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Der zweite Roman der Hamburger Literaturpreisträgerin, die mit Die Ewigkeit ist ein guter Ort Presse, Buchhändler:innen und Publikum erobert hat, erzählt von zwei Frauen auf «der Suche nach dem Platz im Leben, den wir manchmal wechseln müssen, um anzukommen. Und davon, dass wahre Freundschaft manchmal nicht eine lange gemeinsame Geschichte braucht.» (Emotion) Als Nachtwache im Schlaflabor bringt Janis Fremde ins Bett und schaut ihnen beim Schlafen zu. Der Tag-Nacht-Rhythmus, der anderen Menschen eine natürliche Struktur gibt, gilt für sie nicht. Janis arbeitet, wenn andere ruhen, sie lebt allein und hat sich mit sich selbst gut eingerichtet. Erst als Sina bei ihr auftaucht, erwacht in Janis wieder der Wunsch nach einem anderen Leben. Sina ist Lehrerin und hat einen geregelten Alltag. Doch allmählich entgleitet ihr die Kontrolle: über ihre Familie, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben. Als sie Janis kennenlernt, lässt sie einmal die Krisen los, die zu Hause auf sie warten. Woher kommt die starke Verbindung, die beide Frauen spüren? Langsam befreien sich Janis und Sina von dem Takt, den der Alltag ihnen vorgibt. Sie begeben sich auf eine Reise durch die Nacht, in der auf einmal alles auf dem Spiel steht – und nichts mehr bleibt, wie es war. Über Die Ewigkeit ist ein guter Ort: «Ein literarisches Schmuckstück.» Ewald Arenz «Ein wunderbares Buch.» Christine Westermann «Tamar Noort hat sich was getraut mit diesem Debüt – und es hat sich absolut gelohnt.» Brigitte «Ein unterhaltendes, warmherziges Buch.» Hamburger Abendblatt «Dieses Buch übers Erinnern bleibt in Erinnerung.» NDR Kulturjournal
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Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tamar Noort
Roman
Zwei Frauen, eine Freundschaft und die Suche nach dem richtigen Platz im Leben.
Als Nachtwache im Schlaflabor bringt Janis Fremde ins Bett und schaut ihnen beim Schlafen zu. Der Tag-Nacht-Rhythmus, der anderen Menschen eine natürliche Struktur gibt, gilt für sie nicht. Janis arbeitet, wenn andere ruhen, sie lebt allein und hat sich mit sich selbst gut eingerichtet. Erst als Sina bei ihr auftaucht, erwacht in Janis wieder der Wunsch nach einem anderen Leben.
Sina ist Lehrerin und hat einen geregelten Alltag. Doch allmählich entgleitet ihr die Kontrolle: über ihre Familie, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben. Als sie Janis kennenlernt, lässt sie einmal die Krisen los, die zu Hause auf sie warten. Woher kommt die starke Verbindung, die beide Frauen spüren?
Langsam befreien sich Janis und Sina von dem Takt, den der Alltag ihnen vorgibt. Sie begeben sich auf eine Reise durch die Nacht, in der auf einmal alles auf dem Spiel steht – und nichts mehr bleibt, wie es war.
Tamar Noort, geboren 1976 in Göttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Sie studierte Kunst- und Medienwissenschaften sowie Anglistik und hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Für einen Auszug aus ihrem Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis. Tamar Noort war Stipendiatin im Künstlerdorf Schöppingen und in Worpswede. Sie erhielt das Spreewald-Literatur-Stipendium und das Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg. Neben ihrer literarischen Arbeit macht sie Dokumentationen für ZDF, Arte und 3sat. «Der Schlaf der Anderen» ist ihr zweiter Roman.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Lori Mehta
ISBN 978-3-644-02062-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Wenn Schlaf der kleine Bruder des Todes ist, gehört er zu der Sorte Geschwister, die man am besten in den Schrank sperrt und erst wieder befreit, wenn sie Demut gelernt haben. Ich würde ihn am liebsten dort verrotten lassen.
Dem Schlaf gehört alles: mein Tag und meine Nacht. Meine Arbeit, meine Freizeit. Der Kontakt zu meinen Kindern, meinem Mann, meiner Mutter, dem Kollegium. Er beherrscht meine Wünsche, meine Träume, meine Liebe. Der Schlaf gebietet über meinen Körper. Ich verabscheue ihn dafür, aber gleichzeitig sehne ich ihn herbei. Denn er erreicht seine Macht über mich mit einem einfachen Schachzug: mit seiner Abwesenheit. Wenn er fehlt, verblassen alle Prioritäten. Meine Würde ist auf einmal optional. Für eine einzige erholsame Nacht würde ich Überzeugungen aufgeben und mich selbst verraten.
Ich kann den Schlaf zwingen, zu mir zu kommen. Eine kleine weiße Pille genügt. Aber ich will nicht, dass er künstlich herbeizitiert wird. Deshalb benutze ich die Tabletten nur, wenn ich es nicht mehr aushalte, wach zu liegen und der Zeit dabei zuzuschauen, wie sie vorüberzieht. Wenn das Warten unerträglich wird, auf den Schlaf, auf den dämmernden Morgen. Auf das Wochenende, auf die Ferien, auf das nächste Schuljahr, auf das Großwerden der Kinder, auf die Rente, auf den Tod.
Ich liege und warte, und am nächsten Morgen ist die Welt noch da in ihrer ganzen Schrecklichkeit, der Tag geht von vorne los, und ich frage mich, wie ich den Kopf hochhalten soll.
Das Wachbleiben kommt mir gewalttätig vor, es ist, als würde ich am Tag in den Krieg ziehen und nachts noch einmal, an eine andere Front. Ein Dauereinsatz ohne Pause, eine Schlacht, die ich nicht gewinnen kann. Aber ich bin auch keine Soldatin.
Ich kämpfe für nichts, außer für mein Leben.
Wer sich auf das Dach des alten Krankenhauses verirrt, kann keine guten Absichten haben. Hier oben gibt es nichts weiter zu tun, als an den Rand zu gehen, einen Blick hinunterzuwerfen, und dann –.
Janis steht mit beiden Beinen fest an der Dachkante. Sie spürt den Wind, der vergeblich an ihren Haaren zerrt. Es stimmt, sie verfügt schon lange nicht mehr über gute Absichten. Jedenfalls nicht über solche, die ihr eigenes Leben betreffen. Sie hat sie verloren, nicht absichtlich, eher aus Versehen.
Janis ist jedoch keineswegs aufs Dach gestiegen, um aus dem Leben zu scheiden. Dafür weiß sie zu genau, welche Frakturen sie sich zuziehen würde, bei sechzehn Stockwerken. Nein, sie will sich nicht hinunterstürzen. Und doch steht sie hier und blickt über die Stadt.
Die Sicht ist weit, sogar in der Dämmerung reicht sie vom Villenviertel im Süden bis zu den Hochbauten im Norden. Zu sehen gibt es trotzdem nichts. Das liegt daran, dass die Stadt nicht viel Aufregendes bietet. Ein paar Kirchen, einige Gebäude am Hafen, die neu sind und sich wichtig hervortun, und ein Park, der um diese Jahreszeit aus schwarzen Gerippen besteht, so düster, dass sie sogar vor dem dunklen Himmel deutlich hervortreten. Dazwischen Häuser wie Hundehütten, mit tiefen Satteldächern und niedlichen Rundfenstern.
Der Grund, warum Janis hier oben steht, ist das Gebäude direkt gegenüber. Es ist das neue Klinikum, ein Erweiterungsbau mit zwanzig Stockwerken, hellen Fenstern und sogar Balkonen auf der einen Seite. Ein asphaltierter Fußweg schlängelt sich in gleichmäßigen Kurven hinüber zum gläsernen Eingang. Von hier aus kann sie die Nachtschicht sehen, die gerade auf dem Weg zum Dienst ist. Die Menschen setzen sich dunkel ab gegen das hell erleuchtete Haus. Mit schnellen Schritten gehen sie geradewegs auf den Eingang zu. Niemand von ihnen kümmert sich um die vorgegebenen Kurven des asphaltierten Weges. Der ausgetretene Trampelpfad, der auf diese Weise entstanden ist, wirkt wie ein Wanderstab, um den sich eine Schlange gewickelt hat.
Janis sieht den Menschen gern dabei zu, wie sie zum Eingang eilen. Sie kann nicht erkennen, wer es ist, aber anhand des Schritttempos und der Körperhaltung stellt sie sich vor, dass hier Irina geht, dort Esra, und ganz hinten, fast schon zu spät, das kann nur Alex sein.
Nur Jens sieht sie nie. Das weiß sie sicher, denn ihn würde sie auch aus einem Kilometer Entfernung erkennen.
Janis ist diesen Weg unzählige Male selbst gegangen. Ihn von hier oben zu sehen, Anfang und Ende zu überblicken, gibt ihr das Gefühl, dass sie noch immer dazugehört. Als könnte sie jederzeit zurückkehren.
Das Dach der alten Klinik ist zudem der einzige Ort, an dem sie ungestört rauchen kann. Wobei es wohl niemand bemerken würde, wenn sie es bei der Arbeit täte. Vermutlich kann sie die ganze Nacht qualmen, ohne dass sich jemand beschwert. Jetzt tritt sie ihre Zigarette aus und öffnet die schwere Tür zum Treppenhaus. Ihre Schicht beginnt, und Janis ist bereit.
In dem alten Krankenhaus hält Janis die Stellung allein. Nur noch eine Etage ist in Betrieb, die ehemalige Intensivstation. Heute wird hier nicht mehr mit dem Tod gerungen. Die einzige Gegnerin, die zu bezwingen ist, blickt Janis aus dem Spiegel entgegen. Sie ordnet das lange, dunkle Haar, das wild vom Kopf absteht. Dann wäscht sie sich gründlich die Hände und desinfiziert sie. Eine alte Gewohnheit. Ihr Rücken schmerzt, nicht mehr als sonst.
Von den sieben Zimmern der ehemaligen Intensivstation sind nur noch zwei in Gebrauch. Die beiden Räume liegen sich gegenüber, am Ende des Flurs. Janis betritt den linken und schaltet ein kleines Licht am Schreibtisch ein. Sie aktiviert die Monitore und blickt auf die Wanduhr. Um diese Zeit sollte ihr Gast längst da sein. Das Infrarot-Kamerabild zeigt das rechte Zimmer. Es ist ein klassisches Krankenzimmer, mit einem Bett und einigem an Apparatur. Der Raum ist leer. Es geschieht selten, dass ihre Gäste spät dran sind. Die meisten Menschen kommen eher zu früh ins Schlaflabor, als wollten sie Sternchen dafür verdienen, dass sie sich pünktlich schlafen legen. Sie sitzen artig im Pyjama auf der Bettkante, wenn Janis hereinkommt, um sie zu verkabeln.
Sie spricht so wenig wie möglich mit ihnen. Das ist nicht unfreundlich gemeint, sie sieht nur keinen Sinn darin, mit Menschen Kontakt aufzunehmen, die sich kurz danach in den Schlaf verabschieden und das Krankenhaus am nächsten Morgen wieder verlassen. Sie kann ihnen nicht helfen. Sie schaut nur zu. Die Menschen, die zu ihr kommen, sind ihre Gäste. Nicht ihre Patienten.
Janis vertreibt sich die Zeit mit dem Protokoll, das die letzte Nachtwache dagelassen hat. Darin wird alles notiert, was sich in der Nacht zuvor ereignet hat. Meist sind die Protokolle also kurz. Dieses hingegen hat ein Spaßvogel verfasst, er feiert die Ereignislosigkeit der Nacht mit ironischem Unterton. Janis ärgert sich darüber. Der Protokollant studiert Medizin, so wie die meisten Nachtwachen im Schlaflabor, und er sieht die Dienste als Nebenjob, bevor die Karriere losgeht. Aber das gibt ihm nicht das Recht, sich über die Arbeit lustig zu machen.
Der Gast von gestern hatte eine obstruktive Schlafapnoe. Sein Atem setzte mehrmals aus. «Heute das erste Mal mit Gerät», bemerkt der Protokollant trocken, und dann folgt eine süffisante Beschreibung, wo die Maske mit dem Atemgerät sich im Lauf der Nacht befunden hat. Offenbar überall im Gesicht, nur nicht auf der Nase. Janis schüttelt den Kopf. Der Protokollant hat nicht verstanden, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, die Maske zu korrigieren.
Ob sie ihren heutigen Gast anrufen soll? Es geschieht gelegentlich, dass niemand auftaucht. Dann wurde der Termin vergessen oder mutwillig ignoriert. Janis versteht das, manche können sich einfach nicht vorstellen, eine Nacht unter Aufsicht zu schlafen. Aber sie ruft immer an und fragt nach.
Sie sucht nach dem Namen, doch die Überweisung der Arztpraxis, die den Aufenthalt im Schlaflabor verschrieben hat, ist nirgends zu finden. Verflucht, wo hat der Tagdienst sie hingetan? Ohne Überweisung weiß sie weder, wer kommt, noch weshalb.
Janis lehnt sich zurück. Der Rücken meldet sich, sie spürt, dass die Nacht lang wird. Es lockt sie, sich wenigstens kurz zu entziehen. Nur solange ihr Gast noch nicht da ist. Sie schließt die Augen, und sofort entgleitet sie sich selbst, sie schläft, so tief, so fest, dass es scheint, als hätte sie zwei Existenzen: ein waches und ein schlafendes Selbst.
Sie schreckt auf von einem absichtsvollen Räuspern, eines jener Art, bei dem man sofort hochschnellt und sich fragt, was man falsch gemacht hat.
In der Tür steht jemand. Ihr Gast ist eine Frau. Etwa in ihrem Alter, Mitte vierzig. Nicht adipös.
Janis blickt sie stumm an. Die meisten Patienten sind Männer jenseits der fünfzig mit Übergewicht.
«Ich soll hier schlafen», sagt die Frau, und es entgeht Janis nicht, dass sie das Ich betont und damit eine Anklage platziert.
«Ich weiß», antwortet Janis, «ich bin die Nachtwache.»
Ein nervöses, helles Lachen entfährt der Besucherin. Janis stimmt nicht mit ein. Sie nimmt das Klemmbrett, auf dem normalerweise die Überweisung des Arztes eingespannt ist. Aber auch so sieht es wichtig aus. Als habe sie zu tun.
«Kommen Sie», sagt sie und schreitet voran in das Zimmer gegenüber. Sie öffnet die Tür und präsentiert den Raum, als sei es ihre beste Suite, was unter diesen Umständen sogar stimmt.
«Einmal bitte bettfertig machen, in fünfzehn Minuten bin ich dann da und verkabel Sie», sagt sie.
Die Frau betritt den Raum zögerlich, dreht sich einmal um sich selbst, stellt dann ihre Tasche ab und lässt sich auf der Bettkante nieder. Sie hat kurze, helle Haare, markante Züge. Blasslila Schatten unter den Augen. Ein Körper, der in sich zusammensackt, sobald sie sitzt.
Als sie den Kopf hebt und Janis in die Augen sieht, liegt in ihrem Blick tiefe, unverhüllte Erschöpfung. Für einen Moment hat diese Frau die Maske abgelegt, die das soziale Miteinander steuert.
«Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt», sagt Janis, «ich bin Janis Templin.» Die Frau nickt langsam, gibt ihr die Hand. Warm und stark.
«Sina», sagt sie, und dann, nach einer kurzen Pause, als sei ihr soeben eingefallen, dass der Name noch nicht vollständig ist: «Jott. Sina Jott. Wie der Buchstabe.»
Janis lässt noch nicht los. Die beiden Hände liegen ineinander, zwei Teile eines Ganzen.
Im Vorratsraum stellt Janis die Utensilien zusammen, die sie für die Verkabelung braucht. Elektroden, Gurte und Messgeräte für Schädel, Kinn und Nase, für Wangen, Brust und Bauch, für beide Beine und den Finger.
Man schläft mit dem ganzen Körper, sagt sie gern, wenn ihre Gäste sich über die vielen Gerätschaften beschweren. Schlaf schaltet nicht einfach nur das Bewusstsein aus. Ihr gefällt der Gedanke, dass er eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Das Resultat einer feinen Abstimmung, die im ganzen Körper geschieht. Tausende, Abertausende kleine Taktgeber beteiligen sich daran, jede einzelne Zelle hat ihre eigene Uhr, und erst wenn alle synchron laufen, regulieren sie zusammen den gesamten Organismus.
Unter den Umständen scheint es ihr wie ein Wunderwerk der Natur, dass überhaupt jemals irgendwer schläft. Sind die inneren Uhren nicht gut aufeinander abgestimmt oder werden sie missachtet, gerät alles durcheinander. Die Rädchen drehen durch, schleifen sich ab, und irgendwann greifen sie nicht mehr. Dann fühlt der Körper sich an wie ein alter Wecker, der nicht mehr aufgezogen wird und zur falschen Zeit klingelt. So geht es Janis jedenfalls nach zwanzig Jahren Schichtdienst.
Bei den Menschen, die zu ihr ins Schlaflabor kommen, ist noch nicht alles verloren. Mit den Messgeräten kann sie herausfinden, warum ihre Gäste aus dem Takt geraten sind. Wobei es genau genommen nicht Janis ist, die diagnostiziert, weshalb jemand schlecht schläft oder sich tagsüber gerädert fühlt. Eigentlich muss sie nur dafür sorgen, dass die Menschen ordentlich verkabelt sind und die Apparatur nachts nicht ausfällt. Wenn das Schlafprofil am nächsten Morgen vollständig vorliegt, beugen sich Ärzte und Pflegekräfte darüber, nicht die Nachtwachen.
Sie sucht noch Gipspaste, Pflaster, Wattestäbchen, Reinigungsmittel und Verlängerungskabel zusammen, dann überquert sie den Flur, klopft und tritt ein.
Sina Jott sitzt immer noch auf der Bettkante, die Hände gefaltet wie zum Abendgebet. Aber sie hat sich umgezogen. An ihr hängt ein großes, grob kariertes Flanellhemd, das brandneu aussieht. Es verspricht die Art von Gemütlichkeit, die es nur zum Spätherbst bei Tchibo gibt. Obwohl das Hemd ihr weit über die Knie reicht, sieht Sina Jott darin nackt aus.
Janis sagt nichts zur Ermutigung. Sie kann die Situation ohnehin nicht besser machen. Niemand schläft gern unter Aufsicht fremder Menschen. Und doch muss es geschehen, und es tut nicht weh.
«Hände hoch», sagt Janis, und Sina Jott hebt sofort die Arme. Wie ein kleines Kind. Janis legt den Brustgurt an, direkt unter die Achseln. Etwas weiter unten den Bauchgurt.
«Für die Atemtiefe», sagt sie knapp.
Sie klebt Elektroden ans Dekolleté, unterhalb des Schlüsselbeins.
Kleine Inseln in einem Meer aus Sommersprossen.
«Fürs Herz.»
Auch das Gesicht ist übersät mit Sommersprossen. Es sieht schön aus, besonders.
Epheliden, ruft Janis sich in Erinnerung, Überschuss von Melanin.
Sie fährt mit einem Wattestäbchen über das Gesicht. Das Reinigungsmittel bringt die Haut zum Glänzen. Sina Jott kneift die Augen zusammen. Janis vermindert den Druck und lässt das Stäbchen kreisen, sie umrundet eine Sommersprosse, tupft hinüber zur nächsten, streicht sanft mit der Watte über die Stirn. Das Gesicht entspannt sich etwas.
«Ruhig die Augen noch geschlossen halten», sagt Janis leise, dann klebt sie Elektroden auf die gereinigte Haut an Schläfen, Kinn und Stirn.
«Für die wilden Schlafphasen», sagt sie.
«Wieso das?»
«Da bewegen sich die Muskeln im Gesicht, und wir zeichnen das auf. Es zeigt mir, wo Sie sich gerade befinden.»
Sina Jott lacht auf. «Ich dachte eigentlich, ich bleibe hier im Bett.»
«Wo im zirkadianen Rhythmus, im Schlafzyklus, meinte ich», sagt Janis schnell. Bei diesem Gast fühlt sich alles verdreht an.
Die Elektroden für das EEG hebt sie sich bis zum Schluss auf. Vor den roten und blauen Kabeln hat sie am meisten Respekt. Sie werden mit Gipspaste an den Kopf geklebt und nehmen von dort Verbindung auf zum Innersten des Menschen. Zum Gehirn.
Janis erinnert sich an ihre Gäste häufig über die Eigenschaften ihrer Kopfhaut. Sie weiß erst, mit wem sie es zu tun hat, wenn sie sich durch das Dickicht der Haare geschlagen hat und sehen kann, was darunter liegt. Der pensionierte Fleischer, dessen Kopfhaut trotz seiner über achtzig Jahre rosig ist wie die Hinterbacke eines Ferkels. Der Lehrer, dessen schorfiger Schädel im Widerspruch steht zu seiner stattlichen Erscheinung und der sorgsam gelegten Restfrisur. Der quirlige Herrenausstatter, der eine Glatze hat und seine Kopfhaut trägt wie eine Pracht.
Wenn Janis ihre Fingerkuppen über einen Schädel gleiten lässt, um die richtige Stelle für die erste Elektrode zu finden, spürt sie eine Wahrheit, die sich sonst nicht offenbart. Das ist nicht jedem recht. Manchmal begegnet ihr Widerstand, dann verwandelt sich die Kopfhaut in feindliches Gebiet. Aber nicht bei Sina Jott. Ihre Kopfhaut heißt sie willkommen. Das Haar duftet schwach, darunter liegt verletzliche Haut. Janis’ Fingerkuppen kartografieren den Schädel, nehmen Hindernisse wahr, Irrläufe, Verletzungen. Zarte Hauben aus Schorf, kleine Pickel vielleicht, die ab und an aufgekratzt wurden. Eine schmale Schneise taucht auf, normalerweise verborgen vom Deckhaar. Janis folgt ihr, eine verblasste Narbe, die sich vom Haaransatz mehrere Zentimeter über den Kopf zieht.
Sina Jott zuckt. Janis findet eine Stelle, die sich für eine Elektrode eignet, tupft Gipspaste darauf und legt eine Elektrode an. Dann presst sie mit zwei Fingern die Elektrode in die Paste, sanft, aber bestimmt.
«Das braucht ein bisschen Druck», sagt sie. Es stimmt nicht, der Gips muss einfach nur trocknen, damit es hält. Aber es gibt Janis das Gefühl, dass sie ihren Job gut macht.
Sina Jott spannt die Schultern an, und dann schluchzt sie, einfach so, ohne Vorwarnung. Eine kurze, heftige Eruption, so schnell vorbei, dass Janis es sich auch eingebildet haben könnte. Aber ihr Gast wischt sich hastig mit dem Ärmel des Flanellhemdes die Nase ab.
«Entschuldigung», ihre Stimme klingt etwas heiserer als zuvor, dann legt sie ihre Hände wieder in den Schoß und wartet, dass es weitergeht.
Janis will etwas sagen, etwas Tröstendes. Früher war sie darin gut. Du bist eine Empathie-Maschine, hat Jens immer gesagt. Dein Motor läuft auf Mitgefühl. Bis er eben nicht mehr lief.
Jetzt legt sie kurz die Hand auf die Schulter vor ihr. Sie spürt die Spannung im Körper, den Nachhall des Weinens. Erst als der Druck ein wenig nachlässt, nimmt sie die Hand weg und arbeitet sich weiter vor, schnell und routiniert. Bald ist der ganze Kopf verkabelt, und mit den Gurten, dem Sensor am Finger und dem Vibrationsmesser an der Brust sieht ihr Gast nun aus wie all die anderen, die irgendwann hier saßen: ein wenig wie eine Statistin in einem B-Movie aus den Siebzigern, in dem Gehirne ausgesaugt und Gedanken gelesen werden. Sina Jott holt ihr Handy hervor und betrachtet sich mit der Selfie-Funktion der Kamera. Dann schneidet sie eine Grimasse, macht ein Foto und schickt es routiniert in eine WhatsApp-Gruppe.
«Habe ich den Kindern versprochen», sagt sie und berührt vorsichtig die Kabel, die ihr vom Kopf hängen, «sie wollten wissen, wie ich aussehe, wenn meine Träume angezapft werden.»
«Die werden nebenan auf dem Bildschirm übertragen», sagt Janis, «also pass auf, was du träumst, ich sehe alles.»
Erst als sie den überraschten Blick ihres Gastes auffängt, bemerkt sie, dass sie geduzt hat. Es ist gänzlich unangemessen, und Janis macht intuitiv einen Schritt zurück, bringt mehr Raum zwischen sich und Sina Jott, um die Nähe zu tilgen, die sie versehentlich heraufbeschworen hat. Aber es ist geschehen, und zurücknehmen kann sie es nicht mehr.
Janis hat noch nie einen Gast geduzt. Oder einen Patienten. Es ist wichtig, eine unsichtbare Trennlinie einzuhalten, eine, die sie nicht überschreitet, gerade weil andere es so oft tun. Ihre Patienten haben sie oft beim Vornamen genannt oder «Herzchen» oder «Liebes» oder einfach nur «Du!». Menschen verlieren jedes Gefühl für Nähe und Distanz, sobald sie im Krankenhaus liegen und ihr Leben von anderen abhängt. Sie lassen die Tür zur Toilette offen, bedecken ihre Genitalien nicht, greifen nach Armen, in die sie sich fallen lassen können. Früher musste Janis ihre Patienten oft sanft daran erinnern, dass auch sie eine Intimsphäre hatte. Und nun ist es ihr selbst passiert.
Etwas an Sina gibt ihr das Gefühl, sie dürfe diese Grenze überschreiten. Vielleicht das Weinen eben, oder ihr eigener kurzer Zwischenschlaf vorhin. Sina hat sie schlafen sehen, und sie wird Sina schlafen sehen. Sie teilen eine Nacht.
Vielleicht ist das Du die einzig angemessene Anrede. Sie lässt es im Raum stehen wie ein ungeöffnetes Geschenk.
Sina nestelt an den Elektroden, legt sie zurecht. Als könne sie Ordnung bringen in das Chaos auf ihrem Kopf und dabei auch das aufräumen, was gerade in Unordnung geraten ist zwischen Janis und ihr.
«Damit soll man wirklich schlafen?», fragt Sina und deutet auf ihren Kopf.
«Geht leichter, als man denkt.»
«Ich schlaf doch normal schon nicht.»
«Normalen Schlaf gibt es nicht», sagt Janis, «aber wir verabreichen auch Tabletten, wenn es nicht anders geht.»
«Zählt das dann überhaupt, wenn der Schlaf künstlich ist?»
«Ist auf jeden Fall besser, als nur Wachphasen aufzuzeichnen. Soll ich eine Tablette bringen?»
Sina sagt nichts. Sie reibt ihre Füße aneinander, die in dicken selbstgestrickten Socken stecken. Als könne keine Wolle der Welt die Kälte vertreiben. Dann schüttelt sie den Kopf.
«Sonst sag einfach Bescheid.» Janis kostet das erneute Du auf den Lippen. Sie geht zur Tür. «Ich mach jetzt das Licht aus.»
Sina sackt nach hinten, vorsichtig, um die Kabelage nicht durcheinanderzubringen. Sie dreht Janis den Rücken zu, noch bevor die Tür zufällt.
Was für ein lieber kleiner Gedanke, dass ich in diesem Bett liegen und schlafen könnte. Alles spricht dagegen. Meine Füße, die kalt sind. Das Kissen, das fremd riecht. Die Kabel am Kopf. Ich sehe aus wie Medusa, natürlich nicht so furchteinflößend schön wie in den Sagenbüchern, eher eine Art Billigversion, mit dünnen Plastikfäden, die vom Kopf sprießen, statt mächtigen Schlangenhaaren. Wenn ich jetzt die Augen aufmache, wird alles zu Stein. Schließe ich sie, verfelse ich von innen. Ich hätte die Tablette nehmen sollen, die mir die Nachtwache angeboten hat. Dann wären die Kanten nicht so hart. Eine Pille stattet das Felsige mit Polstern aus, macht aus der Nacht ein Wolkenbett.
Versuchen Sie es stattdessen doch einmal mit festem Boden unter den Füßen, hat der neue Hausarzt gesagt. Er hatte lange Wimpern, wie ein Kind. Ganz zarte Härchen, die sich an seine Wange schmiegten, wenn er den Blick senkte. Wie er da saß in seinem knitterfreien Kittel, ganz besorgt, aber gleichzeitig frisch und ausgeschlafen und voller Tatendrang. Er konnte nicht glauben, dass seine Vorgängerin mir jahrelang Zolpidem verschrieben hat. Wolkenbett auf Rezept.
Sie können doch nicht ewig so weitermachen, sagte er noch. Dabei will ich gar nicht weitermachen, ich will in meinem Bett liegen und schlafen, wie alle anderen auch. Stattdessen schickt er mich ins Schlaflabor, ausgerechnet. Hier werde ich erst recht wachliegen. Aber wenn das nötig ist, um ihm zu beweisen, dass ich das Rezept brauche, bitte. Dann opfere ich gerne eine weitere Nacht.
Eigentlich sollte ich es machen wie Ida. Ida brüllt, wenn ihr danach ist. Meine stolze, wütende Tochter. Wäre ich doch ein bisschen wie sie.
Wie versehrt ich bin von den scharfen Kanten. So beschädigt, dass ich mich von einer fremden Frau beobachten lasse, wie ich mich im Bett herumwälze. Immerhin liege ich nicht tatenlos herum, sondern leiste einen Beitrag, ich produziere Ausschläge auf einem Bildschirm. Natürlich tue ich das. Nichts gibt es umsonst, auch nicht Nachtruhe. Wer sich nicht anstrengt für den effektiven Schlaf, hat ihn nicht verdient, denn jedes Kind kann schlafen lernen, und wenn du deine Lektion versäumt hast, musst du eben nachsitzen. Genauso gut könnte ich Nachhilfe im Atmen beantragen. Oder im Schlucken. Im Liegen.
Mir fehlt die Kuhle in meiner Matratze. Mir fehlt Ida. Mir fehlt Ben, der warme, wuschelige Ben, der noch durchscheint hinter seinem neuen Schweigen und dem höflichen Kopfschütteln. Er ist so groß geworden, dass ich zu ihm aufschauen muss, wenn ich ihn umarmen will. Und mir fehlt Fanny, ihr goldenes Gehüpfe. Dass mir der Hund eher einfällt als Matthias, sollte mir zu denken geben. Wäre ich jetzt zu Hause, würde Matthias neben mir liegen. Er würde seelenruhig den Tag verarbeiten, Kraft sammeln für den nächsten und leise schnarchen dabei.
Ich mache meinen Kopf leer und denke an nichts, so hat meine Meditations-App es mir beigebracht. Die App weiß, wie positive Verstärkung funktioniert. Wenn mir mit Konfetti-Regen mitgeteilt wird, dass ich diesen Monat fünfmal erfolgreich meinen Geist gelöscht habe, fühle ich mich, als hätte ich wirklich etwas geschafft. Bestimmt ist das zu sehen, Ausschläge auf dem Monitor, die beweisen, dass ich hier bin. Oder?
Bin ich das?
Bin ich wach?
Oder träume ich, dass ich nicht schlafen kann?
Jeder bekommt den Alptraum, den er verdient, sagt meine Mutter. Wenn dies mein Alptraum ist, wird es einen Grund geben, dass ich ihn habe. Dann liege ich gar nicht wirklich in diesem Klinikbett, und die seltsame Nachtwache, die einfach Du zu mir sagt, ist nur in meinem Geist.
Dann existieren die Drähte am Kopf nicht, und ich spüre die Kuhle in meinem Rücken, und gleich kommt der Zug, denn mein Alptraum hat einen Zeitplan, der präzise eingehalten wird. Nacht für Nacht, um zwei Uhr sieben, rattert ein Zug durch meinen Garten, er pflügt sich durch mein Gehirn und wirbelt auf, was sich gerade gesetzt hat. Es ist die Nordwestbahn nach Delmenhorst, man kann die Uhr nach ihr stellen.
Wer auch immer um diese Zeit etwas in Delmenhorst zu erledigen haben sollte, dem lege ich diese Verbindung ans Herz. Ich kann bestätigen, dass der Zug pünktlich ist. Dass er zuverlässig Fahrt aufnimmt, sobald er den Bahnhof verlässt, und etwa 150 Meter weiter, wenn er an meinem Schlafzimmerfenster vorbeifährt, zur Höchstform aufläuft. Er rattert, klappert, pocht sich hinein in mein Gehirn. Die Zunahme an Geschwindigkeit posaunt er hinaus auf den Schienen, mit den Motoren, sogar mit rüttelnden Fenstern oder Türen. Rattern, Klappern, Pochen. Fast schon vertraut.
Meist bleibe ich liegen, wenn der Zug kommt. Aber manchmal fühle ich mich derart betrogen um die Zeit, die er mir stiehlt, dass ich aufstehe. Ich gehe in die Küche, leise, um niemanden zu wecken, und mache Kaffee. Bin entschlossen, die Nacht zu nutzen, die mir in ihrer gesamten Länge zur Verfügung steht. Dann bereite ich eben Unterricht vor oder korrigiere Klassenarbeiten.
Der Kaffee.
Die Tasse auf dem Heft.
Der Fleck.
Selber schuld.
Wie es passiert ist, erinnere ich nicht. Vielleicht ein Sekundenschlaf beim Einschenken. Der Kaffee plätschert auf das Klausurheft, das aufgeschlagen vor mir liegt, und vermischt sich mit blauer Tinte.
Anstatt besonnen trocken zu tupfen und den Schaden zu begrenzen, schlage ich reflexhaft das Heft zu und verursache so einen Dopplereffekt. Der Fleck spiegelt sich nun auf der anderen Seite und ergibt meinen persönlichen Rorschachtest: Mal sehe ich darin das Innere eines Mundes, mal den obligatorischen Schmetterling. Früh am Morgen, bevor ich in die Schule fahre, sehe ich zwei über Kopf hängende Affen, die sich an den Händen halten. Meine Hände sind kalt. Nein, meine Hände sind warm. Die Affen schaukeln hin und her. Ich greife nach ihnen, aber da ist nichts, da sind nur Schlangen, in Rot und Blau. Es rauscht in meinen Ohren.
Sie liegt im Papierkorb. Obenauf, makellos, weder geknickt noch zusammengeknüllt, sondern sorgfältig abgelegt, als hätte jemand gedacht, dass die Überweisung hier am besten aufgehoben sei. Janis nimmt das Blatt aus dem Müll, dann sucht sie den Aktenordner heraus, in dem die Überweisung abgeheftet werden soll. Sina ist mit Verdacht auf Schlafapnoe hier, wie die meisten von Janis’ Gästen. Es ist allerdings ungewöhnlich, dass ein Arzt bei einer Frau, die dazu noch verhältnismäßig jung ist, überhaupt auf die Idee einer Schlafapnoe kommt. Unter Bemerkungen hat der Arzt notiert: F13.2-V, Zolpidem. Bitte keine weiteren Z-Präp.
Janis hält inne. Sina ist suchtgefährdet und sollte kein Schlafmittel erhalten. Warum hat sie das nicht in Erwägung gezogen, vorhin, als sie Sina die Tablette angeboten hat? Wie konnte das passieren? Ausgerechnet ihr, einer Krankenschwester mit zwanzig Jahren Berufserfahrung, die auf der Orthopädie bekannt war für ihre Sorgfalt und ihr phänomenales Patientengedächtnis? Die niemals Medikamente allein gesetzt, immer auf das Vier-Augen-System zurückgegriffen hat? Hier im Schlaflabor hat sie sich nur um eine einzige Person zu kümmern. Keine ganze Station mit einer Mischung aus Dekubitus, septischer Arthritis, Rippenfraktur, Bandscheiben-Rezidiv. Keine dreißig Lebensgeschichten, keine sechzig Hände, die nach ihr greifen, keine neunzig Rufe pro Nacht. In ihrer Obhut befindet sich eine einzige Person, weder lebensgefährlich krank noch verletzt.
Sie legt ihre Hände auf den Bauch, um das Flattern zu unterdrücken, das sich von dort in alle Richtungen ausbreitet. Ekstatisches Flügelschlagen, Flugversuche junger Vogelschwärme, die an ihre Bauchdecke stoßen, um der Enge ihres Körpers zu entkommen.
Janis probiert die Sache mit dem Atmen. Ein und aus, lange Züge, um die Lungen mit Luft zu füllen und dem Schwirren in ihrem Bauch eine Richtung zu geben, zu synchronisieren mit dem Rest ihres Körpers, aber es gelingt ihr nicht. Es dehnt sich weiter aus, in die Gliedmaßen hinein, jetzt zittern schon die Hände.
Sie braucht dringend ihre Kopfhörer. In ihrer Tasche sind sie nicht. Das kann nicht sein, sie hat sie doch eingesteckt. Je tiefer sie wühlt, desto sicherer ist sie, dass sie das kleine weiße Kästchen verloren hat, ausgerechnet jetzt, wo sie sie wirklich braucht.
Sie findet es in ihrer Jacke. Erleichtert öffnet sie die Musik-App ihres Telefons. Schon die ersten Takte lenken sie ab. Show me, show me, show me, das Zittern legt sich, I opened up my eyes, das Flattern wird weniger, and found myself alone, und sie erhebt sich, alone, alone, alone above a raging sea, sie bewegt sich durch den Raum und singt leise mit.
The Cure funktioniert immer. Satte Melancholie, und trotzdem lässt die Musik ihr Luft zum Atmen. Ein Schutzschild gegen größte Traurigkeiten. Sie sinkt zurück auf den Stuhl und atmet tief durch. Es ist nichts passiert. Sie hat nur eine Tablette angeboten, so wie immer, wenn auf der Überweisung nichts anderes vermerkt ist. Sie hätte hartnäckiger nach dem Wisch suchen sollen. Aber Sina hat die Tablette abgelehnt, und alles ist gut.
Janis locht das Blatt und heftet es ab. Ihr Blick fällt auf das Geburtsdatum. Sina ist ein Jahr jünger als sie. Genau ein Jahr. Sie haben am gleichen Tag Geburtstag. Janis starrt auf die Überweisung. Dann lässt sie den Metallbügel über dem Blatt zuschnappen und schlägt den Ordner zu.
Ich liege nicht wach wegen des Klimawandels. Auch nicht wegen der Kriege oder der Gefahr von rechts. Ich liege wach, weil ich nicht weiß, wo meine Arme hinsollen. In dem Moment, in dem ich ins Bett steige, wird mir überhaupt bewusst, dass ich Arme habe. Den ganzen Tag über machen sie keine Probleme, sie tragen und heben Dinge, sie halten fest, lassen los, umarmen, all das klaglos. Aber im Bett verlangen sie so viel Aufmerksamkeit, dass ich mich bald vollends darauf konzentriere, wie sie es am bequemsten haben. Einer liegt unter dem Körper und tut irgendwann weh, der andere bleibt über. Jedenfalls in meiner Lieblingsposition, Seitenlage. Wenn ich auf dem Rücken liege, sind beide Arme ohne Funktion, dann kann ich mir nur die Hände gefaltet auf den Bauch legen. Auf dem Bauch schlafen ist ein No-Go, das sagt sogar die Schlafmedizin. Wie machen andere Menschen das? Woher wissen sie, wie ihre Körperteile zu sortieren sind für die Bettruhe?
Wenn ich Fanny betrachte, die schnarchend eine Art Pfötchenkonferenz abhält, alle Pfoten auf einen Haufen, halb unter sich, den Kopf einfach darauf abgelegt, dann denke ich, dass Säugetiere intuitiv wissen, welche Körperhaltung den Schlaf am wenigsten stört. Und ich, als Mitglied der Krone der Schöpfung, versage sogar in dieser Disziplin. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich liegen soll.
Sagen kann ich das keinem. Schlaflosigkeit wegen fehlerhafter Sortierung der Gliedmaßen ist einfach keine gute Geschichte. Wenn wir zum Essen eingeladen sind bei Cleo und Frank, fragt Cleo zuverlässig zwischen Vorspeise (Feldsalat mit Walnüssen und Ziegenkäse) und Hauptgang (etwas Kompliziertes von Ottolenghi), wie es mir geht. Sie weiß von Frank, der es von Matthias gehört hat, dass ich schlecht schlafe. Cleo will wissen, wie schlimm es gerade ist, und sie sieht besorgt aus dabei, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie bei meiner Schlaflosigkeit verweilt wie ein Wracktourist vor dem Unfall. Sie will hören, wie das ist, die ganze Nacht wachzuliegen, und wie ich den nächsten Tag überstehe im Unterricht. Selbstverständlich versäumt sie nicht, mir von dem einen Mal zu erzählen, als sie auch mal nicht schlafen konnte, im Sommer 2003, kurz vor dem ersten Staatsexamen, sie war sicher, es nicht in den Schuldienst zu schaffen. Ansonsten schläft sie wie ein Baby. Sie meint wohl diese Wunderbabys, die rosig und sanft und mit zerknüffelten Däumchen in hübschen Zimmern liegen. Nicht die brüllenden, schwitzigen Kinder, die ich in den Schlaf wiegen musste.
Cleo und Frank haben keine Kinder. Sie haben Rennräder, eine Sauna im Keller und ein ruhiges Leben mit Raum zum Denken, Schlafen und Arbeiten. Wahrscheinlich haben sie sogar Sex.
Cleo kennt den schwangeren Leib nicht, der nachts überall juckt und ständig im Weg liegt. Das Geschrei der ersten Lebensjahre, den schrillen Lärm, der Nervenbahnen auseinanderreißt, als wären es lieb vertäute Wollfäden.
Warum die beiden kinderlos sind, weiß ich nicht. Darüber spricht man nicht, sagt Matthias. Ich finde, man spricht auch nicht über Schlaflosigkeit, erst recht nicht mit Frank, der unser Schulleiter ist. Aber Matthias hält Frank für einen Freund, und mit guten Freunden teilt man, was einen bedrückt, und offenbar bedrückt es Matthias, dass ich nicht schlafen kann.
Ich durchkämme das Grün auf meinem Teller und sortiere die Nüsse aus. Walnüsse haben im Abendessen nichts verloren. Sie sehen aus wie Gehirne von Eichhörnchen, und genauso schmecken sie auch. Cleo benutzt sie nur, um die Vorspeise zu verschnörkeln. Sie täuscht haute cuisine vor, dabei habe ich die JA-Tüte mit den Billignüssen genau gesehen, als ich vorhin in der Küche war. Matthias und Frank sind in ein Gespräch verwickelt über eine Serie, die ich nicht kenne und von der ich weiß, dass auch Matthias sie nicht gesehen hat. Cleo fragt mich etwas. Ich spieße eine Nuss auf meine Gabel und will sie auf den Rand des Tellers unter eine Tomatenscheibe legen, aber sie verklemmt sich in den Zacken. Unauffällig erhöhe ich den Druck, klopfe mit der Gabel auf den Teller. Die Nuss rührt sich nicht. Cleos Stimme klingt dringlicher jetzt, aber ich habe zu tun, ich muss ein Eichhörnchengehirn loswerden, also nehme ich mein Messer und versuche, die Nuss vornehm von der Gabel abzustreifen. Sie gibt nicht nach, genauso wenig wie Cleo, die sich jetzt zu mir beugt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mir die Nuss in den Mund zu stecken, sie löst sich sofort von der Gabel und breitet sich mehlig und bitter aus. Cleo sagt etwas, das ich nicht verstehe, meine Zähne mahlen zu laut, und außerdem spricht man nicht mit vollem Mund, also nicke ich einfach, wie immer. Die Nuss wird mehr, sie füllt den Rachenraum. Bald muss ich schlucken. Oder den Brei unauffällig in meiner Serviette verschwinden lassen.
Die Tür zur Küche geht auf, Frank hat Wein geholt. Während sie sich langsam hinter ihm schließt, kann ich in die dunkle Küche hineingucken. Da ist jemand. An der Anrichte steht eine Person mit dunklen Haaren, die wild vom Kopf abstehen, sie steht etwas vorgebeugt über den geöffneten Mülleimer und schüttet die restlichen Walnüsse aus der JA-Tüte in den Eimer. Die Tür fällt zu, und es ist, als hätte ich nichts gesehen.
Als Cleo und ich später in der Küche stehen und darauf warten, dass die High-End-Kaffeemaschine vier Espressi ausspuckt, will sie wissen, warum ich wachliege. Ich überlege, ob ich den Klimawandel vorgebe oder die Kriege oder die Gefahr von rechts. Es würde Pluspunkte geben. Aber ich habe Angst, dass Cleo mir in diesen Themen überlegen ist, und nichts ist alberner, als wegen etwas wach zu liegen, von dem man keine Ahnung hat.
Ich lasse meine Serviette, in der ich den Nussbrei versteckt habe, in den Mülleimer gleiten. «Ich weiß nicht, wie ich liegen soll», sage ich, und es fühlt sich an wie ein kleiner Sieg.
Jetzt fängt Cleo an. Ich höre mir noch einmal an, wie sich die schlaflose Nacht im Jahr 2003 zugetragen hat, und dann berichtet sie, dass sie in letzter Zeit, eigentlich seit Corona, Schwierigkeiten hat einzuschlafen. Sie liege wach, sagt sie, weil es ihr unmöglich erscheine, friedlich zu schlafen in einer Welt, die derart zugrunde geht. Der Klimawandel, die Kriege, die Gefahr von rechts. Nichts macht ihr mehr Angst als die Welt selbst. Ich blicke auf den Mülleimer, der den Nussbrei enthält, und nicke langsam, ein Nicken für jede Krise, die sie aufzählt. Sie erstellt jetzt eine Rangliste der Katastrophen nach Dringlichkeit. Wie es für den Klimawandel fast schon zu spät ist und wir den x-ten Monat in Folge das 1,5-Grad-Ziel verpasst haben, davon kriegt sie nachts Schweißausbrüche, selbst wenn sie mit dem Fahrrad zur Schule fährt und nur einmal im Jahr in den Urlaub fliegt. Die Bilder aus dem Nahen Osten und der Ukraine kann sie gar nicht mehr ertragen, sie scrollt einfach weiter, obwohl sie weiß, dass sie das nicht darf, dass man hinsehen muss.
«Und wer», sagt sie und berührt mich kurz am Ellbogen, «wer, Sina, wenn nicht wir, sind jetzt gefragt, klare Kante zu zeigen?», und ich frage mich, wen sie mit wir meint. «Mit unserer Kunst», sagt sie verschwörerisch, als hätten wir einen Geheimpakt geschlossen. Mir fällt ein, dass sie ein Atelier im Garten hat. Sie lädt regelmäßig ihre talentiertesten Schülerinnen dorthin ein, um über ihre aktuellen Arbeiten zu sprechen. Jetzt hält sie sich an meiner Schulter fest, stabilisiert sich. Sie wirkt betrunkener als zuvor. Ich unterdrücke den Impuls, sie abzuschütteln.
«Willst du mal sehen, woran ich gerade arbeite», sie fragt nicht, sie stellt fest, und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich ablehnen soll, auch wenn mir gerade nichts ferner liegt, als mir Cleos Kunst anzuschauen. Ich stelle sie mir selbstgefällig und flach vor.
Wie meine Kunst heute aussähe, wenn ich noch malen würde? Ich will es lieber nicht wissen. Cleo versteht mein Schweigen als Zustimmung und führt mich in den Garten.
Das Atelier ist ein kleiner Schuppen, den Cleo selbst umgebaut hat. Es kommt nicht viel Licht hinein, aber über die gesamte Decke spannen sich Stahldrähte, an denen Lampen befestigt sind. Cleo legt einen Schalter um, die Lampen gehorchen nur widerwillig. Ein Brummen füllt den Raum, wird lauter mit jeder neuen Leuchte, die angeht. Am Ende ist es taghell. Der Boden ist übersät mit großen Blättern, die Wände sind voller Bilder. Schwarze Linien auf bleichem Grund, mal hingeworfen, mal feiner ausgeführt, jede Linie virtuos gesetzt. Es sind Aktzeichnungen. So weit das Auge reicht, sehe ich Brüste, Pobacken, Schambereiche, Achselhaare. Einige Zeichnungen scheinen mehrere Körper zu enthalten, andere zeigen im Großformat das Detail einer einzigen Figur.
Die Bilder sind gut, nicht nur handwerklich. Sie haben eine Kraft, die ich nicht sofort einordnen kann. Ich spüre einen kleinen Stich.
Das letzte Bild, das ich gemalt habe, ist zwanzig Jahre her. Ich weiß noch genau, wie sich die Leinwand unter meinen Händen anfühlte. Wie die Farben ineinanderliefen, ohne sich zu vermischen, dunkel, kräftig. Helle Tupfer darauf, Abertausende, die mein Handgelenk zum Glühen brachten. Wie das Bild Gestalt annahm, fast so, als würde es ohne mein Zutun geschehen. Wochenlang arbeitete ich daran, wie im Rausch. Ich aß kaum noch, schlief, wann ich wollte, vergaß Termine und ging nicht mehr zur Uni. Stattdessen schloss ich mich mit meinem Bild in der Werkstatt eines Freundes ein. Flo hatte mir den Raum überlassen, weil ich großformatig arbeiten wollte und meine WG es leid war, dass ich die Wohnküche zum Atelier umfunktionierte. Das Bild war düster, wild und schön, und als es endlich fertig war und Teil einer Ausstellung sein durfte, konnte ich mit ihm die Welt erobern.
Nur kam danach nichts mehr.
Cleo steuert auf eine Staffelei zu, ihr aktuelles Werk, eine Kohlezeichnung auf Papier. Es klemmt auf einem Holzbrett. Aber ich folge ihr nicht. Mitten im Raum steht ein altes Sofa, mit grünem Samt bezogen, es hat geschwungene Beine aus dunklem Holz. Darauf liegt ein kleines gelbes Kissen. Das Sofa ist der einzige Farbklecks in diesem überhellen Raum, genau groß genug für eine Person, und gerade lädt es mich ein, diese Person zu sein. Ich nehme die Einladung an, hechte fast durch den Raum, als spielten wir Stuhltanz und Cleo könnte sich in letzter Sekunde vor mir daraufwerfen, aber sie wischt mit einem feuchten Lappen Kohle von der Staffelei, und ich erreiche den Samt. Er fühlt sich warm an und geschmeidig. Nichts ist im Weg, die Arme sind dort, wo sie hingehören, der Kopf ruht auf dem kleinen Kissen, als hätte ich schon immer gewusst, wie man liegt. Als könnte ich die Augen schließen und loslassen.