnten, als er selbstsicher und angeberisch den angebotenen Stechhandschuh abgelehnt und sich dann diese Wunde zugezogen hatte, hatte er nicht vergessen, es sollte ihm nicht noch einmal passieren.

Gern hätte er jetzt noch jemanden aus seinem Amt dabeigehabt, um das Protokoll schreiben zu lassen. Sein Ruf hatte sich jedoch herumgesprochen und es hatte sich schon seit längerer Zeit keine Veterinärreferendarin mehr in seinem Amt beworben, die er sonst mit dem Anfertigen von Protokollen beauftragt hätte, um das Ergebnis anschließend gnadenlos zu verreißen. Nun würde er am Nachmittag oder am Montag wohl selbst das Protokoll machen müssen.

Von Wabern öffnete das Absperrgitter und trat in den Unterstand. Zunächst ging es darum, Bilanz zu ziehen. Er zog die acht toten Sauglämmer aus dem Stroh und legte sie wie bei einer Jagdstrecke nebeneinander vor dem Unterstand ins Gras. Hemmling schnürte es die Kehle zu, als er dieses Bild des Grauens sah. Und auch Anke Heubach ergriff den Kragen ihrer Jacke und verschloss ihn am Hals. Sie hatte ein ähnliches Bild schon gesehen, und sie wusste, welcher Diskussion sie in den nächsten Tagen und Wochen würde standhalten müssen.

Niemand in Niedersachsen wusste so gut wie Dr. Anke Heubach, dass dieses Massaker von einem Wolf angerichtet worden war. Aber auch niemand wusste so gut wie sie, dass das, was hier zu sehen war, nicht dem normalen Verhalten eines Wolfes entsprach. Die Wissenschaft war sich noch uneins, weshalb ein Wolf gelegentlich in einen Blutrausch fällt, für Anke Heubach war es wahrscheinlich das panische Verhalten der Schafe, die in dem Unterstand an der natürlichen Flucht gehindert wurden, aufgeregt durcheinanderliefen und so das Zubeißen des Wolfs immer wieder auslösten. Hätten die Schafe fliehen können, hätte sich der Wolf ein Lamm gegriffen, seinen Hunger gestillt, und die anderen wären unverletzt geblieben.

Von Wabern hatte inzwischen eine Spritze mit Pentobarbital aufgezogen, dem für das Einschläfern am besten geeigneten Mittel, das er trotz der ungeliebten Dokumentationspflicht verwendete. Es ließ die Tiere friedlich in den Tod hinübergleiten. Als Amtstierarzt hatte er dieses Mittel bei sich, musste er doch manches Mal ein Tier töten, um dessen Leiden bei einer unheilbaren Krankheit zu verkürzen. In solchen Fällen hatte er auch kein schlechtes Gefühl, ging ihm doch dabei durch den Kopf, wie lange sich bei vergleichbaren Krankheiten ein Mensch würde quälen müssen bis zur Erlösung durch den Tod. Seine Jagdleidenschaft war da schon etwas anderes, hier tötete er auch gesunde Tiere, und die Podiumsdiskussion zum Thema „Darf ein Tierarzt jagen?“ auf dem letztjährigen niedersächsischen Tierärztetag verfolgte er mit viel Interesse, ohne dass seine Freude am Jagen darunter gelitten hätte. Das massenhafte Töten von Tieren zur Vermeidung des Ausbreitens einer Tierseuche war wieder eine andere Fragestellung. Er würde sich im Pensionsalter mit den philosophischen Aspekten dieser Fragen befassen.

Dem winselnden Mutterschaf injizierte er eine hohe Überdosis des Schlafmittels mit einer langen Nadel direkt ins Herz, das Tier war tot, bevor von Waberns Spritze leer war. Dann machte er sich an die Untersuchung der übrigen Tiere.

Alle Lämmer waren tot, während der Bock offenkundig äußerlich unverletzt war, das Blut in seiner Wolle stammte nicht aus eigenen Verletzungen. Sechs Mutterschafe hatten Löcher in der Kehle, klaffende Wunden an der Brustwand und den Schenkeln sowie in einem Falle auch am Euter, jedoch waren diese Wunden nicht so schwer, dass die Tiere ebenfalls eingeschläfert werden mussten. Bei den übrigen Schafen konnte von Wabern keine Verletzungen feststellen. Er würde Hemmling drängen, einen praktizierenden Kollegen mit der medizinischen Versorgung der Schafe zu beauftragen. Zwar hätte er aus der Kleintierpraxis seiner Frau ein geeignetes Narkosemittel, das benötigte Nahtmaterial und auch die erforderlichen Antibiotika beschaffen können, als Amtstierarzt konnte er Hemmling solche kurative Tätigkeit jedoch nicht in Rechnung stellen, und auch die Tierärztekammer sah es nicht gern, wenn Amtstierärzte mit ihren sicheren Einkommen den praktizierenden Kollegen die Arbeit wegnahmen.

Als eine Autotür zuschlug, blickte von Wabern hoch und erkannte Florian Thiesler, den Chefredakteur der Celler Nachrichten, der mit seinem weißen Sport-Cabriolet fast lautlos angekommen war und sich nun mit der Kamera im Anschlag dem grausigen Schauplatz näherte. Ein kurzer Blick in die Runde genügte ihm zunächst, um dann erst zu seinem Auto zurückzukehren und zu telefonieren. Der Diensthabende in der Redaktion musste ihm genügend Platz auf der Titelseite der Montagsausgabe lassen, und er musste Henrike Schnabels informieren. Breit grinsend ging er dann auf den Unterstand zu.

Kapitel 6

Mit erhobenem Kopf und leicht angehobenem Schwanz streifte der junge Wolf seit Tagen durch die lichten Kiefernwälder und die weiten, offenen Heideflächen, die hier und da von Wacholder und vereinzelten Birken unterbrochen wurden. Er nutzte stets die einsetzende Dämmerung und die Stunden der Nacht für seine weiten Wanderungen. Sechzig Kilometer in einer Nacht konnte er zurücklegen, wenn auch leicht humpelnd, seit er mit seinem linken Vorderlauf in ein Fangeisen geraten war, das Menschen, die den Wolf in ihrer Umgebung als Jagdkonkurrenten betrachteten, in einem einsamen Waldstück bei Gartow gelegt hatten.

So manches Tier verendete langsam und qualvoll in solchen Fallen. Der junge Wolf hatte jedoch großes Glück, war doch nach dem letzten Sturm ein starker Ast einer Eiche abgebrochen und so in die Falle gerollt, dass diese nicht mehr mit voller Kraft und nicht vollständig schließen konnte. Die stählernen Zähne des Fangeisens hielten den jungen Wolf nicht fest, der Schlag verursachte eine bis auf den Knochen reichende Fleischwunde, doch der Knochen selbst war nicht gebrochen.

Das Unglück passierte ihm im Frühjahr, es wäre im Herbst oder Winter sein sicherer Tod gewesen. So konnte er sich einige Wochen mit dem Verzehr von Insekten und ein paar Mäusen vor dem Verhungern retten, bis die Wunde so weit verheilt war, dass er den Fuß wieder schmerzfrei belasten konnte. Und nach anfänglicher Schonhaltung fiel er bald wieder in seinen typischen schnürenden, ausdauernden und Energie sparenden Trab.

Die Verletzung trennte den jungen Wolf im frühen Alter von einem Jahr von seinem Rudel, er konnte das Tempo mit Eltern und Geschwistern nicht mithalten und war auch bei der gemeinsamen Jagd keine Unterstützung. So wurde er zum Einzelgänger, war aber noch zu jung, ein eigenes Rudel zu gründen, und auch wegen seiner Verletzung dazu nicht in der Lage. Die bis dahin spielerisch erlernten und von den Eltern weitergegebenen Erfahrungen in der Jagd waren noch lange nicht perfekt und ließen ihn so manche Woche hungern. Es gab jedoch genügend Wälder, in denen er Hasen und Kaninchen fangen konnte oder auch mal ein Rehkitz, und mit zunehmender Geschicklichkeit wurde er auch häufiger satt. Und dann waren da noch die großen Getreidefelder, in denen sich die Fasanen versteckten. Mit seiner feinen Nase spürte er sie überall auf, ob sie gackernd davonflogen oder sich still duckten. Nur die Flucht auf die Bäume hätte sie vor dem Wolf retten können, da wären sie sicher gewesen, doch Feldraine mit Hecken und Bäumen gab es in dieser Gegend nur noch einige in den Naturschutzgebieten, außerhalb derer wurde auch der letzte Meter am Feldrain gepflügt und zur Ertragssteigerung verwendet.

Vor vier Tagen hatte er seinen letzten Riss. Ein Stück Rehwild, einjährig und unerfahren, konnte er nach kurzer Hatz mit einem gezielten tödlichen Biss in die Kehle erjagen. Es war ein kurzer und aussichtsloser Kampf für den jungen Rehbock, der innerhalb weniger Minuten sein Leben ausgehaucht hatte. Der Wolf blieb einen Tag und eine Nacht in der Nähe des Kadavers, bis von diesem nur noch die Knochen übrig waren. Dann setzte er seinen Streifzug fort.

Kapitel 7

Sie beendete das Telefonat und sah aus ihrem Küchenfenster. Der Blick durch den Garten ihrer kleinen Kate etwas außerhalb des Ortes zeigte ein friedliches Bild. Die Birken, die den Garten von den Sandflächen der nahen Heide abgrenzten, ließen einen ersten Hauch von Grün erkennen, und die frühen Bienen summten im Sonnenlicht um die voll erblühte Pracht des kleinen Apfelbaums, den sie erst letztes Jahr in die Nähe der Terrasse gepflanzt hatte.

Diese Idylle stand im krassen Gegensatz zu Henrike Schnabels Stimmung, die sich während des Telefongesprächs drastisch verschlechtert hatte. Florian Thiesler, der Chefredakteur der Celler Nachrichten und Henrikes bester Freund aus der längst vergangenen Schulzeit, hatte angerufen und von dem Ereignis auf Hermann Hemmlings Schafweide berichtet.

Henrike fuhr sich mit der Hand durch die wirr in alle Richtungen abstehenden roten Locken. Längst hatte sie den Kampf gegen die widerspenstige Haarpracht aufgegeben und sich damit abgefunden, dass selbst ihr Friseur nur kurzfristig Ordnung auf ihrem Kopf schaffen konnte. Den Friseurtermin für Dienstagnachmittag würde sie absagen und die Zeit für die jetzt notwendigen Schritte zur Schadensbegrenzung nutzen.

Ihre Kate war zu dieser Jahreszeit, in der es zu warm war, um tagsüber zu heizen, unangenehm fußkalt. So setzte sich die ehrenamtliche Wolfsberaterin des Tierschutzvereins für den Landkreis Celle und glühende Unterstützerin der Wiederkehr der Wölfe in die Lüneburger Heide mit einer Tasse dampfenden Ingwertees und dicken grauen Schafwollsocken an den Füßen an den Küchentisch und dachte nach.

Erst gestern Abend im Gasthof „Krone“ hatte es wieder lange Diskussionen über die Daseinsberechtigung der Wölfe hier in der Umgebung gegeben. Die Mehrheit der Dorfbevölkerung vertrat die Meinung, dass Mensch und Wolf nicht friedlich nebeneinander leben können, und sie kämpfte wie immer allein gegen die Jäger und Bauern, denen sie niedere Motive unterstellte, die Lust am Töten und die Konkurrenz um die Beute. Und das, obwohl bisher noch niemand einen Wolf von Angesicht zu Angesicht hier in der Heide gesehen hatte.

Nach dem Vorfall in der letzten Nacht würde sich die Stimmung noch weiter aufheizen. Thiesler hatte ihr berichtet, wie sich von Wabern am Schauplatz des Geschehens produziert hatte. Es hätte dieser Schilderung gar nicht bedurft, Henrike konnte sich den Amtstierarzt mit dem großen Geltungsbedürfnis und dem Hang zu martialischem Auftreten sehr gut bildlich vorstellen, auch ohne Florians Bericht. Neben von Wabern war auch noch Dr. Anke Heubach, die Niedersächsische Landeswolfsbeauftragte, vor Ort gewesen. Beide waren Jäger und erzkonservativ und sich im Grunde darin einig, dass für Wölfe in den meisten Teilen Niedersachsens kein Platz war. Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen.

Henrike kannte Anke Heubach noch aus ihrer Studentenzeit in Göttingen. Sie waren etwa gleichaltrig und hatten Biologie studiert. Anke war schon immer zielstrebig, ehrgeizig und gut organisiert gewesen, während Henrike selbst, ein unruhiger Geist, nicht das Durchhaltevermögen besessen hatte, ihr Studium zu Ende zu bringen.

Während des siebten Semesters hatte sie sich Hals über Kopf in einen glutäugigen spanischen Straßenkünstler verliebt, der vor dem Gänselieselbrunnen Pflastermalereien anfertigte, hatte ohne zu zögern das Studium geschmissen und war mit ihm nach Indien auf einen Selbstfindungstrip gegangen. Das Glück hielt kaum zwei Jahre, dann starb Ramons Vater, und Ramon kehrte auf das Weingut der Familie nach Spanien zurück. Obwohl sie versuchte, mit ihm sesshaft zu werden und auf den Weinbergen zu arbeiten, vermisste sie bald die Abwechslung, die lebhaften Diskussionen mit Freunden bis spät in die Nacht und die dazu kreisenden Joints.

Aus Ramon wurde mehr und mehr ein strebsamer, gewinnorientierter Winzer, den sie nicht mehr verstand, und so packte sie eines Tages ihren alten Seesack und kehrte zurück nach Niedersachsen. Vom Studium war ihr eine starke emotionale Verbundenheit zu wilden Tieren geblieben, und in Hannover angekommen hatte sie das Glück, einen Job als Aushilfstierpflegerin im Zoo zu bekommen. Von dem bescheidenen Lohn konnte sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne bei ihrer Familie um Almosen betteln zu müssen. Henrikes Familie war wohlhabend. Vater und Onkel betrieben die anerkannte Buchhandlung „Schnabels und Möhring“ in der Innenstadt von Hannover und nannten noch fünf Filialen in den Städten der Umgebung ihr Eigen.