Der scharlachrote Buchstabe - Nathaniel Hawthorne - E-Book

Der scharlachrote Buchstabe E-Book

Nathaniel Hawthorne

4,8

Beschreibung

Amerika im 17. Jahrhundert: Eine Frau, des Ehebruchs schuldig, steht am Schandpfahl und verrät nicht, wer der Vater ihrer Tochter ist. Die gestrenge puritanische Obrigkeit verurteilt sie, als Zeichen ihrer Schande lebenslang einen scharlachroten Buchstaben zu tragen. Die Folgen dieser übertriebenen Moralvorstellungen und die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgrenzung schildert Nathaniel Hawthorne mit psychologischer Raffinesse. Sein Roman ist einer der wichtigsten amerikanischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, als sich das moderne Amerika mit dem Blick in seine Geschichte neu erfand. Mit seiner glasklaren Neuübersetzung gibt Jürgen Brôcan dem Roman eine Gestalt für heutige Leser; im Anhang erläutert er die historischen und literarischen Hintergründe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 604

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanser E-Book

Nathaniel Hawthorne

Daguerreotypie von John Adams Whipple

(ca. 1848)

Nathaniel Hawthorne

Der scharlachrote Buchstabe

Eine Phantasie

Aus dem Englischen übersetztund kommentiert von Jürgen Brôcan

Carl Hanser Verlag

Originaltitel

The Scarlet Letter

A Romance

1850

ISBN 978-3-446-24541-9

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung des Motivs The MorningBell von Winslow Homer, 1871

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Das ZollhausAls Einleitung zum »Scharlachroten Buchstaben«

Der scharlachrote Buchstabe

I Das Gefängnistor

II Der Marktplatz

III Das Wiedererkennen

IV Die Unterredung

V Hester mit der Nadel

VI Pearl

VII Die Diele des Gouverneurs

VIII Das Koboldkind und der Geistliche

IX Der Schröpfer

X Der Schröpfer und sein Patient

XI Das Innere eines Herzens

XII Die Vigilie des Pastors

XIII Ein anderer Blick auf Hester

XIV Hester und der Arzt

XV Hester und Pearl

XVI Ein Waldspaziergang

XVII Der Hirte und sein Schäfchen

XVIII Eine Sonnenlichtflut

XIX Das Kind am Bachufer

XX Der Priester im Irrgarten

XXI Feiertag in Neuengland

XXII Der Festzug

XXIII Die Enthüllung des scharlachroten Buchstabens

XXIV Schluß

Anhang

Frau Hutchinson

Endicott und das rote Kreuz

Hauptstraße

Tagebuch- und Briefauszüge

Nachwort

Zeittafel

Zur Übersetzung

Anmerkungen

Vorwort zur zweiten Auflage

Zur großen Überraschung des Autors und (falls er dies ohne weiteren Anstoß sagen darf) zu seinem beträchtlichen Amüsement, hat er festgestellt, daß seine Skizze des amtlichen Lebens, welche den Scharlachroten Buchstaben einleitet, eine unerhörte Aufregung in der respektablen Gemeinde seiner unmittelbaren Umgebung verursacht hat. Sie hätte tatsächlich kaum heftiger ausfallen können, wenn er das Zollhaus niedergebrannt und dessen letzte rauchende Asche im Blut einer gewissen ehrwürdigen Person gelöscht hätte, gegen die er angeblich eine besondere Niedertracht hegen soll. Die öffentliche Mißbilligung lastete sehr schwer auf ihm, wäre er sich bewußt, sie zu verdienen, deshalb bittet der Autor um die Erlaubnis zu sagen, daß er die einleitenden Seiten sorgfältig mit der Absicht durchgelesen hat, zu ändern oder zu streichen, was darin verkehrt ist, und wegen der Greueltaten, deren er für schuldig befunden wurde, die beste in seinen Kräften stehende Genugtuung zu leisten. Ihm scheinen jedoch an seiner Skizze einzig bemerkenswert der offene, echte Frohsinn und die allgemeine Genauigkeit, mit der er seine aufrichtigen Eindrücke von den darin beschriebenen Charakteren wiedergegeben hat. Feindseligkeit oder irgendeinen persönlichen oder politischen Groll zu hegen, bestreitet er ausdrücklich. Wahrscheinlich hätte man die gesamte Skizze ohne Verlust für das Publikum oder Nachteil für das Buch weglassen können; doch nachdem er es unternommen hat, sie zu schreiben, ist er der Meinung, daß dies weder in besserem oder freundlicherem Geist noch – soweit ihm seine Fähigkeiten halfen – mit einem lebhafteren Eindruck der Wahrheit hätte geschehen können.

Der Autor ist darum gezwungen, seine einleitende Skizze erneut zu veröffentlichen, ohne nur ein Wort zu ändern.

Salem, 30. März 1850

Das Zollhaus

Als Einleitung zum »Scharlachroten Buchstaben«

Etwas merkwürdig ist es schon, daß sich – trotz meiner Abneigung, am Kaminfeuer oder im Freundeskreis allzu viel von mir und meinen Angelegenheiten zu reden – zweimal in meinem Leben ein autobiographischer Impuls meiner bemächtigte und ich mich an die Öffentlichkeit wandte. Das erste Mal ist drei oder vier Jahre her, damals beehrte ich den Leser – unverzeihlicherweise und aus keinem erfindlichen Grund, den sich der nachsichtige Leser oder der zudringliche Autor ausmalen könnte – mit der Beschreibung meines Lebenswandels in der Stille eines Alten Pfarrhauses. Und jetzt knöpfe ich mir das Publikum erneut vor, denn ich hatte das Glück, beim damaligen Anlaß ganz unverdient ein, zwei Zuhörer zu finden, und spreche von meiner dreijährigen Erfahrung im Zollhaus. Getreulicher ist dem Beispiel des berühmten »P. P., Gemeindeschreiber hierorts« niemals gefolgt worden. In Wahrheit jedoch wendet sich der Autor, wenn er seine Blätter in den Wind streut, wohl nicht an die vielen, die sein Buch beiseite schleudern oder nie in die Hand nehmen werden, sondern an die wenigen, die ihn besser verstehen als die Mehrzahl seiner Schul- oder Lebenskameraden. Tatsächlich tun manche Autoren weit mehr als dies und schwelgen in solch tiefer Vertraulichkeit der Enthüllung, wie sie sich in angemessener Weise einzig und allein an das eine Herz, an den einen Geist der vollkommenen Anteilnahme richten kann, als fände das gedruckte Buch, aufs Geratewohl in die weite Welt geworfen, unzweifelhaft die abgetrennte Hälfte vom Wesenskern des Autors und vollendete in dieser Vereinigung seinen Lebenskreis. Es schickt sich allerdings wenig, alles auszusprechen, selbst wenn wir unpersönlich reden. Da die Gedanken jedoch gefrieren und der Ausdruck taub ist, solange der Sprecher nicht in echter Beziehung zu seinen Zuhörern steht, mag es verzeihlich sein, wenn man sich vorstellt, ein Freund, ein liebenswürdiger, besorgter, wenngleich nicht besonders enger Freund, lauschte unserer Rede; und wenn dann die angeborene Zurückhaltung durch dies warme Mitempfinden aufgetaut ist, können wir von den Gegebenheiten ringsum und sogar über uns selbst plaudern, aber das innerste Selbst noch immer hinter einem Schleier verbergen. Bis dorthin und in diesen Grenzen darf, wie mir scheint, ein Schriftsteller autobiographisch sein, ohne die Rechte des Lesers oder seine eigenen zu verletzen.

Es wird sich auch zeigen, daß diese Skizze des Zollhauses ihren rechten, in der Literatur immer schon anerkannten Sinn hat, da sie erklärt, auf welche Weise ein Großteil der folgenden Seiten in meinen Besitz gelangt ist, und die Authentizität der in ihnen enthaltenen Erzählung belegt. Tatsächlich ist dies – das Verlangen, mich in die wahre Position allenfalls als Herausgeber, und wirklich kaum mehr, der weitschweifigsten meiner Geschichten zu setzen, aus denen dieser Band besteht –, tatsächlich ist dies und nichts anderes der wahre Grund dafür, daß ich eine persönliche Beziehung zum Publikum aufnehme. Um dieses oberste Ziel zu erreichen, schien es erlaubt, durch zusätzliche Striche ein blasses Abbild einer bislang nicht dargestellten Lebensweise zu geben, zusammen mit ein paar darin handelnden Personen, von denen eine zufällig der Autor ist.

In meiner Heimatstadt Salem, am Ende dessen, was vor einem halben Jahrhundert in den Tagen des alten King Derby ein geschäftiger Pier war – den aber jetzt die Last verfallener hölzerner Lagerhäuser drückt und der nur wenige oder gar keine Anzeichen von Handel aufweist, außer vielleicht mitten auf seiner melancholischen Länge eine Bark oder Brigg, die Felle löscht, oder etwas näher heran ein Schoner aus Neuschottland, der eine Feuerholzladung auswirft –, am Ende dieses brüchigen, oft überfluteten Piers also, an dessen Fundament und hinter der Häuserreihe man die Spur vieler träger Jahre in einem Streifen mageren Grases erkennt –, hier steht ein geräumiges Backsteingebäude, dessen Frontfenster über diese nicht besonders erbauliche Aussicht hinweg aufs Hafenbecken blicken. Jeden Vormittag flattert oder hängt auf dem höchsten Punkt seines Daches für exakt dreieinhalb Stunden, bei Brise oder Flaute, die Fahne der Republik; die dreizehn Streifen jedoch senkrecht gedreht statt horizontal, was darauf hindeutet, daß dies ein ziviler und kein militärischer Posten von Onkel Sams Regierung ist. Die Hausfront schmückt ein Portikus aus einem halben Dutzend Holzsäulen, die einen Söller stützen, unter dem eine Treppenflucht aus breiten Granitstufen auf die Straße hinabführt. Über dem Eingang schwebt ein gewaltiges Exemplar des amerikanischen Mutteradlers mit ausgebreiteten Flügeln, einem Schild vor der Brust und, wenn ich mich richtig erinnere, einem Bündel vermengter Blitze und Pfeile voller Widerhaken in jeder Klaue. In der üblichen Gemütsschwäche, die dieses unselige Federvieh charakterisiert, scheint es durch die Schärfe von Schnabel und Auge und sein allgemein wildes Gebaren der harmlosen Gemeinschaft mit Unheil zu drohen und vor allem sämtliche Bürger, die sich um ihre Sicherheit sorgen, vor dem Eindringen in jene Räumlichkeiten zu warnen, die es mit seinen Flügeln überschattet. Trotz seines verschlagenen Blicks suchen viele Leute derzeit Zuflucht unter den Fittichen des föderalen Adlers; vermutlich stellen sie sich vor, seine Brust sei so weich und warm wie ein Daunenkissen. Doch selbst in bester Laune ist er nicht besonders zärtlich, und früher oder später – meist früher als spät – wirft er seine Nestlinge hinaus mit einem Klauenkratzer, einem Schnabelstoß oder einer schwärenden Wunde von seinen hakenbewehrten Pfeilen.

Im Pflaster rings um das eben beschriebene Gebäude, das wir auch gleich das Hafenzollhaus nennen können, wächst reichlich Gras in den Ritzen, woran man erkennt, daß es seit längerem nicht in strömender Geschäftigkeit genutzt wurde. In einigen Monaten des Jahres gibt es allerdings öfter Vormittage, an denen die Dinge rascher voranschreiten. Solche Gelegenheiten erinnern die älteren Bürger an die Zeit vor dem letzten Krieg mit England, als Salem ein selbständiger Hafen war und nicht wie heute von den eigenen Kaufleuten und Schiffseignern verschmäht, die es zulassen, daß ihre Piers verfallen, während ihre Spekulationen sinnlos und unmerklich die gewaltige Handelsflut in New York oder Boston anschwellen lassen. An einem solchen Morgen, wenn zufällig drei oder vier Schiffe auf einmal anlegen – meist aus Afrika oder Südamerika – oder kurz vor ihrer Weiterfahrt stehen, hört man das Getrappel vieler Füße, die flott die Granitstufen hinauf- und hinablaufen. Hier kann man, noch ehe die Gattin ihn begrüßt hat, dem meergeröteten, soeben eingelaufenen Kapitän mit Schiffspapieren in einer fleckigen Blechbüchse unterm Arm begegnen. Hierher kommt auch der Reeder, fröhlich oder betrübt, freundlich oder mißgelaunt, je nachdem, wie sich der Plan der heute beendeten Reise in Waren umgesetzt hat, die sich alsbald in Gold verwandeln lassen oder ihn unter einem Haufen Unbequemlichkeiten begraben, die ihm niemand abnehmen will. Hier haben wir auch den tüchtigen jungen Kommis – Ursache für den faltenstirnigen, graubärtigen, sorgenzermürbten Kaufmann –, der ein Geschäft wittert wie ein Wolfsjunges das Blut und schon Spekulanten ins Schiff seines Herrn schickt, wo er besser daran täte, Spielzeugboote über den Mühlteich fahren zu lassen. Eine weitere Gestalt auf dieser Bühne ist der zum Auslaufen bereite Matrose auf der Suche nach einem Schutzbrief; oder der vor kurzem eingelaufene, der bleich und kränklich nach einem Passierschein zum Hospital verlangt. Wir dürfen außerdem nicht die Kapitäne der rostigen kleinen Schoner vergessen, die Feuerholz aus den britischen Provinzen bringen; eine rauh aussehende Truppe Teerjacken, die zwar nicht so munter sind wie die Yankees, aber auch keinen geringen Beitrag zum Niedergang unseres Handels leisten.

Versammelt man nun all diese Personen so, wie es manchmal der Fall war, und fügt diverse Individuen hinzu, um die Gruppe aufzulockern, dann ergibt sich vorläufig die geschäftige Szene des Zollhauses. Noch häufiger entdeckt man beim Erklimmen der Stufen – sommers im Eingang, winters oder bei schlechtem Wetter in den entsprechenden Räumlichkeiten – eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen. Oft schlafen sie, gelegentlich jedoch hört man sie miteinander reden, mit Stimmen zwischen Sprechen und Schnarchen und jenem Mangel an Tatkraft, der bezeichnend ist für Armenhausbewohner und sämtliche Menschen, deren Unterhalt von Barmherzigkeit, von monopolisierter Arbeit oder etwas anderem, bloß nicht von selbständiger Bemühung abhängt. Diese alten Gentlemen – die wie Matthäus am Zoll saßen, jedoch gar nicht in Gefahr, von dort, gleich ihm, zum apostolischen Dienst berufen zu werden –, das waren die Zollbeamten.

Wenn man durch die Eingangstür tritt, befindet sich linker Hand ein gewisses Zimmer oder Büro, etwa fünfzehn Fuß im Quadrat und schwindelnd hoch; zwei seiner Bogenfenster bieten einen Blick auf den erwähnten brüchigen Pier, während das dritte auf eine Gasse und einen Teil der Derby Street hinabschaut. Alle drei erlauben einen flüchtigen Blick auf die Läden der Krämer, Blockmacher, Klamottenhändler und Schiffsausrüster; an deren Türen sieht man meist lachende und schwatzende Gruppen alter Seebären und anderer Dockratten, wie sie im Wapping eines Seehafens herumgeistern. Der Raum ist voller Spinnweben und hat einen schmuddeligen alten Farbanstrich; der Boden ist mit grauem Sand ausgestreut in einer Weise, die anderswo längst außer Mode gekommen ist; und die allgemeine Schlampigkeit des Ortes legt den Schluß nahe, daß dies eine Freistätte ist, zu der das weibliche Geschlecht mit seinem Zaubergerät, dem Besen und dem Mop, nur selten Zutritt hat. Das Mobiliar besteht aus einem Ofen mit einem voluminösen Abzugsrohr; einem alten Kiefernholzschreibtisch mit einem dreibeinigen Schemel daneben; zwei oder drei überaus klapprigen und gebrechlichen Stühlen mit Holzsitzen; und – um die Bibliothek nicht zu vergessen – zwei, drei Dutzend Bänden mit Bundesgesetzen und einer klobigen Sammlung Finanzgesetze auf ein paar Regalbrettern. Durch die Zimmerdecke führt ein Blechrohr, das sich als Mittel zur mündlichen Kommunikation mit anderen Gebäudeteilen nutzen läßt. Und hier hättest du, verehrter Leser, vor etwa einem halben Jahr – von einer Ecke zur anderen schreitend oder auf dem langbeinigen Schemel lungernd, einen Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, die Augen über die Spalten der Morgenzeitung gleitend – eben jene Person wiedererkennen können, die dich in ihrem heiteren kleinen Arbeitszimmer willkommen hieß, in welchem die Sonne so angenehm durchs Weidengeäst auf der Westseite des Alten Pfarrhauses schimmerte. Solltest du ihn jedoch heute dort aufsuchen, würdest du vergebens nach dem Locofoco-Kontrolleur fragen. Der Besen der Reform hat ihn aus seinem Büro gekehrt, und ein würdigerer Nachfolger bekleidet seinen Rang und steckt sich seinen Lohn in die Tasche.

Die alte Stadt Salem – mein Heimatort, auch wenn ich in der Kindheit und in reiferen Jahren oft fern von ihr wohnte – besitzt und besaß einen Einfluß auf meine Gefühle, deren Kraft mir während der Zeiten meines tatsächlichen Aufenthalts hier niemals bewußt war. Was allerdings ihre physische Erscheinung betrifft, die platte, einförmige Fläche mit Holzhäusern, von denen selten eines architektonische Schönheit vortäuscht, – die Unregelmäßigkeit, die weder malerisch noch idyllisch, sondern nur bieder ist, – die lange, lahme Straße, die sich träge über die gesamte Halbinsel rekelt, Gallows Hill und Neuguinea an einem Ende, ein Blick auf die Armenhäuser am anderen – es wäre bei diesen Eigentümlichkeiten meiner Heimatstadt ebenso sinnvoll, Zuneigung für ein durcheinander gewirbeltes Schachbrett zu empfinden. Und doch steckt in mir, der anderswo stets überaus glücklich war, eine Regung für das alte Salem, die in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Liebe zu nennen ich mich begnügen muß. Das Gefühl läßt sich wohl den tiefen, alten Wurzeln zuschreiben, die meine Familie in diesen Boden geschlagen hat. Vor fast zweieinviertel Jahrhunderten tauchte der Ur-Brite, der früheste Auswanderer mit meinem Namen, in der wilden, waldgesäumten Siedlung auf, die sich seitdem zu einer Stadt entwickelt hat. Hier sind seine Nachkommen geboren und gestorben und haben ihren irdischen Stoff solange mit dem Erdboden vermischt, bis kein Teilchen mehr dem sterblichen Gestell verwandt sein muß, in dem ich für eine kleine Frist durch die Straßen laufe. Nur wenige meiner Landsleute können das verstehen, und sie müssen dieses Wissen auch nicht für erstrebenswert halten, da häufiges Verpflanzen dem Stammbaum vielleicht gut bekommt.

Doch diese Empfindung hat auch ihre moralische Qualität. Die Gestalt des ersten Ahnen, durch Familientradition mit dunkler, düsterer Größe bekleidet, war, soweit ich mich erinnern kann, in meiner kindlichen Vorstellung stets gegenwärtig. Auch heute verfolgt sie mich noch und verursacht eine Art Heimatgefühl in der Vergangenheit, von dem ich kaum behaupten kann, es stünde mit der Gegenwart der Stadt in Verbindung. Mein Anrecht auf einen Wohnsitz scheint größer wegen dieses ernsten, bärtigen Vorfahren mit Zobelmantel und kirchturmhohem Hut – der früh mit Bibel und Schwert kam und die unvernutzte Straße mit solch imposanter Haltung entlangschritt und eine solch mächtige Gestalt abgab wie ein Mann von Krieg und Frieden –, größer als das Anrecht durch mich selbst, dessen Namen man selten hört und dessen Gesicht man kaum kennt. Er war Soldat, Gesetzgeber, Richter; er herrschte in der Kirche; er besaß alle Eigenschaften eines Puritaners, die guten und die schlechten. Er war auch ein erbitterter Verfolger, wie die Quäker bezeugen, die sich seiner in ihren Geschichten erinnern, und einen Fall unnachgiebiger Strenge gegenüber einer Frau ihrer Sekte berichten, der sich, so steht zu befürchten, länger halten wird als alle Aufzeichnungen seiner besseren Taten, obwohl dies viele waren. Sein Sohn hatte den Geist der Verfolgung geerbt und tat sich beim Martyrium der Hexen dermaßen hervor, daß man von ihrem Blut zu Recht behaupten konnte, es befleckte ihn. So tief war die Befleckung, daß der Friedhof in der Charter Street seine alten verdorreten Gebeine noch immer aufbewahrt, falls sie nicht vollständig zu Staub zerfallen sind! Ich weiß nicht, ob meine Vorfahren auf den Gedanken gekommen sind, Buße zu tun und den Himmel um Vergebung für ihre Grausamkeiten anzuflehen; oder ob sie jetzt, in einem anderen Seinszustand, unter den schlimmen Folgen ächzen. Als ihr Vertreter nehme ich, der Schreiber heute, jedenfalls die Schande um ihretwillen auf mich und bete, daß alle von ihnen aufgeladenen Flüche – wie sie mir zu Ohren gekommen sind und wie deren Existenz von der trostlosen, ärmlichen Beschaffenheit der Rasse seit vielen zurückliegenden Jahren behauptet wird – jetzt und fürderhin aufgehoben werden können.

Zweifellos, keiner dieser strengen, finster dreinblickenden Puritaner hätte es als ausreichende Strafe für seine Sünden betrachtet, daß der alte Stamm des Familienbaums voll altehrwürdigem Moos nach Ablauf so vieler Jahre an seinem obersten Zweig einen Müßiggänger wie mich tragen würde. Kein Bestreben, das ich jemals hochgeschätzt habe, hätten sie für löblich erachtet; keinen meiner Erfolge – falls mein Leben außerhalb des häuslichen Radius jemals vom Erfolg aufgehellt wurde – hätten sie für etwas anderes als wertlos gehalten oder sogar absolut erbärmlich. »Was ist er?« murmelt ein grauer Schatten meiner Ahnen dem anderen zu. »Er schreibt Bücher mit Geschichten! Was für ein Geschäft zu Lebzeiten, was für eine Art und Weise, Gott zu verherrlichen oder der Menschheit seiner Tage und Generation zu dienen, soll das sein? Nun, dieser verderbte Bursche könnte ebensogut ein Fiedler sein!« Solcherart sind die Komplimente, die zwischen meinen Urgroßvätern und mir über den Abgrund der Zeit hinweg gewechselt werden. Doch sollen sie mich nach Belieben verspotten, ihre kräftigen Wesenszüge haben sich mit den meinen verwoben.

Seit den frühsten Kindertagen der Stadt durch diese beiden ernsten und energischen Männer tief verwurzelt, hat das Geschlecht hier gelebt; stets in Achtbarkeit und, so weit mir bekannt wurde, niemals auch nur durch ein unwertes Mitglied entehrt; aber nach den ersten beiden Generationen hat es nie oder selten eine denkwürdige Tat geleistet oder irgendeinen Anspruch auf öffentliche Aufmerksamkeit erhoben. Allmählich sind sie fast in Vergessenheit geraten, wie die alten Häuser hier und dort in den Straßen, die bis halb zur Traufe durch die Anhäufung neuen Erdreichs bedeckt wurden. Vom Vater zum Sohn fuhren sie für mehr als hundert Jahre zur See, in jeder Generation zog sich ein ergrauter Schiffskapitän vom Achterdeck in sein Haus zur Ruhe zurück, während ein vierzehnjähriger Knabe den geerbten Platz vor dem Mast einnahm und sich der Salzgischt und dem Sturm stellte, der schon gegen Vater und Großvater getobt hatte. Zu gegebener Zeit wechselte der Knabe von der Back in die Kajüte, verbrachte ein stürmisches Mannesalter und kehrte von seinen Weltfahrten zurück, um alt zu werden und zu sterben und seinen Staub der Heimaterde beizumischen. Diese lange Verbindung einer Familie mit einem Flecken als der Stätte von Wiege und Gruft erzeugt eine Verwandtschaft zwischen Mensch und Ort, ganz unabhängig von bezaubernder Landschaft oder sittlichen Gegebenheiten ringsum. Nicht Liebe ist dies, sondern Instinkt. Der Neubürger – der selbst oder dessen Vater oder Großvater aus einem fernen Land gekommen ist – hat nur wenig Anrecht darauf, daß man ihn einen Salemer nennt; er hat keine Vorstellung von der austernhaften Beharrlichkeit, mit der sich ein alter Siedler, über den sein drittes Jahrhundert kriecht, an den Flecken klammert, an dem die nachfolgenden Generationen verankert waren. Es spielt keine Rolle, daß ihm der Ort freudlos erscheint; daß er die alten Holzhäuser, den Schlamm und den Staub leid ist, die Gleichförmigkeit von Anblick und Empfindung, den kalten Ostwind und das kälteste soziale Klima – all dies, und welche anderen Mängel er sehen oder sich ausmalen mag, tut nichts zur Sache. Der Zauber überdauert und ist genauso mächtig, als wäre der Heimatort ein irdisches Paradies. So verhielt es sich in meinem Fall. Mir kam es fast schicksalhaft vor, daß ich Salem zu meiner Heimat machen sollte, so daß die Gesichtsformen und Charakterzüge, die hier von jeher vertraut gewesen sind – wenn ein Vertreter des Geschlechts in seinem Grab lag, übernahm stets ein anderer sozusagen dessen Wachgang die Hauptstraße entlang –, noch in meinen kurzen Tagen in der alten Stadt gesehen und erkannt werden. Dennoch ist dies Gefühl ein Anzeichen dafür, daß man die ungesund gewordene Verbindung letztlich durchtrennen sollte. Die menschliche Natur wird genau wie eine Kartoffel nicht gedeihen, wenn man sie für eine viel zu lange Generationenreihe in demselben ausgelaugten Boden pflanzt und umpflanzt. Meine Kinder sind an anderen Orten geboren und sollen, soweit ihr Schicksal meinem Einfluß untersteht, ihre Wurzeln in ungewohnte Erde schlagen.

Als ich das Alte Pfarrhaus verließ, war es diese seltsame, fühl- und freudlose Verbundenheit mit meiner Heimatstadt, die mich dazu veranlaßte, einen Platz in Onkel Sams Backsteingebäude einzunehmen, obwohl ich ebensogut oder besser hätte anderswohin gehen können. Mein Verderben war besiegelt. Es war nicht das erste und nicht das zweite Mal, daß ich fortgegangen war – vermeintlich: für immer –, aber wieder zurückkehrte wie ein falscher Fünfziger oder als wäre Salem für mich das unverrückbare Zentrum des Universums. Also stieg ich eines schönen Morgens mit der Weisung des Präsidenten in der Tasche die Granitstufen empor und wurde dem Stab der Gentlemen vorgestellt, die mich in meiner gewichtigen Verantwortung als leitender Beamter des Zollhauses unterstützen sollten.

Ich bezweifle stark – oder vielmehr, ich zweifle durchaus nicht –, daß irgendein öffentlicher Beamter der Vereinigten Staaten im zivilen oder militärischen Dienst je eine solche patriarchalische Veteranentruppe unter seinem Befehl hatte wie ich. Die Position des Amtsältesten war sofort klar, als ich in die Runde blickte. Bis dahin hatte die unabhängige Stellung des Einnehmers das Salemer Zollhaus für mehr als zwanzig Jahre aus dem Strudel politischer Unbeständigkeit herausgehalten, welcher im allgemeinen die Amtszeit sehr brüchig macht. Als Soldat – der höchstdekorierte Soldat Neuenglands – stand er fest auf dem Sockel seines Ritterdienstes und war in vielen Stunden der Gefahr und des Herzbebens der Schutz seiner Untergebenen, selber abgesichert in der klugen Liberalität der Folge von Amtsperioden, in denen er seine Stelle versehen hatte. General Miller war ein radikaler Konservativer, ein Mann, auf dessen freundliches Wesen die Gewohnheit keinen geringen Einfluß hatte; er hielt an vertrauten Gesichtern fest und ließ sich nur schwer zum Wandel bewegen, sogar wenn der Wandel unzweifelhafte Verbesserung gebracht hätte. Als ich die Leitung meiner Abteilung übernahm, fand ich deshalb nur wenige, allerdings ältere Männer vor, meist ehemalige Schiffskapitäne, die – nachdem sie sämtliche Meere durchwälzt und den Sturmböen des Lebens standgehalten haben – schließlich in diesen stillen Winkel getrieben waren, wo außer den periodischen Schrecken der Präsidentenwahl sie kaum etwas aufstörte und wo sie allesamt ein neues Leben gewannen. Obwohl dem Alter und der Schwäche keinesfalls weniger unterworfen als ihre Mitmenschen, besaßen sie offenbar einen Talisman oder etwas anderes, das ihnen den Tod vom Leibe hielt. Ich war mir sicher, zwei oder drei von ihnen hatten Gicht und Rheuma oder waren bettlägerig, und es fiel ihnen während eines Großteils des Jahres nicht im Traum ein, im Zollhaus zu erscheinen; doch nach einem lethargischen Winter krochen sie in die warme Sonne des Mai oder Juni hinaus, verrichteten träge, was sie Pflicht nannten, und begaben sich nach eigenem Ermessen und Belieben wieder ins Bett. Ich muß mich des Vorwurfs schuldig bekennen, den amtlichen Atem von mehr als einem dieser altehrwürdigen Diener der Republik verkürzt zu haben. Unter meiner Amtsführung war ihnen erlaubt, von ihrer mühseligen Arbeit auszuruhen und sich bald danach – als sei ihr einziger Lebensgrundsatz der Diensteifer für ihr Land gewesen, was ich wahrlich glaube – in die bessere Welt zurückzuziehen. Mir ist es ein frommer Trost, daß ihnen durch meine Einmischung ausreichend Raum zur Buße der üblen und korrupten Praktiken zur Verfügung stand, in die eigentlich jeder Zollhausbeamte zwangsläufig verfallen muß. Weder die Vorder- noch die Hintertür eines Zollhauses öffnet sich zum Weg ins Paradies.

Der größte Teil meiner Beamten waren Whigs. Für diese ehrwürdige Bruderschaft war es günstig, daß der neue Kontrolleur kein Politiker war und, obwohl grundsätzlich getreuer Demokrat, sein Amt ohne irgendeinen Bezug auf politische Dienste erhalten hatte. Wäre es anders gewesen, wäre ein aktiver Politiker auf diesen einflußreichen Posten gesetzt worden, um die leichte Aufgabe zu übernehmen, gegen einen Whig-Inspektor vorzugehen, dessen Gebrechen ihn an der persönlichen Leitung seines Büros hinderten, dann hätte einen Monat, nachdem der Engel der Zerstörung die Stufen des Zollhauses hinaufgestiegen war, kaum einer aus der alten Truppe noch Beamtenluft geatmet. Dem anerkannten Codex in solchen Angelegenheiten zufolge, wäre es einem Politiker erste Pflicht gewesen, jedes dieser weißen Häupter unter die Guillotine zu bringen. Es war klar zu erkennen, daß die alten Burschen etliche solcher Unhöflichkeiten aus meinen Händen fürchteten. Es schmerzte und amüsierte mich zugleich, die Schrecken zu bemerken, die mit meiner Ankunft einhergingen; die gefurchte, durch ein halbes Jahrhundert Sturm wettergegerbte Wange zu sehen, wie sie beim Anblick einer so harmlosen Gestalt wie mir aschfahl wurde; das Zittern in einer Stimme wahrzunehmen, die in längst vergangenen Tagen durch ein Sprachrohr zu bellen pflegte, so heiser, daß sie Boreas selbst hätte ängstlich verstummen lassen, wenn sich der eine oder andere an mich wandte. Diese famosen alten Leute wußten, daß sie nach der bewährten Regel – und gemessen an der mangelnden Effizienz einiger von ihnen im Amt – jüngeren Männern weichen müßten, die orthodoxer in der Politik und insgesamt geeigneter als sie selbst waren für den Dienst bei unserem gemeinsamen Onkel. Auch ich wußte das, konnte es aber nie über mich bringen, diesem Wissen entsprechend zu handeln. Verdientermaßen zu meiner großen Schande und zum beträchtlichen Nachteil für mein dienstliches Gewissen fuhren sie in meiner Amtszeit fort, über die Piers zu schleichen und die Zollhaustreppe hinauf- und hinabzutrödeln. Sie verbrachten außerdem ein Gutteil der Zeit schlafend in ihren gewohnten Winkeln, die Stühle rückwärts gegen die Wand gelehnt; und wenn sie ein, zweimal am Vormittag aufwachten, langweilten sie einander mit der tausendsten Wiederholung alter Seemannsgeschichten und verschimmelter Witze, die zwischen ihnen zu Parolen und Losungsworten geworden waren.

Ich stelle mir vor, sie hatten bald entdeckt, daß der neue Kontrolleur ziemlich harmlos ist. Deshalb durchwanderten diese wackeren alten Gentlemen frohen Herzens und im glücklichen Bewußtsein nützlicher Beschäftigung – immerhin zu ihren eigenen Gunsten, wenn auch nicht für unser geliebtes Land – die verschiedenen Formalitäten des Dienstes. Scharf spähten sie hinter ihren Brillen in die Frachträume der Schiffe! Gewaltigen Wirbel veranstalteten sie um Kleinigkeiten, und verblüffend war zuweilen die Dumpfheit, die es größeren Angelegenheiten ermöglichte, ihnen durch die Finger zu schlüpfen! Immer wenn ein solches Mißgeschick passierte – wenn eine Ladung wertvoller Güter an Land geschmuggelt wurde, vielleicht in der Mittagszeit und direkt unter ihren arglosen Nasen –, dann übertraf nichts die Wachsamkeit und Eilfertigkeit, mit der sie alle Zugänge des kriminellen Schiffs einfach und zweifach verriegelten und mit Band und Siegellack verschlossen. Doch statt einer Rüge für die begangene Schludrigkeit, schien der Fall vielmehr eine Eloge ihrer lobenswerten Vorsicht zu fordern, nachdem das Unheil geschehen war; eine dankbare Anerkennung für die Schnelligkeit ihres Eifers, sobald nichts mehr zu retten war.

Ich habe die närrische Angewohnheit, freundlich zu den Leuten zu sein, solange sie nicht übermäßig unangenehm sind. Meist kommt mir zuerst der bessere Charakterteil meines Gegenübers in den Blick, sofern er einen solchen hat, und bestimmt den Typus, an dem ich den Menschen erkenne. Da die Mehrzahl der alten Zollhausbeamten gute Eigenschaften besaß und meine väterliche und beschützende Stellung die Entstehung freundschaftlicher Gefühle begünstigte, mochte ich sie bald allesamt. An den Vormittagen im Sommer, wenn die Gluthitze, die den Rest der Menschenfamilie fast schmelzen ließ, eine wohltuende Wärme auf ihre lethargische Physis übertrug, war es ein Vergnügen, sie am Hintereingang schwatzen zu hören, wo sie wie üblich in einer Reihe gegen die Mauer lehnten; dann taute der frostige Witz früherer Generationen auf und sprudelte mit Gelächter über ihre Lippen. Äußerlich hat die Ausgelassenheit älterer Herren viel mit kindlicher Freude gemeinsam; mit Intellekt und tieferem Sinn für Humor hat sie nur wenig zu tun; bei beiden ist es ein Schimmer, der auf der Oberfläche spielt und sowohl dem grünen Ast als auch dem grauen verrottenden Stamm ein sonniges, lustiges Aussehen verleiht. Im einen Fall ist es allerdings echter Sonnenschein; im anderen gleicht er vielmehr dem leuchtenden Glanz verwesenden Holzes.

Es wäre – das möge sich der Leser vor Augen halten – ein schlimmes Unrecht, alle meine vortrefflichen alten Freunde als senil darzustellen. Zunächst einmal waren meine Assistenten nicht ausnahmslos alt; es befanden sich Männer in den besten Jahren darunter, bemerkenswert fähig und tatkräftig, und weit davon entfernt, das träge und abhängige Leben führen zu müssen, in das sie ein böses Schicksal geworfen hatte. Zudem waren die weißen Locken des Alters manchmal das Dachstroh einer intellektuellen Behausung in gutem Zustand. Der Mehrheit meines Veteranenkorps werde ich aber kein Unrecht tun, wenn ich sie insgesamt als Sippschaft langweiliger alter Seelen charakterisiere, die aus ihrer unterschiedlichen Lebenserfahrung nichts Bewahrenswertes gesammelt hatten. Sie schienen all das goldene Korn praktischer Weisheit, das sie bei vielen Gelegenheiten ernten konnten, verschleudert und ihre Erinnerungen sorgsamstens bei den leeren Hülsen verstaut zu haben. Sie sprachen mit weitaus mehr Interesse und Inbrunst über das Frühstück am Morgen oder das gestrige, heutige oder morgige Mittagessen, als über einen Schiffbruch vor vierzig oder fünfzig Jahren und all die Wunder der Welt, deren Zeuge ihre jugendlichen Augen gewesen waren.

Der Vater des Zollhauses – der Patriarch nicht bloß dieses kleinen Beamtentrupps, sondern auch, wie ich dreist behaupte, der ehrbaren Zollaufseherschaft in den ganzen Vereinigten Staaten – war ein gewisser ständiger Inspektor. Man könnte ihn wahrlich als rechtmäßigen Sohn des Steuersystems bezeichnen, waschecht oder vielmehr purpurgeboren, weil sein Herr Vater, ein Oberst im Unabhängigkeitskrieg und früherer Zolleintreiber des Hafens, eine Stelle für ihn geschaffen und ihn darauf berufen hatte, in jenen Tagen in grauer Vorzeit, an die sich nicht viele Lebende mehr erinnern. Als ich diesen Inspektor kennenlernte, war er ein Mann von etwa achtzig Jahren und zweifellos eines der wundervollsten Exemplare von Wintergrün, die man bei lebenslanger Suche wahrscheinlich entdeckt. Mit seinen roten Wangen, der gedrungenen Statur, adrett herausgeputzt im strahlend hellbeknopften blauen Mantel, dem strammen energischen Schritt und dem rüstigen Aussehen, schien er alles in allem – nicht jung natürlich, aber eine neue Erfindung von Mutter Natur in Gestalt eines Mannes, dem Alter und Gebrechlichkeit nichts anhaben können. Seine Stimme und sein Lachen, die ständig durch das Zollhaus hallten, hatten nichts von zittriger und gackernder Greisensprache an sich; sie schallten aus seiner Lunge prahlerisch hervor wie ein Hahnenschrei oder ein Trompetenstoß. Betrachtete man ihn, wie man ein Tier betrachtet – viel anderes gab es da nicht –, dann war er ein überaus zufriedenstellender Gegenstand wegen seines durch und durch gesunden, intakten Organismus und seiner Fähigkeit, in diesem hohen Alter alle oder fast alle Freuden zu genießen, die er je erstrebt oder sich ausgemalt hatte. Die sorglose Sicherheit des Lebens im Zollhaus mit regelmäßigem Einkommen und bloß geringer und sporadischer Furcht vor Entlassung hatte zweifellos dazu beigetragen, daß die Zeit über ihn hinweggehuscht war. Die eigentlichen, gewichtigeren Gründe lagen jedoch in der seltenen Vollkommenheit seines tierhaften Wesens, dem bescheidenen Ausmaß seines Intellekts und einer äußerst geringfügigen Beimischung moralischer und geistlicher Ingredienzen; diese letztgenannten Eigenschaften waren in gerade noch ausreichendem Maße vorhanden, um den alten Herrn davon abzuhalten, auf allen Vieren zu laufen. Er besaß keinerlei Gedankenkraft, keine Gefühlstiefe, keine lästige Sensibilität, kurzum, anstelle eines Herzens nichts als ein paar alltägliche Instinkte, die, unterstützt von einem fröhlichen Naturell, das aus seiner guten Konstitution herrühren mußte, ihre Pflicht sehr anständig und zur allgemeinen Anerkennung erfüllten. Er war der Gatte dreier Frauen, alle seit langem tot, und Vater von zwanzig Kindern, die meisten in den unterschiedlichen Stadien von Kindes- oder Erwachsenenalter ebenfalls zum Staub zurückgekehrt. Man sollte annehmen, hier gäbe es Leid genug, das sonnigste Gemüt vollends schwarz zu färben. Nicht so bei unserem alten Inspektor! Ein kurzer Seufzer reichte, die ganze Bürde dieser düsteren Erinnerungen von ihm zu nehmen. Im nächsten Augenblick war er zum Scherzen aufgelegt wie ein Kind ohne Hosen, weit mehr als des Inspektors Bürogehilfe, der mit neunzehn Jahren der viel erwachsenere und ernsthaftere Mann war.

Ich pflegte diese altväterliche Persönlichkeit wohl mit lebhafterer Neugier zu betrachten und zu studieren als jede andere menschliche Gestalt, die sich meiner Aufmerksamkeit darbot. Tatsächlich war er ein seltenes Phänomen; in der einen Hinsicht vollkommen, in allen anderen seicht, ungreifbar, ein absolutes Nichtwesen. Ich kam zu dem Schluß, daß er keine Seele, kein Herz, keinen Verstand hatte, und, wie ich bereits sagte, aus nichts als Instinkten bestand; obendrein jedoch fügten sich die wenigen Rohstoffe seines Charakters so geschickt zusammen, daß kein peinlicher Mangel zu erkennen war, sondern meinerseits nur eine völlige Zufriedenheit mit dem bestand, was ich bei ihm vorfand. Schwer vorstellbar, wie er im Jenseits existieren sollte, dermaßen irdisch und sinnlich kam er mir vor; aber auch, wenn sein hiesiges Dasein tatsächlich mit dem letzten Atemzug enden würde, war es ihm nicht unfreundlich verliehen, mit keiner höheren moralischen Verantwortung als die Tiere auf dem Feld, allerdings mit breiterer Freudenspanne und all ihrer segensreichen Immunität gegen die Tristesse und Düsternis des Alters.

In einem Punkt war er seinen vierfüßigen Brüdern weit überlegen, nämlich in der Fähigkeit, sich an gute Mahlzeiten zu erinnern, die zu verspeisen keinen geringen Anteil seiner Lebensfreude ausmachte. Sein Schlemmertum war eine überaus angenehme Eigenart; und ihn über einen Braten reden zu hören, war ebenso appetitanregend wie eine Essiggurke oder eine Auster. Da er über kein höheres Attribut verfügte und keinerlei geistige Begabung weder opferte noch verdarb, indem er all seine Kräfte und Raffinesse dem Dienst am Vergnügen und Gewinn seines Schlunds widmete, gefiel und genügte es mir stets, ihn über Fisch, Geflügel, Fleisch vom Schlachter schwadronieren zu hören und über die besten Methoden, sie für die Tafel zuzubereiten. Seine Erinnerungen an einen guten Schmaus schienen einem, wie lang das Datum des Banketts auch zurückliegen mochte, den Duft von Schwein oder Truthahn unter die Nase zu bringen. Es gab Geschmäcker in seinem Gaumen, die nicht weniger als sechzig oder siebzig Jahre dort verweilten und offenbar noch genauso frisch waren wie das Hammelkotelett, das er gerade zum Frühstück verschlungen hatte. Ich hörte, wie er mit den Lippen schmatzte bei Festessen, deren Gäste, außer ihm selbst, lange schon ein Fraß für die Würmer waren. Und beobachtete voll Erstaunen, wie die Gespenster verflossener Mahlzeiten unablässig vor ihm auftauchten, nicht aus Zorn oder Rache, sondern als wären sie dankbar für seine frühere Wertschätzung und versuchten nun, in endloser Folge diese Vergnügungen zu wiederholen, schattenhaft und sinnlich. Ein Rinderlendchen, ein Kalbshinterviertel, ein Schweinerippchen, ein spezielles Hühnchen oder ein besonders rühmenswerter Truthahn, der vielleicht in den Tagen des älteren Adams den Tisch geschmückt hatte, kamen ihm in Erinnerung; alle nachfolgenden Erfahrungen unserer Spezies und alle Erlebnisse, die seine persönliche Karriere erhellt oder verdüstert haben, sind dagegen mit einer so wenig andauernden Wirkung über ihn hinweggezogen wie eine flüchtige Brise. So weit ich es beurteilen kann, war das tragischste Ereignis im Leben des alten Mannes sein Pech mit einer gewissen Gans, die vor zwanzig oder vierzig Jahren lebte und starb, einer Gans von höchst verheißungsvoller Statur, die sich bei Tisch jedoch als so unüberwindlich zäh herausstellte, daß das Tranchiermesser keinerlei Eindruck auf ihre Karkasse machte, so daß sie nur mit Axt und Handsäge zerteilt werden konnte.

Doch nun ist es Zeit, diese Skizze zu beenden, bei der ich mich gern beträchlich länger aufhalten würde, denn von allen Menschen, die ich je gekannt habe, war dieses Individuum am besten zum Zollhausbeamten geeignet. Die meisten Menschen erleiden, aus Gründen, auf die hinzuweisen mir nicht genug Platz zur Verfügung steht, moralischen Schaden durch diese besondere Lebensweise. Der alte Inspektor war dazu nicht fähig; bliebe er bis zum Ende aller Zeiten im Amt, würde er sich so gut fühlen wie je und sich mit ebenso gutem Appetit an sein Mahl setzen.

Ein Bildnis gibt es, ohne das meine Galerie der Zollhausporträts seltsam unvollständig wäre; meine vergleichsweise seltenen Gelegenheiten für die Beobachtung ermöglichen es mir aber nur, die schwächsten Umrisse zu skizzieren. Es ist das Bildnis des Zolleinnehmers, unseres edlen alten Generals, der nach einem glänzenden Militärdienst, auf den die Herrschaft über ein wildes Westterritorium folgte, vor zwanzig Jahren hierher gekommen ist, um den Abend seines wechselvollen, ehrbaren Lebens zu verbringen. Der wackere Soldat zählte bereits mehr oder weniger siebzig Jahre und befand sich auf der letzten Etappe seines irdischen Marsches, beladen mit Gebrechen, die sogar die martialische Musik seiner den Geist aufwühlenden Erinnerungen kaum aufhellen konnte. Gelähmt war der Schritt jetzt, der einmal an vorderster Front gestanden hatte. Nur mit Hilfe eines Dieners, die Hand schwer auf das Eisengeländer gestützt, konnte er langsam und qualvoll die Stufen des Zollhauses hinaufsteigen, mühsam über den Flur gehen und den altgewohnten Stuhl neben dem Kamin erreichen. Dort saß er und starrte mit leicht trübem Gleichmut auf die Gestalten, die ein und aus gingen, inmitten von Papiergeraschel, Vereidigungen, geschäftlicher Diskussion und zwanglosem Bürogespräch; alle diese Geräusche und Umstände schienen sich nur undeutlich seinen Sinnen aufzuprägen und kaum in die innere Sphäre der Kontemplation vorzudringen. In solcher Ruhe war sein Gesicht sanft und gütig. Wenn seine Aufmerksamkeit erbeten war, schimmerte ein Ausdruck von Höflichkeit und Interesse auf seinen Zügen; das bewies, daß Licht in ihm war und daß nur das äußerliche Medium der Lampe seines Verstands die Strahlen auf ihrer Reise blockierte. Je näher man zur geistigen Substanz vordrang, desto gesünder erschien diese. Wenn er nicht mehr zu sprechen oder zuzuhören gefordert war, was ihn beides sichtliche Mühe kostete, glitt das Gesicht bald in die frühere nicht unfröhliche Ruhe zurück. Es schmerzte nicht, diesen Blick zu sehen; denn obwohl trüb, besaß er nicht den Schwachsinn verfallenden Alters. Das Gefüge seines Wesens, kräftig und massig von Anfang an, war noch nicht in Trümmer gesunken.

Unter solchen Bedingungen war es allerdings eine ebenso schwierige Aufgabe, seinen Charakter zu betrachten und zu bestimmen, wie eine alte Festung, etwa Ticonderoga, aufzuspüren und durch einen Blick auf ihre grauen Ruinen in der Vorstellung neu zu errichten. Vielleicht blieben die Mauern hier und dort fast intakt, aber anderswo mochten sie nur ein unförmiger Wall sein, belastet von ihrer Stärke und in langen Jahren des Friedens und der Verwahrlosung von Gras und fremdartigen Unkräutern überwuchert.

Wenn ich den alten Krieger voll Zuneigung betrachtete – meine Gefühle ihm gegenüber (wie dürftig unser Gespräch auch war) und die aller Zweibeiner und Vierbeiner, die ihn kannten, mag man zutreffend so bezeichnen –, so konnte ich die wesentlichen Punkte seines Porträts dennoch erkennen. Noble und heroische Qualitäten zeichneten es aus, die zeigten, daß er nicht bloß zufällig, sondern mit vollem Recht zu einem angesehenen Namen gelangt ist. Ich stelle mir vor, sein Geist war nie durch unruhige Aktivität geprägt; es bedurfte wohl zu allen Zeiten seines Lebens eines Impulses, um ihn in Gang zu setzen; doch einmal aufgerüttelt, durch zu überwindende Hürden und ein adäquates Ziel, das es zu erreichen galt, lag es diesem Mann nicht, aufzugeben oder zu versagen. Die Glut, die seine Natur früher durchwaltet hatte und die noch nicht erloschen war, glich niemals jener Art, die in einer Feuersbrunst lodert und flackert, sondern einem tiefen, roten Glosen wie bei Eisen im Ofen. Gewicht, Festigkeit, Stabilität; das war der Ausdruck seiner Ruhe, selbst bei solchem Verfall, wie er sich ihm in der Zeit, von der hier die Rede ist, allzu früh genaht hat. Doch sogar damals konnte ich mir vorstellen, daß er bei einer gewissen Erregtheit, die tief ins Bewußtsein dringen sollte – aufgerührt durch Trompetenschall, laut genug, um all seine Kräfte zu wecken, die nicht tot waren, sondern bloß schlummerten –, noch immer in der Lage war, seine Gebrechen wie ein Krankenhemd abzuwerfen, den Greisenstock fallenzulassen, um ein Streitschwert zu packen, und einmal noch als Krieger aufzuspringen. Selbst in einem so intensiven Augenblick würde seine Haltung gefaßt sein. Eine derartige Darbietung ließ sich nur in der Phantasie ausmalen, nicht aber erwarten oder herbeiwünschen. Ich sah in ihm – so deutlich wie die unverwüstliche Brustwehr des als besten Vergleich bereits zitierten Old Ticonderoga – die Charakterzüge einer sturen, beharrlichen Ausdauer, die in seinen früheren Tagen wohl zur Halsstarrigkeit führen mußten; einer Integrität, die sich ähnlich den meisten seiner anderen Begabungen in einer leicht behäbigen Masse befand und sich als so wenig form- und fügbar herausstellte wie eine Tonne Eisenerz; und schließlich einer Güte, die ich, hitzig wie er die Bajonette in Chippewa oder Fort Erie angeführt hat, für ebenso aufrichtig halte wie das, was einige oder alle streitbaren Philanthropen unserer Zeit antreibt. Soweit mir bekannt, hat er Menschen eigenhändig getötet; gewiß sind sie bei dem Angriff, dem sein Geist triumphale Kraft verlieh, gefallen wie Grashalme unterm Schwung der Sense. Es sei wie es ist, in seinem Herzen lag jedenfalls nie auch nur soviel Grausamkeit, den Flaum von einem Schmetterlingsflügel zu wischen. Mir war kein Mann bekannt, dessen angeborener Freundlichkeit ich vertrauensvoller eine Bitte vorgetragen hätte.

Viele Eigenschaften – auch jene, die nicht unbedingt dazu beitragen, einer Skizze Ähnlichkeit zu verleihen – waren sicherlich verschwunden oder eingetrübt, bevor ich dem General begegnete. Merkmale bloßer Anmut sind in der Regel am vergänglichsten, und die Natur schmückt die menschliche Ruine nicht mit Blüten neuer Schönheit, welche allein in den Rissen und Spalten des Verfalls wurzeln und passende Nahrung finden, so wie sie Mauerblümchen über die zerstörte Festung Ticonderoga aussät. Dennoch gab es selbst hinsichtlich Anmut und Schönheit manches Bemerkenswerte. Hin und wieder drang ein Strahl von Humor durch den trüben Schleier und schimmerte wohltuend auf unseren Gesichtern. Ein Zug angeborener Eleganz, wie er nach Kindheit und früher Jugend nur selten zu den Eigenschaften eines Mannes zählt, zeigte sich in des Generals Vorliebe für den Anblick und Duft von Blumen. Man erwartet, daß ein alter Soldat allenfalls den blutigen Lorbeer auf seiner Stirn rühmt, hier war aber einer, der die Gesellschaft von Blumen anscheinend zu schätzen wußte wie ein junges Mädchen.

Dort neben dem Kamin pflegte der wackere alte General zu sitzen, indes der Kontrolleur – der selten, sofern es sich nicht vermeiden ließ, die schwierige Aufgabe übernahm, ihn in ein Gespräch zu verwickeln – lieber in einiger Entfernung stand und sein stilles und fast schläfriges Gesicht betrachtete. Er schien nicht bei uns zu sein, auch wenn wir ihn nur ein paar Meter abseits von uns sehen konnten; entrückt, obwohl wir dicht an seinem Stuhl vorbeigingen; unerreichbar, obwohl wir unsere Hände hätten ausstrecken und die seinen berühren können. Vielleicht lebte er in Gedanken ein wirklicheres Leben als jenes inmitten der unangemessenen Umgebung des Kontrolleurbüros. Die Formationen einer Parade, das Schlachtgetümmel, der Tusch alter, heroischer, vor dreißig Jahren gehörter Musik – solche Szenen und Geräusche waren wohl vor seinem geistigen Auge lebendig. Um ihn herum gingen währenddessen Kaufleute und Kapitäne, adrette Schreiber und ungehobelte Matrosen ein und aus, das Gewusel des Kommerz- und Zollhausdaseins sorgte für ein gleichmäßiges leichtes Gemurmel, und der General schien weder zu den Männern noch zu ihren Angelegenheiten in entferntester Beziehung zu stehen. Er war so fehl am Platz wie ein alter Säbel – der nun verrostet war, doch einst im Kampf geblitzt hatte und dessen Klinge noch immer hell glänzte – zwischen Tintenfässern, Falzbeinen und Mahagoni-Linealen auf dem Schreibtisch des Stellvertretenden Kontrolleurs.

Eines half mir sehr dabei, den strammen Soldaten der Niagarafront zu erfrischen und neu zu beleben, den Mann echter und einfacher Kraft. Es war die Erinnerung an seine denkwürdigen Worte: »Ich werd’s versuchen, Sir!« Gesprochen am Rande eines verzweifelten, heldenmütigen Vorhabens, atmeten sie Geist und Seele neuenglischer Kühnheit, alle Gefahren umfassend, allen entgegentretend. Wenn Mut in unserem Land mit heraldischen Ehren belohnt würde, dann wäre dieser Satz – der leicht zu sagen scheint, den aber nur er allein, vor einer riskanten und ruhmreichen Aufgabe, jemals ausgesprochen hatte – das beste und trefflichste aller Motti für den Wappenschild des Generals.

Es trägt ungemein zur Moral und geistigen Gesundheit eines Mannes bei, wenn er in die Gewohnheiten einer Gesellschaft eingeführt wird, deren Mitglieder ihm nicht ähneln und die sein Bestreben nicht kümmert; er muß aus sich herausgehen, um ihr Milieu und ihre Fähigkeiten schätzen zu lernen. Diesen Vorteil haben meine Lebensumstände mir oft geboten, nie jedoch in größerer Fülle und Vielfalt als während meiner Zeit in diesem Büro. Da war insbesondere ein Mann, dessen Charakter zu beobachten mir eine neue Vorstellung von Talent vermittelte. Seine Begabungen waren eindeutig die eines Geschäftsmanns; rasch, scharfsinnig, gescheit, mit einem Auge, das alle Verwirrung durchdrang, und einem Ordnungsvermögen, das sie gleichsam mit dem Schwung eines Zauberstabs verschwinden ließ. Seit Knabentagen im Zollhaus aufgewachsen, war dies sein angemessenes Betätigungsfeld, und die vielen Verzwicktheiten des Handels, dem Contrebandier überaus lästig, boten sich ihm in der Ebenmäßigkeit eines vollends durchschauten Systems dar. Nach meinen Begriffen durfte er als Ideal seiner Klasse gelten. Er war tatsächlich ein Zollhaus für sich – oder jedenfalls die wichtigste Triebfeder, die seine zahlreichen sich drehenden Räder in Gang hielt –, denn in einer solchen Einrichtung, in der die Beamten gehalten sind, für ihren eigenen Profit und Vorteil zu sorgen, und zwar selten mit klarer Eignung zur Pflichterfüllung, müssen sie notgedrungen anderswo die Fertigkeit suchen, über die sie nicht verfügen. Deshalb zog unser Geschäftsmann, wie ein Magnet die Eisenspäne, unvermeidlich die Schwierigkeiten an, die jedem zustießen. Leicht herablassend und mit freundlicher Nachsicht unserer Begriffsstutzigkeit gegenüber – die seinem geistigen Rang nach einem Verbrechen nahekam –, machte er mit der leisesten Berührung des Fingers das Unbegreifliche sofort taglichthell. Die Kaufleute schätzten ihn nicht weniger als wir, seine heimlichen Freunde. Seine Rechtschaffenheit war vollkommen, sie war bei ihm ein Naturgesetz und kein Entschluß oder Prinzip; sie allein stellt die Hauptbedingung für einen so bemerkenswert klaren und scharfen Verstand dar, um die Dinge ehrlich und vorschriftsgemäß zu verwalten. Ein Fleck auf dem Gewissen, egal in welchem Bereich seines beruflichen Wirkens, würde einen solchen Mann genauso, ja noch stärker quälen, als ein Fehler in der Buchführung oder ein Tintenspritzer auf der sauberen Seite eines Protokollbuchs. Mit einem Wort, hier war ich – ein seltener Fall in meinem Leben – auf eine Person gestoßen, die vollkommen in die von ihr bekleidete Stellung paßte.

Solcherart waren einige der Leute, mit denen ich nun in Verbindung stand. Ich nahm es gern aus den Händen der Vorsehung an, in eine Stellung versetzt worden zu sein, die meinen früheren Gewohnheiten so wenig entsprach, und machte mich ernstlich daran, soviel Nutzen wie möglich daraus zu ziehen. Nach meiner mühseligen Gemeinschaft voller undurchführbarer Pläne mit den verträumten Brüdern der Brook Farm; nach einem dreijährigen Leben unter dem subtilen Einfluß eines Geistes wie Emerson; nach den wilden freien Tagen am Assabeth, in phantastischen Spekulationen mit Ellery Channing schwelgend, an unserem Feuer aus Klaubholz; nach Gesprächen mit Thoreau über Kiefern und indianische Relikte in seiner Einsiedelei in Walden; nachdem ich Verständnis für die klassische Verfeinerung von Hillards Kultur erlangt hatte und wählerisch geworden war, und nachdem ich an Longfellows Kamin von dichterischer Empfindung erfüllt wurde – war es schließlich an der Zeit, daß ich andere Veranlagungen meines Wesens ausüben und Nahrung zu mir nehmen sollte, auf die ich bisher wenig Appetit verspürte. Sogar der alte Inspektor war für einen, der Alcott gekannt hatte, eine willkommene Kostveränderung. In gewisser Weise betrachtete ich das als Beweis für ein von der Natur wohlausgewogenes System, dem kein wesentlicher Teil gründlicher Organisation fehlt, so daß ich mich, bei solch denkwürdigen Mitarbeitern, sofort an Männer von ganz anderen Qualitäten binden konnte und niemals über die Veränderung murrte.

Die Literatur – ihre Ausübung und ihre Gegenstände – hatte für mich nun wenig Belang. In dieser Zeit kümmerte ich mich nicht um Bücher; sie standen mir fern. Die Natur – ausgenommen die menschliche Natur – die Natur also, die sich in Erde und Himmel entfaltet, war mir in gewissem Sinne verborgen, und alles Vergnügen der Vorstellungskraft, das sie durchgeistigt hatte, entschwand aus meinem Kopf. Das Können, das Talent in mir, war, falls nicht ganz abgestorben, beurlaubt und leblos. Darin hätte etwas Trauriges, unaussprechlich Trostloses gelegen, wäre ich mir nicht bewußt gewesen, daß es in meinem Ermessen lag, mir alles Kostbare aus der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Wohl wahr, dies war tatsächlich kein Leben, das man ungestraft allzu lange leben konnte; es hätte mich sonst auf Dauer verändert, ohne mir eine Gestalt zu geben, um die es sich gelohnt hätte. Aber ich betrachtete es nie als etwas anderes als ein transitorisches Leben. Stets existierte ein prophetischer Instinkt, ein leises Flüstern in meinem Ohr, daß in nicht allzu ferner Zeit und wann immer ein erneuter Wechsel der Gewohnheiten für mein Wohl unerläßlich sein sollte, eine Veränderung eintreten würde.

Unterdessen war ich dort, als Steuerkontrolleur, und, soweit ich das beurteilen konnte, so gut, wie es ein Kontrolleur sein mußte. Ein nachdenklicher, phantasiebegabter und einfühlsamer Mann kann jederzeit (besäße er zehnmal soviel dieser Qualitäten wie der Kontrolleur) ein Geschäftsmann sein, wenn er nur entschlossen ist, sich zu bemühen. In keinem anderen Licht sahen und in keiner anderen Rolle kannten mich meine Beamtenkollegen, die Kaufleute und Schiffskapitäne, zu denen mich die offiziellen Pflichten in allerhand Beziehungen setzten. Vermutlich hat keiner von ihnen jemals eine von mir verfaßte Seite gelesen oder würde sich einen Deut mehr um mich geschert haben, wenn er sie sämtlich gelesen hätte; und es hätte die Sache schließlich auch nicht besser gemacht, wenn diese unprofitablen Seiten von einer Feder wie der von Burns oder Chaucer geschrieben wären, beide zu ihrer Zeit genauso Zollbeamte wie ich selbst. Für einen Mann, der vom literarischen Ruhm geträumt hat und davon, sich auf diese Weise unter die Honoratioren der Welt einzureihen, ist es eine gute Lehre – wenngleich oft eine harte –, aus dem engen Kreis zu treten, in dem seine Ansprüche anerkannt werden, und festzustellen, wie bedeutungslos alles, was er geleistet hat, und all seine Ziele außerhalb dieses Kreises sind. Ich wüßte nicht, daß gerade ich diese Lektion gebraucht hätte, als Warnung oder als Rüge, jedenfalls erfuhr ich sie voll und ganz; und ich denke mit Vergnügen daran, daß diese Wahrheit, wie sie sich mir darstellte, mich keinen Schmerz kostete oder es erforderlich machte, sie mit einem Seufzer auszustoßen. Zwar verwickelte mich der Beamte für Marineangelegenheiten – ein vortrefflicher Bursche, der mit mir zusammen ins Amt kam und nur kurz nach mir ausschied – auf dem Wege des literarischen Gesprächs in eine Diskussion über das eine oder andere seiner Lieblingsthemen, Napoleon oder Shakespeare; und auch der Gehilfe des Zolleinnehmers – ein junger Gentleman, der, wie man sich zuflüsterte, bisweilen ein Blatt von Onkel Sams Briefpapier mit etwas bedeckte, das (auf ein paar Meter Entfernung) wie Poesie aussah – sprach dann und wann mit mir über Bücher, eine Materie, in der ich bewandert schien. Doch war dies mein ganzer literarischer Austausch; und er reichte für meine Bedürfnisse vollkommen.

Da ich nicht mehr danach strebte und mir nichts mehr daran gelegen war, daß mein Name auf Titelblättern prangte, mußte ich lächeln bei dem Gedanken, daß er jetzt anders verbreitet wurde. Der Zollsignierer prägte ihn mit Schablone und schwarzer Farbe auf Pfeffersäcke, Anattokörbe, Zigarrenkisten und die Ballen aller zollpflichtigen Handelsgüter zum Zeugnis dafür, daß diese Artikel versteuert waren und regulär das Amt durchlaufen hatten. Auf solch kuriosem Vehikel des Ruhms wurde die Kunde meiner Existenz, soweit ein Name sie vermittelt, dorthin getragen, wo sie nie zuvor gewesen war und wohin sie, so hoffe ich, nie wieder gehen wird.

Aber die Vergangenheit war nicht tot. In größeren Abständen lebten die Gedanken wieder auf, die einmal so lebendig und tatkräftig schienen, nun jedoch still vor sich hin schlummerten. Einer der merkwürdigsten Anlässe, bei dem die Gewohnheit vergangener Tage in mir erwachte, war jener, der dazu führte, nach den Regeln literarischen Anstands dem Publikum die Skizze zu präsentieren, die zu schreiben ich im Begriff bin.

Im zweiten Stock des Zollhauses gibt es einen großen Dachboden, in dem das Mauerwerk und die nackten Sparren nie verschalt und verputzt worden waren. Das Gebäude – ursprünglich nach Maßgabe des alten Handelsunternehmens im Hafen entworfen und für die Vorstellung nachfolgender Prosperität bestimmt, die sich nie verwirklicht hatte – umfaßt weit mehr Raum, als seine Bewohner auszunutzen wußten. Deshalb blieb diese luftige Halle über den Zimmern des Zolleinnehmers bis zum heutigen Tage unfertig und wartet trotz des Girlandenschmucks alter Spinnweben an den staubigen Balken wohl noch immer auf die Arbeit von Zimmermann und Maurer. In einer Nische am einen Ende des Dachbodens stapelten sich etliche Fässer übereinander, die ganze Packen offizieller Dokumente enthielten. Ähnlicher Plunder übersäte massenhaft den Boden. Es war ein trauriger Gedanke, wie viele Tage und Wochen und Monate und Jahre der Mühsal man an diese muffigen Papiere verschwendet hatte, die nun bloß eine Last auf Erden waren, versteckt in diesem vergessenen Winkel, niemals mehr von menschlichen Augen betrachtet. Doch welche Berge anderer Manuskripte – nicht mit dem Stumpfsinn amtlicher Formalitäten bedeckt, sondern mit den Gedanken einfallsreicher Hirne und kostbaren Ergießungen tiefgründiger Herzen – waren nicht ebenfalls dem Vergessen anheimgefallen; und dies, ohne seinerzeit einen Zweck zu erfüllen wie diese Papierstapel, und – am betrüblichsten – ohne ihren Schreibern den bequemen Lebensunterhalt zu verschaffen, den die Beamten des Zollhauses mit den wertlosen Kratzereien ihrer Feder erlangt haben! Doch als Materialien für die Lokalhistorie vielleicht nicht ganz wertlos. Sicherlich könnte man hier Statistiken über den früheren Handel Salems entdecken und Erinnerungen an die fürstlichen Kaufleute – den alten King Derby, den alten Billy Gray, den alten Simon Forrester – und viele andere Magnaten jener Tage, deren gepuderte Häupter allerdings kaum in den Gräbern lagen, als ihr aufgetürmter Reichtum schon zu schrumpfen begann. Die Gründer des größten Teils der Familien, aus denen sich nun die Aristokratie Salems zusammensetzt, ließen sich hier aufspüren, von den kleinen, unbedeutenden Anfängen ihres Handels – meist sehr lange nach der Revolution – bis zu dem, was ihre Kinder als altverbürgten Status betrachten.

Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Revolution fehlen; frühere Dokumente und Archive des Zollhauses wurden wahrscheinlich nach Halifax gebracht, als die Beamten des Königs die Britische Armee auf ihrer Flucht aus Boston begleiteten. Ich habe das oft bedauert; denn wenn jene Papiere bis in die Tage des Protektorats zurückreichten, müßten sie zweifellos viele Hinweise auf vergessene oder noch erinnerliche Männer und auf alte Gebräuche enthalten, die mich mit derselben Freude erfüllt hätten wie früher das Aufklauben indianischer Pfeilspitzen auf einem Feld nahe dem Alten Pfarrhaus.

Doch eines trägen, regnerischen Tages war es mir vergönnt, eine recht interessante Entdeckung zu machen. Ich stocherte und grub im aufgehäuften Gerümpel in der Ecke, faltete das eine und andere Dokument auf und las die Namen von Schiffen, die längst auf See gesunken oder an den Piers verrottet waren, und von Händlern, deren Namen man heute an der Börse noch nie gehört hat und die auf den bemoosten Grabsteinen nicht leicht zu entziffern sind; ich betrachtete diese Unterlagen mit dem betrübten, matten, halbwegs widerstrebenden Interesse, das man dem Leichnam toter Geschäftigkeit widmet, und bemühte meine träge, weil kaum genutzte Phantasie, um aus diesen verdorreten Gebeinen ein Bild der helleren Momente der alten Stadt erstehen zu lassen, als Indien ein neuer Landstrich war und Salem allein den Weg dorthin kannte – und legte meine Hand zufällig auf ein schmales Bündel, das sorgfältig in ein Stück altes gelbes Pergament eingeschlagen war. Dieser Umschlag machte den Eindruck einer amtlichen Aufzeichnung aus einer längst vergangenen Ära, als die Schreiber ihre steifen, formalen Handschriften auf haltbareren Stoffen als den heutigen ausfertigten. Etwas an ihm erregte meine instinktive Neugier und veranlaßte mich in der Ahnung, daß hier ein Schatz ans Licht gehoben werden könnte, das ausgeblichene rote Band zu öffnen, mit welchem das Bündel verschnürt war. Nachdem ich die starren Falze des Pergamentdeckels zurückgebogen hatte, entdeckte ich, daß es sich um die Ernennungsurkunde mit der Signatur und dem Siegel von Gouverneur Shirley für einen gewissen Jonathan Pue zum Kontrolleur der Zölle Seiner Majestät im Hafen von Salem in der Provinz Massachusetts Bay handelte. Ich erinnerte mich, daß ich (wahrscheinlich in Felts Annalen) eine Notiz über das Ableben des Herrn Inspektor Pue vor ungefähr sechzig Jahren gelesen hatte und in einer Zeitung aus jüngster Zeit außerdem einen Bericht über die Aushebung seiner Überreste auf dem kleinen Friedhof der St. Peter’s Church beim Neubau des Gebäudes. Nichts blieb, wenn ich mich richtig entsinne, vom meinem geschätzten Vorgänger als ein unvollständiges Skelett, einige Kleiderfetzen und eine Perücke mit majestätischem Kräuselhaar, die, im Gegensatz zu dem einst von ihr geschmückten Kopf, überaus zufriedenstellend erhalten war. Bei der Durchsicht der Papiere, denen das Ernennungspergament als Umschlag diente, fand ich jedoch mehr Spuren von Herrn Pues geistiger Seite und den inneren Vorgängen seines Kopfes, als die gekräuselte Perücke von dem ehrwürdigen Schädel umfaßt hatte.

Kurz gesagt, es handelte sich nicht um offizielle, sondern um Dokumente privater Natur, oder zumindest um solche, die in privater Eigenschaft und offenbar von eigener Hand geschrieben waren. Ich konnte mir ihre Aufnahme in einen Stapel dieses Zollhausgerümpels nur durch den Umstand von Herrn Pues plötzlichem Tod erklären; und daß diese Papiere, die er wohl in seinem amtlichen Schreibtisch aufbewahrt hatte, seinen Erben niemals bekannt wurden oder daß man sie für zollamtliche Angelegenheiten hielt. Da sich bei der Überführung der Archive nach Halifax herausstellte, daß dieser Packen nicht von allgemeinem Interesse war, ließ man ihn zurück, und dort ist er seitdem ungeöffnet geblieben.

Der ehemalige Kontrolleur – in jenen frühen Tagen vermutlich von Amtsgeschäften wenig belästigt – scheint einige seiner zahlreichen Mußestunden den Nachforschungen als Lokalhistoriker und anderen, ähnlich gearteten Untersuchungen gewidmet zu haben. Sie lieferten den Stoff für die belanglose Beschäftigung eines Geistes, der ansonsten eingerostet wäre. Ein Teil dieser Fakten leistete mir übrigens gute Dienste bei der Vorbereitung eines Hauptstraße betitelten und in den vorliegenden Band aufgenommenen Artikels. Die übrigen Teile könnten später ähnlich nützlichen Zwecken dienen oder, was nicht ausgeschlossen ist, soweit sie zurückreichen als richtige Geschichte Salems ausgearbeitet werden, falls meine Verehrung des heimatlichen Bodens mich je zu solch einer frommen Aufgabe drängt. Inzwischen stehen sie jedem Gentleman zu Gebote, der geneigt und fähig ist, mir diese unrentable Mühe abzunehmen. Ich ziehe in Betracht, sie als letztwillige Verfügung bei der Essex Historical Society zu deponieren.

Der Gegenstand, der in dem geheimnisvollen Packen meine größte Aufmerksamkeit auf sich zog, war jedoch ein sehr zerschlissenes, ausgeblichenes Ding aus feinem roten Stoff. Es trug Spuren goldener Stickerei, allerdings stark zerfranst und verunstaltet, so daß nichts oder fast nichts von dem Glanz geblieben war. Man konnte leicht erkennen, daß es eine wunderbare Stickarbeit war; und der Stich bezeugt (wie mir Damen versichert haben, die in diesen Mysterien bewandert sind) eine heute vergessene Kunst, die auch durch Herauspicken einzelner Fäden nicht wiedererlangt werden kann. Dieser Scharlachtuchfetzen – denn Zeit, Verschleiß und eine frevlerische Motte hatten ihn mehr oder weniger dazu gemacht – nahm bei sorgfältiger Untersuchung die Form eines Buchstabens an. Es handelte sich um den Großbuchstaben A. Eine präzise Messung ergab, daß jeder Schenkel genau dreieinviertel Zoll lang war. Es konnte kein Zweifel bestehen, er war als Kleiderschmuck gedacht; aber wie man ihn getragen hatte oder welche Stellung, Ehre und Würde mit ihm in vergangenen Zeiten bezeichnet wurden, das blieb ein Rätsel, welches zu lösen ich nur wenig Hoffnung hatte (so flüchtig sind die Moden der Welt in diesen Dingen). Und doch interessierte es mich seltsamerweise. Mein Blick heftete sich auf den alten Scharlachbuchstaben und ließ sich nicht abbringen. Es lag gewiß ein tiefer, der Deutung höchst würdiger Sinn darin, der dem geheimnisvollen Symbol sozusagen entsprang und sich meinem Gefühl mitteilte, der Analyse des Verstands allerdings entzog.

Als ich verwirrt unter anderem über die Hypothese grübelte, ob der Buchstabe nicht eine jener Dekorationen gewesen sein konnte, die sich der weiße Mann auszudenken pflegte, um die Blicke der Indianer zu fesseln, hielt ich ihn mir zufällig an die Brust. Mir schien – der Leser mag lächeln, darf meine Worte jedoch nicht anzweifeln –, mir schien daraufhin, daß ich einen nicht ganz, aber doch beinahe körperlichen Eindruck wie von brennender Hitze verspürte, als wäre der Buchstabe nicht aus rotem Tuch, sondern rotglühendem Eisen. Ich schauderte und ließ ihn unwillkürlich zu Boden fallen.

Ganz vertieft in die Betrachtung des Scharlachbuchstabens hatte ich es bis dahin versäumt, eine schmale Rolle fleckigen Papiers zu untersuchen, um das er gewickelt war. Ich öffnete sie nun und erhielt zu meiner Genugtuung eine recht vollständige Erklärung dieser ganzen Angelegenheit, aufgezeichnet von der Feder des alten Kontrolleurs. Es handelte sich um etliche Kanzleibogen, die allerhand Details über das Leben und den Ehebruch einer gewissen Hester Prynne enthielten, die in den Augen unserer Vorfahren eine ziemlich bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen sein mußte. Sie wirkte in einer Spanne zwischen den frühen Tagen Massachusetts und dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Hochbetagte Leute, die zu Herrn Kontrolleur Pues Zeiten noch lebten und auf deren mündlichem Zeugnis sein Bericht beruhte, erinnern sich an sie aus ihrer eigenen Jugend als eine sehr alte, jedoch keineswegs klapprige Frau von vornehmer, ehrwürdiger Erscheinung. Seit fast undenklichen Tagen war es ihre Gewohnheit, im Land als eine Art freiwillige Krankenpflegerin umherzuziehen und soviel Gutes wie möglich zu tun; sie übernahm es auch, in allen Angelegenheiten, besonders jenen des Herzens, Ratschläge zu erteilen. Deswegen brachten ihr viele Leute, wie zwangsläufig bei jemandem mit ihren Neigungen, die einem Engel gebührende Ehrfurcht entgegen, andere indes, so stelle ich mir vor, betrachteten sie als Eindringling und Ärgernis. Als ich weiter in dem Manuskript herumstöberte, entdeckte ich die Aufzeichnung anderer Taten und Leiden dieser sonderbaren Frau, für deren Großteil der Leser auf die Erzählung mit dem Titel Der scharlachrote Buchstabe