Der Schatten von Tulum - J. R. Bechtle - E-Book

Der Schatten von Tulum E-Book

J. R. Bechtle

0,0

Beschreibung

Jake Friedman hat Karriere gemacht. Mit Mitte fünfzig gehört er zu den Senior Partnern einer großen Investmentbank an der Wall Street. Ein Deutscher, der es als Spezialist für Finanzgeschäfte mit Mexiko bis in die höchsten Bankenkreise der USA geschafft hat. Als Friedman zu einem wichtigen Termin nach Mexiko City gerufen wird, bei dem es um ein Milliardenprojekt geht, stößt er auf einen brisanten Korruptionsfall. Nur kurz nach dem Termin wird er überwältigt und entführt. Während zunächst alles darauf hindeutet, dass die Tat mit seinem aktuellen Projekt zu tun hat, das er verhindern wollte und das nun ohne seinen Widerstand abgewickelt wird, kommt es zu einer Reihe von rätselhaften Ereignissen. Nach und nach verdichten sich die Hinweise, dass die Gründe für seine Entführung in seiner Vergangenheit liegen könnten. Die Spuren führen zu seinem ersten Aufenthalt in Mexiko vor dreißig Jahren, als er als Student quer durchs Land bis nach Tulum trampte, in das damalige Hippieparadies an der Karibikküste, wo es zu einer folgenschweren Begegnung kam.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 405

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Der deutschstämmige Investmentbanker Jake Friedman hat in New York geschäftlich und gesellschaftlich Karriere gemacht. Als Spezialist für das Mexikogeschäft wird er zu einer dringlichen Besprechung nach Mexico City gerufen und dort von seinem Gesprächspartner, einem milliardenschweren Unternehmer, mit einem brisanten Betrugsfall konfrontiert. Das Treffen endet in heftigem Streit. Als er nur kurz danach entführt wird, deutet für Friedman alles darauf, dass man verhindern will, dass er den Betrug der amerikanischen Bankaufsicht meldet. Doch kommt es in der Folge zu einer Reihe von rätselhaften Ereignissen: Während Friedman in die undurchdringliche Bergwelt von Chiapas verschleppt wird, verdichten sich die Hinweise, dass die Gründe für seine Entführung weiter zurück liegen. Denn mysteriöse Spuren führen zu seinem ersten Aufenthalt in Mexiko vor dreißig Jahren, als er als junger Mann quer durchs Land bis nach Tulum trampte, in das damalige Hippieparadies an der Karibikküste, wo es zu einer folgenschweren Begegnung kam.

Ein abenteuerlicher Thriller, angesiedelt im New Yorker Wall-Street-Milieu und an spektakulären Schauplätzen in Lateinamerika. Jake Friedman, erfolgreicher Wall-Street-Banker, wird bei einem Termin in Mexico City entführt. Hat es mit dem dubiosen Milliardenprojekt zu tun, das ohne ihn abgewickelt werden soll? Doch eine andere mysteriöse Spur führt weit in seine Vergangenheit, an den sagenumwobenen Ort Tulum an der karibischen Küste.

 

J. R. Bechtle

DER SCHATTEN VON TULUM

Roman

 

Meinen KindernJessica und Michael

Und meinem FreundLorenzo Weisman

 

Babe, you’re just a wave, you’re not the water

Jimmie Dale Gilmore, Butch Hancock

Freedom is just another word for nothing left to lose

Janis Joplin, Kris Kristofferson

 

Inhalt

1. – Ungeduldig wartet Jake Friedman …

2. – Am nächsten Morgen …

3. – In dem unablässigen Rattern …

4. – Um ihn ein undurchdringliches …

5. – Jake versucht vergeblich …

6. – Sharon hatte sich nie …

7. – Das Trommeln des Regens …

8. – Niemals in ihrem Leben hat Sharon …

9. – Als er am nächsten Morgen …

10. – Pünktlich hebt die Maschine …

11. – Eine Woche später sitzt er …

Danksagung

 

1.

Ungeduldig wartet Jake Friedman seit über einer Stunde auf den Anruf des mexikanischen Finanzministers. Spätestens fünf Uhr, hatte die Sekretärin des Ministers ihm heute Vormittag noch versichert. Unruhig streichen seine Finger über den Schreibtisch. Es ist kurz vor sechs. Seine Partner haben längst das Büro verlassen, nicht ungewöhnlich, er ist meist der Letzte abends in der Firma, wegen der späten Arbeitsgewohnheiten seiner Kunden in Mexiko. Selbst unzuverlässig, was dieser Finanzminister einmal mehr beweist, erwarten sie von ihm, dass er zu jeder Uhrzeit für sie strammsteht. Aber er muss jetzt dringend Schluss machen, um es rechtzeitig vor acht Uhr noch zur Wohltätigkeitsveranstaltung für die Renovierung der Carnegie Hall zu schaffen. Erst ein Konzert des Boston Symphony Orchesters unter seinem Dirigenten Seiji Ozawa, danach das Galadinner im Waldorf Astoria Hotel. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt in seinem an wichtigen Ereignissen wahrlich nicht armen New Yorker Leben. Natürlich im Smoking, vorher umziehen muss er sich also auch noch.

Vor kurzem hat Jake Friedman seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Er ist Seniorpartner seiner Investmentbank. Er hat Glück gehabt, denn viele, mit denen er vor knapp dreißig Jahren hier begonnen hat, haben sich im rauen Alltag der Wall Street aufgerieben. Reich sind sie dennoch geworden, ein hart verdienter Lohn für die brutalen und nie endenden Grabenkämpfe in diesem Geschäft. Aber seit einiger Zeit spürt auch er den Druck, den Atem der aufstrebenden jüngeren Partner in seinem Rücken, denen der Senior bei ihrem ehrgeizigen Drang nach oben im Weg steht.

Er hat gut verdient, mehr, als er je für möglich gehalten hatte. Allerdings hat er nie zu den ganz großen Verdienern gehört, was an seiner Spezialisierung auf Lateinamerika und insbesondere Mexiko liegt. Wo niemand ihm so leicht etwas vormacht. Aber die wirklich dicken Geschäfte laufen eben in den USA, mit entsprechenden Honoraren, die erst einmal den an diesen Projekten beteiligten Partnern zugutekommen. Dabei ist er damals nach Abschluss des Studiums an der Columbia Business School ohne besonderen Enthusiasmus in das Investmentbanking eingestiegen. Das extrem analytische Finanzgeschäft war nie seine Sache. Umso verbissener hatte er sich von Anfang an bemüht, diese für sein Geschäft so gefährliche Schwäche zu vertuschen.

Sein Blick streift das auf seinem Schreibtisch aufgestellte silbergerahmte Foto seiner Familie, Sharon und ihre beiden Kinder Alex und Meredith. Das Abbild einer heilen Familie. Vor etwa zehn Jahren aufgenommen. Meredith, damals ein schwieriger Teenager, ist mittlerweile verheiratet, und Alex, sein Sohn, arbeitet heute ebenfalls an der Wall Street. Sharon lächelt in die Kamera: eine gepflegte, elegante Frau, die unverändert bis heute so aussieht wie damals. Dabei weiß er, dass man die kleinen Veränderungen, die sich mit den Jahren einschleichen, nicht wahrnimmt, wenn man gemeinsam durch die Zeit schwimmt und gemeinsam älter wird.

Er gibt sich einen Ruck und steht von seinem Schreibtisch auf, wirft wie gewohnt einen letzten Blick auf den Kalender: der 25. Februar! Für einen kurzen Augenblick hält er inne: Ist das die Erklärung für die seltsame Unruhe, die er den ganzen Tag über verspürt hat? Vor genau dreißig Jahren, an ebendiesem 25. Februar, hat er Mexiko verlassen. Oder ist vor Mexiko geflohen und gerade noch einmal davongekommen.

Die Schlange schwarzer Limousinen bewegt sich schleppend die 57th Street hoch. Der Fahrer setzt Jake und Sharon gerade noch rechtzeitig vor der Konzerthalle ab. Alles, was Rang und Namen im gesellschaftlichen Leben von New York hat, ist bei dem Konzert und dem danach stattfindenden festlichen Abendessen anwesend. Keiner kann sich erlauben, bei diesem Ereignis nicht gesehen zu werden. Jake bietet Sharon zuvorkommend den Arm beim Überqueren des Gehsteigs zum Halleneingang. Ihr dunkles Haar fällt weich über den Kragen des schwarzen Pelzmantels.

Ruckartig hält er an, wäre fast auf den kleinen, silbrig schimmernden Gegenstand auf dem Boden vor ihm getreten. Er hebt ihn auf, unter dem erstaunten Blick Sharons.

»Nein, nichts Besonderes, aber es hätte ja auch eine Diamantbrosche sein können, so wie das glitzerte.«

Neugierig geworden, reibt er die kleine Plakette an seinem dunkelblauen Kaschmirmantel blank. Beim Entziffern des Namens stockt ihm der Atem: Zamas Hotel, Tulum, Mexico.

»Und?« Sharon blickt ihn fragend an.

»Der Anhänger eines Hotelschlüssels. Ein Hotel in Mexiko.«

Jake presst die Lippen aufeinander. Er behält die Plakette fest in seiner Hand umschlossen. Tulum ging damals an jenem 25. Februar auch mit unter. Er muss sich beruhigen, hier kein Zeichen zu vermuten, natürlich ist es reiner Zufall. Es fällt ihm dennoch schwer, sich auf die Musik zu konzentrieren. Zudem ist es ein Stück von Elliott Carter, einem Komponisten, zu dem er nie einen rechten Zugang gefunden hat. Eindeutig ein Liebling der Dirigenten und Kritiker, als ob sich bei der Programmgestaltung niemand um das Publikum scherte.

Abwesend reibt er über die kleine Plakette, drückt sie in seinen Handballen, bis es schmerzt. Er kennt das Zamas Hotel nicht, in Tulum gab es damals keine Hotels. Aber er erinnert sich, Zamas war vor der Ankunft der Spanier im Yucatán der ursprüngliche Maya-Name für die Meeresfestung dort. Seine Gedanken schweifen weiter ab. Das Schicksal lässt sich nicht in die Karten schauen. Letztlich entwickeln sich die Dinge wie von höherer Hand gesteuert. Diese Einsicht hatten ihm damals die Maya im Yucatán vermittelt. Und die Dinge haben sich für ihn extrem gut entwickelt. Vor die Wahl gestellt, würde er heute nichts in seinem Leben ändern, mit nichts und niemandem wollte er tauschen.

In der Pause unterhalten sich Sharon und Jake mit Bekannten. Man lobt die Musik, das Orchester, den Klang. Als würde jeder außer ihm Elliott Carter verstehen, denkt Jake. Der deutsche Generalkonsul nimmt ihn zur Seite.

»Ich hoffe, wir sehen dich morgen bei der Aufsichtsratssitzung der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer, Hans?«

Der Generalkonsul ist der Einzige, der ihn in New York mit seinem deutschen Vornamen Hans anspricht, für alle anderen ist er Jake. Jake A. Friedman. Er unterschlägt die Tatsache, dass er ursprünglich bis zu seiner Einbürgerung vor etlichen Jahren Deutscher war. Man hört es ihm auch nicht an, sein Vater, ein Amerikaner, war nach dem Krieg in München hängen geblieben, hat dort eine Deutsche geheiratet und an einem Gymnasium Englisch unterrichtet. Daher auch Friedman mit nur einem N, was in Deutschland natürlich seltsam ankam, in New York dafür umso mehr passte. Geschäftlich verbindet ihn wenig mit Deutschland, trotzdem hat Jake vor ein paar Jahren den Vorsitz im Aufsichtsrat der Handelskammer übernommen. Als erfolgreicher Wall-Street-Banker mit deutscher Herkunft und einem festen Platz in der New Yorker Gesellschaft entsprach er genau dem Wunschprofil für dieses Ehrenamt.

Während er sich mit dem Generalkonsul unterhält, entdeckt er am anderen Ende des Foyers Jerry Greene, den Managing Direktor seiner Investmentbank, im Gespräch mit dem Chairman der Citibank, gleichzeitig auch Vorsitzender des Verwaltungsrats der Carnegie Hall. Jake vermutet sofort, dass sie über die Übernahme von Bancogran, der Banco Grande Nacional de Mexico, durch die Citibank sprechen. Verdammt, erregt er sich, hier handelt es sich um meinen Deal, ich habe diesen Auftrag persönlich Ricardo Fernandoz, dem Eigentümer von Bancogran, abgerungen, allein auf meine Reputation in Mexiko und meine Kontakte dort geht das Projekt zurück. Jerry Greene ist bei Bancogran überhaupt nicht auf dem Laufenden, und jetzt spielt er sich vor dem Chairman von Citibank damit auf. Impulsiv drängt es ihn zu den beiden hin, gleichzeitig spürt er, dass sie nicht von ihm gestört werden wollen. Dieses plötzliche Gefühl, als sei er doch nicht ganz auf ihrem gesellschaftlichen Niveau, als baue sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen auf.

Als er sich endlich vom Generalkonsul freimacht, sieht er, wie Isaac Stern zu den beiden hinzutritt. Der weltberühmte Geiger, der sich vor ein paar Jahren in einer Einmanndemonstration der Abbruchkolonne in den Weg gestellt hat und so die Carnegie Hall und ihre Tradition als bedeutendste Konzerthalle New Yorks vor dem Aus rettete. Jetzt fühlt sich Jake erst recht ausgeschlossen, um Mexiko kann es kaum mehr gehen, und Isaac Stern kennt er persönlich nicht. Was, wenn Isaac Stern ihn nach seiner Meinung zu dem gerade gespielten Stück von Elliott Carter befragen würde?

Nach der Pause steht die Symphonie Fantastique von Berlioz auf dem Programm, eine Glanznummer des Stardirigenten Seiji Osawa. Verstohlen blickt er zu Sharon, die ganz in die Musik versunken ist. Selbstverständlich müssen sie gesellschaftlich hinter niemandem zurückstehen. Und dennoch hat er diese Wand empfunden, eine momentane gesellschaftliche Unsicherheit, er spürt sie immer noch. Eine Wand wie aus Glas, aber eben doch eine Wand.

Er bemerkt, wie er achtlos mit der Hotelmarke in seiner Hand spielt. So etwas wirft man nicht einfach weg, überlegt er, nach dem langen Weg von der karibischen Küste Yucatáns nach New York. Und dann stößt gerade er auf sie.

Vor dreißig Jahren lebten in Tulum nur Maya und ein paar Hippies. Seitdem hat sich diese Gegend wie alles an der Maya-Riviera durch riesige Touristikprojekte verändert. Und er, er hatte nie ein Interesse verspürt, noch einmal dorthin zurückzukehren.

* * *

Vor zwei Tagen war Hans Friedman in Tucson angekommen. Es war Mitte Januar, und doch roch es hier überall nach Frühling. In Arizona hatte er gleich das Gefühl, dass immer Frühling sein müsse.

Man hatte ihn versehentlich gegen sieben Uhr morgens geweckt. Mit dem abgestandenen Geschmack des Rotweins vom vorigen Abend im Mund stand er missmutig auf, steckte als Erstes seine schmutzige Wäsche in einen Waschautomaten des Motels, um dann im nächstbesten Diner zu frühstücken. Sobald er mit einem frisch gepressten Orangensaft den Rotweingeschmack weggespült hatte, fühlte er sich wie neugeboren. Er blickte sich übermütig im Spiegel an der Wand gegenüber an. Sein braunes Haar hatte er sich mit einem Lederband aus der Stirn gebunden. Vorne auf dem Band war ein gelb und rot leuchtender Stern eingeprägt. Zwei kunstvoll verdrehte Lederschnüre mit jeweils einem eingearbeiteten Türkis am Ende hingen über seine Schultern. Er hatte das Band einem Navajo in einem Reservat in New Mexico abgekauft. Es bringt dir Glück, hatte der ihm versichert. Glück, das kann ich jetzt brauchen, dachte er, dabei nickte er sich aufmunternd zu.

Einige Stunden später stand er im Busbahnhof von Tucson. Ein Bus nach Phoenix wurde ausgerufen, dann einer nach New Orleans. Seiner ging um zwölf Uhr fünfzehn nach Nogales. In Nogales überquerte er zu Fuß die Grenze. Viel hatte er sowieso nicht dabei. So wenig Vergangenheit wie möglich. Niemand interessierte sich für sein Visum. Auf der mexikanischen Seite blickte er sich erwartungsvoll um.

Willkommen in deinem neuen Leben, flüsterte er sich leise zu.

In der erstbesten Kneipe bestellte er ein Bier. Er fühlte sich unglaublich gut.

»Und, wo geht’s hin?«, sprach ihn der langhaarige Typ neben ihm an der Bar an.

»Mal sehen, als Erstes mit dem Bus nach Mexico City.«

Der andere nickte verständnisvoll. »Hier beginnt für jeden die lange Reise ins Unbekannte. Ich trampe nach Oaxaca, vielleicht treffen wir uns unterwegs wieder. Wie heißt du?«

»Harry, Harry Simms.«

Gestern hatte er beschlossen, nicht als Hans Friedman nach Mexiko einzureisen, sondern mit einer neuen Identität. Auf einem überdimensionalen Werbeplakat in Tucson hatte er über dem Bild eines Immobilienmaklers den Namen gelesen. Ein zuverlässiges Gesicht mit positiver Ausstrahlung. Harry Simms gefiel ihm, der Name hatte Hand und Fuß. Jetzt beginnt dein wirkliches Leben, Harry Simms. Alles hängt nun allein von dir ab, du bist niemandem außer dir Rechenschaft schuldig.

* * *

Jake wird vom Applaus aufgeschreckt. Berlioz, eines seiner Lieblingsstücke überhaupt, und er war mit seinen Gedanken völlig woanders.

»Einmalig, diese Aufführung, findest du nicht auch? Niemand kommt bei der Fantastique an Seiji Ozawa heran. Als ob man dieses Stück wie zum ersten Mal hört.«

Er nickt Sharon zu, was soll er antworten, die Musik war ohne jede Spur an ihm vorbeigeflossen. Die Erinnerung an Mexiko hat etwas in ihm ausgelöst. Ewigkeiten ist es her, lange bevor er Sharon kennengelernt hatte. Aber mit dieser Erinnerung drängt sich ihm auch das Gefühl auf, dass ein Teil der Geschichte von damals unvollendet geblieben ist.

Nach dem Konzert windet sich die Kolonne schwarzer Limousinen von der Carnegie Hall weiter zum Waldorf Astoria an der Park Avenue. Jake und Sharon kommen gleichzeitig mit dem Chairman der Citibank und seiner Frau beim Hotel an. Der Banker legt freundschaftlich einen Arm um Jakes Schulter, wie um noch besonders zu betonen, dass sie alle zusammengehören, dies hier ihre New Yorker Welt ist. Natürlich kein Wort über Geschäftliches, die Übernahme von Bancogran etwa, das versteht sich von selbst.

Jerry Greene nimmt Jake später vertrauensvoll beiseite.

»Unser Freund von der Citibank hat mir in der Pause angeboten, in den Verwaltungsrat der Carnegie Hall einzutreten. Was hältst du davon?«

Also darum ging es, und deshalb auch Isaac Stern, der in dem Verwaltungsrat schließlich einiges mitzureden hat. Völlig grundlos, seine plötzliche Unsicherheit! Ein Glück, dass er nicht in ihr Gespräch geplatzt ist.

»Verwaltungsrat von Carnegie, das verlangt viel Zeit, Jerry. In der Firma brauchen wir dich schließlich auch hin und wieder. Und kann dich deine Frau denn entbehren?«

Candide Greene ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Jerry, eine über Nacht und sicherlich nicht ohne seinen Einfluss bekannt gewordene Modeschöpferin, mit der er mit sechzig seine zweite Familie gegründet hat. Jake Friedman hat sich nie an das Bild des alternden Investmentbankers mit seinem dreijährigen Sohn gewöhnt, ein gewaltig riskanter zweiter Lebenslauf. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem Candide nicht in den Klatschspalten der Zeitungen und Zeitschriften auftaucht. Gut aussehen tut sie ja, gesteht sich Jake unumwunden ein. Er beobachtet, wie Sharon, die aus einer alteingesessenen New Yorker Familie stammt, sich angeregt mit Candide unterhält, ohne jede erkennbare Voreingenommenheit. Im Stillen bewundert er seine Frau, sie hat die Klasse, deren Fehlen Candide durch ihr schrilles Auftreten wettzumachen sucht.

Am nächsten Morgen ruft Jake sofort das Projektteam zusammen. Aufgerüttelt durch den Schock in der Konzertpause gestern, als er befürchtete, Jerry Greene und der Chairman der Citibank wollten ihn aus dem Bancogran-Projekt herausdrücken, ist er mehr denn je entschlossen, die Übernahme der mexikanischen Bank nun unverzüglich zum Abschluss zu bringen. Seit über einer Woche befassen sich sein Team junger Analysten und Mitarbeiter der Finanzabteilung der mexikanischen Bank ausschließlich mit der Zusammenstellung der Firmendaten von Bancogran. Ihr Ziel ist, Bancogran für einen Übernahmekandidaten transparent zu machen. Und für Jakes Investmentbank ist die sorgfältige Erarbeitung der Firmendetails unerlässlich, um den Wert von Bancogran realistisch festzulegen. Strategisch bestehen für ihn zum weiteren Ablauf des Projekts keine Fragen, für niemanden macht die Übernahme mehr Sinn als für die Citibank. Aber erst wenn die Firmeninformationen vollständig erfasst und in ihrer endgültigen Form durch die Eigentümer von Bancogran abgesegnet sind, können sie in die Endverhandlungen einsteigen. Zunehmend irritiert ihn der schleppende Fortgang.

Für seine Unruhe gibt es gute Gründe. Der Kaufpreis hängt letztlich entscheidend vom richtigen Zeitpunkt ab. Der Zeitpunkt für den Verkauf der größten mexikanischen Privatbank schien ideal gewählt: Die mexikanische Wirtschaft zeigte den seit langem erhofften Aufschwung aus den für das Land erheblichen Vorteilen von NAFTA, dem Freihandelsabkommen mit Nordamerika. Eine wachsende Zuversicht herrschte in Mexiko nach dem Wechsel der Regierungsparteien und der Wahl von Vicente Fox zum neuen Präsidenten, allem voran die Hoffnung, nunmehr die Politik und Verwaltung gleichermaßen zersetzende Korruption knacken zu können. Und zwischen Präsident Fox und Präsident Bush entwickelte sich schon bei ihrem ersten Treffen spontan ein gutes persönliches Einvernehmen, um die dornigen Dauerthemen zwischen den beiden Nachbarn – Handelserweiterung, rechtliche Stellung der mexikanischen Immigranten in den USA und Bekämpfung des Drogenhandels – in den Griff zu bekommen.

Aber fast über Nacht zeigten sich Risse in dem positiven Bild von Mexiko. Es scheint nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaftsabkühlung in den USA auch auf Mexiko überspringt, was unmittelbar den Preis von Bancogran beeinflussen würde, möglicherweise sogar den Verkauf selbst in Frage stellt.

Für Jake geht es bei dieser Transaktion nicht nur um seinen Ruf als der führende Investmentbanker für Mexiko, sondern vor allen Dingen darum, mit seinem ersten großen Milliardenprojekt den Abstand zu seinen im US-Markt ungleich erfolgreicheren Partnern zu verringern. Er muss mit allen Mitteln verhindern, dass ihm beim Verkauf von Bancogran noch etwas dazwischenkommt!

Die Investmentbanker und die Mexikaner streiten sich gerade mit der schwierigen Bewertung fragwürdiger Millionenkredite von Bancogran an seine mexikanischen Bankdirektoren, die dafür seit Jahren keinerlei Zinsen zahlen. Jake hat in der Hitze der Debatte seinen wöchentlichen Lunch mit seinem Sohn Alex vergessen. Seine Sekretärin macht ihn schließlich darauf aufmerksam. Die werden kurz auch ohne mich auskommen, denkt Jake, bei einem flüchtigen Blick um sich. Auf der einen Seite des massiven Konferenztischs die Mexikaner, solide in grauen oder blauen Anzügen, mit weißem Hemd und Krawatte, als wollten sie gerade hier an der Wall Street ein konservatives Auftreten demonstrieren. Die Investmentbanker dagegen verbissene Typen mit scharfen und unruhigen Augen, dabei aber doch nie um eine kluge Bemerkung oder einen Witz verlegen, wenn es darauf ankommt, die gespannte Atmosphäre aufzulockern. Aber an diesem Punkt ihrer Verhandlungen lassen sich die Spannungen zwischen den Mexikanern und den amerikanischen Bankern auch durch einen witzigen Einfall nicht so leicht brechen.

Alex hat es sich in Jakes Büro bequem gemacht. Jeder nennt ihn Alex, getauft wurde er auf Jake Alexander Friedman II. Der nächste Spross in der Kette der Friedmans, um, wie bei den alten New Yorker Familien üblich, über Generationen hinweg eine Tradition zu zementieren.

»Ich habe nur wenig Zeit, Alex. Wenn du nichts dagegen hast, gehen wir ausnahmsweise oben im Kasino essen und nicht in unserem japanischen Stammlokal.«

Alex arbeitet seit dem Abschluss an der Harvard Business School als Associate in der Abteilung Mergers und Acquisitions bei Morgan Stanley, einer der ganz großen Wall-Street-Banken. Das bedeutet zwangsweise lange Nächte in der Firma, eine harte Schule, durch die jeder durchmuss, der es später einmal leichter haben will. Jedenfalls stellt man sich das am Anfang so vor, so hatte es Jake zu seiner Zeit auch gedacht, aber irgendwie lässt der Antrieb bei den Investmentbankern nie nach, bis sie sich unbemerkt an den Druck gewöhnt haben und dann nicht mehr ohne diese permanente Anspannung auskommen.

Der Speisesaal ihrer Investmentbank im obersten Stock des Hochhauses bietet einen überwältigenden Rundblick auf die New Yorker Wolkenkratzer und den Hudson River in Richtung Queens und Brooklyn. Es herrscht eine vornehm gedämpfte Atmosphäre, weiche Teppiche, antike Schränke, kristallene Gläser. Kaum ein Kunde, den die Firma hierher einlädt, der von dieser Umgebung nicht beeindruckt wäre.

Jake bemerkt beim Eintreten sofort Jerry Greene mit Jeffrey Immelt, dem gerade neu ernannten Chairman von General Electric und Nachfolger des legendären Jack Welch, unter dessen Führung General Electric sich in einen 130-Milliarden-Dollar-Börsenstar entwickelt hat. Sie sitzen abgesondert an einem Ecktisch. Jerry Greene blickt kurz zu ihm auf. Jake trifft dieser Blick wie ein Stich, gerade noch voller Stolz über sein erstes Milliardengeschäft in Mexiko, aber bei dem Gespräch von Jerry Greene mit dem Boss von General Electric stehen unbedingt mehrere Milliarden auf dem Spiel. Und wieder spürt er diese Wand aus Glas, so wie gestern Abend in der Konzertpause.

In ihrer Firma gilt das ungeschriebene Gesetz, keine Konkurrenten von anderen Investmentbanken in ihren Speisesaal einzuladen. Das betrifft auch seinen Sohn. Gleich wird jeder bei Morgan Stanley wissen, dass sich der Chairman von General Electric heute mit Jerry Greene zum Mittagessen getroffen hat, dass irgendetwas im Busch sein muss, und schon ist die Konkurrenz wieder angestachelt.

»Was hier abläuft, bleibt unter uns, dass wir uns da richtig verstehen!«

»Natürlich, ich weiß, Dad.«

Aber ganz traut Jake dem Frieden nicht. Kann sein Sohn der Versuchung widerstehen, mit einer solchen Nachricht bei seinen Vorgesetzten aufzutrumpfen? Jeder junge Associate rangelt sich doch mit allen Mitteln nach oben. Warum sollte Alex da eine Ausnahme bilden?

»Wie laufen bei dir die Dinge, Alex?«

»Das Platzen der Dotcom-Blase hat für unsere Bank gewaltige Auswirkungen. Uns betrifft das wahrscheinlich mehr als euch. Man hat mir angeboten, mich aufs Internationale zu verlegen. Vielleicht machen wir uns noch Konkurrenz.«

»Die Welt ist groß, ich hoffe, wir können das vermeiden.«

»Mal sehen. Vorerst planen Jenny und ich eine Woche Urlaub in Cancún. Für ein paar Tage raus aus dieser Kälte hier.«

Jake ist nie in Cancún gewesen. Als er damals in Tulum war, gab es den Ort gerade einmal auf dem Reißbrett der Planer.

Alex’ Freundin Jenny arbeitet ebenfalls bei Morgan Stanley, als Aktienanalystin. Sie verdienen beide gut, allerdings war es in den vergangenen Jahren entschieden mehr, als die Technologieaktien wie im Rausch nach oben trieben. Vom Heiraten reden sie nicht. Auch anders als er und Sharon damals in diesem Alter. Natürlich stimmen sie bei den Wahlen für die Demokraten.

»Ich hoffe, ihr seid nicht ausgerechnet während der Tagung des Weltwirtschaftsforums in Cancún. Die Globalisierungsgegner haben bereits zu einer Großkundgebung aufgerufen. Auch die Zapatistas haben sich angekündigt, nachdem es in letzter Zeit ruhig um sie war. Was die mit der Globalisierung zu tun haben! Aber typisch, wie sie wieder einmal die Medien für sich einspannen. Eine Katastrophe für ganz Mexiko.«

»Du vergisst so nebenbei, dass es sich um die Ureinwohner handelt. Und sie pochen nur auf ihre Rechte.«

»Aber wir leben nicht mehr in Vorzeiten! Oder willst du Manhattan an die Eingeborenen zurückgeben?«

»Das ist doch wohl etwas anderes.«

Vielleicht, aber vielleicht auch nicht, denkt er bei sich. Er kennt die Argumente, sein Sohn redet wie viele der Wall-Street-Liberalen, die gerne etwas lässig aus dem bequemen Sessel heraus argumentieren. Was weiß er schon von den Zapatistas und dem Schaden, den sie Mexiko verursachen.

Jake vermisst bei seinem Sohn den Idealismus seiner eigenen Studienzeit. 1968, mittlerweile ein Mythos, aber er erlebte den Aufschrei damals noch in München, marschierte mit den Demonstrationen, lehnte sich auf gegen alles Bürgerliche, gegen die Autorität und vor allem gegen das verstaubte, alte Universitätssystem. Gegen das Gestern, das Dunkle dieser nur widerwillig aufbrechenden deutschen Vergangenheit und gegen das falsche Heute, den Krieg in Vietnam. Gegen die verknöcherte Welt seiner Eltern. Dafür ging er auf die Straße. Als Jurastudent war er sich dabei der Grenzen seines Handelns immer bewusst.

Das Jahr 1968 stellte für ihn einen historischen Einschnitt dar, den er allerdings bei allem äußerlichen Einsatz in letzter Konsequenz nicht selbst vollzogen hat. Es war ein Riesenereignis, ganz klar, ein absolutes Festival. Aber im folgenden Herbstsemester hat er weiter studiert, als sei nichts geschehen, und ein Jahr später legte er eines der besten Juraexamen hin.

* * *

Von Nogales fuhr Harry Simms erster Klasse mit dem Tres Estrellas de Oro, einer Art mexikanischem Greyhoundbus, nach Mexico City. Achtundvierzig Stunden sollte die Fahrt dauern. Gleich hinter Nogales tauchten sie ein in eine endlose, in einem ständig fließenden Farbenmeer schillernde Fata-Morgana-Landschaft. Eigentlich ein herrlich bunter Kitsch. Das Sterile, das ihm während der letzten Tage in den USA überall aufgestoßen war, vielleicht auch nur aus seiner deutsch-mitteleuropäischen Perspektive, war wie weggewischt. Alles um ihn war verändert, dazu die fremde Sprache und seine noch ungewohnte neue Identität.

Zwei Busfahrer wechselten sich alle vier Stunden ab, einer schlief, während der andere fuhr. Sobald der Bus irgendwo anhielt, wurde er von kreischenden und gestikulierenden Kindern, Frauen und alten Menschen umringt, die ihnen dünne Pfannkuchen oder Käse, Kaugummi und farbige Getränke anboten. Beim ersten Halt hockte er in einem schäbigen Restaurant, unsicher, ob und was er bestellen sollte. Einem Amerikaner erklärte er, er sei Journalist, wie um zu betonen, dass er nicht ohne Grund nach Mexiko reise. Und einem Mexikaner antwortete er, dass er kein Amerikaner sei. No soy gringo. Darauf legte er Wert.

Die beiden Busfahrer waren seine wirklichen Helden. Bei einem Stopp gegen Mitternacht stiegen nur er und die Fahrer aus. Einer der beiden lud ihn zu einem starken schwarzen Kaffee ein. Sie verstanden sich auf Anhieb, ohne dieselbe Sprache zu sprechen. Für ihn waren ihre stechenden dunklen Augen und das breite Lachen um den großartigen Schnurrbart Sprache genug. Er hoffte, diesen besonderen Moment nie zu vergessen.

Den Rest der ersten Nacht im Bus konnte er kaum schlafen. Seine Beine waren unbequem angewinkelt, gegen Morgen durchzog ihn eine feuchte Kälte; er wachte mit einem steifen Nacken auf. Aber dann entschädigte ihn der farbenprächtigste Sonnenaufgang seines Lebens, der die morgendliche Wüste in ein brennendes Rot tauchte. Dann begann die Hitze und das Schwitzen. Aber als er an das jetzt widrige, feuchtnasse Winterwetter in München dachte, wusste er, dass er nie und mit niemandem tauschen wollte. In der Hitze von Mazatlán wäre er am liebsten ins Meer gerannt. Das Leben in den Straßen war laut und bunt und ungezwungen. Und über allem die gelbe, unbarmherzig sengende Sonne.

Auf der Terrasse eines Restaurants in einem Dorf mitten in der flimmernden Wüste bot ihm ein Mädchen einen bunten Vogel mit großem gebogenem Schnabel an. Er hatte nie einen schöneren Vogel gesehen. Aber wie hätte er diesen Vogel im Bus mitnehmen sollen, er wusste nicht einmal, wie es weitergehen würde. Statt dem Vogel nahm er die schmerzliche Erinnerung an die enttäuschten Blicke des Mädchens mit seinen herrlich dunklen Augen mit in den Bus.

Neben ihm saß ein Japaner, der in Detroit als Mechaniker bei einer der großen Automobilzulieferfirmen arbeitete. Der Typ stand auf Busfahren. Immer die Augen offen, den Blick stur nach draußen. Wenn er ihn richtig verstanden hatte, wollte er nur einen Tag in Mexico City bleiben, um dort auszuschlafen, die Stadt selbst interessierte ihn nicht, und dann gleich wieder zurück nach Detroit.

Bei einem Halt mitten in der zweiten Nacht trank er noch einmal mit den Busfahrern den starken mexikanischen Kaffee. Dieses Mal lud er sie ein. Ihre strahlenden Augen schienen ihm das Tor zu einer neuen Welt aufzustoßen. Er hatte sich weiter denn je von München und allem, was ihn mit seinem Leben dort verband, entfernt.

Er hatte das so oder doch so ähnlich geplant: erst einige Wochen Los Angeles und Kalifornien, um sich an Amerika zu gewöhnen. Den Juristen in sich zurückdrängen, Raum für neue Möglichkeiten schaffen. Später nach Mexico City, und von dort mit seinem Freund Hartmut Herrmann weiter nach Yucatán und Chichén Itzá, dort gemeinsam die phantastische Welt der Maya, Inka und Azteken erforschen. Drei Monate in seiner neuen Rolle als Harry Simms. Im Herbst würde er dann in New York bei der Columbia Business School anfangen. Und später, zurück in Deutschland, als Jurist mit dem amerikanischen MBA eine Spitzenkarriere in der Industrie starten.

* * *

Eine frostige Stimmung schlägt Jake entgegen, als er nach dem Lunch mit seinem Sohn in das Besprechungszimmer zurückkehrt. Jack Bartlett, sein Partner und der Leiter der M&A-Abteilung ihrer Bank, blickt ihn kopfschüttelnd, wie um Hilfe suchend an.

»Das soll mir einer doch bitte mal verständlich machen: Die Direktoren von Bancogran und ihre Kumpane nehmen sich Millionenkredite aus der Bank, ohne je daran zu denken, Zinsen zu zahlen, geschweige denn irgendwelche Tilgungen. Daraufhin deckt die mexikanische Regierung diese Kredite ab, mit dem Ergebnis, dass am Ende, wenn die Kredite platzen, der mexikanische Steuerzahler für diese Plünderung geradestehen muss. Und jetzt verkaufen diejenigen, die sich so bereichert haben, allen voran Ricardo Fernandoz, die nun staatlich abgesicherte Bank, mit dem Ergebnis, dass sie für ihre faulen Kredite noch einen Aufpreis erhalten! So was gibt es nicht einmal im Märchen. Da macht doch die Wall Street nicht mit!«

Die mexikanischen Banker sitzen gefasst den erregten Investmentbankern gegenüber.

»Also noch einmal: In unserem Land deckt die staatliche FOBAPROA seit Jahren über Mittel der Bundesbank die kritischen Bankkredite ab. Das System wird nun von der IPAB weitergeführt. Unsere Regierung betrachtet die Stabilität der Banken als Voraussetzung für eine kräftige und dauerhafte Wirtschaftsentwicklung. Dieses System des staatlichen Kreditschutzes hat unterschiedliche Präsidenten und Regierungsparteien überlebt. Was ist daran so schwer zu verstehen?«

Wahrscheinlich regt sich Jack Bartlett jetzt darüber auf, sich von einem Manager aus der mittleren Führungsebene der Bancogran belehren lassen zu müssen.

»Citibank lässt sich doch nicht für dumm verkaufen!«

»Gut, sie sind schließlich nicht die Einzigen, die mit einem Schlag die führende Bank in Mexiko werden wollen.«

Jack Bartlett blickt kopfschüttelnd zu Jake. »Kannst du mir das erklären?«

»So ist das eben, das Kreditrisiko wird auf diese Weise auf Mexiko verlagert. Es ist die größte Privatbank im Land und letztlich ein souveränes Kreditrisiko. Was brauchst du noch mehr für die Bewertung einer Privatbank?«

»Ich glaube, du bist selbst schon zu tief in diese mexikanische Mentalität verstrickt. Bei uns jedenfalls gelten andere Regeln!«

»Die Regeln, nach denen sich das Geschäft der Bank richtet, werden in Mexiko bestimmt. Die kannst du nicht ändern. Und so läuft das eben dort mit der Kreditabsicherung. Was die Bank als Wert darstellt, für einen amerikanischen oder einen britischen Käufer, das richtet sich dann wieder nach unseren Grundsätzen. Und da verlasse ich mich voll auf dich.«

Für Jake sind solche Probleme mit seinen Partnern nichts Neues. Als eingefleischte Wall-Street-Banker weigern sie sich, die unterschiedlichen Strukturen in anderen Ländern anzuerkennen. Aber die Analyse ausländischer Firmen muss sich in erster Linie an den dort geltenden Grundsätzen und Gegebenheiten ausrichten. Die Regeln des Strukturalismus in der Anthropologie behalten genauso in der Bewertung andersartig gewachsener Wirtschaftssysteme ihre Richtigkeit. Jedoch scheint ihm jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, sich zum zigsten Mal darüber mit Jack Bartlett auseinanderzusetzen.

Jakes Sekretärin schiebt ihm die Nachricht zu, dass Arturo Diego Sanchez am Telefon sei. Arturo Sanchez gehört zu diesen neuen mexikanischen Milliardären mit einer undurchsichtigen Vergangenheit. Trotzdem, wenn er schon selbst anruft, darf Jake ihn nicht verprellen. Aber dann ist nur Carlos Perilla, der Manager einer von Arturo Sanchez’ vielen Firmen, am Telefon. Seinetwegen hätte sich Jake niemals aus der Bancogran-Besprechung ausgeklinkt.

»Don Arturo muss dringend ein Projekt mit Ihnen besprechen. Geht es morgen in Mexico City, Señor Friedman?«

»Unsere Rechnung aus der letzten Finanzierung für Don Arturo steht noch offen.«

»Natürlich, Señor Friedman, niemand stellt das in Frage. Also morgen, es eilt, sonst zwingen Sie uns, bei Dillon Read anzurufen.«

Jake ist stocksauer, dass ihm Perilla nun direkt mit der Konkurrenz droht. Die Gebühr aus ihrem letzten Projekt ist überfällig, und die wird von keiner staatlichen Versicherung abgedeckt. Typisch, diese Milliardäre, sie bedienen sich bei ihren Banken und lassen den Staat dafür geradestehen, aber hier, wo schließlich eine echte Leistung dagegensteht, lässt man ihn einfach gegen die Wand laufen.

Aber was hat er außer Mexiko? Er ist mit dieser Clique verbunden, auf Gedeih und Verderb. Das Festmahl der mexikanischen Milliardäre, und er ist ihr Verbindungsmann zur Wall Street und zum Kapital der Welt. Mittäter nannte man das bei seiner juristischen Ausbildung.

Dieses geheime Treffen steht für ihn als Inbegriff dessen, wie Mexiko von oben her verschaukelt wird. Der damalige Präsident Carlos Salinas, mit dem er auch gelegentlich zu tun hatte, lud dreißig der reichsten Geschäftsmänner des Landes zu einem Abendessen ein. Natürlich wussten alle, was auf dem Spiel stand. Sie erschienen gewissenhaft und verpflichteten sich an diesem Abend allesamt, je fünfundzwanzig Millionen an die Partei des Präsidenten zu stiften. US-Dollars wohlgemerkt, nicht etwa Pesos. Auf einen Schlag siebenhundertfünfzig Millionen Dollar für die nächste Wahlschlacht, um damit Stimmen zu kaufen, Gouverneure zu bestechen, das bestehende System zu sichern. Eine Hand wäscht die andere, die große Zeit der Bankenprivatisierungen stand an, der Entflechtung der staatlichen Medienunternehmen und der staatlichen Wirtschaftsbeteiligungen. Fünfundzwanzig Millionen waren ein Klacks bei den Vorteilen, die jeder der Anwesenden im Gegenzug durch Präsident Salinas erntete. Viele von ihnen sind durch ihr Schnäppchen bei den Privatisierungen über Nacht zu Milliardären geworden. Zum Beispiel Ricardo Fernandoz, plötzlich durch Salinas Gnaden Herr über Bancogran, der führenden mexikanischen Privatbank, und ebenso dieser Arturo Diego Sanchez, der damals TV MexMedia, den zweitgrößten staatlichen Fernsehsender, erwerben durfte, mit Mitteln, die ihm von dem zwielichtigen Bruder des Präsidenten, Raúl Salinas, zugeschoben worden waren. Die dunklen Quellen dieser Gelder sind bekannt, Rauschgift und Geldwäsche, das weiß in Mexiko jeder, auch ohne die Narco-News zu lesen.

Die Verquickung von Drogengeldern mit Politik und Justiz durchzieht unausrottbar das System in Mexiko, als ob niemand immun gegen Beeinflussung wäre. Und dann, wenn sich jemand darüber aufregen sollte, kommt allenfalls ein empörtes Räuspern, man streift entrüstet den gepflegten dunklen Anzug glatt, als habe man selbst natürlich mit diesem dreckigen Geschäft nichts zu schaffen.

Im Grunde hat Jake Mexiko nie wirklich verstanden. Oder nur das Vordergründige, nicht die geheimnisvollen und undurchsichtigen Strukturen, die sich dahinter verbergen. Und hat ein amerikanischer Investor in Mexiko je Geld verdient? Die verführerische dunkle Schönheit südlich des Rio Grande: Wo der an sich korrekte Amerikaner auf den Schutz örtlicher Gerichte hofft, findet er sich einer willkürlichen Rechtsprechung ausgeliefert. Die wässrigen, mitleidvollen Augen der Richter. Man darf diesen Mexikanern nie in die Augen schauen! Die Milde, die Sonne. Die unausweichliche Täuschung gleich beim ersten Blick. Die kalte Logik Amerikas und die verwirrende Launenhaftigkeit Mexikos. Unmöglich, dass das auf Dauer gut gehen kann.

Es wird sich also wieder um so ein Ding handeln, das Don Arturo dringend morgen mit ihm zu besprechen hat. Ein neuer Trick, um seinen gutgläubigen Partnern noch tiefer in die Taschen zu greifen. Das permanente Lächeln von Don Arturo, auch das ist Teil dieses Täuschungsmanövers.

Bei allem, was sich so außerhalb jeder vernünftigen Dimension abspielt, geht es nicht mit rechten Dingen zu. Und darum hat sein Partner Jack Bartlett mit seinem gesunden Misstrauen recht. Aber mit den richtigen Worten kann man eben auch die Citibank für dumm verkaufen, und dafür haben die Mexikaner ein untrügliches Gespür. Jake trägt seinerseits seinen Teil dazu bei, dass die mexikanische Maschinerie wie geschmiert läuft. Keiner seiner mexikanischen Geschäftspartner begreift, warum er es bei seinem Können in den Vereinigten Staaten selbst noch nicht zum Milliardär gebracht hat.

»Buchen Sie mir bitte morgen den ersten Flug nach Mexico City, den Rückflug am folgenden Tag«, weist er seine Sekretärin an. »Und reservieren Sie für heute Abend einen Tisch im Le Bernardin. Damit meine Frau für die überstürzte Reise nach Mexiko wenigstens ein wenig entschädigt wird.«

Bevor er zur Besprechung mit Bancogran zurückkehrt, blättert er flüchtig durch seine Post. Obenauf ein Schreiben des deutschen Außenministers, den er kürzlich anlässlich einer UN-Veranstaltung in New York kennengelernt hatte. In seinem offiziellen Schreiben kündigt er ihm für seine Verdienste und Bemühungen um die deutschen Interessen in den USA die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande an. Die Verleihung soll in einigen Wochen in Berlin, unter Beisein von Kanzler Schröder, stattfinden. Für die Deutschen verkörpert Jake Friedman die Erfolgsgeschichte eines Deutschen an der Wall Street und in der New Yorker Gesellschaft. Sicher auch mit einer Spur Neid, das typisch europäische Gefühl, das beim Erfolg anderer in den USA gerne mitschwingt.

In dem Besprechungszimmer herrscht weiterhin eine gespannte Atmosphäre.

»Und der Peso? Bei der Preisfestsetzung für Bancogran spielt der Wert des Peso eine entscheidende Rolle.«

»Der Peso ist stabil.«

»Wir sehen das anders, in Mexiko hat sich seit der schweren Krise von 1994 nichts verändert. Es ist doch nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten dramatischen Währungssturz.«

»Allein das Heute zählt! Ein altes mexikanisches Sprichwort.«

Diese Weisheit hat Jake bisher nie in Mexiko gehört, ganz im Gegenteil. Aber er weiß, wie das Spiel ausgeht. Es ist immer dasselbe.

»Sprichwort hin oder her, die Währung kann man nicht so einfach außer Acht lassen!«

»Der Markt lügt nicht, das haben uns die Amerikaner beigebracht. Und warum ist der Markt heute so und nicht anders? Wir haben die schwere Peso-Krise vor einigen Jahren erfolgreich gemeistert, natürlich mit Hilfe der Amerikaner und der internationalen Finanzwelt. Wir haben einen demokratisch friedlichen Regierungswechsel hinter uns. Unsere Wirtschaft läuft. NAFTA ist gut für Mexiko. Zwischen Fox und Bush besteht eine vertrauensvolle Basis. Was soll man noch mehr zum Peso sagen!«

»Da gibt es noch das Problem mit den Zapatistas.«

»Die Zapatistas sind bedeutungslos. Der Zauber ist vorbei, vielleicht bis auf einige Dörfer tief im Dschungel von Chiapas. Präsident Fox hat die Zapatistas in den politischen Prozess eingegliedert, er war schlauer als sie. Der Aufstand hat sich totgelaufen.«

Später, auf dem Weg zum Restaurant, muss Jake an die Zapatistas denken. Die Mexikaner stellen die Sache mit den Rebellen aus dem Dschungel von Chiapas etwas zu harmlos dar, glaubt er. Seit sie aus heiterem Himmel am 1. Januar 1994 auf der Bildfläche erschienen sind und im Handstreich San Cristóbal de las Casas und verschiedene weitere Städte und Dörfer im Chiapas erobert hatten, hat er seine mexikanischen Partner ständig vor den Aufständischen gewarnt. Nicht weil er sie für unbezwingbar hielt, das war lächerlich, militärisch waren sie machtlos gegen die modern ausgerüstete mexikanische Armee. Sondern weil sie das Vertrauen in Mexiko untergruben, die Moral des Staats, die Stärke seiner Institutionen, seiner Politiker, seiner Wirtschaft. Er hat immer wieder öffentlich in Vorträgen und Interviews angeregt, diesem Theater der Zapatistas mit aller Härte ein Ende zu bereiten. Und schließlich zählt seine Meinung in Mexiko etwas.

Dabei verfolgte er die Revolte der Maya aus den abgelegenen Bergdörfern von Chiapas zuerst ungläubig und sogar mit einem Gefühl von Bewunderung. Sie waren die Ärmsten der Armen, nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Ausbeutung. Und auch der Zeitpunkt der Revolte, das Inkrafttreten der NAFTA-Freihandelszone am 1. Januar 1994, die Vereinheitlichung der Märkte von Mexiko, Kanada und den USA, fand er clever, zugegebenermaßen. Ständig finden Aufstände in Mexiko statt, aber die Zapatistas haben es geschafft, den Blick der Welt auf sich zu lenken, wobei ihnen unbedingt der romantische Mythos der Maya, gerade bei den Europäern, zugutekam.

Mit ihrer Anti-NAFTA-Propaganda gelang es den Rebellen auch, sich dem neuesten Trend der politischen Außenseiter anzuhängen: Gegen die Ausweitung der Märkte, gegen die Globalisierung der Wirtschaft und die Ausbeutung der Rohstoffe weltweit. Alles Entwicklungen, von deren Richtigkeit Jake fest überzeugt war. Letztlich kommt die weltweite Wirtschaftsentwicklung seiner Meinung nach jedem zugute, gerade auch den Armen in den abgelegenen Gegenden. Man muss nur genügend Geduld aufbringen.

Der markante Anführer der Zapatistas, Subcomandante Marcos, entsprach allerdings so überhaupt nicht dem klischeehaften Bild von barfüßigen Frauen aus dem Dschungel und ihrer untersetzten, kompakten Männer. Schließlich wurde bekannt, dass es sich bei diesem Marcos nicht um einen Indio, einen Maya, sondern um einen Professor an der Universität in Mexico City handelte. Der hier, im tiefsten Chiapas, sein Revolutionsmärchen träumte. Der die Maya einmal mehr verführte, wie es ihnen so oft in ihrer Geschichte ergangen ist. Genau wie dieser andere Professor in Peru, Guzmán, mit seinem grausamen Leuchtenden Pfad, der unter irgendwelchen marxistischen Vorwänden und Versprechungen die Ureinwohner in den Bergdörfern der Anden in den Aufstand getrieben hat. Wenigstens war den Zapatistas, im Großen und Ganzen, die brutale Gewalt des Leuchtenden Pfades fremd.

Dieser Marcos war an der Universiät völlig unauffällig gewesen. Jetzt blickt alle Welt auf ihn. In einigen Jahren wird er seine Memoiren schreiben. Am Ende ist er wie jeder andere.

Bei den sonstigen Zapatista-Anführern, etwa Major Moises oder Comandante Tacho, einer kleingewachsenen Tzotzil-Indianerin, handelt es sich dagegen wirklich um Eingeborene. Bei Veranstaltungen reden sie in ihrem für andere unverständlichen Maya-Dialekt oder in einem stockendem Spanisch. Jeder nimmt ihnen ja ab, dass es ihnen schlecht geht, aber das Leben im Dschungel ist nun einmal hart.

Ohne das Internet hätte man die Zapatistas sowieso nie über San Cristóbal hinaus wahrgenommen. Die erste Internet-Revolution, die Technologie der von ihnen verteufelten Globalisierung, wird von ihnen ausgenutzt, um sich gegen die Globalisierung zu stemmen. Mit dem Internet stellen sie ihre Gegner kalt, doch nicht mit ihrem kümmerlichen Arsenal an Gewehren! Plötzlich kann man ihnen die Stimme nicht mehr wegnehmen. Das Internet hat sie unantastbar gemacht.

Für Jake hatten die Zapatistas den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren, als sie ihre Parolen, über die Probleme ihres eigenes Schicksals hinaus, auf die Diskriminierung anderer Minderheiten in der Welt ausdehnten, etwa der Homosexuellen oder der Basken in Spanien. Was hat das mit Chiapas zu tun und ihrem brutal harten Leben dort im Dschungel? Da zeigt sich der Professor, wie er die Maya für seine eigenen Themen einspannt.

Jake ist überzeugt, dass niemand wirklich die Reden des Subcomandante Marcos liest. Jeder schaut sich nur die Bilder der Aufständischen an, ihre mit roten Tüchern wild vermummten Gesichter. Die Gesichtsmaske als Symbol für die gesichtslosen Verlierer der Globalisierung. Aber tatsächlich haben sich die Lebensumstände der Maya im Chiapas seit 1994, als die Zapatistas den Aufstand einläuteten, kaum verbessert, am wenigsten in den von ihnen selbst verwalteten, autonomen Gebieten. Für Jake besteht nicht der geringste Zweifel, dass der Wohlstand, an dem er für alle Mexikaner mitwirkt, längst auch zu den Maya dort durchgesickert wäre, wenn der Subcomandante Marcos mit seinem revolutionären Gestammel dies nicht verhindert hätte.

Schlecht gelaunt kommt er im Le Bernardin an.

Sharon hat sich verspätet. Beim Warten schweifen seine Gedanken wieder zu diesem Marcos. Erst bestellt er sich die Journalisten tief in den Dschungel, an einen Ort, zu dem sonst niemand hinkommt, insbesondere kein mexikanisches Militär. Nachdem sie sich schließlich über die vom Regen verschlammten Wege in die fernen Dörfer durchgequält haben, lässt er sie dort ewig warten. Unberechenbar, bis er plötzlich doch, hoch zu Pferd, auftaucht, die Patronengürtel umgelegt und das Gewehr in der Hand schwingend, umringt von seinen Leibwächtern. Ein mexikanisches Abenteuer ersten Ranges, um das unvollendet gebliebene Werk von Emiliano Zapata in unserer Zeit schließlich doch noch zu Ende zu führen.

* * *

Nach und nach während der achtundvierzig Stunden im Bus hatte sich eine vollkommene innere Gelassenheit über ihn gelegt. Alles stimmte plötzlich, er fühlte sich wohl, besonders in seiner neuen Rolle als Harry Simms. Er verabschiedete sich mit einer Männerumarmung von den Busfahrern. Seine zwei Helden, auch wenn er kaum mal einen ganzen Satz von ihnen verstanden hatte. Dann drängelte er sich zwischen den Menschenmassen vor dem Busbahnhof, sein Gepäck umklammert, erdrückt von all dem Fremdartigen um ihn. Ein Taxi brachte ihn nach einer abenteuerlichen Fahrt durch die in lautem Verkehr erstickende Innenstadt zu dem etwas außerhalb gelegenen Haus von Hartmut Herrmann. Eine ruhige, friedliche Gegend, sonnendurchströmt, nichts von dem verwirrenden Durcheinander im Zentrum von Mexico City. Hartmut war Philologe, sie kannten sich von München her, hatten viele Nächte im Occam Pils in Schwabing durchwürfelt und über alles Mögliche, aber vor allem Kunst und Literatur diskutiert. Er mochte ihn, Hartmut war ein angenehmer Typ, und als er sich nach dem Examen für zwei Jahre als Lehrer nach Mexico City verpflichtete, um in Deutschland dem Wehrdienst zu entgehen, hatte er ihm versprochen, ihn dort zu besuchen, um dann zusammen Yucatán zu erforschen. So eine hingeworfene Bemerkung, und jetzt stand er vor seinem Haus.

Hartmut ließ auf sich warten. Die Leute warfen ihm misstrauische Blicke zu, scheinbar grundlos hier gegen eine Hauswand in der Sonne zu lehnen. Als Hartmut endlich auftauchte, bei diesem unglaublich heißen Wetter trug er ein dunkles Jackett, lief er zuerst blicklos an ihm vorbei. Als ob er hier nicht Stunden gewartet hätte. Auch von ihren alten Plänen wollte er nichts mehr wissen: »Yucatán musst du dir aus dem Kopf schlagen, Hans. Mexiko ist nicht das friedliche Land, als das wir es uns in München vorgestellt hatten. Es wimmelt nur so von Banditen, überall, aber ganz besonders im Yucatán. Wir beide allein, unmöglich, das wäre viel zu gewagt.«

»Aber nur deshalb bin ich doch gekommen!«

Hartmut zuckte die Achseln.

»Aber ansonsten hast du Glück, ich werde mit meinem neuen Freund Gerhard, der auch Deutschlehrer hier wurde, um der Bundeswehr zu entgehen, über das Wochenende Guanajuato und San Miguel de Allende besuchen, zwei der interessantesten Kolonialstädte Mexikos. Und weitaus sicherer als Yucatán.«

Er hätte sich nach der ermüdenden langen Reise lieber erst mal in Mexico City ein paar Tage ausgeruht. So blieb ihm gerade noch die Zeit sich zu rasieren, zu duschen und die Haare zu waschen, die er sich seit zwei Monaten, eigentlich seit er Deutschland verlassen hatte, nicht mehr hatte schneiden lassen.

Er saß hinten in Hartmuts engem Volkswagen. Er sagte wenig, die anderen vermuteten natürlich die Erschöpfung von der langen Reise als Ursache, und jetzt schon wieder stundenlang im Auto. Aber es war mehr seine spontane Abneigung gegen die beiden, jeden Schritt hatten sie im Voraus geplant mit ihrem deutschen Baedeker und sich auf der Fahrt, anstatt dieses herrliche Mexiko in sich aufzunehmen, ständig über die Regierung von Willy Brandt und das Geschehen in Deutschland aufgeregt. Innerlich hatten sie sich kein bisschen von Deutschland gelöst.

Am nächsten Morgen wachte er erstaunt in einem von der Sonne durchfluteten blauen Zimmer in Guanajuato auf. Er war am Abend zu müde gewesen, um seine Umgebung wahrzunehmen. Draußen lebten die Straßen. Er saugte erregt die verwirrende Vielfalt um sich herum auf, wie benommen von den vielen fremden Empfindungen, den warmen dunklen Augen und der sonnig braunen Haut der Frauen, die farbige Pracht überall. Hartmut und Gerhard liefen stumm daran vorbei.

Das Eindrucksvollste für ihn war der auf einem Hügel am Rand der Stadt gelegene Friedhof von Guanajuato. Die Toten, für deren Grab niemand mehr aufkam, wurden nach fünf oder zehn Jahren, manchmal auch schon früher, brutal wieder ausgegraben, um dann in einem Keller als Leichen ausgestellt zu werden. Die Haut wie brüchiges Pergament. Ausgehöhlte Gesichter starrten die Besucher an, Relikte verzerrt und verfallen, Spuren ihrer Geschlechtsteile. Er war fasziniert, Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit noch hier herumliefen, und nun konnte man ihre Körper unter dem Friedhof für einige Pesos in ihren unterschiedlichen Verfallsstadien besichtigen. Am Ausgang gab es Postkarten zu kaufen. Ohne den Baedeker hätte er das nie mitbekommen.

Er wäre auch nicht dem langhaarigen Hippie begegnet, der selbstzufrieden am Ausgang des Friedhofs im Schatten gegen einen Baum lehnte und ihn durch seine grüne runde Sonnenbrille musterte.

»So sieht unser Schicksal aus. Es liegt allein an dir, das Beste aus deiner kurzen Zeit hier zu machen.« Er nickte in seiner lässigen Art in Richtung Totenmuseum. »Hast du von Tulum gehört? Dort wirst du das Rätsel lösen, das jeder von uns in sich trägt.«

Er nickte dem Typen unsicher zu, ohne zu antworten oder noch weitere Fragen zu stellen. Es war das erste Mal, dass er von Tulum hörte. Warum aber fühlte er sofort, dass sich eine besondere Bedeutung hinter dem Hinweis des Hippies verbarg?

Zurück in der Stadt verspürte er den Drang, eines dieser dunkelhaarigen, murmeläugigen Mädchen, die ihn überall neugierig anblickten, in die Arme zu nehmen.

»Lass deine Finger von den Mexikanerinnen, die Seuchen wirst du für den Rest deines Lebens nicht mehr los«, warnte ihn Hartmut allen Ernstes.

Auf einer Kreuzung regelten zwei Verkehrspolizisten in der mittlerweile knallheißen Sonne den Verkehr. Niemand nahm sie ernst, nur Hartmut hielt an, wartete auf ihr Signal zum Weiterfahren. Die Polizisten schauten fragend zu ihm herüber, hinter ihm fingen die Autos schon wild an zu hupen. Der ganze Verkehr kam zum Erliegen. Spätestens in diesem Moment war ihm klar, dass es mit Hartmut und dessen Lehrerfreund nicht lange gut gehen würde. Auch, weil sie ihn Hans nannten, mit all dem Ballast, den er gehofft hatte, in Nogales abgelegt zu haben. Natürlich, woher sollten sie von Harry Simms wissen, aber trotzdem.

 

2.