UNTAUGLICH - Jutta Gerecke - E-Book

UNTAUGLICH E-Book

Jutta Gerecke

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

ENTSETZT – BEDROHT – MUNDTOT GEMACHT Sein Messer war immer gut geschärft, und er spürte, wie es leicht und geräuschlos in den Sterbenden am Boden eindrang. Mehrmals stach er zu. Dann zog er den wehrlosen Körper in die Bucht mit den Schweinen. Wieder und wieder rammte er die Spitze in den Rücken. Nur einmal spürte er leichten Widerstand. Wirbel waren hart. Er würde das Messer nachschärfen müssen. Untaugliches Fleisch – untaugliche Menschen … Wehe dem, der in der Fleischindustrie die Gewinnmaximierung auf Kosten der Tiere aufdecken oder anklagen will. Er riskiert seine Gesundheit, wenn nicht gar sein Leben. Kriminalrätin Sabine Lüschen ermittelt auf eigene Gefahr und gerät in den Strudel rücksichtsloser Machenschaften.

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEpub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8445-0

Jutta GereckeUwe JarkWerner KunstUntauglich

Grausamkeiten gegen die Tiere kann weder bei wahrer Bildung noch wahrer Gelehrsamkeit bestehen. Sie ist eines der kennzeichnendsten Laster eines niederen und unedlen Volkes.Alexander von Humboldt (1769 –1859)

Prolog

Jens Langner stand verdeckt hinter einem Pfeiler und filmte mit seinem Handy die Anlieferung einiger Schweine. Er hatte heute keinen Frühdienst, aber die Sache ließ ihm keine Ruhe. Besonders jetzt, da der Tierarzt seine neue Praktikantin mit in den Schlachthof brachte, hoffte er, etwas erreichen zu können. Sie machte einen engagierten Eindruck, und er hatte schon gehört, wie sie ihrem Lehrtierarzt ein paar kritische Fragen gestellt hatte.

Immer wieder wurden Tiere angeliefert, die nicht zum Schlachten taugten, weil sie krank und abgemagert waren oder dicke Gelenke und Eiterbeulen aufwiesen. Trotzdem wurden sie geschlachtet, und niemand sagte etwas dagegen.

Gerade jetzt trieb wieder jemand solche Schweine in den Wartestall des Schlachthofs. Sie konnten kaum laufen, und der Mann, der sie brachte, drosch unbarmherzig auf die Tiere ein, damit sie sich doch noch vorwärtsbewegten. Die Schweine kamen nur langsam und widerwillig voran. Man sah ihnen an, dass sie Schmerzen beim Laufen hatten. Jens filmte die Szene und musste einen Schritt vortreten, um alles gut dokumentieren zu können. Da sah ihn der andere.

„Ey du, pack lieber mal mit an, die wollen alleine nicht so schnell laufen. Das sind beste Spanferkel.“

„Das sind keine Spanferkel. Die Schweine sind dünn, haben dicke Gelenke, angebissene Schwänze und Eiterbeulen. Die taugen nicht zum Schlachten.“ Jens Langner hatte Schlachter gelernt, er kannte sich aus und konnte erkennen, ob ein Schwein einen gesunden Eindruck machte oder nicht. Er steckte das Handy in die Innentasche seines Overalls, ohne es auszuschalten. Er hatte erst mal genug gesehen.

„Nimm die Schweine wieder mit und lass sie vom Tierarzt einschläfern, hier haben die nichts zu suchen.“

„Den Teufel werd’ ich tun. Dein Boss nimmt sie mir ab und macht noch gutes Geld damit.“ Der andere wurde langsam ungeduldig und kam mit vier schnellen Schritten auf Langner zu, der größer war als sein eher bulliges Gegenüber. Aber der griff an und rammte Jens die Faust in den Magen. Der Attackierte krümmte sich zusammen, ging aber nicht zu Boden, sondern machte sich für seine Verteidigung bereit. Jens Langner war zwar sportlich und stark, aber körperliche Gewalt war ihm ein Gräuel, und von Schlägereien in Kneipen und auf Volksfesten hielt er sich stets fern. Als sein Angreifer erneut auf ihn losging, verlegte er sich darauf, seinen Kopf und Oberkörper so gut wie möglich zu schützen, und war nicht darauf gefasst, dass der andere ihm so heftig gegen die Knie treten würde, dass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Wie ein gefällter Baum ging der lange Schlachthofmitarbeiter zu Boden. Sein Kopf schlug mit einem dumpfen Knall auf. Sein Gegner stand unschlüssig über ihm und starrte ihn an. Dann schaute er sich rasch um und verließ schnellen Schrittes den Wartestall.

Die Prügelei war nicht unbemerkt geblieben. Da war noch einer in der Nähe, der die Szene beobachtet hatte. Dass der Jens auf dem Schlachthof filmte, wunderte ihn nicht. Der Langner war ihm schon seit Wochen ein Dorn im Auge.

Während die beiden Männer gestritten hatten, hatte er sich schnell hinter einem Mauervorsprung versteckt und wartete still ab. Er beobachtete genau, was geschah. Als der Schlachthofmitarbeiter zu Boden ging und der andere von Panik ergriffen den Schauplatz verließ, handelte er rasch und entschlossen. Sein Messer war immer gut geschärft, und er spürte, wie es dem vor ihm Liegenden leicht und geräuschlos in den Körper eindrang. Mehrmals stach er zu. Dann zog er den wehrlosen Körper in die Bucht mit den Schweinen. Der Erstochene landete auf dem Bauch, und sein Mörder stieß ihm das Messer noch ein paarmal in den Rücken. Doppelt hielt bekanntlich besser. Nur einmal spürte er einen leichten Widerstand, als sein Messer an einem Wirbel seines Opfers entlangkratzte. Er würde das Messer nachschärfen müssen.

Zum Abschluss ritzte er ein kleines Dreieck in die Haut hinter Jens Langners Ohr. Dann überließ er ihn den eben angelieferten Schweinen. Er war zufrieden.

Schnell griff er noch in die Innentasche des Overalls seines Opfers und holte das Handy hervor. Auf der Schutzhülle war das Bild einer Orchideenblüte zu sehen. Das Handy lief noch. Er schaltete es aus und grinste triumphierend. Von ihm war auf dem Video nichts zu sehen und nichts zu hören. Er nahm das Gerät an sich. „Wer weiß, wozu es mal gut ist“, dachte er. Als er hörte, dass sich jemand näherte, verschwand er.

Kapitel 1

Es dämmerte erst, und das Blaulicht war schon von Weitem sichtbar, als sich Silke Jungclaus zusammen mit ihrem Lehrtierarzt Doktor Reiner Winkler dem Schlachtbetrieb näherte. Wie immer, wenn sie zusammen unterwegs waren, fuhr Silke den Wagen, und ihr Chef döste noch ein wenig vor sich hin. Das kannte sie schon. Frühmorgens waren sie zwar selten gemeinsam unterwegs, aber dass der Chef vernehmlich schnarchte, hatte sie bislang noch nicht erlebt. „Wahrscheinlich ist es gestern spät geworden“, dachte sie. Die unruhigen blauen Lichter ließen den Tierarzt aufschrecken, und angespannt schaute er nach vorn.

„Das ist doch bei Schmidtke, was da wohl passiert ist. Womöglich ein Tiertransporter in den Graben gefahren. Die Einfahrt ist aber auch ziemlich eng für die immer größeren Transporter, die hier ankommen“, mutmaßte Winkler. Mittlerweile waren sie an der Einfahrt zur Lebendtierannahme des Schlachtbetriebes Heiko Schmidtke GmbH angekommen, die durch einen quer stehenden Polizeiwagen blockiert war. Weit und breit war kein Unfall zu sehen, dafür hinter dem blockierenden Streifenwagen noch ein weiterer, und direkt vor der Viehannahme stand ein grauer ziviler Kleinbus.

Silke hielt an, und ihr Chef ließ sein Seitenfenster herunter. Ein uniformierter Polizist näherte sich und fragte nach ihrem Anliegen.

„Ich bin hier der zuständige Tierarzt und komme mit meiner Praktikantin zur Fleischbeschau. Lassen Sie uns bitte durch, ohne uns geht der Betrieb hier nicht weiter“, erklärte Reiner Winkler.

„Ah, Sie sind regelmäßig hier?“, stellte der junge Polizist fest. Auf der Uniform war sein Name erkennbar, Sonneborn hieß er. „Hier können Sie nicht durch, die Spurensicherung hat hier noch viel zu tun, und bis dahin ist der ganze Bereich gesperrt. Bitte fahren Sie außen um das Gelände herum und melden sich vorne bei den Kollegen im Büro. Wir müssen Ihre Personalien aufnehmen und Ihnen einige Fragen stellen.“

Silke musste ein ganzes Stück rückwärtsfahren, bevor sie den Wagen wenden konnte, um zum Haupteingang des Betriebes zu gelangen. Sie konnte sehen, wie Uniformierte den Bereich der Viehanlieferung weiträumig mit rot-weißem Flatterband absperrten.

„Was mag da wohl passiert sein?“, fragte sie sich, als ihr Chef auch schon anfing zu spekulieren.

„Das ist was Größeres“, überlegte er. „Spurensicherung, das klingt wie aus dem ‚Tatort‘, aber die Polizisten waren echt, ein Film wird hier nicht gedreht. Ich bin mal gespannt, was vorne im Büro gleich los ist.“

Silke Jungclaus verdrehte innerlich die Augen. Ihr Lehrtierarzt war vom alten Schrot und Korn. Die tägliche Routine hatte ihn abstumpfen lassen, neuen Ideen und Erkenntnissen stand er skeptisch gegenüber, und seit seinem Studienabschluss vor mehr als fünfundzwanzig Jahren hatte sich seine Welt nicht verändert. Einzig ein Kriminalfall schien ihn aus seiner Lethargie aufrütteln zu können. Silke haderte manchmal mit sich, warum sie sich so schnell für die Praxis von Reiner Winkler für ihr letztes Praktikum entschieden hatte. Sie befürchtete, keinen Praktikumsplatz zu finden, und hatte sich eingeredet, bei einer alteingesessenen Praxis würde sie eine Menge lernen können. Blutabnahme bei Rind und Schwein beherrschte sie mittlerweile im Schlaf, und auf dem Schlachthof musste sie die Fleischuntersuchung machen, während ihr Chef die Untersuchung bei den lebenden Tieren übernahm. Die Arbeit schulte ihren Blick für pathologische Abweichungen an den Organen und am Schlachttierkörper. Manche Veränderungen hatte sie selbst im Studium nicht in dieser Ausprägung gesehen, und sie wunderte sich dann über die Widerstandsfähigkeit der Tiere.

Vor dem Hauptgebäude des Schlachthofes angekommen, bot sich ihnen auch hier ein für die frühe Morgenstunde ungewohntes Bild. Während normalerweise das Büro um diese Uhrzeit noch nicht besetzt war, weil die Abfertigung der Tiertransporter an der Lebendviehannahme erfolgte und der Versand der Schlachttierkörper und des zerlegten Fleisches erst später begann, brannte jetzt in allen Räumen Licht, und neben Heiko Schmidtke konnte man durch die Fenster noch zwei Männer erkennen, die sich konzentriert mit dem alten Schmidtke unterhielten. Vor dem Büro parkte ein weiterer Streifenwagen, und das eingeschaltete Blaulicht verbreitete eine unwirkliche Atmosphäre. Eine junge Beamtin stieg aus und kam auf sie zu, als der Praxiswagen von Winkler vor dem Bürogebäude hielt.

„Sind Sie die Tierärzte? Sie wurden von meinem Kollegen schon angekündigt. Ich bin Kriminalhauptmeisterin Müller. Bitte kommen Sie mit herein. Ich werde Ihre Personalien aufnehmen, und dann werden sich meine Kollegen sicher mit Ihnen unterhalten wollen. Alles kann wichtig sein.“

„Was ist denn nun eigentlich passiert?“, fragte Winkler, doch er erhielt keine Antwort. Die Polizistin hatte sich bereits umgedreht und war ihnen voraus zur Tür gegangen.

Drinnen führte die Beamtin sie in das Gemeinschaftsbüro, das sich die vier Büroangestellten teilten. Buchhaltung, Einkauf, Verkauf und Disposition saßen hier in einem Raum, und es war tagsüber immer hektisch und laut. In diesem Betrieb hatten nur die beiden Chefs, Vater Heiko Schmidtke und Sohn Manfred, ein eigenes Reich.

Um diese frühe Stunde hatten sie den großen Raum für sich allein, und Frau Müller fragte ruhig und präzise sowohl Silkes als auch Reiner Winklers Personalien ab. Name, Geburtsdatum und -ort, aktuelle Adresse und eine Telefonnummer wurden notiert und anhand der Personalausweise überprüft. Silke war erstaunt, als sie nachrechnete und feststellte, dass ihr Lehrtierarzt erst vierundfünfzig Jahre alt war. Nach seinem Auftreten und Erscheinungsbild hätte sie ihn auf über sechzig geschätzt. Reiner Winkler versuchte zwischendurch beharrlich herauszufinden, was wohl passiert war, aber irgendwie schaffte es Frau Müller immer wieder elegant, ihn zu ignorieren, zu überhören oder auszuweichen. Irgendwann gab er auf, und Silke nahm sich im Stillen vor, diese Taktik bei Gelegenheit auch einmal auszuprobieren, denn manchmal konnte er wirklich penetrant sein, besonders wenn sie ein freies Wochenende gehabt hatte und er Einzelheiten aus ihrem Privatleben in Erfahrung bringen wollte.

Als die Routine beendet war, stand Kriminalhauptmeisterin Müller auf, klopfte an die Tür des Chefbüros, in dem ihre beiden Kollegen mit dem alten Schmidtke beschäftigt waren, und berichtete, dass die Tierärzte für ein Gespräch bereit seien. Die Antwort war nicht zu verstehen. Frau Müller kam zurück in den Raum, setzte sich zu ihnen und erklärte, dass es nicht lange dauern würde, und die Herren Hartmann und Tölke hätten Zeit für sie.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Silkes Lehrtierarzt immer wieder auf die Uhr schaute, sein Smartphone zückte und unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, öffnete sich die Tür des Chefbüros, und Heiko Schmidtke trat heraus.

Er war ein stämmiger, eher kleiner Mann, dem man ansah, dass er den Tafelfreuden gerne zusprach und auch einem Bier und Korn nicht abgeneigt war. Seine kleinen, tief in seinem rötlichen Gesicht verschwindenden, hell­blauen Augen hatten einen harten Glanz, und sie vermittelten den Eindruck, dass der alte Schmidtke nicht nur der freundliche Trinkkumpel vom Schützenfest war. Jetzt huschten diese Augen nervös hin und her. Schmidtkes Gesicht war noch eine Spur roter als sonst, er wischte sich mit einem blau karierten Stofftaschentuch über die Stirn und schnaufte vernehmlich.

„Heiko, was ist passiert?“, fragte Winkler sofort, als er den alten Schlachthofbesitzer sah, aber Schmidtke wurde gleich von der Kriminalhauptmeisterin in Empfang genommen und aus dem Raum komplimentiert.

„So, kommen Sie bitte herein, Herr Doktor Winkler, Frau Doktor Jungclaus.“ Ein drahtiger Mann undefinierbaren Alters schaute aus der Tür und wies ihnen die Besucherplätze vor Schmidtkes Schreibtisch zu. Sein Kollege, ein etwas behäbig wirkender Endvierziger, der seine beginnende Glatze durch einen modischen Haarschnitt nur unzureichend verbergen konnte, saß hinter Schmidtkes Schreibtisch und stellte sich mit Hauptkommissar Hartmann vor.

„Nur Jungclaus bitte, ohne Doktortitel“, erklärte Silke „so weit bin ich noch nicht, ich muss erst noch den letzten Teil meines Staatsexamens ablegen, dann kann ich an die Beendigung der Doktorarbeit denken.“

Bevor Reiner Winkler wieder fragen konnte, was denn nun vorgefallen sei, wurde Silke von dem anderen Beamten, der folglich Herr Tölke sein musste, gefragt, wie lange ihr Praktikum schon dauere und wie gut sie die Abläufe hier im Schlachtbetrieb bereits kenne. Als er erfuhr, dass sie seit etwas mehr als einem Monat im Praktikum sei und seither mehrmals in der Woche, zum Teil auch allein, in diesen Betrieb fuhr, um die Fleischuntersuchung durchzuführen, während der Chef die Lebenduntersuchung vornahm oder bereits anderweitig auf Praxis fuhr, bat Tölke sie in das andere Einzelbüro und schloss die Tür hinter sich.

„Frau Jungclaus, bitte berichten Sie mir ganz genau, wie Ihre Arbeit hier in diesem Betrieb aussieht und was drum herum passiert. Ich bin mit den Abläufen auf einem Schlachthof nicht vertraut, und Sie können mir sicher eine Menge erklären.“

Silke erläuterte dem Beamten die Abläufe des Schlachtbetriebes. „Zunächst untersucht der Tierarzt die lebenden Tiere“, begann sie. Danach, so Silke, werde die Schlacht­erlaubnis erteilt, oder eben nicht. Wenn Tiere Anzeichen einer Krankheit zeigten, müsse die Schlachtung untersagt werden. Kranke Tiere seien zu töten und über die Abdeckerei zu entsorgen. Außerdem müsse geprüft werden, ob die Tiere transportfähig gewesen waren. Es könnte ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz vorliegen. „Das muss abgeklärt werden“, erklärte Silke.

„Eine Ausnahme ist ein Tier, das auf dem Transport einen Unfall erlitten hat, einen Beinbruch zum Beispiel. Auch Schweine, die mit Kreislaufschwäche auf dem Lkw liegen“, fügte sie noch hinzu. „So ein Tier muss dann direkt auf dem Viehtransporter mit dem Bolzenschussgerät betäubt und vor Ort sofort geschlachtet werden, um weiteres unnötiges Leiden zu vermeiden.“

„Kommt das häufig vor?“, fragte Tölke.

„Im Studium habe ich gelernt, dass das besonders im Sommer oft vorkommt, aber solange ich hier im Betrieb bin, habe ich das noch nicht erlebt“, antwortete Silke. „Allerdings bin ich meistens nur auf der sogenannten reinen Seite der Schlachtung tätig. Das ist dort, wo die Tiere bereits geschlachtet und ausgeblutet sind, bei den Rindern ist das verschmutzte Fell abgezogen, und die Schweine waren im Brühkessel und sind in der Kratzmaschine entborstet worden. Die Tierkörper sind jetzt ausgenommen und sauber, und es fehlt nur noch die Fleischuntersuchung, um sie zum Lebensmittel zu erklären. Das ist dann meine Aufgabe. Eigentlich darf ich das noch nicht selbstständig, aber ich habe bereits ein Praktikum im Schlachthof absolviert, und Herr Doktor Winkler hat mir die ersten Male über die Schulter geschaut. Als er gesehen hat, dass ich weiß, wie es geht und worauf ich zu achten habe, hat er mir die Beurteilung überlassen. Die Kennzeichnung der Tiere mit einem Stempel mache ich dann auch. Die Lebenduntersuchung macht mein Chef meistens selbst, oft schon in aller Herrgottsfrühe. Ich komme normalerweise erst, wenn die ersten Tiere geschlachtet sind und ich mit der Fleischuntersuchung beginnen kann. An manchen Tagen komme ich aber auch noch später, weil ich für die Praxis erst noch andere Arbeiten zu erledigen habe. Ferkel impfen und andere Routinetätigkeiten. Dann macht Doktor Winkler so lange auch die Fleischunteruntersuchung.“

„Aber heute sind Sie schon früh mit Ihrem Chef zusammen gekommen“, stellte Tölke fest.

„Ja, für heute standen keine Routineaufgaben auf dem Plan, und da ich während des Praktikums bei den Winklers wohne, habe ich Doktor Winkler gebeten, mich mitzunehmen. Ich möchte mehr Erfahrung bei der Lebenduntersuchung und dem ganzen Papierkram bekommen. Erst war es ihm nicht recht, aber ich habe nicht lockergelassen. Dann fand er es doch ganz gut, weil er sich chauffieren lassen konnte.“

„Danke für Ihre Ausführungen“, sagte Tölke. „Sie haben mir sehr geholfen. Ich kann mir die Arbeitsabläufe hier jetzt besser vorstellen. Wir sind fast am Ende. Eins möchte ich Sie aber noch fragen: Wie ist das Miteinander hier auf der Arbeit? Ich stelle mir vor, es herrscht ein rauer Ton. Wie kommen Sie mit den Arbeitern und den Schmidtkes zurecht? Haben Sie Kontakt zu einzelnen Mitarbeitern hier?“

Silke überlegte. „Warum fragen Sie? Klar, es ist ein blutiges Handwerk, und manchmal geht es auch laut und wenig feinfühlig zu. Meistens draußen im Stall. Davon bekomme ich bei der Fleischuntersuchung nicht viel mit. Da ist es laut durch die eingesetzten Maschinen, die Säge macht Krach, und die Haken klirren auf der Rohrbahn, an der die Tiere hängen und transportiert werden. Manchmal kriege ich auch blöde Sprüche zu hören, hier arbeiten eben nur Männer. Aber ich habe mir ein ziemlich dickes Fell zugelegt und lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Außerdem sind nicht alle so. Ich habe mich mal mit einem der Arbeiter unterhalten, als eine Pause in der Schlachtung war. Er hat mir erzählt, dass er Orchideen züchtet.“

„Wie heißt der Mann?“

„Jens, den Nachnamen kenne ich nicht. Ich weiß von den meisten, wenn überhaupt, nur den Vornamen“, antwortete Silke.

Kommissar Tölke kramte ein Foto, das er von der Pinnwand im Aufenthaltsraum abgenommen hatte, unter seinen Papieren hervor und zeigte es ihr. Das Bild war bei einem Grillfest der Schlachthofbelegschaft entstanden, und der Kommissar deutete auf einen jungen Mann, der etwas abseits des Grills stand und eine Bierflasche in der Hand hielt.

„Das ist der Jens“, sagte Silke.

„Er wurde heute früh hier im Schlachthof tot aufgefunden.“

Silke wurde die Kehle trocken. Tölke verabschiedete sich, übergab ihr seine Karte und bat, ihn anzurufen, falls ihr noch etwas zu Jens Langner, so hieß der Tote, oder seinen Kollegen einfallen sollte. Gleichzeitig sagte er, die Polizei würde sich unter Umständen noch mal bei ihr melden, falls es weitere Fragen geben sollte.

„So so, Jens Langner ist also anders, als man sich einen Schlachter gemeinhin vorstellt“, überlegte Tölke und stellte fest, dass er nicht ohne Vorurteile war. „Könnte darin ein Mordmotiv liegen? Was unterschied Langner noch von den anderen?“

Silke verließ das Bürogebäude und ging zum Auto, um dort auf Winkler zu warten, dessen Befragung noch nicht zu Ende war. Die Nachricht hatte sie erschüttert. „Was mochte mit Jens passiert sein?“, überlegte sie. „Ja, er war anders als seine Kollegen. Er war ruhiger und machte einen überlegteren Eindruck als die anderen. Auch mit den Tieren ging er anders um. Nicht laut, ungeduldig und hektisch wie die meisten, sondern beruhigend. Immer redete er mit tiefer, freundlicher Stimme zu ihnen. Den elektrischen Viehtreiber habe ich ihn nie benutzen sehen. Aber obwohl er sich von seinen Kollegen unterschied, hatte ich den Eindruck, dass diese ihn respektierten. Auch bei der Kolonne der Fleischzerleger aus Rumänien, die von den Schlachtern manchmal herablassend behandelt wurden, schien er gut angesehen zu sein. Warum war dieser Jens jetzt tot?“ Silke war ratlos und verstört und beschloss, nach Feierabend ihre Freundin und Kommilitonin Suse anzurufen. Suse Mahler machte gerade ihr Praktikum im Veterinäramt im Landkreis Diepholz und hatte vielleicht auch schon von den Vorkommnissen hier bei Schmidtke gehört.

Nach zehn Minuten kam auch Doktor Reiner Winkler aus dem Gebäude. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und musterte seine Assistentin.

„Haben sie dir gesagt, was passiert ist? Das ist ja vielleicht was. Ein Mord bei Schmidtke. Den Jens, diesen langen ruhigen Jungen, haben sie abgemurkst in der hintersten dunklen Ecke des Stalls gefunden. Hat noch Glück gehabt, dass sie die ersten Rinder nicht da reingetrieben haben, sonst hätt’s ihn womöglich noch zermatscht. Na ja, er war ja auch immer ein bisschen ein Eigenbrötler, nie so ganz zu durchschauen. Was haben sie dich denn gefragt? Kannst ihnen ja nicht viel sagen, kennst ja alles hier noch nicht so gut. Mich haben sie ganz schön in die Mangel genommen, hat man ja nicht alle Tage, so eine Befragung. Ich musste mich mächtig konzentrieren. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, die wollen einem das Wort im Mund umdrehen. Man will ja auch nichts Falsches sagen und Schmidtke womöglich reinreißen, schließlich sind wir im selben Schützenverein. Heiko sah ja auch ganz geschafft aus, als er vorhin aus seinem Büro kam. Sein Auto steht noch da, man wird ihn wohl nicht nach Hause fahren lassen. Die Schlachtung findet heute auch nicht mehr statt, haben sie mir gesagt. Also lass uns heimfahren und erst mal frühstücken. Dann werde ich den alten Schmidtke anrufen und hören, wie’s weitergeht.“ Silke startete den Wagen und fuhr los. Nach Frühstücken war ihr nicht zumute.

Während Kriminalhauptmeisterin Müller nach und nach die Personalien der Schlachthofmitarbeiter aufnahm, die zur Arbeit erschienen waren, saßen Hartmann und Tölke im Nebenzimmer und resümierten, was sie bisher wussten. Viel war es noch nicht, und ihnen war klar, dass sie Unterstützung anfordern mussten. Mord war in der niedersächsischen Provinz immer auch die Angelegenheit des Landeskriminalamtes in Hannover.

Kapitel 2

Die alte Molkerei lag mitten im Ort Martwohlde. Sie war längst zu klein geworden. Über die Hälfte der niedersächsischen Milchbauern hielt inzwischen mehr als hundert Kühe, manche weit mehr als dreihundert, und die Milch wurde von den Tankwagen direkt zur Nordmilch GmbH in Zeven gebracht, wo sie auch gleich auf Rückstände von Antibiotika und Fremdwasserbeimischungen untersucht werden konnte. Die kleinen Milchviehhalter wurden immer weniger, und es lohnte nicht einmal mehr, die Tanks der alten Molkerei als Milchsammelstelle zu nutzen. So stand das rote Backsteingebäude lange leer und schien dem Verfall preisgegeben.

Die Gemeinde wollte das eigentlich recht hübsche zweigeschossige Gebäude mit dem spitzen Walmdach gern erhalten. Es waren nicht die Kosten für den Kauf, sondern die Renovierungsmaßnahmen überstiegen den finanziellen Rahmen der kleinen Kommune. Man versuchte, bei der Landkreisverwaltung in Diepholz das Haus unter Denkmalschutz stellen zu lassen, um an Zuschüsse für die Instandsetzung zu gelangen, doch dort winkte man ab.

Heiko Schmidtke hatte schließlich das Gebäude für wenig Geld gekauft und dem Bürgermeister zugesichert, es nicht abzureißen. Er ließ das Nötigste tun, um es vor dem weiteren Verfall zu schützen. Das Dach wurde so weit repariert, dass die Tauben darunter keine Zuflucht mehr fanden, die Fenster wurden mit Sperrholzplatten verschlossen, und an den Türen vorn und hinten wurden Riegel montiert und mit kräftigen Bügelschlössern versperrt. So blieb das Gebäude fast zwei Jahre lang der Schandfleck von Martwohlde.

Aber Schmidtke wäre nicht Schmidtke, wenn er nicht einen Plan gehabt hätte. Er erhöhte die Schlachtungen und stieg in die Fleischzerlegung ein. So musste er die geschlachteten Tiere nicht mehr nur als Tierkörperhälften oder -viertel verkaufen. Das brachte zwar einen guten Erlös, doch in der Wertschöpfungskette war die Fleischzerlegung deutlich lukrativer. Der Anbau eines kleinen Zerlegeraums an den Betrieb war innerhalb weniger Wochen getan, und Schmidtke lieferte vom Schwein Schinken, Schnitzel oder Bäuche, vom Rind Steaks, Rouladen oder Beinscheiben und alles, was der Kunde verlangte, in jedem gewünschten Zuschnitt.

Elf zusätzliche Arbeitskräfte waren für die Zerlegung nötig. Es waren Männer aus Rumänien, angestellt bei einem Subunternehmer, der sie dem Betrieb zur Verfügung stellte. Schmidtke ließ die Sperrholzplatten von den Fenstern der alten Molkerei wieder abnehmen und in sechs Räumen, die die Molkerei als Büros und Umkleiden genutzt hatte, die Spinnweben entfernen und Glühlampen in die Fassungen unter der Decke schrauben. Dann ließ er in diesen Räumen Betten aufstellen. Die Sanitäranlagen wurden so weit hergerichtet, dass WC und Dusche funktionierten, das musste reichen.

Arian war einer der rumänischen Männer. Seine kräftige Statur kam ihm bei der Arbeit zugute, die schwarzen Haare bedeckten die Ohren, und aus seinen braunen Augen strahlte Lebensfreude. Den schicken breiten Schnurrbart hatte er abrasiert, beim Arbeiten in der Zerlegung hätte er einen Bartschutz tragen müssen, und das war ihm lästig. Sein Dreitagebart wurde akzeptiert. Da seine Mutter aus Österreich stammte, sprach er gut Deutsch und fungierte als Übersetzer, aber er hatte auch eine Art Vorarbeiterfunktion.

„Kommt doch mal alle auf den Hof“, rief er seinen Kollegen auf Rumänisch zu. Schmidtke hatte die Rumänen an diesem Tag schon gleich wieder nach Hause geschickt, die Polizei hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass der Betrieb vorerst gesperrt bleiben würde. Nun standen sie alle elf im Hof der alten Molkerei. Die Morgenkühle störte sie nicht, sie hatten sich für ihre Arbeit im stets kalten Zerlegeraum ohnehin warm angezogen. Sie warteten gespannt darauf, was Arian ihnen zu sagen hatte.

Der kam ohne Umschweife auf den Punkt. „Jens ist tot. Ihr habt gesehen, dass die Polizei im Schlachthof war. Ich habe sie gerufen, als ich Jens heute Morgen gefunden habe. Er lag in der Bucht ganz hinten im Stall, die Schweine waren auch schon an ihm dran. Und ich glaube nicht, dass er dort einfach nur tot umgefallen ist.“

Die Zerleger senkten schweigend ihre Köpfe. Das Gurren der Tauben in dem großen Walnussbaum über ihnen schien noch lauter zu sein als sonst. Arian wollte fortfahren.

„Ich weine ihm keine Träne nach“, fiel ihm einer ins Wort, der sich Stancu nannte. Er war von kleiner Statur mit breiten Schultern. „Er war viel zu oft hier, hat sich in unsere Angelegenheiten eingemischt.“

„Er ist tot“, entgegnete Arian scharf. „Auch wenn du als Einziger von uns kein orthodoxer Christ bist, solltest du Respekt vor dem Tod haben. Jens war einer, der mit uns gearbeitet hat!“

Stancu konterte. Seine Augen blitzten. „Aber er hat ständig versucht, uns gegen den Schlachthof aufzustacheln, das hat mir nie gepasst. Ich bin ein paar Mal mit ihm aneinandergeraten.“

„Du redest schlecht über einen, der gerade zu Tode gekommen ist. Lass das! Er hat uns nicht aufgestachelt. Er wollte, dass wir uns nicht ausbeuten lassen. Schmidtke verdient sich eine goldene Nase an uns, und wir haben keinerlei Rechte und werden schlecht bezahlt.“

„Ich verdiene 1300 Euro im Monat, in Rumänien bekommt ein guter Metzger gerade einmal 500 Euro. Und dazu müsste ich erst mal einen Job in Rumänien haben. Ich kann jeden Monat Geld nach Hause schicken. Mein Haus in Timişoara ist fast fertig.“

Die anderen Rumänen murmelten zustimmend. Arian hatte viel mit Jens diskutiert und hielt dagegen.

„Wir sind hier nicht in Rumänien, wir sind hier in Deutschland und sind von dem, was hier gilt, meilenweit entfernt. Rechne doch mal deine Stunden zusammen und nimm das, was du verdienst. Das ist unter dem Mindestlohn, der hier Gesetz ist. Und du hast in Rumänien schon bezahlt, damit du überhaupt nach Deutschland zum Arbeiten kommen darfst. Und was zahlst du für dein Bett in der alten Molkerei?“

Stancu wurde ärgerlich. „Das ist nicht die Schuld von Schmidtke. Und Jens wollte, dass wir gegen Heiko rebellieren. Und jetzt halt endlich deine Klappe.“

Das tat Arian nicht. „An dem Bett, für das du bezahlst, verdient sehr wohl Schmidtke. Er verkauft dir die Schürze und den Stechhandschuh, mit dem du arbeitest. Wenn du gehst, bleiben die Sachen hier, und er verkauft sie wieder an den Nächsten. Du machst schwere körperliche Arbeit und darfst nicht krank werden, weil du dann kein Geld bekommst. Und die vielen Überstunden kriegst du gar nicht bezahlt!“

Wie aus dem Nichts fuhr Stancus Faust in Arians Magengegend. „Halt dich raus aus meinen Angelegenheiten“, brüllte Stancu. „Nicht, dass es dir ergeht wie Jens! Ich will hier in Ruhe Geld verdienen. Ich will nicht rausfliegen, nur weil du unzufrieden mit dem Job bist.“ Sein Kopf war rot, er zitterte und hatte die Fäuste noch geballt. Die um ihn stehenden Arbeitskollegen stellten sich zwischen ihn und Arian und versuchten, Stancu zu beruhigen. Doch der ließ nicht nach.

„Du kannst ja zurückgehen nach Rumänien, wenn es dir hier nicht passt. Ihr könnt alle zurückgehen. Lasst mich in Ruhe. Ich will nicht diskutieren. Ihr habt ja gesehen, dass Schmidtke mich auch schon beim Schlachten einsetzt. Er will mich als Kopfschlächter, dann hätte ich eine feste Anstellung.“

Einen Moment hielten sie inne. Dann ging das Gerangel los. Jeder hatte natürlich seine Meinung. Sie waren alle hier, um Geld zu verdienen, wie sie es in der Heimat nicht konnten. Sie waren bereit, hart zu arbeiten und Demütigungen hinzunehmen. Aber sie waren auch enttäuscht, weil man ihnen bei der Anwerbung andere Versprechen gemacht hatte. Und von einer festen Anstellung konnten sie nur träumen.

„Lass mich meine Arbeit machen, meine ganze Familie lebt von dem Geld, das ich hier verdiene.“ „Arian hat recht. Wir erhalten nicht den Lohn, der uns nach dem Gesetz hier zusteht.“ „Wir können uns nicht beklagen. Wir machen unsere Arbeit und werden sonst in Ruhe gelassen.“ „Schmidtke müsste uns wenigstens die Betten billiger vermieten.“ „Wir brauchen hier nicht viel. Beim Discounter im Dorf können wir uns billig verpflegen.“ „Wenn du auf den Alkohol und die Zigaretten verzichten würdest, hättest du noch mehr Geld übrig.“ „Wir brauchen auch mal eine Pause, wenn wir zehn Stunden oder noch länger arbeiten.“ Bei allen hatten sich Aggressionen angestaut, jeder musste etwas loswerden. Nur Stancu hielt sich zurück. Ihm waren die anderen egal.

Arian krümmte sich. Der Schlag in die Magengegend vom kräftigen Stancu machte ihm Schmerzen. Er ging kommentarlos ins Haus. Kurz darauf klingelte sein Handy, und er sah auf dem Display, dass es Schmidtke war.

„Kommt sofort alle wieder in den Betrieb. Die Polizei hat die Zerlegung freigegeben, und die Tiere aus der gestrigen Schlachtung müssen zugeschnitten werden. Ich muss meine Kunden beliefern. Wir sind schon um Stunden im Verzug“, befahl er.

Sie stiegen alle elf in den neunsitzigen alten Ford Transit, den ihnen die Werksvertragsfirma vermietet hatte so wie schon zuvor den Arbeitern, die die sechs Monate vor ihnen die Zerlegung bei Schmidtke erledigt hatten, bevor sie wieder in ihre Heimat zurückkehren mussten.

Schweigend fuhren sie den kurzen Weg zum Schlachthof. Sie wussten, sie würden wieder viel zu schnell arbeiten müssen. Es würde wieder gefährlich werden. Sie hatten Angst, in der Hektik den nötigen Abstand beim Arbeiten nicht einhalten zu können und sich mit den rasierklingenscharfen Messern zu verletzen, und dann wäre Schluss mit dem Geldverdienen. Wegen des späten Arbeitsbeginns würden sie vielleicht erst um Mitternacht fertig sein mit der Arbeit, und dann stand ihnen eine kurze Nacht bevor. Denn am nächsten Tag sollte es ja wieder zur normalen Zeit mit der Zerlegung losgehen. Und Überstunden würden wieder nicht erfasst werden, sie waren, anders als die deutschen Kollegen, von der elektronischen Zeiterfassung ausgenommen. Keiner sollte je nachweisen können, dass ihnen Überstunden nicht bezahlt würden.

Arians Magenschmerzen ließen langsam nach. Was blieb, war das Wissen, sich vor Stancu in Acht nehmen zu müssen.

Kapitel 3

Es war schon nach neunzehn Uhr, als Silke die Tür zu der Einliegerwohnung im Hause ihres Lehrtierarztes aufschloss. Mit der Unterkunft hatte sie es wirklich gut getroffen. Die Winklers hatten eine kleine, abgeschlossene Einzimmerwohnung mit Bad und Kochnische in einem Anbau an ihrem Wohnhause eingerichtet. Dies hatten sie vorausschauend für eine Pflegekraft, die sie im Alter vielleicht benötigen würden, eingeplant und seither immer ihre Praktikanten dort einquartiert.

Winklers wohnten im Zentrum von Martwohlde und betrieben eine Großtierpraxis mit Kleintieranteil. Um die Großtiere kümmerte sich ganz traditionell Reiner Winkler allein, während die Kleintierpraxis von seiner Frau Irene bestritten wurde.

Die Kleintiersprechstunde wurde am frühen Abend abgehalten, weil auf den bäuerlichen Betrieben dann die meiste Arbeit getan war und Zeit für den Tierarztbesuch erübrigt werden konnte.

Normalerweise war nicht viel zu tun. Die meisten Bewohner des Ortes stellten als alteingesessene Landwirte auch bei den Kleintieren oft eine Kosten-Nutzen-Rechnung an, bevor sie zum Tierarzt gingen. Routinemäßige Impfungen der Hunde der Umgebung, eine verletzte Pfote bei einem Jagdhund oder die Durchfallerkrankung der Lieblingskatze eines Nachbarkindes bestimmten die Praxis. Silke unterstütze Frau Winkler regelmäßig dabei.

Auch heute war so ein unspektakulärer Tag in der Kleintiersprechstunde gewesen, und Silke war froh, als der letzte Patient gegangen und das Sprechzimmer wieder aufgeräumt und sauber war. Während des gesamten Tages gingen ihr die Ereignisse des Morgens nicht aus dem Kopf, und sie grübelte unentwegt darüber, was wohl passiert sein mochte. Als sie jetzt in ihrer Wohnung war, schnappte sie sich schnell ein Stückchen Käse aus dem Kühlschrank, schenkte sich einen Schluck kalten Tee, der noch vom Frühstück übrig war, in einen Becher und griff zum Smartphone, um ihre Freundin Suse Mahler anzurufen.

Suse und Silke hatten sich während des Studiums kennengelernt. Bereits im ersten Semester hatten sie im Anatomiekurs am selben Präpariertisch gestanden und gemeinsam fein säuberlich ein Pferdebein in seine Bestandteile zerlegt. Obwohl Silke aus Hannover stammte und als Großstadtpflanze Pferdebeine nur an intakten Pferden auf dem Reiterhof gewohnt war, war sie genauso wenig zimperlich wie Suse, deren Familie einen großen Schweinemastbetrieb im Landkreis Vechta bewirtschaftete. So war sie auch üblen Gerüchen gegenüber abgehärtet. Im Laufe der Wochen wurde ihr Pferdebein immer grüner und schmieriger, doch während viele Kommilitonen bereits an ihrem Berufswunsch zu zweifeln begannen, präparierten Suse und Silke unverdrossen weiter und büffelten bald auch außerhalb der Hochschule gemeinsam den umfangreichen Lehrstoff. Sie verstanden sich gut, und so entwickelte sich eine enge Freundschaft, die während des gesamten Studiums Bestand hatte. Suses dunkle Lockenmähne, die, immer nur unzureichend gebändigt, den Eindruck vermittelte, die Zeit für einen Kamm hätte nicht gereicht, und Silkes akkurat gebundener blonder Pferdeschwanz tauchten nicht nur bei den Vorlesungen gemeinsam auf, sondern auch bei den Sommerfesten und diversen Partys fanden sie sich oft zusammen ein.

Bei einem tragischen Vorfall in einem Pferdestall war, als Silke die letzten für ihre Doktorarbeit benötigten Blutproben von einer Stute und ihrem Fohlen nehmen wollte, eine Helferin schwer verletzt worden. Bei einem Gewitterdonner war die Stute hochgestiegen, und ihre Hufe hatten das Mädchen schwer am Kopf verletzt. Silke fühlte sich verantwortlich und wollte das Studium aufgeben. Es war Suse, die Silke wieder aufbaute und sie davon überzeugen konnte, das Studium zu Ende zu bringen. Oft saßen sie zusammen in Suses Zimmer im Schwesternhaus, einem selbstverwalteten Studentenwohnheim direkt hinter der Tierärztlichen Hochschule, und diskutierten das Für und Wider ihres zukünftigen Berufes. Silke ließ keinen Zweifel daran, dass Fachtierärztin für Pferde als Berufsziel für sie überhaupt nicht mehr in Betracht kam. Sie sprachen über die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten würden, um Missstände bei Tierhaltungen zu beenden. Suse wusste aus eigener Erfahrung, welche Probleme eine industrialisierte Tierhaltung sowohl den Tieren als auch der Umwelt bereitete, und sie stritt mit ihrem Bruder und ihrem Vater beständig über dieses Thema. Sie hatte Silke längst überzeugt, dass nur ein Verzicht auf diese Form der Viehwirtschaft eine Besserung für Tier und Umwelt darstellen könne. Nachdem Silke ihren Traum von einer Pferdepraxis ein für alle Mal begraben hatte, ließ sie sich von der temperamentvollen Suse anstecken und fand einen neuen Sinn in ihrem Traumberuf. Sie würde sich für das Tierwohl einsetzen und mithelfen, die Haltungsbedingungen der landwirtschaftlichen Nutztiere zu verbessern.

Suse absolvierte ihr Praktikum in der Veterinärverwaltung im Landkreis Diepholz. Im Landkreis Vechta hatte sie es nicht ableisten wollen, da ihre Familie als Landwirte aus der Umgebung von Steinfeld dort kein unbeschriebenes Blatt war. Sie wollte weder Vergünstigungen, weil Großvater, Vater und Bruder im Kreis bekannt waren, noch wollte sie mit ihrer Familie in einen Topf geworfen werden. Diepholz war der angrenzende Landkreis und brachte für Suse neben der Anonymität den Vorteil, dass sie trotzdem auf dem Altenteil, das ihre Eltern seit der Übergabe des Hofes an ihren Bruder Hinrich vor vier Jahren bewohnten, unterkommen und täglich mit ihrem kleinen alten Polo ins Veterinäramt fahren konnte. Die Entfernung betrug nur achtzehn Kilometer, und über die B214 war sie meistens in einer guten Viertelstunde dort.

Als ihr Handy klingelte, war sie schon seit fast zwei Stunden zu Hause, hatte mit ihrer Mutter einen Tee in der gemütlichen Küche getrunken und sich die Sorgen angehört, die sich die Mutter um den Bruder machte. Schon immer war Hinrich ihr Sorgenkind gewesen. Aufbrausend und unbeherrscht wie er war, kam er schon in früher Jugend häufig mit einem blauen Auge aus der Schule, und sie wurde zum Schuldirektor gerufen, um sich die Klagen über ihren Sohn anzuhören. Sagen ließ er sich nichts, und daran hatte sich auch mit zunehmendem Alter nichts geändert. Suses Mutter machte sich ständig Gedanken, dass ihr Hini auf die schiefe Bahn geraten könnte oder sich in dunkle Geschäfte verstricken ließe. Als gute Katholikin hielt sie es für möglich, dass ihr Sohn im Fegefeuer enden könnte. Suse war der Meinung, die Hölle wäre gerade gut genug für ihn, hütete sich aber, dies gegenüber ihrer Mutter auszusprechen. Sie traute ihrem Bruder nicht über den Weg und fragte sich schon seit Längerem, warum er so darauf bedacht war, dass sie nicht auf seinen Hof und in den Stall kam. Einmal hätte er sie beinahe geschlagen, als er sie dabei erwischte, wie sie durch das Stallfenster guckte. Dabei hatte sie ihn nur gesucht, weil ihre Mutter sie gebeten hatte, eine Besorgung zu ihm zu bringen, die sie für ihn gemacht hatte.

„Hallo Silke, wie schön, dass du anrufst“, rief Suse erfreut ins Telefon und wollte schon ihrem Ärger über ihren Bruder Luft machen, als Silke sie aufgeregt unterbrach und von den Vorkommnissen auf dem Schlachthof Schmidtke berichtete.

„Habt ihr im Veterinäramt was darüber gehört? Schmidtke ist doch im Landkreis Diepholz, und die angelieferten Tiere dürfen nicht ohne eure Erlaubnis vom Schlachtbetrieb runter. Bei Schmidtke gibt es kein Futter für eine längere Aufstallung, und heute wurde dort definitiv nicht mehr geschlachtet“, schloss sie ihren Bericht.

„Ich habe nichts gehört, aber das will nichts heißen“, antwortete Suse, „der Amtsleiter bei uns regelt solche Sachen ja gerne mal so nebenbei aus der hohlen Hand und ohne Verwaltungsakt. Die Polizei hat jedenfalls definitiv nicht bei uns im Amt angerufen. Das hätte schnell die Runde gemacht, und da ich heute den ganzen Tag im Büro war und versucht habe, diesen schrecklichen Fall von Animal Hoarding aufzuarbeiten, hätte ich das mitgekriegt.“

Bevor sich die beiden Freundinnen verabschiedeten, redeten sie noch eine Weile über Suses aktuellen Tierschutzfall. In einer Zweizimmerwohnung in Diepholz hatte ein Rentner vierundsiebzig Katzen gehalten. Als man ihm die Tiere wegnehmen wollte, war er handgreiflich geworden und hatte eine Amtstierärztin aus dem Veterinäramt so heftig angestoßen, dass sie die Treppe heruntergefallen war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Sie hatten den Einsatz daraufhin abbrechen müssen, und der Rentner hatte danach etliche Katzen in das Gartenhaus einer Bekannten gebracht. Dort fanden sie in einem Verschlag noch dreiundneunzig Hühner in erbärmlichem Zustand. Was sollte mit solchen Menschen geschehen? Suse bezweifelte, dass eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz von Erfolg gekrönt sein würde. Erst wenn einem Tier aus Rohheit Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt wurden, wird ein Vergehen als Straftat gewertet. Konnte man das den beiden unterstellen? War es nicht eher falsch verstandene Tierliebe von zwei einsamen, psychisch labilen Alten? Selbst ein Bußgeld würde da nichts nützen. Bei den beiden war nichts zu holen, und zur Einsicht würde die Geldbuße wohl auch nicht führen. Ein weiterer Fall, den man auch in Zukunft im Auge behalten musste, weil zu befürchten war, dass umgehend neue Tiere angeschafft würden. Dazu noch das aggressive Naturell des kräftigen, rüstigen Rentners, welches die zukünftigen Kontrollen nicht einfacher machen würde. Suse hätte sich in diesem Fall mehr Unterstützung durch den Amtsleiter gewünscht. Sie hatte vorgeschlagen, das Sozialamt einzubeziehen, aber davon hatte er nichts wissen wollen, das ginge zu weit und sie nichts an. Als die Kollegin eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen den Rentner stellen wollte, hatte er sie mit der Begründung davon abgehalten, dass sie sicher unglücklich nahe der Treppe gestanden hätte und sich lächerlich machen würde, wenn sie gegen einen alten Rentner vorginge. Berufsrisiko eben.

Als sie das Telefonat beendeten, waren eineinhalb Stunden vergangen. Eigentlich hatte Silke noch Jan, ihren Freund in Hannover, anrufen wollen, aber mittlerweile war es zu spät. Er wäre jetzt beim Volleyball-Training und käme erst spät nach Hause. „Bis dahin bin ich längst eingeschlafen, und morgen ganz früh geht es wieder zu Schmidtke“, dachte sie und schaltete noch für eine Weile den Fernseher an.

Kapitel 4

Mit Beginn seiner morgendlichen Runde durch den Maststall stellte er, nachdem er die Tiere gefüttert hatte, wie immer als Erstes das Wasser für die Tränken an. Es war ein Ritual für ihn geworden. Die Tiere hatten nach der langen, qualvollen Durstphase während der Nacht einen größeren Appetit bei der ersten Mahlzeit des Tages. Das würde sich bei den täglichen Gewichtszunahmen auch bei dieser Mastgruppe als finanzieller Vorteil erweisen.

Mahler hatte selbst oft einen gewaltigen Nachdurst, besonders wenn er an den Skatabenden mal wieder in der Bock- und Ramschrunde auf den letzten Platz unter den vier Skatbrüdern gerutscht war und in seiner Scheißwut einen Schnaps zu viel gehabt hatte. Er freute sich dann noch mehr auf ein großes Glas kühles Wasser nach der Stallrunde. Aber diese Scheißwut hatte er eigentlich immer.

Als er in das erste Stallabteil ging, hielt er kurz inne. Da lag hinten in der Mitte offensichtlich schon wieder ein Schwein fest auf dem Boden. „Es waren zu viele in den letzten Tagen, die anfingen zu kümmern“, dachte er, als er seinen Morgengang fortsetzte. Das vier Monate alte Mastschwein lag mitten auf seinem Weg und machte keine Anstalten, ihm auszuweichen. Es hob schwach den Kopf und blickte ihn mit seinen kleinen Knopfaugen an, als er kräftig ausholte und mit seinem Sicherheitsstiefel gegen den Kopf des Tieres trat. Das Schwein schrie auf und versuchte aufzustehen, konnte aber nicht. Entzündliche Verdickungen an den Kniegelenken machten es unmöglich. Der leicht süßliche, ammoniakalische, feuchtwarme Güllegeruch war ihm heute besonders zuwider. Er musste raus aus dem Stall.

Hinrich Mahler war fünfunddreißig Jahre alt und in körperlich ausgezeichneter Verfassung. Die jahrelange Arbeit auf dem Hof seiner Eltern hatten kräftige Muskeln geformt. Er war ein attraktiver Mann, blonde kurze Haare, jungenhaftes und freundliches Gesicht, durchaus gebildet, wenn auch mit abgebrochenem Landwirtschaftsstudium. Den Frauen und auch dem Alkohol war er nicht abgeneigt. Diese Schwäche, verbunden mit einem stark ausgeprägten Aggressionspotenzial, hatten bisher jeden Beginn einer Beziehung zu einer Frau schon nach den ersten Treffen im Keime ersticken lassen. Zwei Strafanzeigen wegen versuchter Vergewaltigung wurden wegen gegensätzlicher Aussagen und Mangels an Beweisen eingestellt.

Den Hof seiner Eltern im Landkreis Vechta hatte er vor vier Jahren übernommen. Es war in dem Jahr, als seine Schwester Suse mit dem Studium der Tiermedizin in Hannover begann.

Er intensivierte die Schweinemast, die seine Eltern zuvor nebenbei betrieben hatten. Hinrichs Großvater hatte schon gesagt, wer Eindruck machen will, kauft sich ein Pferd, und wer Reichtum will, der züchtet Schweine. Und Geld konnte Hinrich immer gebrauchen. Die Milchviehhaltung mit einhundertzwanzig Kühen hatte er einem Brüderpaar aus Rumänien übertragen. Sein Skatkumpel Heiko Schmidtke hatte ihm die Brüder vermittelt. Er hatte die beiden in der Einliegerwohnung unterbringen können. Sie waren fleißig, pünktlich und genügsam.

Heiko Schmidtke war nicht nur einer seiner Skatbrüder, sondern auch sein wichtigster Geschäftspartner. Er war der Abnehmer seiner Schlachtschweine. Schmidtke hatte sowohl Kunden mit hohen Qualitätsansprüchen, denen er das Fleisch von Hinrich Mahlers guten Schweinen und Mastbullen verkaufen konnte, als auch solche, die vor allem billiges Fleisch wollten. Die erhielten die speziellen Fälle. So hatte der Schlachthofbetreiber Wege gefunden, auch geschundene, kranke Tiere zu vermarkten.

Spezielle Fälle waren auch Hinrichs kümmernde Mastschweine. Die brachte er immer selbst zum Schlachthof, während er seine guten Schweine von einem Viehhändler abholen ließ. Darum musste er sich jetzt erst mal kümmern, das brachte ordentlich Geld in die Kasse. Er saß am Küchentisch, leerte das Wasserglas in einem Zug und griff zum Smartphone, um die Nummer von Bracki im Adressbuch zu suchen. Josef Brackmann war Viehhändler. Er war als ein freundlicher Mensch und Schlitzohr mit zwei für seinen Beruf wichtigen Charakterzügen in seiner Branche bekannt.

„Moin Bracki, hier ist Hinrich“, begann Mahler das Gespräch. „Wie ist es dir gestern nach der Skatrunde ergangen? ... Mir ging es auch nicht besonders. Boah, ich hab’ vielleicht ’nen Kopf gehabt. Ich hab’ mich heute Morgen bei meiner ersten Stallrunde immer noch über meine versiebten Spiele geärgert. ... Stimmt, du hast ja auch nicht gerade auf der Erfolgsleiter gestanden. Bracki, ich hab’ achtzig propere Mastschweine zur Schlachtung. ... Gut, dann morgen wie gehabt zur gewohnten Zeit, und wegen der Schlachtung telefonierst du mit Schmidtke. Ich hab’ noch zehn etwas kleinere, die nicht so gut laufen wollen, die willst du ja nicht fahren. Die bringe ich selbst zum Schlachthof. Gut, bis dann“, beendete Hinrich das Gespräch. Er wusste, zu einem akzeptablen Preis würde er sie bei Schmidtke gut loswerden. Der Tierarzt hätte nur zusätzlich gekostet, und wahrscheinlich wäre eine Eu­thanasie für alle betroffenen Tiere der einzige Weg gewesen. „Auch der Abdecker holt die Tiere nicht umsonst ab“, dachte Hinrich, und er freute sich wie immer über einen solchen finanziellen Zugewinn.

Kapitel 5

„Hier Hauptkommissar Tölke, Polizeiinspektion Diep­holz. Guten Morgen, Frau Lüschen. Ich bedaure, Sie zu dieser frühen Stunde stören zu müssen, aber die Rufbereitschaft des LKA gab mir Ihre Nummer.“

Sabine Lüschen war noch nicht richtig wach, zu schön waren die Träume der Nacht gewesen. Sie vergaß, den Gruß zu erwidern, und brummte: „Was gibt’s denn so Wichtiges?“

„Ich bin zum Schlachthof Schmidtke nach Martwohlde gerufen worden, hier ist ein grausamer Mord passiert.“

„Ein Mord passiert nicht“, dachte sie, „ein Mord wird verübt. Das ist was Aktives.“ Aber das wäre jetzt wohl die falsche Antwort gewesen. Ihr Gehirn nahm langsam seine Funktionen wahr. „Ich komme direkt zum Tatort. Sind Sie ausreichend besetzt, um den Tatort abzusichern?“

„Wir sind mit zwei Hauptkommissaren von der Polizeiinspektion Diepholz hier und haben drei Kollegen vom Kommissariat Syke, die den Betrieb absperren“, antwortete Tölke, „das reicht. Wir haben schon mit einigen Leuten hier gesprochen. Hier herrscht um diese unchristliche Zeit ja schon Hochbetrieb. Und die Spurensicherung in Diepholz haben wir auch gleich verständigt. Sind schon bei der Arbeit. Schätze, die haben hier reichlich zu tun.“

„Herr Hauptkommissar“, der Name war ihr schon wieder entfallen, „wo finde ich diesen Schlachthof?“

„Ich nehme an, Sie kommen direkt aus Hannover?“

„Ja.“

„Dann nehmen Sie die B6 über Nienburg, das ist kürzer und geht vermutlich schneller als über die A7, die A27 und das Bremer Kreuz auf die A1. Die ist bei Stuhr ständig verstopft. Bis Sie dort sind, sind Sie mitten im Berufsverkehr.“

„Und weiter?“ Sabine Lüschen war die Beschreibung viel zu ausführlich. Geduld war nicht ihre Stärke, und Informationen über mögliche Staus hinter dem Bremer Kreuz interessierten sie einfach nicht.

„Sie sehen noch vor Syke ein Schild Richtung Martwohlde. Fahren Sie durch den Ort, am Ortsausgang geht rechts eine Straße rein zum Schlachthof Schmidtke. Steht in großen Buchstaben dran. Können Sie nicht übersehen.“

„Vielen Dank. Bitte erwarten Sie mich dort. Alle Personen, mit denen ich sprechen möchte, sollen sich zur Verfügung halten.“ Sie legte auf.

„Das wird schwierig“, dachte Tölke. „Glücklicherweise ist der alte Schmidtke noch da. Aber den Rumänen, der die Leiche gefunden hat, muss ich hierher bekommen, bevor die Lüschen hier auftaucht.“

Sabine Lüschen ging zum Kaffeeautomaten in die Küche. Ohne einen starken Kaffee konnte sie morgens nicht aus dem Haus gehen. Sie stellte ihn an. „Kaffeesatzbehälter leeren“, zeigte das Display an.

„Immer, wenn man’s eilig hat“, fluchte sie leise, kam der Aufforderung des Displays nach und startete dann die Kaffeebereitung. Das Mahlwerk ratterte, sie ging ins Bad, machte sich ein wenig frisch und warf während des Zähneputzens einen kritischen Blick in den Spiegel. Sie fand ihren Mund ein wenig zu groß und die Haare zu wirr, aber sonst war sie mit sich zufrieden. Sie kämmte ihre Mähne, gab etwas Milch in den Kaffee und trank dann einen Schluck, zog ihre engen Jeans und eine weite Bluse an und trank den Kaffee aus. Dann nahm sie ihren Schlüsselbund vom Garderobenschrank und warf sich die hellbraune Lederjacke über. Sie schrieb noch eine kurze Nachricht für ihre Tochter. Sofia war achtzehn, das dreizehnte Schuljahr forderte sie, und die Abiturprüfungen standen unmittelbar bevor. Sabine wollte sie noch die halbe Stunde schlafen lassen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Sofia pünktlich in der Schule sein würde, aber dass das gemeinsame Frühstück ausfallen musste, schmerzte sie.

Dann zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Jetzt ins LKA zu fahren und einen Dienstwagen zu nehmen würde viel zu lange dauern, wenn denn überhaupt noch einer frei war. So ging sie zu ihrem Auto, sie hatte gestern glücklicherweise nicht weit von ihrer Wohnung in der Gretchenstraße einen Parkplatz gefunden, und machte sich auf den Weg nach Martwohlde.

Die B6 war gut ausgebaut, und so brauchte sie um die frühe Uhrzeit nicht viel mehr als eine Stunde, bis sie am Schlachthof eintraf. Am Tor wurde sie gebeten, um das Gelände herumzufahren, am Büroeingang würde Hauptkommissar Tölke auf sie warten.

„Frau Lüschen? Mein Name ist Peter Tölke, wir haben vorhin telefoniert. Guten Morgen, ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt. Schnell durchgekommen sind Sie jedenfalls. Möchten Sie einen Kaffee, bevor wir zum Tatort rübergehen?“ Hauptkommissar Tölke war ein verbindlicher Mensch, der gerne ein bisschen Small Talk machte, bevor er zum Thema kam.

„Sehr freundlich, Herr Tölke“, erwiderte Sabine Lüschen, die lieber direkt zur Sache kam und daher von vielen Kollegen als kühl, unnahbar und spröde beschrieben wurde. „Aber lassen Sie uns zuerst zum Tatort gehen. Ich möchte mir möglichst schnell ein unvoreingenommenes Bild der Situation machen, sonst hätte ich mir mehr Zeit bei der Anfahrt lassen können.“

„Wie Sie möchten, dann lassen Sie uns sofort rüber zu der Viehanlieferung und dem Wartestall gehen. Dort hat man den Toten gefunden, die Spusi ist schon bei der Arbeit, und es gibt Schutzkleidung für uns.“

Während sie mit raschen Schritten über das Betriebsgelände gingen, versuchte Tölke die Kollegin aus Hannover auf das vorzubereiten, was sie gleich sehen würde.

„Der Tote wurde im Stall gefunden, in einer ziemlich dunklen Ecke. Wir können nicht genau sagen, ob er dort auch gestorben ist. Als er gefunden wurde, waren noch ein paar Schweine im Stall, gewehrt hat er sich da jedenfalls nicht.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Sabine Lüschen irritiert.

„Na ja, Schweine sind neugierig und verspielt, und außerdem sind sie Allesfresser, wie der Mensch. Mein Onkel hatte früher Schweine, und in den Schulferien war ich oft dort und habe im Stall und beim Füttern geholfen. Sie bekamen immer unsere Abfälle vom Tisch, und mein Onkel hat mir damals erklärt, dass Schweine ganz ähnlich wie Menschen alles fressen, also auch Fleisch.“

„Der Tote wurde angefressen?“ Die Kriminalrätin blieb stehen und drehte sich zu Peter Tölke um. Sie hatte während ihres Berufslebens schon eine Menge erlebt, Tote in Wildererfallen zum Beispiel, aber einen von Hausschweinen zugerichteten Leichnam hatte sie noch nicht gesehen. „Sind Sie sicher, dass es kein Unfall war?“, fragte sie ihren Begleiter.

„Ganz sicher“, bekam sie zur Antwort, „aber sehen Sie selbst, wir sind gleich da.“ Die letzten Schritte ging Peter Tölke voran. Er war froh, dass er Sabine Lüschen vorbereiten konnte. Ihm selbst hatte sich vorhin fast der Magen umgedreht im Stall, und er wusste, dass er in nächster Zeit bestimmt kein Schnitzel mehr essen würde. Er ging die Steinstufen neben der Anlieferungsrampe als Erster hinauf, und Sabine Lüschen folgte ihm auf dem Fuße.

Sie betraten ein kleines Büro, und Tölke erklärte der Kommissarin, dass hier normalerweise die Papiere der angelieferten Tiere kontrolliert würden, um deren Identität und die Zuordnung zum Besitzer zu dokumentieren. Jetzt war der Raum verwaist, und auf einem nicht ganz sauberen Schreibtisch lagen verpackte Einmaloveralls, Schuhüberzieher und Latexhandschuhe für sie bereit. Die Spurensicherung war immer akribisch darauf bedacht, dass niemand ihr Arbeitsumfeld verschmutzte.