Der Schatten des Stricks - Ernest William Hornung - E-Book

Der Schatten des Stricks E-Book

Ernest William Hornung

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Beschreibung

Rachel Minchin ist angeklagt, den Mord an ihrem Ehemann geplant zu haben. Die Beweise sind erdrückend. Das Urteil nur zu schnell gefällt. Während der Gerichtsverhandlung ist immer ein mysteriöser Fremder zugegen. Dieser Fremde versucht, mit Rachel Kontakt aufzunehmen. Weiß er, was zu ihrer Entlastung beitragen könnte? Parallel dazu versucht ein Detektiv, eine Neuaufnahme des Falles zu erwirken. Wird eine neue Untersuchung, Licht in die Angelegenheit bringen? Dieses Meisterwerk der komplexen Kriminalliteratur macht klar, warum Ernest William Hornung als ein absoluter Könner seines Fachs angesehen wurde. Null Papier Verlag

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Ernest William Hornung

Der Schatten des Stricks

Kriminaldrama in zwei Bänden

Ernest William Hornung

Der Schatten des Stricks

Kriminaldrama in zwei Bänden

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Illustrationen: Harvey T. DunnÜbersetzung: Alwina Vischer EV: Verlag von J. Engelhorn, Stuttgart, 1906 (304 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-71-0

null-papier.de/585

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Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Band

Ers­tes Ka­pi­tel. Das Ende vom Lied

Zwei­tes Ka­pi­tel. Die Schwur­ge­richts­ver­hand­lung

Drit­tes Ka­pi­tel. Der Ur­teilss­pruch

Vier­tes Ka­pi­tel. Der Mann im Ei­sen­bahn­zu­ge

Fünf­tes Ka­pi­tel. »Der Mann aus dem Vol­ke«

Sechs­tes Ka­pi­tel. Eine wan­deln­de Vor­se­hung

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. Ein Mor­gen­be­such

Ach­tes Ka­pi­tel. Tau­be und Schlan­ge

Neun­tes Ka­pi­tel. Verän­der­ter Schau­platz

Zehn­tes Ka­pi­tel. Eine lei­se Miss­s­tim­mung

Elf­tes Ka­pi­tel. Ein wei­te­rer neu­er Freund

Zwölf­tes Ka­pi­tel. Ein ge­heim­nis­vol­ler Gast

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel. Das aus­tra­li­sche Zim­mer

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel. Ein erns­ter Kampf

Zwei­ter Band

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel. Eine zu­fäl­li­ge Be­geg­nung

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel. Ein wür­di­ger Geg­ner Mrs. Vena­bles’

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel. Freun­de in der Not

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel. Die ge­la­de­nen Gäs­te

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel. Ra­chels Rit­ter

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Eile – –

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – – mit Wei­le

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Die dun­kels­te Stun­de

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Es däm­mert

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Ein un­ge­la­de­ner Gast

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Lang­holm fin­det eine Spur

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Ein Kar­di­nal­punkt

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Die vol­le Wahr­heit

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. Der Be­weg­grund

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Erster Band

Erstes Kapitel. Das Ende vom Lied

Es ist vor­bei«, sag­te die jun­ge Frau mit un­na­tür­li­cher Ruhe zu sich selbst. »Nicht einen Tag, nicht eine Nacht mehr blei­be ich hier, wenn ich bis zum Mor­gen fer­tig wer­den kann.«

Sie war al­lein in ih­rem Zim­mer, und nie­mand sah die töd­li­che Bläs­se des ova­len Ge­sichts, das ver­ächt­li­che Be­ben der fei­nen Na­sen­flü­gel und den trä­nen­lo­sen Glanz der fun­keln­den Au­gen. Wäh­rend sie noch da­stand, pol­ter­ten schwe­re Schrit­te zwei Trep­pen­ab­sät­ze hin­un­ter, wor­auf im Erd­ge­schoss eine Dop­pel­tür zu­ge­schla­gen wur­de.

Es war ein ho­hes, schma­les Haus mit fünf je zwei Zim­mer ent­hal­ten­den Stock­wer­ken – Erd­ge­schoss und Man­sar­de mit ein­ge­rech­net – ein Haus, wie man sie in Lon­don so häu­fig fin­det. In die­sem hier aber hat­te sich vor kur­z­em ein eben­falls nicht all­zu un­ge­wöhn­li­ches Dra­ma ab­ge­spielt, auf das sich jetzt der Vor­hang her­nie­der­senk­te. Die Mit­wir­ken­den in die­sem Trau­er­spiel be­stan­den in­des nur aus zwei Per­so­nen, ob­wohl die böse Welt von ei­ner drit­ten mun­kel­te.

Ra­chel Min­chin war, ehe sie den un­glück­li­chen Schritt un­ter­nahm, der ihr die­sen Fa­mi­li­enna­men ein­trug, eine eben­so rei­zen­de als blut­ar­me jun­ge Aus­tra­lie­rin ge­we­sen; das heißt, sie hat­te in Hei­del­berg bei Mel­bour­ne das Licht der Welt er­blickt, stamm­te aber von eng­li­schen El­tern ab, die, mehr vor­nehm ge­sinnt als prak­tisch ver­an­lagt, bei ih­rem frü­hen Tode der Toch­ter als ein­zi­ge Aus­rüs­tung für den Kampf des Le­bens ein hüb­sches Ge­sicht, einen vor­treff­li­chen Cha­rak­ter und den Stolz ei­ner rei­chen Er­bin hin­ter­lie­ßen. Au­ßer­dem hat­te Ra­chel eine recht hüb­sche Sing­stim­me, die in­des nicht groß ge­nug war, um ihr eine ge­si­cher­te Zu­kunft zu ver­spre­chen. So war sie denn schon mit zwan­zig Jah­ren als Er­zie­he­rin in den Wild­nis­sen Aus­tra­li­ens tä­tig, wo Frau­en eben­so rar sind als Was­ser, wo sich aber auch kein Mann fand, der Ra­chels Herz hät­te hö­her schla­gen ma­chen. We­ni­ge Jah­re spä­ter ver­dien­te sie sich die Über­fahrt nach Eng­land als Ge­sell­schaf­te­rin ei­ner Dame, und an Bord die­ses Schif­fes soll­te ihr Schick­sal sie er­ei­len.

Mr. Min­chin, der eben­falls bei den An­ti­po­den ge­bo­ren und fast vier­zig Jah­re alt ge­wor­den war, bis er es end­lich zu ei­nem ge­wis­sen Wohl­stand ge­bracht hat­te, war trotz­dem ein welt­ge­wand­ter, viel­ge­reis­ter Mann und kein wil­der Busch­klep­per. Als tüch­ti­ger Mi­nen­bau­in­ge­nieur hat­te er viel vom Le­ben so­wohl in Süd­afri­ka als auch in Westaus­tra­li­en ge­se­hen, und nun woll­te er in Eu­ro­pa als wohl­ha­ben­der und durch kei­nen Be­ruf ge­bun­de­ner Mann so recht sein Da­sein ge­nie­ßen. Sich eine Frau zu neh­men, lag durch­aus nicht in sei­ner Ab­sicht, und auch Ra­chel wünsch­te sich al­les eher als einen Gat­ten. Aber die lan­ge See­rei­se, ihre un­be­frie­di­gen­de Stel­lung und die fort­ge­setz­ten Auf­merk­sam­kei­ten ei­nes hüb­schen, un­ter­hal­ten­den, selbst­be­wuss­ten Welt­man­nes bil­de­ten für sie in ih­rer Uner­fah­ren­heit eine eben­so ver­häng­nis­vol­le Ver­su­chung als für Alex­an­der Min­chin ihre Schön­heit und ihre mit so viel Stolz und Wür­de ge­tra­ge­ne Ar­mut. In al­ler Stil­le lie­ßen sie sich noch am Tage ih­rer Lan­dung in Eng­land trau­en, wo sie bei­de we­der eine ein­zi­ge be­freun­de­te See­le, noch per­sön­lich mit ih­nen be­kann­te Ver­wand­te hat­ten. An­fangs emp­fan­den sie die­sen Man­gel je­doch nicht, da sie sich zu­nächst ein­mal Eu­ro­pa an­se­hen und ihr Le­ben ge­nie­ßen woll­ten. Die jun­ge Frau be­son­ders gab sich umso eif­ri­ger die­sen Genüs­sen hin, als sie mehr und mehr ein­sah, dass die Vor­tei­le ih­rer Hei­rat doch vor­wie­gend ma­te­ri­el­ler Art wa­ren. Alex­an­der Min­chin er­wies sich näm­lich im Lau­fe des ab­wechs­lungs­rei­chen Le­bens in den großen Städ­ten durch­aus nicht mehr als der auf­merk­sa­me, stets gut­ge­laun­te Ka­va­lier, an des­sen rück­sichts­vol­les We­sen sie sich an Bord ge­wöhnt hat­te. Ein­zel­ner Vor­fäl­le zu nä­he­rer Er­läu­te­rung be­darf es nicht; nur so viel sei er­wähnt, dass sich Mr. Min­chin mehr und mehr dem Spiel und Trunk er­gab, bis schließ­lich alle sei­ne gu­ten Ei­gen­schaf­ten von die­sen Las­tern ver­schlun­gen wur­den. Ra­chels rasch auf­brau­sen­de, stol­ze Na­tur mach­te die Sa­che nicht bes­ser. Da sie sich in­des wohl be­wusst war, dass auch sie bei den im­mer häu­fi­ger wer­den­den hef­ti­gen Auf­trit­ten man­chen Feh­ler mach­te, so neig­te sie umso leich­ter zum Ver­ge­ben, wo­durch manch bit­te­rer Streit be­schwich­tigt und eine Ka­ta­stro­phe hin­aus­ge­scho­ben wur­de.

In­zwi­schen lang­te das rei­se­mü­de und durch die Las­ter des Gat­ten in sei­nen Ver­mö­gens­ver­hält­nis­sen zu­rück­ge­kom­me­ne Ehe­paar wie­der in Lon­don an, wo Min­chin in­fol­ge ei­nes zu­fäl­li­gen Du­sels in Mi­nen­ak­ti­en zu ei­ner hö­he­ren Art des Spiels, als das bis­her be­trie­be­ne, über­ging. Er hat­te Blut ge­leckt. Mit Sach­kennt­nis und ein we­nig ba­rem Gel­de konn­te bei die­sen Spe­ku­la­tio­nen un­ter Um­stän­den ein Ver­mö­gen ver­dient wer­den, und Alex­an­der Min­chin ging dar­an, die­se Auf­ga­be zu lö­sen. Er ließ sich in Lon­don nie­der, mie­te­te in ei­ner bil­li­gen Ge­gend ein mö­blier­tes Haus, und dort war es, wo die ehe­li­chen Zwis­tig­kei­ten ih­ren Gip­fel­punkt er­reicht hat­ten.

»Nicht einen Tag«, sag­te Ra­chel, »nicht eine Nacht mehr blei­be ich hier, wenn ich bis zum Mor­gen fer­tig wer­den kann.«

Da Mrs. Min­chin eine ziem­lich ener­gi­sche Frau war, so ließ sie es auch jetzt nicht bei lee­ren Wor­ten be­wen­den. Die Pau­se zwi­schen dem Zu­schla­gen von Tü­ren im Erd­ge­schoss und ei­nem Geräusch auf dem Bo­den dau­er­te nur we­ni­ge Mi­nu­ten lang. Und die­ses Geräusch wur­de von Ra­chel her­vor­ge­ru­fen, die einen lee­ren Kof­fer die obers­te schma­le Trep­pe hin­un­ter­schlepp­te, was ei­nes der Dienst­mäd­chen be­wog, die Kam­mer­tür ein we­nig zu öff­nen.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie ge­weckt habe«, sag­te ihre Her­rin. »Die Trep­pe ist hier so eng. Nein, dan­ke, las­sen Sie nur, ich wer­de ganz gut al­lein fer­tig.« – Kur­ze Zeit dar­auf la­gen die Mäd­chen wie­der in tie­fem Schlaf.

Es war kei­ne klei­ne Auf­ga­be, die Ra­chel sich vor­ge­steckt hat­te. Mit dem nächs­ten Schiff woll­te sie nach Aus­tra­li­en zu­rück­keh­ren, und so muss­te sie sich noch die­se Nacht rei­se­fer­tig ma­chen. Mit der sich all­mäh­lich le­gen­den Auf­re­gung be­fes­tig­te sich ihr Ent­schluss nur noch mehr. Je frü­her sie ih­ren Gat­ten ver­ließ, de­sto ge­rin­ger wür­de sein Wi­der­stand; zö­ger­te sie, so mach­te sei­ne au­gen­blick­li­che Ab­ge­stumpft­heit wahr­schein­lich bald wie­der der Ty­ran­nei des nor­ma­len Gat­ten Platz. Ge­hen aber woll­te sie so oder so. Nicht ein­mal den nächs­ten Tag woll­te sie mehr hier ver­le­ben, wenn sie sich auch sa­gen muss­te, dass die Vor­be­rei­tun­gen sie wohl bis zur Mor­gen­däm­me­rung fest­hal­ten wür­den.

Es war im Sep­tem­ber. Nicht mit lee­ren Hän­den woll­te sie ent­flie­hen – über­haupt nicht ent­flie­hen. Nach reif­li­cher Über­le­gung woll­te sie ihn ver­las­sen und einen Kof­fer mit­neh­men, der das für die Rei­se Not­wen­di­ge ent­hal­ten soll­te. Die Aus­wahl war in­des nicht so ganz leicht. In Stun­den gu­ter Lau­ne hat­te Min­chin recht frei­ge­big sein kön­nen, und nicht ohne ein ge­wis­ses Schmerz­ge­fühl ge­dach­te Ra­chel beim Her­vor­ho­len von manch kost­ba­rem Ge­gen­stand an den Ein­kauf und an die Freu­de, die ihr, dem einst so ar­men Mäd­chen, der un­ge­wohn­te Be­sitz ge­macht hat­te.

Trotz­dem aber blieb ihr Ent­schluss un­er­schüt­tert. Wohl ver­letz­te es ih­ren Stolz, sei­ne per­sön­li­chen Ge­schen­ke mit­zu­neh­men, ob­gleich dies al­les war, was sie je von ihm er­hal­ten hat­te; denn nie­mals war er zu be­we­gen ge­we­sen, ihr ein Ta­schen­geld aus­zu­set­zen. Um je­den Pfen­nig hat­te sie ihn bit­ten müs­sen, und dann soll­te sie auch noch dank­bar da­für sein. Es wäre also nicht ihre Schuld, wenn sie sich jetzt die Über­fahrt mit ih­rer Hän­de Ar­beit ver­die­nen müss­te. Al­lein die­se Geld­ver­le­gen­heit be­un­ru­hig­te sie doch. Still­schwei­gend sei­ne Ge­schen­ke mit­zu­neh­men, ver­letz­te ihr Ehr­ge­fühl, von ih­rem Stol­ze gar nicht zu re­den, und in ih­rer Be­dräng­nis kam sie in ei­nem Au­gen­blick plötz­li­cher Ent­mu­ti­gung nun doch zu dem Ent­schluss, ih­rem Mann ihre Be­dräng­nis an­zu­ver­trau­en und sich an sei­ne, al­ler­dings lau­ni­sche, aber manch­mal doch un­leug­ba­re Groß­mut zu wen­den.

Wohl hat­te er ihr erst vor­hin ver­si­chert, sie kön­ne sei­net­we­gen ins Pfef­fer­land ge­hen, und wahr­schein­lich wür­de er auch jetzt noch von ihr ver­lan­gen, dass sie ih­ren Un­ter­halt selbst ver­die­nen sol­le, trotz­dem aber dräng­te es sie, ihm die Ent­schei­dung an­heim­zu­stel­len, und zwar so­fort.

Sie sah auf ihre Uhr – die­se we­nigs­tens stamm­te von ih­rer Mut­ter – und sie zeig­te ihr, dass die ers­te Stun­de ih­res letz­ten Ta­ges un­ter sei­nem Da­che be­reits an­ge­bro­chen war. Alex­an­der Min­chin war ein Nacht­vo­gel, was sei­ne jun­ge Frau nur zu wohl wuss­te, und die­sen Abend hat­te er ihr im Zorn zu­ge­ru­fen, dass er in ei­nem der obe­ren Wohn­zim­mer zu schla­fen be­ab­sich­ti­ge. Aber er war bis jetzt noch nicht her­auf­ge­kom­men. Das be­tref­fen­de Zim­mer war ein nach rück­wärts ge­le­ge­ner klei­ner Raum, und Ra­chel warf auf ih­rem Wege nach dem Erd­ge­schoss einen Blick hin­ein. Es war leer, auch hat­ten die Mäd­chen we­der das im­pro­vi­sier­te Bett in Ord­nung ge­bracht, noch die Vor­hän­ge zu­ge­zo­gen. Ra­chel be­sann sich einen Au­gen­blick, ging dann aber doch eine Trep­pe hö­her, um rei­ne Bett­tü­cher zu ho­len. Es lag et­was un­end­lich Rüh­ren­des in die­ser un­will­kür­li­chen Für­sor­ge, die ih­ren Grund durch­aus nicht in ei­nem Rest von Lie­be, son­dern nur in ei­nem ge­wis­sen Pf­licht­ge­fühl hat­te, und die deut­lich ver­riet, was für eine vor­treff­li­che Gat­tin sie hät­te wer­den kön­nen.

Min­chin hör­te sie nicht, als sie end­lich ins Erd­ge­schoss hin­un­ter­schlich, ob­wohl in die­ser mit­ter­nächt­li­chen Stun­de die Trep­pen­stu­fen be­son­ders laut un­ter ih­ren Fü­ßen zu knar­ren schie­nen – oder wenn er sie auch hör­te, so gab er je­den­falls kein Zei­chen von sich. Die­se Wahr­neh­mung ent­mu­tig­te Ra­chel; ihr wäre der schlimms­te Zor­nes­aus­bruch lie­ber ge­we­sen. Frei­lich dran­gen Lau­te von au­ßen nur schwer in die hin­ter dem Ess­zim­mer ge­le­ge­ne Stu­dier­stu­be, da der frü­he­re lang­jäh­ri­ge Mie­ter des Hau­ses, ein be­rühm­ter Pro­fes­sor, sich durch An­brin­gung von Dop­pel­tü­ren sei­ne Ruhe ge­si­chert hat­te. Die äu­ße­re, mit dun­kel­ro­tem Filz aus­ge­pols­ter­te Tür mach­te eben­falls ein be­ängs­ti­gen­des Geräusch, als Ra­chel sie mit has­ti­gem Ruck öff­ne­te. Lau­schend war­te­te sie. Aber auch jetzt ließ sich kein Ton von in­nen ver­neh­men: selbst als sei­ne Frau schließ­lich ins Zim­mer trat, ließ Min­chin sich nicht stö­ren. Die­se brauch­te in­des nur einen Blick auf ihn zu wer­fen, um sich über den Grund die­ser Stil­le im kla­ren zu sein. Im Lehn­stuhl des Pro­fes­sors saß des­sen un­wür­di­ger Nach­fol­ger mit auf die Brust ge­sun­ke­nem Kinn. Auf sei­nem Scho­ße lag eine Zei­tung, und ne­ben ihm stan­den eine lee­re Kar­af­fe und ein Glas, worin sich noch ein klei­ner Rest be­fand; er schi­en also noch vor dem Austrin­ken ein­ge­schla­fen zu sein. Über das elek­tri­sche Licht, bei des­sen Schein er ge­le­sen hat­te, war der grü­ne Schirm her­un­ter­ge­zo­gen, ein Zei­chen, dass er die Nacht of­fen­bar hier zu­brin­gen woll­te.

Beim An­blick sei­ner un­be­que­men Lage woll­te Ra­chel et­was wie Mit­leid an­wan­deln, doch ließ die lee­re Fla­sche kei­ne Ge­wis­sens­bis­se bei ihr auf­kom­men. Sie selbst hat­te die Fla­sche am Abend ge­füllt, da ihr Mann beim Weg­ge­hen in ge­heim­nis­vol­ler Wei­se von ei­nem län­ge­ren Aus­blei­ben ge­spro­chen hat­te. Nun be­griff sie die­se Heim­lich­tue­rei, und ihr Ge­sicht ver­fins­ter­te sich, als sie an die un­er­hör­te Be­schimp­fung dach­te, die er ihr bei sei­ner Er­klä­rung ent­ge­gen­ge­schleu­dert hat­te. Nein, nicht eine Mi­nu­te län­ger als not­wen­dig woll­te sie hier blei­ben. Er schlief je­den­falls bis in den Mor­gen hin­ein. Nicht das ers­te Mal wür­de dies der Fall sein, und heu­te je län­ger de­sto bes­ser.

Von ei­nem un­über­wind­li­chen Wi­der­wil­len ge­trie­ben, war sie auf den klei­nen Vor­platz zu­rück­ge­wi­chen, und dort stand sie nun blass, be­bend und von ei­nem Ekel und Ab­scheu er­füllt, der sich beim letz­ten Blick auf das be­schat­te­te Ge­sicht und die un­be­weg­li­che Ge­stalt im Lehn­stuhl noch ver­schärf­te. Ra­chel ver­moch­te sich kei­ne Re­chen­schaft über den Grund die­ses plötz­li­chen, über­mä­ßi­gen Ekels zu ge­ben, der ihr eine Art Übel­keit ver­ur­sach­te und sie gleich­sam an die Schwel­le fest­bann­te. End­lich aber fand sie doch die Kraft, ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­zu­wei­chen, das elek­tri­sche Licht aus­zu­dre­hen und die bei­den Tü­ren eben­so lei­se, als sie sie ge­öff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Auf dem Vor­platz brann­te ein zwei­tes Licht, und auch die­ses lösch­te Ra­chel ge­wohn­heits­mä­ßig aus, ehe sie den Fuß auf die ers­te Trep­pen­stu­fe setz­te. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter stand sie, von Ent­set­zen ge­packt, im Dun­keln.

Noch im­mer kam kein Laut aus dem Stu­dier­zim­mer, nur ein lei­ses me­tal­li­sches Klir­ren ließ sich von dem an der Haus­tür an­ge­brach­ten Brief­kas­ten ver­neh­men. Es moch­te der Wind ge­we­sen sein, denn eine Schrau­be der au­ßer­halb der Tür an­ge­brach­ten, den Ein­schnitt schüt­zen­den Me­tall­klap­pe war los­ge­gan­gen. Und ob­wohl die­ses Geräusch sich nicht wie­der­hol­te, so schrieb Ra­chel es doch dem Win­de zu, als sie in ei­ner Auf­re­gung, die sie mit Be­schä­mung und Furcht zu­gleich er­füll­te, die Trep­pe wie­der hin­au­frann­te. Droh­te der Mut ihr zu schwin­den, der Mut, den sie doch so not­wen­dig brauch­te? Nein, nein, er durf­te sie jetzt nicht ver­las­sen, und als ob sie ihn da­durch zu kräf­ti­gen hoff­te, öff­ne­te sie das Gang­fens­ter und starr­te ei­ni­ge Mi­nu­ten in die küh­le, stern­hel­le Nacht hin­aus. Ein wei­ter Über­blick bot sich ihr frei­lich nicht, denn die Rück­sei­te von Häu­sern ver­deck­te zum größ­ten Teil den Ster­nen­him­mel. Die Rück­sei­te die­ser Nach­bar­häu­ser bil­de­te im Ve­rein mit der Rück­sei­te des von ihr be­wohn­ten Ge­bäu­des ein ge­schlos­se­nes Vier­eck. Dürf­ti­ge Gärt­chen von ver­schie­de­ner Grö­ße schim­mer­ten aus ei­nem Netz­werk von schmut­zi­gen Mau­ern her­vor, zwi­schen de­nen hie und da ein großer, herbst­lich zer­zaus­ter Baum her­vor­rag­te. Ra­chel aber sah we­der nach die­sen Gärt­chen, noch nach den Ster­nen, die sie matt be­leuch­te­ten. Ihr Auge hing an dem aus ei­nem ge­gen­über­lie­gen­den Fens­ter schei­nen­den Licht, das die gan­ze Nacht hin­durch brann­te. Es war das ein­zi­ge ir­di­sche Licht, das Ra­chel se­hen konn­te, das ein­zi­ge ir­di­sche oder himm­li­sche Licht über­haupt, dem sie Be­ach­tung schenk­te. Mit ei­nem Ge­fühl der Dank­bar­keit be­merk­te sie es, und als sie den Blick da­von ab­wen­de­te, mur­mel­ten ihre Lip­pen ein Ge­bet.

Zur rech­ten Zeit war der Kof­fer ge­packt, den Ra­chel auch so­fort die Trep­pe hin­un­ter­schlepp­te, eine An­stren­gung, von der sie je­der Mus­kel schmerz­te. Viel Lärm aber muss­te sie da­bei doch nicht ge­macht ha­ben, denn noch im­mer blieb es still im Stu­dier­zim­mer. Kaum dass sie sich Zeit zum Atem­ho­len nahm, mach­te sie mit ei­nem Drücker die Hau­stü­re lei­se hin­ter sich zu und stand nun end­lich in der fri­schen, kla­ren Luft.

Ei­nen Wa­gen konn­te sie zu die­ser Stun­de nicht fin­den, und au­ßer den Stra­ßen­keh­rern war kein mensch­li­ches We­sen zu se­hen. Die Son­ne stand be­reits hoch am Him­mel, als Ra­chel auf ih­rer Wan­de­rung durch die be­nach­bar­ten Stra­ßen end­lich einen Ein­spän­ner ent­deck­te. Nun aber tat sie et­was höchst Selt­sa­mes. An­statt sich di­rekt vor ihre Woh­nung fah­ren und ih­ren Kof­fer auf­la­den zu las­sen, gab sie dem Kut­scher plötz­lich eine an­de­re Rich­tung an und be­fahl ihm dann, vor ei­nem Hau­se zu hal­ten, an des­sen ei­nem Fens­ter ein Schild mit ei­nem Zim­mer­an­ge­bot hing. Auf Ra­chels Klin­geln er­schi­en nach auf­fal­lend kur­z­er Zeit eine Frau, de­ren Ge­sicht zu­erst Schre­cken, bei Mrs. Minchins An­blick aber un­ver­kenn­bar Ver­druss aus­drück­te.

»So sind Sie also doch nicht ge­kom­men!« rief die Frau in bit­te­rem Tone.

»Ich bin ab­ge­hal­ten wor­den«, er­wi­der­te Ra­chel ru­hig. »Wie geht es ihm?« kam es dann flüs­ternd von ih­ren Lip­pen.

»Er lebt noch«, sag­te die Frau an der Tür.

»Ist das al­les, was Sie mir zu sa­gen ha­ben?« frag­te Ra­chel mit sto­cken­dem Atem.

»Ehe der Arzt nicht hier ge­we­sen ist, kann ich kei­ne wei­te­re Aus­kunft ge­ben.«

»So hat er doch we­nigs­tens die Nacht über­lebt«, fuhr Ra­chel mit dank­ba­rem Auf­seuf­zen fort. »Ich schau­te im­mer wie­der nach dem Licht in sei­nem Zim­mer, selbst zu kom­men aber war mir nicht mög­lich. Ha­ben Sie die gan­ze Nacht an sei­nem Bett ge­ses­sen?«

»Ja, die gan­ze Nacht ohne Un­ter­bre­chung«, ant­wor­te­te die and­re mit ei­nem Aus­druck un­ver­hoh­le­ner Stren­ge in den star­ren, rot­ge­rän­der­ten Au­gen; »kein Auge habe ich zu­ge­tan.«

»Wie leid tut es mir, dass ich Sie nicht ab­lö­sen konn­te!« rief Ra­chel, die zu be­trübt war, um sich über den un­freund­li­chen Ton der Al­ten zu är­gern; »aber es war eben un­mög­lich, voll­stän­dig un­mög­lich. Wir … ich bin im Be­griff, Eng­land zu ver­las­sen. Ar­mer Mr. Se­ve­ri­no! Wenn ich doch ir­gend et­was für ihn tun könn­te! Je­den­falls aber müs­sen Sie jetzt eine Be­rufs­pfle­ge­rin zur Hil­fe neh­men. Und so­bald es ihm bes­ser geht … denn mir ahnt, dass er sich wie­der er­ho­len wird … kön­nen Sie ihm sa­gen …«

Ein­ge­schüch­tert durch den scharf prü­fen­den Blick der ge­röte­ten Au­gen, zö­ger­te Ra­chel.

»Sa­gen Sie ihm, dass ich be­stimmt hof­fe, er wer­de sich bald wie­der voll­stän­dig er­ho­len«, fuhr sie end­lich fort, »mer­ken Sie wohl, voll­stän­dig. Und sa­gen Sie Mr. Se­ve­ri­no auch, dass ich für im­mer fort­ge­he. Da ich je­doch mei­nen Plan, Sie in sei­ner Pfle­ge zu un­ter­stüt­zen, nicht aus­füh­ren konn­te, so ist es mir lie­ber, Sie er­wäh­nen da­von nichts, und auch nicht, dass ich hier war, um zu se­hen, wie es ihm geht.«

Dies war ihr gan­zer Ab­schieds­gruß für den fast noch kna­ben­haf­ten jun­gen Mann, mit dem die klatsch­süch­ti­ge Welt den Na­men Ra­chel Min­chin heim­lich in Ver­bin­dung ge­bracht hat­te. Ihre eben er­wähn­te Äu­ße­rung soll­te üb­ri­gens, wie die Fol­ge zei­gen wird, auch noch in and­rer Hin­sicht von er­heb­li­cher Be­deu­tung für sie wer­den. Gleich dar­auf be­fand sich Ra­chel zum letz­ten Male vor ih­rer ei­ge­nen Haus­tür, in de­ren Schloss sie lei­se und ge­schickt den Drücker steck­te, wäh­rend in ei­nem be­nach­bar­ten Gar­ten die Vö­gel voll aus­ge­las­se­ner Lus­tig­keit zwit­scher­ten und die mes­sin­ge­ne Tür­klin­ke, so­wie die Klap­pe des Brie­fein­wurfs in der Mor­gen­son­ne fun­kel­ten. Da wur­de die Tür plötz­lich von ei­nem Schutz­mann weit auf­ge­ris­sen, hin­ter dem auf dem en­gen Vor­platz ein zwei­ter auf­tauch­te, wäh­rend an der Trep­pe die bei­den Dienst­mäd­chen stan­den. Ohne die ge­rings­te vor­he­ri­ge Er­klä­rung wur­de Ra­chel Min­chin von den Po­li­zis­ten zu ih­rem Gat­ten hin­ein­ge­führt, der noch in der­sel­ben Stel­lung, wie sie ihn ver­las­sen hat­te, in des Pro­fes­sors Lehn­stuhl saß, nur dass sei­ne Füße jetzt steif aus­ge­streckt auf ei­nem zwei­ten Stuhl la­gen und man bei dem von Nor­den her ins Zim­mer flu­ten­den Ta­ges­licht deut­lich er­ken­nen konn­te, dass die Hand des To­des ihn be­rührt hat­te.

Un­be­weg­lich starr­te die jun­ge Wit­we auf ih­ren to­ten Gat­ten, wäh­rend vier Au­gen­paa­re mit noch prü­fen­de­ren Bli­cken auf ihr selbst haf­te­ten. Al­lein we­nig ge­nug stand auf dem blas­sen Ge­sicht mit dem ge­spann­ten Aus­druck und den zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen, de­nen nicht ein ein­zi­ger Schre­ckens­ruf ent­fah­ren war, zu le­sen. Sie hat­te nur die Schwel­le über­schrit­ten und war dann plötz­lich mit­ten auf dem ab­ge­tre­te­nen Tep­pich ste­hen ge­blie­ben, wo sich ihre Ge­stalt jetzt scharf von dem mit Bü­cher­re­ga­len be­deck­ten Hin­ter­grund ab­hob. We­der ein Schwan­ken der ge­schmei­di­gen Ge­stalt, noch ein Ha­schen nach ei­nem Stütz­punkt war zu se­hen, auch wur­de kei­ne Fra­ge aus­ge­spro­chen. Die Art, wie wir einen un­vor­her­ge­se­he­nen, fol­gen­schwe­ren Schlag auf­neh­men, setzt uns oft noch mehr in Er­stau­nen, als der Schlag selbst. Da­bei bringt eine solch un­ver­mu­te­te Tren­nung durch den Tod es uns häu­fig erst zum Be­wusst­sein, was wir uns im Zu­sam­men­le­ben mit dem Ent­schla­fe­nen al­les ha­ben zu­schul­den kom­men las­sen. So ging es auch Ra­chel Min­chin in den ers­ten Au­gen­bli­cken ih­rer tra­gi­schen Be­frei­ung. Gott selbst hat­te also ge­schie­den, was von ihm zu­sam­men­ge­fügt wor­den war! Hier lag er, der Mann, den sie aus Lie­be ge­hei­ra­tet hat­te! War es mög­lich, dass sie jetzt ohne Schmerz den Blick auf sei­nen sterb­li­chen Über­res­ten ru­hen las­sen konn­te? Plötz­lich aber nah­men Ra­chels Ge­dan­ken eine and­re Rich­tung, wo­bei sie, wie die von der Tür aus auf sie ge­rich­te­ten acht Au­gen gar wohl be­merk­ten, ent­setzt zu­sam­men­schau­der­te. Er muss­te schon tot ge­we­sen sein, als sie vom obe­ren Stock­werk her­un­ter­ge­kom­men war und ihn im Däm­mer­licht der be­schat­te­ten Lam­pe hat­te sit­zen se­hen. Die Kopf­hal­tung war un­ver­än­dert, das Kinn auf die Brust ge­neigt, der Mund so na­tür­lich ge­schlos­sen, wie im Schla­fe. Kein Wun­der, dass sei­ne Frau sich hat­te täu­schen las­sen. Und doch lag et­was Un­ge­wöhn­li­ches, et­was Ed­les auf sei­nen Zü­gen, das dem le­ben­den Man­ne nie­mals ei­gen ge­we­sen war. Ra­chel wun­der­te sich plötz­lich, dass der ih­rem Man­ne so gänz­lich frem­de Zug von Wür­de und Vor­nehm­heit, den nur der Tod ei­nem Ant­litz in sol­cher Wei­se zu ver­lei­hen ver­mag, ihr nicht so­gleich auf­ge­fal­len war. Sie schlug die Au­gen zu dem Stück­chen Him­mel auf, das durch den obe­ren Teil des Fens­ters her­ein­schau­te, und schon woll­ten ihr Trä­nen in die Au­gen stei­gen, als statt ih­rer ein Aus­druck des Ent­set­zens und plötz­li­cher Er­leuch­tung dar­aus her­vor­brach. Ein ge­zack­tes Loch be­fand sich in die­sem Fens­ter und auf dem Schreib­pult da­ne­ben lag ein um­ge­wor­fe­nes Tin­ten­fass, des­sen In­halt sich mit dem Blu­te des to­ten Man­nes ver­mischt hat­te. Nun erst be­merk­te sie, dass die­ser in Blut wie ge­ba­det war, und dass die jetzt ne­ben ihm auf dem Bo­den lie­gen­de Zei­tung, die ihn vor­hin noch halb ver­deckt hat­te, steif von Blut war.

»Er­mor­det!« mur­mel­te Ra­chel, in­dem sie end­lich, schwer at­mend, ihr lan­ges Schwei­gen brach. »Das Werk von Die­ben.«

Die Po­li­zis­ten wech­sel­ten einen ra­schen Blick.

»So sieht es al­ler­dings aus«, sag­te der­je­ni­ge, der die Tür ge­öff­net hat­te, »das gebe ich zu.«

Eine auf­fal­len­de Här­te klang aus sei­nem Ton, die Ra­chel in­des eben­so­we­nig be­ach­te­te als die neu­gie­rig vor­ge­streck­ten Köp­fe der un­ter der Haus­tür sich an­sam­meln­den Men­schen.

»Aber ist dar­an über­haupt zu zwei­feln?« rief sie, von dem zer­bro­che­nen Fens­ter auf die ver­schüt­te­te Tin­te zei­gend. »Oder glau­ben Sie, er habe sich selbst er­schos­sen?«

Ihr Ent­set­zen stei­ger­te sich bei die­sem Ge­dan­ken, der für sie noch fürch­ter­li­cher war als al­les and­re. Der Po­li­zist schüt­tel­te je­doch den Kopf.

»Dann hät­ten wir die Pis­to­le fin­den müs­sen«, sag­te er. »Aber er­schos­sen ist er, und zwar mit­ten durchs Herz.«

»Wer könn­te es denn aber ge­we­sen sein, wenn es nicht Die­be wa­ren?«

»Das ist es eben, was wir alle gern wis­sen möch­ten«, sag­te der Schutz­mann, und noch im­mer fand Ra­chel nicht Zeit, sich über sei­nen ei­gen­tüm­li­chen Ton zu wun­dern. Die wei­ßen Hän­de krampf­haft ver­schlun­gen, beug­te sie sich jetzt über den Leich­nam, wäh­rend ihr to­ten­blas­ses Ge­sicht den Aus­druck qual­vol­ler Auf­re­gung trug.

»Se­hen Sie nur, se­hen Sie!« rief sie, sich zu den An­we­sen­den wen­dend. »Ges­tern Abend trug er sei­ne gol­de­ne Uhr, das kann ich be­schwö­ren, und nun ist sie ver­schwun­den.«

»Wis­sen Sie auch ganz ge­wiss, dass er sie trug?« frag­te nä­her­tre­tend der­sel­be Schutz­mann.

»Ja, ganz ge­wiss.«

»Nun, wenn dem wirk­lich so ist«, fuhr er fort, »und sie nir­gends ge­fun­den wer­den kann, so wird dies ein Punkt, sein, der sehr zu Ihren Guns­ten spricht.«

Has­tig, mit vor Er­stau­nen weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen, rich­te­te Ra­chel sich auf.

»Zu mei­nen Guns­ten?« rief sie. »Wol­len Sie viel­leicht die Güte ha­ben, sich deut­li­cher aus­zu­drücken?«

Die Po­li­zis­ten stan­den jetzt zu ih­ren bei­den Sei­ten.

»Nun«, be­gann der­je­ni­ge, der auch bis­her das Wort ge­führt hat­te, »ers­tens ein­mal will mir die Art, wie die­ses Fens­ter zer­bro­chen wor­den ist, nicht recht ge­fal­len. Wenn Sie es ge­nau­er an­schau­en, so wer­den Sie se­hen, was ich mei­ne. Die Scher­ben lie­gen alle drau­ßen auf dem Fens­ter­brett. Aber das ist nicht al­les – da Sie üb­ri­gens ge­ra­de einen Wa­gen vor der Tür ha­ben, so kön­nen wir wohl nichts Ge­schei­te­res tun, als dass Sie uns so­fort zur Po­li­zei­sta­ti­on be­glei­ten, ehe der Auf­lauf drau­ßen noch grö­ßer wird.«

Zweites Kapitel. Die Schwurgerichtsverhandlung

Seit Jah­ren hat­te man nicht mehr mit ei­ner sol­chen Span­nung ei­ner Ver­hand­lung in Old Bai­ley,1 dem Haupt­kri­mi­nal­ge­richt Lon­d­ons, ent­ge­gen­ge­se­hen, und viel­leicht noch nie­mals war eine eif­ri­ge­re Nach­fra­ge nach den we­ni­gen ver­füg­ba­ren Plät­zen in die­sem al­ter­tüm­li­chen Ge­richts­saa­le ge­we­sen. In der Tat hät­te aber auch selbst der un­ter­neh­mungs­lus­tigs­te mo­der­ne Thea­terdi­rek­tor, der einen Stern ers­ter Grö­ße für eine kur­ze Zeit ge­won­nen hat, nicht mehr Re­kla­me ma­chen kön­nen, um die bren­nen­de Neu­gier­de des Pub­li­kums zu er­re­gen, als es für Ra­chel Min­chin von sei­ten ih­res of­fi­zi­el­len Geg­ners, der Po­li­zei­be­hör­de, ge­sche­hen war.

Ob die­se Be­hör­de schon da­mals, als die An­ge­klag­te in Un­ter­su­chungs­haft ge­nom­men wur­de, ein­ge­hen­der über den vor­lie­gen­den Fall un­ter­rich­tet war, als sie vor­gab, oder ob die Be­wei­se der Schuld erst wäh­rend der letz­ten vier­zehn Tage sich ge­häuft hat­ten, soll da­hin­ge­stellt blei­ben. Im­mer­hin aber bil­de­te die­se Fra­ge län­ge­re Zeit hin­durch den Ge­gen­stand hef­ti­ger De­bat­ten. Üb­ri­gens wur­de bald nach der Ver­haf­tung ver­brei­tet, dass eine Men­ge neu­er In­di­zi­en beim Ver­hör zu Tage kom­men wer­den, wo­durch sich der auf der An­ge­klag­ten las­ten­de Ver­dacht noch be­deu­tend ver­schär­fen wer­de. Die Zeu­gen wa­ren so zahl­reich, ihre Aus­sa­gen so ver­wi­ckelt, dass man glaub­te, ihre Ver­neh­mung wer­de wohl eine Wo­che be­an­spru­chen.

Der Fall Min­chin soll­te als ers­ter wäh­rend der Herbst­ses­si­on ver­han­delt wer­den, und an ei­nem Mon­tag­mor­gen Ende No­vem­ber fand denn auch die ers­te Sit­zung statt. Die An­na­len des äu­ßer­lich un­schein­ba­ren his­to­ri­schen Ge­richts­ge­bäu­des hat­ten wohl sel­ten denk­wür­di­ge­re Tage als die­sen Mon­tag­mor­gen und die dar­auf­fol­gen­den zu ver­zeich­nen. Das Ge­schlecht der An­ge­klag­ten, ihre Ju­gend und ihre stol­ze Hal­tung, dazu ihre auf­fal­lend iso­lier­te Stel­lung, ohne einen Freund und Be­schüt­zer in der Not – dies al­les trug dazu bei, die Fan­ta­sie des Pub­li­kums zu we­cken und eine Auf­re­gung her­vor­zu­ru­fen, die durch die all­ge­mei­ne An­sicht, dass nie­mand an­ders das Ver­bre­chen be­gan­gen ha­ben kön­ne, nur noch mehr ge­stei­gert wur­de. So­wohl die Rich­ter als auch sämt­li­che mit dem Ge­richts­hof in Ver­bin­dung ste­hen­de Per­so­nen wur­den aus mehr oder we­ni­ger be­rech­tig­ten Grün­den um Ein­lass­kar­ten zu den Ver­hand­lun­gen ge­quält. Und als der wich­ti­ge Tag dann end­lich kam, muss­te sich der mit Er­folg ge­krön­te Be­wer­ber je­den Zoll breit sei­nes We­ges von der Ne­w­ga­te Street oder von Lud­ga­te Hill bis zum Ein­gang des Ge­richts­ge­bäu­des mit sei­nen bei­den El­len­bo­gen er­kämp­fen. Er hat­te drei ver­schie­de­ne, von ei­ner miss­traui­schen Schutz­mann­schaft ge­bil­de­te Si­cher­heits­kor­d­ons zu pas­sie­ren und sich die Gunst des Sher­riffs durch des­sen gal­lo­nier­te La­kai­en zu er­kau­fen, um schließ­lich mit ver­schie­de­nen be­kann­ten Per­sön­lich­kei­ten ein win­zi­ges Plätz­chen in dem be­schränk­ten Raum fürs Pub­li­kum zu er­rin­gen, wo man sich nur we­ni­ge Fuß von der dicht­ver­schlei­er­ten An­ge­klag­ten und nicht sehr viel wei­ter von dem Ge­richts­prä­si­den­ten im ro­ten Talar be­fand.

Ei­ner der ers­ten, der sich am Mon­tag­mor­gen all die­ser Mühe un­ter­zog, und der letz­te, der sich nach Ver­ta­gung der Sit­zung aus der schlech­ten Luft hin­aus­flüch­te­te, war ein weiß­haa­ri­ger Herr von auf­fal­len­dem Äu­ßern, der sich durch kei­ne Wi­der­wär­tig­kei­ten ab­schre­cken ließ, sich auch an den fol­gen­den Ta­gen zu sei­nem Platz im Ge­richts­saa­le hin­durch­zu­rin­gen. Hin­ter ihm tauch­ten die wohl­be­kann­ten Ge­sich­ter von Jour­na­lis­ten und Rechts­ge­lehr­ten auf, die mit be­rufs­mä­ßi­gem In­ter­es­se den Fall ver­folg­ten. Dem Herrn im wei­ßen Haar aber wa­ren sie zum größ­ten Tei­le fremd. Hin und wie­der drang ge­gen sei­nen Wil­len ei­nes oder das and­re Wort ih­rer un­un­ter­bro­chen im Flüs­ter­ton ge­führ­ten Un­ter­hal­tung an sein Ohr, was ihn mehr als ein­mal be­wog, einen är­ger­li­chen Blick nach rück­wärts zu wer­fen, un­be­küm­mert dar­um, wel­che be­rühm­te Per­sön­lich­keit ihn ge­ra­de auf­fing. Er hat­te ein wohl­kon­ser­vier­tes Ge­sicht mit ei­nem schma­len, äu­ßerst ener­gi­schen Mun­de, stark aus­ge­bil­de­ten Kinn­ba­cken und ei­ner un­ge­wöhn­lich edel­ge­form­ten Stirn. Was bei sei­nem An­blick je­doch am meis­ten in die Au­gen sprang, war das üp­pi­ge, schnee­wei­ße Haar. Bart trug er kei­nen, und die bu­schi­gen Brau­en wa­ren so viel dunk­ler als die Haa­re, dass man sie für ge­färbt hät­te hal­ten kön­nen. Die Au­gen selbst aber wa­ren vom tiefs­ten Schwarz, glän­zend wie Mit­ter­nachts­ster­ne und von ei­ner Art schlau­er Uner­gründ­lich­keit, so­dass eine ge­wis­se Sanft­mut des Aus­drucks auf die­sem aus Ge­gen­sät­zen und Wi­der­sprü­chen zu­sam­men­ge­setz­ten Ge­sicht nicht we­nig über­rasch­te.

Nie­mand im Ge­richts­saal hat­te die­sen Mann schon frü­her ein­mal ge­se­hen, nie­mand au­ßer dem Un­ters­her­riff er­fuhr wäh­rend der gan­zen Wo­che sei­nen Na­men. Am drit­ten Tage je­doch wur­de sei­ne Iden­ti­tät zum Ge­gen­stand ei­ner Dis­kus­si­on so­wohl un­ter den hin­ter ihm sit­zen­den be­rufs­mä­ßi­gen Ken­nern mensch­li­cher Ge­sich­ter, als un­ter den ver­schie­de­nen An­ge­stell­ten, die ihn als einen Herrn ken­nen ge­lernt hat­ten, der eben­so frei­ge­big mit Gold­stücken um­sprang, als and­re mit Sil­ber­mün­zen. So wur­de er denn je­den Tag mit großer Höf­lich­keit nach dem­sel­ben Platz in der Mit­te der un­ters­ten Zuschau­er­rei­he ge­führt, wo er der An­ge­klag­ten, die er un­aus­ge­setzt be­ob­ach­te­te, noch ein klein we­nig nä­her war als die ne­ben oder hin­ter ihm Sit­zen­den. Und ein­mal nur im gan­zen Ver­lauf der Ver­hand­lun­gen wur­de die auf­merk­sa­me Ruhe sei­ner Züge ge­stört.

Dies ge­sch­ah je­doch we­der zu An­fang, als die Ge­fan­ge­ne hin­ter ih­rem Schlei­er her­vor mit kla­rer Stim­me ihre Un­schulds­be­teue­rung ab­leg­te und alle Zu­hö­rer atem­los lausch­ten, noch ei­ni­ge Zeit spä­ter, als der höf­li­che, die An­kla­ge ver­tre­ten­de Ge­ne­ral­staats­an­walt, den Ge­schwo­re­nen mit sei­nem Zwi­cker zu­win­kend, in zucker­sü­ßen Wor­ten von ei­nem neu ent­deck­ten In­di­zi­en­be­weis be­rich­te­te, den er ih­nen vor­zu­le­gen im Be­griff sei. Die ver­miss­te Uhr und Ket­te sei­en ge­fun­den wor­den, und die Ge­schwo­re­nen wür­den dem­nächst Ge­le­gen­heit ha­ben, sie zu­gleich mit ei­ner Zeich­nung, die man von dem Ka­min des Zim­mers, wo der Mord be­gan­gen wor­den war, an­ge­fer­tigt habe, in Au­gen­schein zu neh­men. Denn dort sei­en nach noch­ma­li­ger amt­li­cher Un­ter­su­chung die bei­den Ge­gen­stän­de ge­fun­den wor­den. Man kann sich die Wir­kung die­ser Er­öff­nung vor­stel­len. Sie bil­de­te den Sen­sa­ti­ons­punkt des ers­ten Ver­hand­lungs­ta­ges.

Der gan­ze wei­te­re Ver­lauf der Ver­hand­lung fuß­te auf der Voraus­set­zung, dass nur ein Be­woh­ner des Hau­ses den Mord be­gan­gen ha­ben konn­te, und dass die­ser die sorg­fäl­tigs­ten Vor­keh­run­gen ge­trof­fen hat­te, um der Sa­che den An­schein zu ge­ben, als sei­en Die­be die Ur­he­ber des Ver­bre­chens ge­we­sen. Den Grund zu die­ser An­nah­me bo­ten die au­ßer­halb des Fens­ters ge­fun­de­nen Glas­scher­ben, das Feh­len jeg­li­cher Fuß­spu­ren et­wai­ger Räu­ber und die Ent­de­ckung von zwei Re­vol­vern im Schreib­tisch des Er­mor­de­ten, die bei­de mit den glei­chen Pa­tro­nen wie die­je­ni­ge, die sei­nen Tod her­bei­ge­führt hat­te, ge­la­den wa­ren. Man konn­te au­ßer­dem deut­lich se­hen, dass seit der letz­ten Rei­ni­gung der Waf­fen eine da­von ab­ge­schos­sen wor­den war. Ei­nen so schwer­wie­gen­den In­di­zi­en­be­weis die Auf­fin­dung der ver­miss­ten Uhr und Ket­te auch ge­gen die An­ge­klag­te bil­de­te, so zeig­te der weiß­haa­ri­ge Herr doch kei­ne er­höh­te Auf­merk­sam­keit, was ja auch nicht gut mög­lich ge­we­sen wäre, ja er war viel­leicht der ein­zi­ge Zu­hö­rer, der bei die­ser An­kün­di­gung kein Zei­chen der Auf­re­gung ver­riet.

Das Zeu­gen­ver­hör be­gann mit der Ver­neh­mung der Dienst­mäd­chen und der bei­den Schutz­leu­te; doch kam nicht viel Neu­es da­bei her­aus. Die Mäd­chen wur­den nicht nur über das, was sie wäh­rend der Nacht des Mor­des ge­se­hen und ge­hört – und es schi­en, als hät­ten sie al­les, au­ßer dem ver­häng­nis­vol­len Schuss, ge­hört – son­dern auch über das vor­her­ge­hen­de Ver­hält­nis ih­rer Dienstherr­schaft zu­ein­an­der – wor­über sie eben­falls aus­gie­bi­gen Be­scheid wuss­ten – ver­nom­men. Die Schutz­leu­te da­ge­gen konn­ten na­tür­lich nur dar­über be­rich­ten, was sie, nach­dem die bei­den Mäd­chen sie zu Hil­fe ge­ru­fen, ent­deckt und be­ob­ach­tet hat­ten. In der Schil­de­rung des Be­neh­mens der An­ge­klag­ten beim An­blick ih­res to­ten Gat­ten aber stimm­ten alle vier Zeu­gen auf­fal­lend über­ein. Die An­ge­klag­te habe nur we­nig oder gar kei­ne Über­ra­schung an den Tag ge­legt, und es sei­en meh­re­re Mi­nu­ten ver­gan­gen, ehe sie eine Sil­be ge­spro­chen habe, dann aber habe sie nur den Mund ge­öff­net, um zu be­haup­ten, dass Die­be al­lein den Mord be­gan­gen ha­ben könn­ten.

Wäh­rend des Kreuz­ver­hörs ließ sich der Ver­tei­di­ger der An­ge­klag­ten un­ge­schick­ter­wei­se auch noch in die Kar­ten bli­cken, ein Spiel­ken­ner aber hät­te nicht viel Gu­tes dar­in ent­deckt. Er war über­haupt ein ganz and­rer Ty­pus von ei­nem Rechts­ge­lehr­ten als sein Geg­ner, der Ge­ne­ral­staats­an­walt, und auch be­deu­tend jün­ger als die­ser. Er war von ein­neh­men­de­rem We­sen und von glän­zen­de­rer Be­red­sam­keit, die er mit zwei­fel­haf­tem Ge­schick dazu be­nütz­te, die Ge­schwo­re­nen und den Ge­richts­hof zu blen­den. Sei­ne Metho­de be­stand in ers­ter Li­nie dar­in, die Zeu­gen der Rei­he nach dem Spott und Hohn der gan­zen Ver­samm­lung preis­zu­ge­ben. So wa­ren die bei­den Mäd­chen denn auch bald in Trä­nen auf­ge­löst und die Po­li­zis­ten in ih­rer Wür­de ge­kränkt. Trotz­dem aber blie­ben sie in ih­ren Aus­sa­gen un­er­schüt­tert. Der Prä­si­dent konn­te nicht um­hin, ein vä­ter­lich be­ru­hi­gen­des Wort an die Mäd­chen zu rich­ten, wäh­rend un­ten am Ge­richt­s­tisch ein är­ger­li­ches Schüt­teln der Perücken be­merk­bar wur­de. Das war ent­schie­den nicht der rech­te Weg, um die Her­zen ehr­ba­rer, ge­wis­sen­haf­ter und dick­köp­fi­ger Ge­schwo­re­nen zu ge­win­nen, die größ­ten­teils der­sel­ben Ge­sell­schafts­klas­se an­ge­hör­ten wie die Zeu­gen. Auch die un­ter den Zuschau­ern be­find­li­chen Jour­na­lis­ten und Rechts­ge­lehr­ten hat­ten sich längst ihr be­stimm­tes Ur­teil über den gan­zen Fall ge­bil­det, ohne das­je­ni­ge der Her­ren am Ge­richt­s­tisch ab­zu­war­ten. Nur auf dem Ge­sicht des in der ers­ten Rei­he sit­zen­den Man­nes mit dem schnee­wei­ßen Haar, der die An­ge­klag­te un­aus­ge­setzt be­ob­ach­te­te – auf die­sem ener­gi­schen, glat­tra­sier­ten Ge­sicht war eben­so­we­nig ir­gend eine An­sicht zu le­sen als auf dem durch einen un­durch­dring­li­chen Wit­wen­schlei­er ver­deck­ten Ant­litz der An­ge­klag­ten.

Auch am nächs­ten Tage, als die Auf­merk­sam­keit des Ge­richts­ho­fes fünf Stun­den lang von ei­nem ne­ben­säch­li­chen Um­stand in An­spruch ge­nom­men war, blieb sei­ne ge­las­se­ne Auf­merk­sam­keit die­sel­be. Der Ver­tei­di­ger hat­te bei­ge­bracht, dass die im Ka­min des Stu­dier­zim­mers ge­fun­de­ne Uhr und Ket­te nicht die vom Ver­stor­be­nen zur Zeit sei­ner Er­mor­dung ge­tra­ge­ne ge­we­sen sei. Die­se Be­haup­tung wur­de durch her­bei­ge­brach­te Fo­to­gra­fi­en Alex­an­der Minchins un­ter­stützt, die eine Uhr­ket­te auf­wie­sen, de­ren Mus­ter mit dem der ge­fun­de­nen nicht ganz über­ein­zu­stim­men schi­en. Sach­ver­stän­di­ge so­wohl in Uhr­ket­ten als in Fo­to­gra­fi­en wur­den von bei­den Sei­ten zu Rate ge­zo­gen, und selbst de­ren Mei­nung ging aus­ein­an­der. So fes­selnd die­se Ver­hand­lung aber auch zu An­fang war, so be­gann das In­ter­es­se dar­an doch all­mäh­lich zu er­lah­men, nach­dem meh­re­re Tage hin­ter­ein­an­der von nichts an­derm mehr die Rede ge­we­sen war und die ver­grö­ßer­ten Fo­to­gra­fi­en im­mer und im­mer wie­der her­um­ge­zeigt wor­den wa­ren. Selbst die An­ge­klag­te ließ schließ­lich er­mat­tet den Kopf sin­ken, als ihr ei­ge­ner un­er­müd­li­cher Ver­tei­di­ger zum dut­zends­ten Male nach der Uhr­ket­ten­fo­to­gra­fie ver­lang­te.

Auch der Prä­si­dent zeig­te eine ge­lang­weil­te Mie­ne, bis end­lich durch den Auss­pruch der Ge­schwo­re­nen, dass sie nun in Hin­sicht der Uhr­ket­te ihre An­sicht ge­bil­det hät­ten, das The­ma end­gül­tig ver­las­sen wur­de. Nur das leb­haf­te, auf­merk­sa­me Ge­sicht des Man­nes mit den wei­ßen Haa­ren hat­te kei­ne Spur von Lan­ge­wei­le ver­ra­ten.

So war denn Mrs. Minchins Fall von ih­rem An­walt mit glü­hen­dem Ei­fer, wenn auch viel­leicht nicht aus in­ne­rer Über­zeu­gung ver­foch­ten wor­den. Als er sie dann am Frei­tag nach­mit­tag, dem Ge­set­ze ge­mäß, auf­for­der­te, nun selbst das Wort zu ih­rer Ver­tei­di­gung zu er­grei­fen, tat er es mit der Mie­ne ei­nes Man­nes, der sei­ne Sa­che für ver­lo­ren hält. Dass er nicht viel Ver­trau­en auf den Er­folg ih­rer Ver­tei­di­gungs­re­de hat­te, konn­te man deut­lich auf sei­nem hüb­schen, fein­ge­schnit­te­nen, aber für einen Rechts­ge­lehr­ten all­zu aus­drucks­vol­len Ge­sicht se­hen. Wie man schon an den vor­her­ge­hen­den Ta­gen aus der Art, wie er sich aus sei­nem Stuh­le er­hob, hat­te schlie­ßen kön­nen, in wel­cher Wei­se sein Kreuz­ver­hör bei je­dem ein­zel­nen Zeu­gen aus­fal­len wür­de, so stand auch jetzt deut­lich auf sei­nem Ge­sicht zu le­sen, dass sei­ne Kli­en­tin nur auf ih­ren ei­ge­nen, hart­nä­ckig aus­ge­spro­che­nen Wunsch und ganz ge­gen den Rat ih­res Ver­tei­di­gers von ih­rem Rech­te Ge­brauch mach­te.

Es war ein trüber Nach­mit­tag, und in die­sem al­ten Ge­richts­ge­bäu­de ist die An­kla­ge­bank so an­ge­bracht, dass die Be­schul­dig­ten mit dem Rücken ge­gen das Licht sit­zen. Da­her kam es auch, dass so­wohl die von den ver­schie­de­nen Zei­tun­gen ab­ge­schick­ten Re­por­ter und Blitz­zeich­ner, als die sons­ti­gen Ken­ner der mensch­li­chen Phy­sio­gno­mie, die hin­ter dem weiß­haa­ri­gen Herrn sa­ßen, noch im­mer kei­ne Ge­le­gen­heit fan­den, Ra­chel Min­chin, die den schwe­ren Schlei­er jetzt end­lich zu­rück­ge­schla­gen hat­te, ge­nau zu se­hen. Auch jetzt, nach­dem Ra­chel das Wort er­grif­fen hat­te, neig­te sich der weiß­haa­ri­ge Herr nicht einen Zoll breit vor, was frei­lich auch nicht nö­tig war, da sämt­li­che Fra­gen von der An­ge­klag­ten mit hel­ler, kla­rer Stim­me be­ant­wor­tet wur­den. Und doch war es eine die­ser von ih­rem ei­ge­nen Ver­tei­di­ger an sie ge­rich­te­ten Fra­gen, die den weiß­haa­ri­gen Herrn plötz­lich be­wog, die Hand hin­ters Ohr zu le­gen und sich vor­zu­beu­gen, als kön­ne die Ant­wort nicht ohne ein ge­wis­ses Zö­gern er­fol­gen. Ra­chel hat­te in trau­ri­gem, aber fes­tem Tone von dem letz­ten Wort­wech­sel mit ih­rem Man­ne be­rich­tet, in­dem sie un­auf­ge­for­dert des­sen Ur­sa­chen ent­hüll­te, ohne da­bei die ge­rings­te Ver­le­gen­heit zu zei­gen. Ein Nach­bar sei ge­fähr­lich krank ge­we­sen, und als sie am Abend habe fort­ge­hen wol­len, um ihn wäh­rend der Nacht zu pfle­gen, sei ihr Mann ihr an der Haus­tür ent­ge­gen­ge­tre­ten und habe ihr ver­bo­ten, ihr Vor­ha­ben aus­zu­füh­ren.

»War die­ser Nach­bar ein jun­ger Mann?«

»Ei­gent­lich noch fast ein Kna­be«, ant­wor­te­te Ra­chel, »der, eben­so wie wir selbst, kei­nen ein­zi­gen Freund in Lon­don hat­te.«

»War Ihr Gat­te ei­fer­süch­tig auf ihn?«

»Ich hat­te vor je­nem Abend kei­ne Ah­nung da­von ge­habt.«

»Dann aber ha­ben Sie es ge­merkt?«

»Al­ler­dings.«

»Und wo hat­te Ihr Mann den Abend ver­bracht?«

»Auch da­von hat­te ich kei­ne Ah­nung, bis er mir selbst sag­te, dass er das Haus be­wacht habe – und warum.«

Ob­wohl der Mann tot war, konn­te sie ih­ren Groll doch nicht ganz aus der Stim­me ban­nen, und nun wie­der­hol­te sie auch mit ge­senk­tem Kopf sei­ne letz­ten an sie ge­rich­te­ten Wor­te.

Ein Schau­der der Ent­rüs­tung lief durch die Ver­samm­lung.

»War dies das letz­te Mal, dass Sie ihn am Le­ben sa­hen?« frag­te der Ver­tei­di­ger mit plötz­lich auf­ge­hei­ter­tem Ge­sicht und wie­der er­wach­ter Zu­ver­sicht, als sei er es ge­we­sen, der die noch­ma­li­ge Ver­neh­mung sei­ner Kli­en­tin ver­langt hat­te. Die Ant­wort er­folg­te dies­mal je­doch nicht so­fort, und in die­sem Au­gen­blick war es, dass der weiß­haa­ri­ge Mann die Hand hin­ters Ohr leg­te, und das, was jetzt ge­sch­ah, war auch ge­ra­de das, was er ge­fürch­tet zu ha­ben schi­en.

»War dies das letz­te Mal, dass Sie ihn am Le­ben sa­hen?« wie­der­hol­te Ra­chels Ver­tei­di­ger in ge­win­nen­dem Tone und mit der Mut ein­spre­chen­den Mie­ne, die ihm so leicht zu Ge­bot stand.

»Ja, das war das letz­te Mal«, ant­wor­te­te Ra­chel nach noch­ma­li­ger kur­z­er Über­le­gung.

Nun schlug auch der weiß­haa­ri­ge Mann aus­nahms­wei­se die Au­gen nie­der, und die har­ten Li­ni­en sei­nes Mun­des ver­zo­gen sich zum ers­ten Male zu ei­nem Lä­cheln, in dem sich je­doch al­les Böse und Schlech­te, das in sei­nem Ge­sicht aus­ge­drückt lag, gleich­sam ver­kör­per­te.

Ge­richts­ge­bäu­de in Lon­don. Manch­mal auch als Syn­onym für (brit­sche) Ge­rich­te im All­ge­mei­nen  <<<

Drittes Kapitel. Der Urteilsspruch

Die Aus­sa­ge der An­ge­klag­ten schloss mit ei­nem sach­li­chen, wenn auch et­was zö­gernd ge­spro­che­nen Be­richt dar­über, wie sie den Rest je­ner ver­häng­nis­vol­len Nacht ver­bracht hat­te. Die­se Vor­gän­ge sind je­doch be­reits aus­führ­li­cher be­schrie­ben wor­den, als sie durch das höf­li­che, aber grau­sa­me Kreuz­ver­hör des Ge­ne­ral­staats­an­walts zu Tage ge­för­dert wer­den konn­ten. Die Art, wie Ra­chel ihre Aus­sa­gen mach­te, war plötz­lich an­ders ge­wor­den; ihre Kraft und Ener­gie schie­nen sie mit ei­nem Male ver­las­sen zu ha­ben, so­dass ihr jetzt je­des Wort so­zu­sa­gen in den Mund ge­legt wer­den muss­te. Selt­sa­mer­wei­se traf die­se Ver­än­de­rung in Mrs. Minchins We­sen fast un­mit­tel­bar mit den nur ein­mal und dann auf so fins­te­re Wei­se zur Schau ge­tra­ge­nen Emp­fin­dun­gen des weiß­haa­ri­gen Man­nes zu­sam­men, der je­des Wort der Ver­hand­lung ver­folgt hat­te. Im gan­zen aber trug ihre Er­zäh­lung in­des auch jetzt noch den Stem­pel der Wahr­heit, ein Ein­druck, der durch die Kreuz­fra­gen des Ge­ne­ral­staats­an­walts nicht er­schüt­tert wur­de.

Au­ßer den Sach­ver­stän­di­gen in Uhr­ket­ten und Fo­to­gra­fi­en er­schi­en nur eine ein­zi­ge Ent­las­tungs­zeu­gin. Es war dies die Haus­wir­tin, bei der Ra­chel am frü­hen Mor­gen auf ih­rem Wege nach Hau­se vor­ge­spro­chen hat­te. Sie ver­weil­te nur kur­ze Zeit auf der Zeu­gen­bank, aber wäh­rend die­ser we­ni­gen Mi­nu­ten lie­fer­te sie der Ver­tei­di­gung ei­ni­ge ih­rer schla­gends­ten Be­weis­grün­de. Dass eine Frau, die ih­ren Mann er­mor­det hat­te, küh­len Blu­tes ih­ren Kof­fer pack­te und dann einen Wa­gen hol­te, der sie und ihre Rei­se­ef­fek­ten vom Orte des Dra­mas fort­brin­gen soll­te, war schließ­lich noch zu be­grei­fen. Wie aber konn­te man es für mög­lich hal­ten, dass eine Frau von so viel Geis­tes­ge­gen­wart, die sich doch der Ge­fahr je­der ver­lo­re­nen Mi­nu­te be­wusst sein muss­te, mit dem end­lich ge­fun­de­nen Wa­gen auch noch einen Um­weg ma­chen wür­de, um sich nach dem Be­fin­den ih­res Kran­ken – selbst wenn die­ser ihr ster­ben­der Lieb­ha­ber ge­we­sen wäre – zu er­kun­di­gen, und dann erst nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren, um ihr Ge­päck zu ho­len und sich zu ver­ge­wis­sern, ob ihr Ver­bre­chen noch un­ent­deckt sei? An­ge­nom­men, er wäre wirk­lich ihr Lieb­ha­ber ge­we­sen, und sie hät­te sich un­be­dingt noch nach sei­nem Er­ge­hen er­kun­di­gen wol­len – wür­de sie dann die­se Er­kun­di­gun­gen nicht bis zu­al­ler­letzt auf­ge­spart ha­ben? Aber auch ab­ge­se­hen da­von, ob sie die­se Er­kun­di­gun­gen nun zu­erst oder zu­letzt ein­ge­zo­gen hat­te, wür­de wohl eine Frau, die über die Not­wen­dig­keit ei­ner ei­li­gen Flucht nicht im Zwei­fel sein konn­te, die Tor­heit be­ge­hen, und ei­ner an­de­ren Frau an­ver­trau­en, dass sie ge­zwun­gen sei, Eng­land so rasch als mög­lich und für im­mer zu ver­las­sen?

»Un­denk­bar!« rief der An­walt der An­ge­klag­ten, in­dem er sich nach den ers­ten sach­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen aus­führ­lich über die­sen Punkt ver­brei­te­te. Im­mer wie­der er­tön­te das Wort »un­denk­bar« in sei­nem lan­gen, hef­ti­gen Plai­doy­er, worin er sich vor al­lem an­ge­le­gen sein ließ, das Plai­doy­er sei­nes Geg­ners, des Ge­ne­ral­staats­an­walts, von An­fang bis zu Ende ins Lä­cher­li­che zu zie­hen, an­statt die von die­sem ver­tre­te­nen An­sich­ten sach­lich zu be­kämp­fen. Für die Hand­lun­gen der An­ge­klag­ten wäh­rend der Nacht des Mor­des und noch mehr für die­je­ni­gen am Mor­gen dar­auf gab es – vor­aus­ge­setzt, dass sie den Mord be­gan­gen hat­te – frei­lich kei­ne bes­se­re Be­zeich­nung als die­ses »un­denk­bar«. Der ein­zi­ge Übel­stand da­bei war nur der, wie der Ge­ne­ral­staats­an­walt in sei­ner Er­wi­de­rung sei­nem Freun­de und Geg­ner in höf­lichs­ter Wei­se zu ver­ste­hen gab, dass in je­dem mit dem Gal­gen en­di­gen­den Mord­pro­zess das Wort »un­denk­bar« eine Rol­le ge­spielt habe.

»An­der­seits«, fuhr der Ge­ne­ral­staats­an­walt fort, in­dem er sei­nen Knei­fer mit ge­mäch­li­cher Ruhe hin und her be­weg­te und sei­ne Wor­te mit ei­ner Sorg­falt wähl­te, die de­ren Wir­kung nach der un­ge­zü­gel­ten, pol­tern­den Be­red­sam­keit der Ver­tei­di­gungs­re­de noch er­höh­te, »an­der­seits, mei­ne Her­ren, wenn die Ver­bre­cher kei­ne un­ge­schick­ten Hand­lun­gen be­gin­gen – man mag sie nun für un­denk­bar hal­ten oder nicht, wenn sie nicht Feh­ler mach­ten, so wür­den sie auch nie­mals auf der An­kla­ge­bank sit­zen.«

Es war schon spät am Sonn­abend­nach­mit­tag, als der Prä­si­dent end­lich mit sei­nem Re­sumé be­gann, doch soll­ten die­je­ni­gen eine an­ge­neh­me Über­ra­schung er­le­ben, die der An­sicht wa­ren, Sei­ne Ex­zel­lenz wer­de sich si­cher­lich in ei­ner noch län­ge­ren Rede er­ge­hen, als die bei­den Rechts­ge­lehr­ten, de­ren Auss­prü­che er ge­gen­ein­an­der ab­wä­gen muss­te. Sei­ne Rede war je­doch weitaus die kür­zes­te von al­len drei­en. We­ni­ger er­schöp­fend als die her­kömm­li­chen Re­ka­pi­tu­la­tio­nen ei­nes ver­wi­ckel­ten Fal­les bot sie doch eine über­aus kla­re und gänz­lich un­par­tei­ische Dar­stel­lung der Sach­la­ge. Nur die her­vor­ra­gends­ten Punk­te wur­den den Ge­schwo­re­nen, und zwar in we­ni­gen Wor­ten zu­sam­men­ge­drängt und ohne sei­ne ei­ge­ne An­sicht ir­gend­wie er­ra­ten zu las­sen, noch ein­mal vor­ge­legt.

»Wenn«, sag­te der Prä­si­dent, »die Schluss­fol­ge­run­gen der An­kla­ge rich­tig wa­ren, wenn die­se un­glück­se­li­ge Frau, von ih­rem Gat­ten zur Verzweif­lung ge­bracht und, den Auf­be­wah­rungs­ort der Pis­to­len ken­nend, ihn mit ei­ner da­von er­schos­sen und dann der Sa­che den An­schein zu ge­ben ver­sucht hat, als sei­en Die­be die Ur­he­ber des Ver­bre­chens ge­we­sen, so liegt doch un­zwei­fel­haft hier ein Mord vor und nicht etwa Tot­schlag.«

Die Fei­er­lich­keit die­ses Auss­pruchs mach­te sich bis in die äu­ßers­ten Ecken des über­füll­ten Saals gel­tend. So wür­de sie also ent­we­der we­gen Mords ver­ur­teilt oder ganz frei­ge­spro­chen wer­den.

Un­will­kür­lich wand­te sich je­des Auge der schlan­ken, schwar­zen Ge­stalt auf der An­kla­ge­bank zu, und un­ter all die­sen Bli­cken neig­te sich die Ge­stalt ein ganz klein we­nig. Die­se Be­we­gung war in­des so schwach und so spon­tan, dass man sie für un­be­wusst hal­ten konn­te, aber ge­ra­de des­halb muss­te sie dop­pelt wir­ken. Trotz­dem wur­de sie von vie­len im Ge­richts­saal, be­son­ders von den Schau­spie­lern, die hin­ter dem Mann mit dem wei­ßen Haar sa­ßen, für einen fei­nen Zug höchs­ter Ver­stel­lungs­kunst und Selbst­be­herr­schung an­ge­se­hen.

»Wenn sie frei­ge­spro­chen wird«, flüs­ter­te ei­ner von die­sen ein­ge­bil­de­ten Nar­ren ei­nem an­de­ren zu, »so kann sie ihr Glück auf der Büh­ne ma­chen!«

In­zwi­schen war der Prä­si­dent auf die ei­ge­nen Aus­sa­gen der An­ge­klag­ten über­ge­gan­gen, und zwar in recht men­schen­freund­li­cher­wei­se. Auch leg­te er da­bei we­ni­ger Zu­rück­hal­tung an den Tag als im ers­ten Teil sei­ner Rede. Man dür­fe nicht ver­ges­sen, dass die Aus­sa­gen ei­ner Frau, die zwi­schen Le­ben und Tod schwebt, des­halb nicht we­ni­ger glaub­haft sei­en, wäh­rend es an­der­seits Pf­licht der Ge­schwo­re­nen sei, wohl zu be­den­ken, dass die Be­haup­tun­gen der An­ge­klag­ten au­ßer in ne­ben­säch­li­chen Ein­zel­hei­ten kei­ne Be­stä­ti­gung ge­fun­den hät­ten. An den Ge­schwo­re­nen sei es jetzt, den Her­gang der Ge­schich­te an sich, so wie sie ihn selbst ge­hört hät­ten, auch in Be­zug auf die Zeu­gen­aus­sa­gen zu be­ur­tei­len. Heg­ten sie nur den ge­rings­ten be­rech­tig­ten Zwei­fel, so müs­se der An­ge­klag­ten der vol­le Vor­teil die­ses Zwei­fels ge­währt und sie frei­ge­spro­chen wer­den. Wenn aber an­der­seits die Ge­schwo­re­nen nach Er­wä­gung al­ler ein­schlä­gi­gen Mo­men­te zu der Über­zeu­gung ge­langt sei­en, dass nie­mand an­ders als die An­ge­klag­te den Mord be­gan­gen ha­ben kön­ne – trotz­dem al­ler­dings kei­ner das Ver­bre­chen habe be­ge­hen se­hen – so müss­ten sie, ih­rem Eide ge­treu, sie schul­dig spre­chen.

Wäh­rend der Rede des Prä­si­den­ten war der kur­ze No­vem­ber­tag all­mäh­lich in den Abend über­ge­gan­gen, und in dem fins­te­ren, al­ters­ge­schwärz­ten Saal hat­te sich eine große Ver­än­de­rung voll­zo­gen. Mat­te Glas­ku­geln ver­wan­del­ten sich in blen­den­de Son­nen, und zum ers­ten Male wäh­rend der gan­zen Wo­che durch­ström­ten Licht und Wär­me den düs­te­ren Ort. Die Wir­kung von Licht und Wär­me lag aber auch auf al­len Ge­sich­tern, als die Zu­hö­rer sich wie auf einen Schlag em­por­rich­te­ten, wäh­rend der Prä­si­dent die Ge­richts­bank ver­ließ, die Ge­schwo­re­nen sich im Gän­se­marsch in ihr Be­ra­tungs­zim­mer zu­rück­zo­gen und die An­ge­klag­te, zum letz­ten Male in Un­ge­wiss­heit über ihr Schick­sal, hin­aus­ge­führt wur­de. Im nächs­ten Au­gen­blick schon braus­te ein Sum­men und Schwir­ren durch den Saal, wie man es eher im Zwi­schen­akt ei­ner Thea­ter­vor­stel­lung er­war­tet hät­te, als in ei­nem Ge­richts­saal im Au­gen­blick der erns­ten Ent­schei­dung. In ein Schul­zim­mer, aus dem der Leh­rer fort­ge­ru­fen wor­den ist, hät­te man sich ver­setzt glau­ben kön­nen – kaum eine ein­zi­ge Zun­ge stand still. Am Ge­richt­s­tisch schüt­tel­ten die Schrei­ber, über ihre rosa Lösch­blät­ter und ihre Kiel­fe­dern ge­beugt, eif­rig mit den Perücken; Her­ren von der Pres­se spitz­ten ihre Blei­stif­te oder er­gin­gen sich in Ver­mu­tun­gen: die we­ni­gen Be­vor­zug­ten, die zwi­schen den Sit­zen der Re­por­ter und der Ge­richts­bank Platz ge­sun­den hat­ten, dis­ku­tier­ten die Sach­la­ge mit grau­sa­mer Gleich­gül­tig­keit und un­er­hör­tem Cy­nis­mus, hin­ter dem sie in­des le­dig­lich ihre in­ne­re Er­re­gung zu ver­ber­gen such­ten.

Der Frem­de im wei­ßen Haar schenk­te dem Ge­schwätz um sich her jetzt aus­nahms­wei­se ei­ni­ge Be­ach­tung, je­doch ohne sich um­zu­wen­den. Plötz­lich ließ sich der Ruf ver­neh­men: »St! Still! Sie kom­men!« Da ver­stumm­te das ge­dan­ken­lo­se Ge­schnat­ter. Al­lein, es war ein falscher Alarm ge­we­sen: kei­ne Spur von den Ge­schwo­re­nen ließ sich ent­de­cken, und von neu­em schwoll das Stim­men­ge­wirr an, wie wenn der Wind all­mäh­lich in Sturm über­geht.

»Wir wer­den uns wohl ein Gläs­chen gön­nen müs­sen, wenn al­les vor­über ist«, flüs­ter­te ei­ner der bei­den Ad­vo­ka­ten, die vor­hin über den Fall dis­ku­tiert hat­ten, dem an­de­ren zu.

»Das will ich mei­nen, al­ter Jun­ge«, ant­wor­te­te sein Freund.

Das Ge­sicht des weiß­haa­ri­gen Man­nes ver­fins­ter­te sich noch mehr. Dies war also die Art, wie die Leu­te sich un­ter­hiel­ten, wäh­rend sie auf das To­des­ur­teil ei­nes ih­rer Mit­menschen war­te­ten! Frei­lich, mor­gen in den Zei­tun­gen, da wür­de die­ses ani­mier­te Ge­plap­per im Saa­le ohne Zwei­fel mit den schö­nen Aus­drücken: lei­ses Schwir­ren, er­war­tungs­vol­les, angst­er­füll­tes Flüs­tern etc. be­zeich­net wer­den. Trotz­dem ließ sich nicht leug­nen, dass eine tie­fe, wenn auch viel­leicht un­ter­drück­te, aber aus je­der Stim­me her­aus­klin­gen­de Er­re­gung in der Luft lag. Auch dem weiß­haa­ri­gen Man­ne ent­ging das nicht, und ver­ächt­lich ver­zog er den Mund. So konn­ten sie also scher­zen, die­se Men­schen, und da­bei doch ihre in­ne­re Angst nicht los­wer­den! Ihm selbst war frei­lich kei­ne Schwä­che an­zu­mer­ken. Ge­dul­dig lau­schend saß er da mit dem un­ver­än­dert prü­fen­den Blick, den er die gan­ze Wo­che hin­durch ab­wech­selnd auf der An­ge­klag­ten und den Ge­schwo­re­nen hat­te ru­hen las­sen. Und als dann zu­erst die­se und hier­auf auch die An­ge­klag­te wie­der er­schie­nen, wan­der­te sein schlau­es Auge in glei­cher Wei­se von ei­nem zum an­de­ren.

Al­les in al­lem wa­ren die Ge­schwo­re­nen nicht län­ger als vier­zig Mi­nu­ten fort­ge­we­sen, und ihre ei­li­ge Rück­kehr schi­en ein eben­so schlech­tes Omen zu sein, als ihre erns­ten, auf­ge­reg­ten Ge­sich­ter. Ein Flüs­tern, ein lei­ses, ver­hei­ßungs­vol­les Ge­mur­mel ging einen Au­gen­blick lang durch den Saal, dann aber folg­te eine Stil­le, die ganz der­je­ni­gen ent­sprach, wie man sie am nächs­ten Tage in je­der Zei­tung be­schrie­ben le­sen wür­de. Die An­ge­klag­te blieb auf­recht ste­hen zwi­schen den bei­den Ge­fäng­nis­wär­te­rin­nen, die sie be­glei­tet hat­ten. Nun end­lich konn­ten auch die Jour­na­lis­ten und Blitz­zeich­ner ihre lang­ge­heg­te Ab­sicht aus­füh­ren, denn Mrs. Min­chin hat­te nicht nur den Stuhl, auf dem sie die gan­ze Wo­che ge­ses­sen, ver­schmäht, son­dern auch den schwe­ren Schlei­er, den sie nur ein ein­zi­ges Mal wäh­rend ih­rer Ver­tei­di­gungs­re­de ein we­nig ge­lüf­tet hat­te, ganz zu­rück­ge­schla­gen. Nun hing er wie ein schwar­zer Non­nen­schlei­er über ih­ren Wit­wen­hut, und in die­ser Um­rah­mung er­schi­en ihr er­schre­ckend blas­ses Ge­sicht noch wei­ßer als das ei­ner To­ten.

Sie aber hat­te ih­ren Schlei­er nur zu­rück­ge­schla­gen, um dem ihr dro­hen­den Fein­de, dem Tode, of­fen ins Ant­litz zu schau­en, und wie ge­bannt haf­te­ten die stau­nen­den Bli­cke der gan­zen Ver­samm­lung auf die­sem Bil­de.

So also sah das Ge­sicht aus, das all die­se Tage her ver­bor­gen ge­we­sen war? Ein ganz andres hat­ten sie hin­ter der stolz ab­wei­sen­den Hül­le des dich­ten Schlei­ers ver­mu­tet. War dies das Ge­sicht ei­ner Mör­de­rin?

Schön konn­te man es zwar in die­sem Au­gen­blick nicht nen­nen, wenn­gleich die Be­din­gun­gen der Schön­heit un­ver­kenn­bar un­ter dem trü­ben Hauch von Ent­set­zen und Lei­den ver­steckt wa­ren, so wie eine schö­ne Land­schaft auch in der un­güns­tigs­ten Be­leuch­tung im­mer noch schön ist. Das Ge­sicht war schmal, aber von vollen­dets­tem Oval, ein klein we­nig in die Län­ge ge­zo­gen durch ein kräf­ti­ges Kinn und eine hohe, freie Stirn, au­gen­blick­lich auch noch durch Kum­mer und un­na­tür­li­che Ab­ma­ge­rung. Der hüb­sche Mund mit den blut­lee­ren Lip­pen hat­te einen sanf­ten und zu­gleich ener­gi­schen Aus­druck, die Au­gen wa­ren von war­mem, glän­zen­dem Braun, strah­lend, be­redt, tap­fer und – hoff­nungs­los.

Sie hat­te aber auch in der Tat kei­ne Hoff­nung. Ein Blick auf das to­ten­blas­se, vom grau­sa­men Gas­licht grell be­leuch­te­te Ge­sicht ge­nüg­te, um dies zu er­ken­nen. Doch trat die­se Hoff­nungs­lo­sig­keit noch deut­li­cher her­vor, als Ra­chel mit trau­ri­gen, aber un­er­schro­cke­nen Au­gen be­ob­ach­te­te, wie die Ge­schwo­re­nen zum letz­ten Male den Auf­ruf ih­rer Na­men be­ant­wor­te­ten.

Nun war auch dies ge­sche­hen. Er­regt wen­de­te sich der Ob­mann auf sei­nem Plat­ze hin und her. In der qual­vol­len Span­nung der letz­ten furcht­ba­ren Pau­se schi­en es der dicht­ge­dräng­ten Men­ge, als stei­ge­re sich die Tem­pe­ra­tur im Saa­le zu der ei­nes tür­ki­schen Ba­des.

»Mei­ne Her­ren Ge­schwo­re­nen, ha­ben Sie sich über Ihren Ur­teilss­pruch ge­ei­nigt?«

»Ja, das ha­ben wir!«

»Erach­ten Sie die An­ge­klag­te für schul­dig oder nicht schul­dig?«

»Für nicht schul­dig.«

Ein un­ter­drück­ter Auf­schrei aus Hun­der­ten von Keh­len zu­gleich ging durch den Saal. Zu­gleich sah man, wie der Schrift­füh­rer die Hand ans Ohr leg­te und sich vor­beug­te, denn die Stim­me des Ob­manns hat­te vor lau­ter Er­re­gung kei­nen Klang. Je­der­mann im Saal beug­te sich nun eben­falls vor, dies­mal aber hat­ten die Emp­fin­dun­gen des auf­ge­reg­ten Ob­manns eine and­re Wir­kung.

»Nicht schul­dig!« brüll­te er nun aus vol­lem Hal­se.

To­ten­stil­le folg­te, wäh­rend die Wand­uhr fünf Uhr schlug.

»Ist dies das Ur­teil von Ih­nen al­len?«

»Ja, von je­dem von uns!«

Die Au­gen auf das Pult nie­der­schla­gend, lehn­te sich der Prä­si­dent in sei­nen Stuhl zu­rück, ohne durch eine Mie­ne oder Be­we­gung sei­ne per­sön­li­che An­sicht zu ver­ra­ten, die er mit so be­wun­derns­wür­di­ger Un­par­tei­lich­keit wäh­rend des gan­zen Ver­hörs un­ter­drückt hat­te. Im­mer­hin aber ver­gin­gen doch ei­ni­ge Au­gen­bli­cke, ehe er die Au­gen zu­gleich mit sei­ner Stim­me er­hob.

»Die An­ge­klag­te ist in Frei­heit zu set­zen!« war al­les, was er sag­te. In die­sen Wor­ten soll­te aber ein mür­ri­scher är­ger­li­cher, dank­ba­rer, em­pör­ter, ge­rühr­ter und auch wie­der har­ter und gleich­gül­ti­ger Ton ge­le­gen ha­ben. So wür­de es mor­gen in den Zei­tun­gen zu le­sen sein, dann konn­te sich je­der aus­er­wäh­len, was ihm am bes­ten ge­fiel.

So wur­de denn Ra­chel Min­chin vor den weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen von hun­dert bis zwei­hun­dert ih­rer Mit­menschen aus dem Ge­richts­saal hin­aus­ge­führt, und zwar in ei­nem Zu­stand, als sei sie zum Tode ver­ur­teilt und nicht frei­ge­spro­chen wor­den. Sie schi­en den Ur­teilss­pruch, der auf so vie­len Ge­sich­tern und nicht zum min­des­ten auf ih­rem ei­ge­nen den Aus­druck des Er­stau­nens her­vor­ge­ru­fen hat­te, noch gar nicht zu fas­sen. Ihre blas­sen Züge hat­ten sich ro­sig ge­färbt, aber nicht vor Freu­de. Die wäh­rend der ver­gan­ge­nen Wo­che krampf­haft zu­rück­ge­hal­te­ne Er­re­gung mach­te sich dann in ei­nem hef­ti­gen Trä­nen­strom Luft, so­dass man die jun­ge Frau aus dem Ge­richts­saal schlep­pen muss­te. Mu­tig hat­te sie ihn zum letz­ten Male be­tre­ten, aber es war ein falscher Mut ge­we­sen, so­dass sie im ent­schei­den­den Au­gen­blick das Ur­teil ih­rer Be­frei­ung schwe­rer er­trug als ein To­des­ur­teil.