Die Ewigkeit ist ein guter Ort - Tamar Noort - E-Book
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Die Ewigkeit ist ein guter Ort E-Book

Tamar Noort

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Beschreibung

Eine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist. Elke ist eine junge Pastorin, die in Köln arbeitet. Als sie eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar sämtlicher Gebete. Ist das Gottdemenz?  Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort ihrer Kindheit. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit im See hinausschwamm. Und während sie am Ufer sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verloren gegangenen Worten zu suchen. Ein hinreißender Roman voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll. Für einen Auszug aus diesem Debüt gewann Tamar Noort den Hamburger Literaturpreis.

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Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Tamar Noort

Die Ewigkeit ist ein guter Ort

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Elke ist eine junge Pastorin, die als Seelsorgerin in Köln arbeitet. Sie hat einen atheistischen Freund mit den wunderschönsten Locken der Welt. Als Elke eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar nicht nur dieses Gebets, sondern sämtlicher Gebete. Für eine Pastorin eine Katastrophe. Ist das Gottdemenz?

Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort, wo sie aufgewachsen ist. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit im See hinausschwamm und nicht wiederkam. Und während sie am Ufer ebenjenes Sees sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verlorengegangenen Worten zu suchen …

Ein hinreißender Roman voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll.

Vita

Tamar Noort, geboren 1976 in Göttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Studium der Kunst- und Medienwissenschaften und Anglistik an den Universitäten Oldenburg und Newcastle upon Tyne. Sie hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Seit 2009 macht sie Dokumentationen für ARTE, ZDF und 3sat mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Für ihr Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis und war Stipendiatin im «writers room» und in den Künstlerhäusern Worpswede.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Eric Zener

ISBN 978-3-644-01188-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

1

Einmal im Jahr herrscht in Köln Schunkeldiktatur, und die Stadt verliert kollektiv ihre Würde. In der Bahn kopulieren Krankenschwestern mit Eisbären, im Supermarkt sitzt ein Hase an der Kasse, und der alte Mann von nebenan führt seinen Hund aus im Clownskostüm.

Du hast halt eine norddeutsche Seele, sagen die Rheinländer, du verstehst das nicht. Aber Karneval ist für mich mehr als eine kulturelle Meinungsverschiedenheit. Es ist eine Zeit, in der man sich auf nichts verlassen kann. Niemand ist einfach, wer er ist. Ich empfinde das als Betrug.

Das Einzige, woran man sich festhalten kann, ist der Tod. Gestorben wird immer, auch in der fünften Jahreszeit.

Ich meldete mich jedes Jahr freiwillig, um im Seniorenheim den Seelsorge-Dienst für die Karnevalstage zu übernehmen. Ich liebte dieses Ehrenamt. Während meine Kollegen mit bunten Perücken und geröteten Wangen dicht an dicht in Kneipen standen und nach Beute Ausschau hielten, die sich für eine Nacht erlegen ließ, sprach ich im Albertusstift mit Menschen, die vor ihrer letzten großen Reise standen. Wenn ich bei ihnen am Sterbebett saß, sah ich in ihren Augen etwas Wahrhaftiges, eine Ruhe, die mir imponierte.

Es war Karnevalsdienstag, das Schlimmste war vorbei, als ich zum Dienst gerufen wurde. Eine alte Dame hatte ihre letzten Stunden vor sich. Sie hieß Alma.

«Gott soll wissen, dass ich im Anmarsch bin», sagte sie, schloss die Augen und wartete darauf, dass es losging. Ich nahm ihre Hand und sprach die ersten Zeilen des Vaterunser. Aber nach Dein Wille geschehe kam nichts mehr. Ich konzentrierte mich, irgendwas mit Schuld und Brot und Ewigkeit. Alma hielt die Augen geschlossen. Ich fing noch mal von vorne an, und mein Körper erinnerte sich zwar an Rhythmus und Klang, aber nicht an Sätze, die Sinn ergeben. Alma wartete, also reihte ich Brot und Schuld und Ewigkeit aneinander, ich verband sie mit Murmelphrasen, die nach Gebet klangen. Es war eine Art Sampling-Version, bei der nur noch der Beat stimmte, eine Neuinterpretation des Originals. Alma schien einverstanden, jedenfalls beschwerte sie sich nicht. Kurze Zeit später kam ihre Tochter und hielt ihre Hand, bis sie friedlich einschlief.

Ich hatte meine Mission erfüllt – aber mich ergriff Panik.

 

«Kann doch mal passieren, ich vergesse ständig was», sagte Jan und schenkte Kaffee ein. Jan war nicht aus der Fassung zu bringen. Niemals. Er verströmte Gleichmut wie andere einen Körpergeruch.

«Und wenn es Frühdemenz ist?», sagte ich und probierte aus, was ich noch auswendig konnte. John Maynard war unser Steuermann. Aushielt er, bis er das Ufer gewann … Fontane, check. Walle, walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe, und mit reichem, vollem Schwalle … Goethe, check. Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche … Jan hob eine Augenbraue, aber: check. Und jetzt. Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Jan googelte das Vaterunser und las mit. Live-Kontrolle. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe … Jan blickte auf. Es kam nichts mehr.

Ich versuchte die Dauerbrenner meiner Jugend aus dem Konfirmandenunterricht. Von guten Mächten wunderbar geborgen … Nichts. Danke für diesen guten Morgen … Funkstille. Ich probierte Taizé-Gesänge, die eh nur aus drei Zeilen bestehen. Über die erste Zeile kam ich nicht hinaus.

Gegen Abend, nach einer soliden Darbietung von Schillers Glocke, stand endgültig fest: Ich konnte fehlerfrei alle Gedichte und Lieder rezitieren, die ich seit meiner Kindheit auswendig gelernt hatte, aber sobald Gott involviert war, streikte mein Gehirn.

«Vielleicht ist es Gottdemenz», sagte ich.

«Was soll das denn sein?», fragte Jan.

«Einfach eine Berufskrankheit, bei der man die Dinge vergisst, die einem besonders wichtig sind.»

«Die speichert man doch doppelt und dreifach ab.»

Jan tat das tatsächlich. Ich war aber ziemlich sicher, dass das zum Berufsbild von Software-Entwicklern gehörte.

«Dann ist irgendwas mit meiner Festplatte.»

«Ausschalten, morgen wieder einschalten, funktioniert immer.» Jan trank seinen Wein aus.

 

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Mir fiel diese Optimierungssoftware ein, die Daten abgleicht und löscht, wenn sie zu alt oder doppelt vorhanden sind. Ich hatte eine ähnliche Unordnung in meinen Gottesangelegenheiten und war schon länger damit beschäftigt, «den Kopf frei zu kriegen». So erklärte ich es jedenfalls meinen Eltern, und sie verstanden es, denn sie überwiesen mir immer noch monatlich etwas Geld, obwohl ich auf die dreißig zuging und mein Studium vor über einem Jahr abgeschlossen hatte.

Am Tag meiner letzten Prüfung empfingen meine Eltern mich mit Blumen und Kuchen und einem Strahlen im Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich die beiden das letzte Mal so glücklich gesehen hatte, und es bereitete mir Unbehagen, dass ich diejenige sein sollte, die das verursacht hatte. Mein Vater klopfte mir auf die Schulter, eine Geste, die ganz neu war, die er offenbar aufgehoben hatte für den Moment, in dem wir nicht mehr nur Vater und Tochter sind, sondern Kollegen. Ich schüttelte seine Hand ab, denn noch war ich nichts weiter als seine Tochter, und ich fand, dass das vollkommen ausreichte.

Nach dem zweiten Glas Sekt sagte meine Mutter zu ihm, er könne nun endlich kürzertreten, und da beschlich mich das Gefühl, dass sie gar nicht nur glücklich für mich waren, sondern auch für sich.

Mein Vater war Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde. Ich hatte schon als Kind auf der Kanzel gespielt, von der er eines Tages verkünden würde, wer ihm nachfolgen sollte. Dass ich das sein könnte, wünschten meine Eltern sich schon lange. Aber mein Vater hatte es nie offen gesagt. Es lag nur in der Luft, unsichtbar, aber deutlich zu spüren.

Mir prickelte der Sekt hinten in der Kehle.

«Ich muss erst mal den Kopf frei kriegen», sagte ich, «bevor ich gleich eine ganze Gemeinde übernehme.»

Mein Vater nickte etwas heftiger als nötig, dem Sekt geschuldet oder der Erleichterung, dass er nicht sofort in Rente gehen musste.

«Du sagst Bescheid, wenn du so weit bist.»

Ich nickte, aber das war jetzt ein Jahr her, und mein Kopf war immer noch nicht frei.

Und jetzt war der Schöpfer des Himmels und der Erden mir zuvorgekommen und hatte die Arbeit für mich erledigt. Gott hatte den Platz geräumt, den er in meinem Kopf besetzt hatte, und etwas hinterlassen, was mir größere Angst machte als alles andere:

Freier Raum.

 

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zum Albertusstift. Ich mochte die Ruhe, die über der Stadt lag. Die Karnevalsflüchtlinge waren noch nicht zurück, und der Rest lag noch im Bett. An der Ampel hielt ich an. Jetzt. Ausschalten, einschalten, hatte Jan gesagt. Es fühlte sich an, als hätte ich nur den einen Versuch. Wenn das nicht klappte, war die Festplatte hin.

Vater unser im Himmel.

Auf der Gegenseite der Ampel versammelten sich ein paar Restfeiernde.

Vater unser im Himmel. Dein Reich komme.

Da fehlte doch was. Da kam was zwischen. Die Ampel sprang um, und ich fuhr los. Die Verkaterten kamen mir entgegen. Einer schwankte, er trat mir mitten vors Rad. Ich riss den Lenker um und fiel fast hin. Als ich wieder fest im Sattel saß, waren die Satzfetzen verschwunden.

Ich würde ohne Gott zum Dienst erscheinen.

 

Im zerknitterten Vikinger-Kostüm lag Gert auf dem kleinen Sofa in unserem Dienstbüro und bedeckte sein Gesicht mit dem Arm. Offenbar fühlte er sich der blassen Februarsonne, die hineinschien, nicht gewachsen. Mit dem anderen Arm umklammerte er eine Wasserflasche. Ein Bein stand angewinkelt auf dem Boden, gegen den Schwindel. Er war eindeutig nicht einsatzbereit, was auch gar nicht nötig war, denn er hatte sich die Karnevalstage freigenommen. Wahrscheinlich hatte er keinen anderen Ort gefunden, an dem er seinen Rausch ausschlafen konnte.

Gert war mein Chef, aber seine Autorität litt unter dem Fake-Fellumhang und dem Helm mit zwei monströsen Hörnern, der auf dem Boden lag.

«Na, brauchtest du ein Bett?» Ich stellte meine Tasche ab.

Gert schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, wühlte in einem Fellbeutel herum, der an seinem Ledergurt hing, und streckte seine Faust in die Höhe. Darin hielt er sein Handy.

«Alma», brachte er hervor.

«Hat sie aus dem Jenseits angerufen?» Es klang schnippischer, als ich wollte. Gert war ein begnadeter Seelsorger, der sich hingebungsvoll um die Senioren im Albertusstift kümmerte. Er liebte Menschen, bedingungslos. Ganz gleich, ob sie gerade im Sterben lagen oder mit ihm Karnevalslieder grölten.

«Die Tochter …» Er richtete sich langsam auf und sah mich aus halb offenen Augen an. Sie waren rot. «… hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass ihre Mutter …», er machte eine Pause und blickte an die Decke, als würde die Nachricht dort erscheinen, «… die nichts weiter wollte als ein letztes, ein gemeinsames Gebet …»

Mir wurde heiß. Ich hatte Alma für diskret gehalten.

«Alma hat ihr gesagt, es gab eine Art Gebetebrei.» Gert saß jetzt aufrecht. Er sah genauso wach aus wie sonst. «Und die Tochter fragt sich nun, wer sich zu Karneval mit ihrer sterbenden Mutter einen Scherz erlaubt hat.»

Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Behutsam, damit die Knie nicht zu früh nachgaben.

«Oder wer betrunken zum Dienst erschienen ist.»

Gert blickte mich an. Ich spürte, wie die Röte sich in meinem ganzen Gesicht ausbreitete. Meine Wangen gaben Gert recht.

«Das war anders, Gert, wirklich.» Aber ich hörte selbst, wie kläglich das klang. «Das war kein Alkohol, ich hatte einfach ein Blackout, ich schwöre, das kommt nie wieder vor.»

«Sollte es auch nicht.» Gert stand erstaunlich behände auf und setzte sich den Vikingerhelm auf. Es sah nicht im Geringsten albern aus.

«Das war weder Alma noch Gott würdig.» Er schwang seinen Umhang um die Schultern, nickte mir zu und verließ das Büro.

Ich schaute in den Unterlagen nach, wie Almas Tochter hieß. Christa. Neben dem Namen stand die Telefonnummer. Ich tippte sie in mein Handy ein und löschte sie wieder. Was sollte ich ihr sagen? Entschuldigen Sie bitte, ich konnte nichts dafür. Ich hatte den Allerhöchsten gerade nicht parat. Ich leide unter Gottdemenz. Das klang erst recht nach Karnevalsscherz.

Ich beschloss, einen Gang durchs Haus zu machen. Vielleicht kam alles wieder, wenn ich meine Routinerunde drehte. Als ehrenamtliche Seelsorgerin machte ich meistens vier oder fünf Dienste hier im Monat.

Als Erstes steuerte ich die Kapelle an. So nannten wir den Raum, in dem wir Andachten hielten und der offen war für alle, die Gottes Nähe suchten. Es passten nur wenig Leute rein, aber die meisten sahen ohnehin vom Zimmer aus zu, wenn wir Gottesdienste feierten. Wir übertrugen den Dienst für diejenigen, die nicht gut zu Fuß waren, direkt auf den Fernseher ins Zimmer. Mir gefiel der Gedanke, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein.

In der Kapelle saß ein Mann, den ich nicht kannte. Vielleicht ein Neuzugang.

Ich nickte ihm freundlich zu und wollte an ihm vorbeigehen, aber er winkte mich herbei.

«Sie da!»

Er hielt mir eine Bibel hin, in der er gerade geblättert hatte.

«Lesen Sie mal!»

Er schien den Altersunterschied zwischen uns als Imperativ zu empfinden.

«Kenn ich schon, danke.»

«Nein, mir! Mir sollen Sie was lesen!»

Sein Befehlston ging mir auf die Nerven. Er konnte unmöglich wissen, dass es zu meiner Jobbeschreibung gehörte, aus der Bibel vorzulesen. Genauso gut könnte ich eine trauernde Angehörige sein, von Alma zum Beispiel, die gestern unter ganz unwürdigen Umständen aus dem Leben geschieden war, begleitet von einem Gebetebrei.

«Da!» Er schlug die Bibel auf, und ich sah, was ich ihm lesen sollte. Hiob. Der Mann, dessen Glaube an Gott so unerschütterlich war, dass er jede Prüfung überstand. Noch als ihm seine Familie, sein Haus und sein Vieh genommen wurden, schmiss er sich in den Staub und betete ihn an. Der Oberfeldwebel hielt mir die Bibel jetzt unter die Nase.

«Keine Zeit.»

Ich wollte gehen, aber die Gesichtszüge des Mannes wurden ein wenig weicher.

«Ich seh doch nix mehr.»

Mir fiel Gert ein, wie er gesagt hatte, dass mein Verhalten weder Gott noch Alma würdig war. Jetzt gerade schnitt ich auch nicht gut ab. Ich seufzte.

«Geben Sie schon her.»

Ich setzte mich zu ihm und nahm die Bibel entgegen. Sie lag gut in der Hand. Das Buch der Bücher.

Wenn ich Bibeltexte vortrage, verändert sich meine Stimme. Es geschieht von selbst, sie wird lauter und bekommt mehr Farbe. Die Worte klingen länger, die Amplituden werden größer. Das ist deine Pastorenstimme, sagt mein Vater dann, um mich zu ärgern. Aber er hat recht. Die Bibel ist kein Buch für stilles Lesen. Es ist ein Buch zum Hinausposaunen. Und wann immer ich das tue, werde ich auf eigenartige Weise eins mit dem Text. Als würden die Geschichten durch mich zum Leben erweckt. Ich liebe diese altertümliche Poesie, gerade bei Hiob: Will denn keiner meinen Kummer wiegen und dazu mein Unglück in die Waagschale werfen?

Die Ausgabe, die der Oberfeldwebel mir in die Hand gedrückt hatte, war abgegriffen und sah zerlesen aus. Der Text auf den hauchdünnen Seiten stach scharf hervor.

Im Land Uz lebte ein Mann mit Namen Hiob. Der war fromm und führte ein vorbildliches Leben. Ich öffnete den Mund, ich formte die Worte, aber meine Stimme versagte.

«Machen Sie schon», brummte der Oberfeldwebel, und ich versuchte es erneut. Im Land Uz lebte ein Mann mit Namen Hiob. Der war fromm und führte ein vorbildliches Leben. Die Worte ließen sich nicht sprechen.

Ich drückte den Rücken durch und setzte mich gerade hin. Einschalten und ausschalten. Einfach noch mal von vorne. Meine Lippen bewegten sich, aber ich brachte keinen Laut hervor. Als hätte jemand den Ton abgedreht. Für den Mann neben mir musste das aussehen, als verhöhnte ich ihn.

Der Blick des Oberfeldwebels verfinsterte sich.

«Das finden Sie witzig, ja?» Er nahm mir die Bibel wieder ab, ich konnte sehen, dass seine Hand leicht zitterte. Ich zitterte jetzt auch. Und plötzlich war meine Stimme wieder da.

«Das war nicht so gemeint.»

«Ich weiß schon, wie das gemeint war.» Er stand umständlich auf und stützte sich auf dem Stuhl, der vor ihm stand, ab. Die Bibel legte er auf den Sitz.

«Galater 6, können Sie ja mal nachlesen.» Er drängte sich an mir vorbei, mit mehr Kraft, als ich ihm zugetraut hätte.

Ich schlug Galater 6 auf und las den Text. Meine Finger waren eiskalt. Sie umklammerten die dünnen Seiten, als könnten sie ändern, was da steht. Der alte Mann hatte nicht einfach irgendeine Bibelstelle zitiert. Er hatte mir eine Prophezeiung gemacht:

Täuscht euch nicht! Gott lässt keinen Spott mit sich treiben. Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten.

2

Der Oberfeldwebel wusste genau, wer ich war. Er beschwerte sich mit einer Schimpftirade, die, so berichtete Gert, angeblich volle zehn Minuten dauerte. Selbst wenn man Gerts Ärger über die zweite Störung seines Karnevalsurlaubs und seinen Hang zur Übertreibung mit einrechnete, blieb immer noch eine saftige Abreibung übrig.

Ich hatte nichts zu meiner Verteidigung vorzubringen. Also schwieg ich und wartete auf Gerts Urteil. Wir saßen in der Teeküche. Er rührte in seinem Früchtetee, obwohl sich der Zucker längst aufgelöst haben dürfte. Der Löffel schabte am Porzellan und verursachte ein unangenehmes, monotones Geräusch.

Normalerweise war Gert äußerst spendabel mit seinen Emotionen, vielleicht, weil sie im Überfluss vorhanden waren. Aber heute wirkte er verschlossen. Dass er nichts sagte, beunruhigte mich. Wir lauschten beide dem Schaben des Löffels. Ich war sicher, dass es bis nach Köln-Porz zu hören war.

Gert räusperte sich.

«Elke. Wie lange bist du jetzt hier?»

Er wusste genau, seit wann ich meine Dienste machte. Er selbst hatte mich ausgebildet, noch während meines Studiums.

«Drei Jahre.»

Der Löffel hielt inne.

«Das evangelische Krankenhaus sucht eine Seelsorgerin. In Festanstellung. Vollzeit. Mit richtiger Bezahlung. Die haben mich gefragt, ob ich jemanden wisse. Ich wollte dich empfehlen, eigentlich.»

Er probierte den Tee, schüttete Zucker nach und rührte wieder.

Ich liebte die Arbeit im Albertusstift, ganz gleich, ob ich dafür bezahlt wurde oder nicht. Aber ich konnte nicht ewig ehrenamtlich arbeiten. Gert legte mir gerade einen Sechser im Lotto auf den Tisch.

Er hatte von Anfang an etwas in mir gesehen, was ich selbst nicht sehen konnte. «Du erkennst die Menschen», sagte er nach dem ersten Ausbildungsseminar, «das ist gut.» Von da an kümmerte er sich persönlich darum, dass ich nicht aufgab. Ein paarmal war ich kurz davor, wenn die Menschen mir mehr abverlangten, als ich zu geben imstande war. Gert war dabei immer an meiner Seite. Und jetzt legte er mir sogar einen Job in den Schoß. Wobei er mir genau genommen noch nichts angeboten hatte.

«Aber vielleicht ist das alles hier nicht mehr das Richtige für dich.»

Der Löffel änderte die Richtung. Er klang jetzt anders, dunkler.

Langsam dämmerte mir, dass es nicht darum ging, ob ich einen festen Job bekam. Es lag in Gerts Hand, ob ich überhaupt wiederkommen durfte, hierher, ins Stift.

Metall schabte über Porzellan.

Ich brauchte die Menschen, die ich hier begleitete, mindestens so sehr wie sie mich. Sie waren mir in allem voraus. Sie hatten Lebenswege eingeschlagen und Entscheidungen getroffen, sie bereuten manches und anderes nicht. Alle Risiken lagen nun hinter ihnen. Sie waren nur noch einen Schritt von der Ewigkeit entfernt. Für mich lag darin etwas Tröstliches: Ihre Furchtlosigkeit stärkte mich. Im Tausch für die Sterbebegleitung bekam ich von den Menschen im Albertusstift eine Lebensbegleitung.

«Ich bin gerne Seelsorgerin», sagte ich.

«Dann zeig das auch. Mir, den Menschen hier», Gert deutete nach oben, «und Gott.»

Ich nickte.

«Das mach ich.»

«Du kannst gleich am Sonntag damit anfangen. Willst du meine Andacht übernehmen?»

«Klar», sagte ich. Wenn ich überhaupt ein Wort herausbringe, fügte ich in Gedanken hinzu.

Gert legte endlich den Löffel neben seiner Tasse ab und trank den Tee.

 

Den Nachmittag verbrachte ich mit einer dementen, sehr vergnügten Dame, die sich an nichts erinnerte, was ihr Leben betraf, aber problemlos sämtliche Weihnachtslieder auswendig singen konnte. Während sie von der gnadenbringenden Weihnachtszeit in Oh du fröhliche schmetterte, wanderten meine Gedanken zur Andacht, die ich halten sollte. Ich hatte Gert schon ein paarmal vertreten. Lampenfieber gehörte dazu. Aber diesmal hatte ich das Gefühl, es ginge um alles.

 

Jan überbrühte die Tomaten und häutete sie. Mit seinen langen, sauberen Fingern nahm er sie vorsichtig in die Hand und zog mit einem kleinen Messer die Haut ab. Es sah liebevoll aus, und ich verspürte Neid. Auf Jan, der in der Lage war, eine Tomate so sehr zu achten, dass er sie zärtlich häuten konnte, aber auch auf die Tomate, deren Bestimmung klar und ehrwürdig war: Sie würde aufgehen in einer fantastischen Jan-Pasta.

Das war Jans Form von Seelsorge: Seine Pasta konnte mich über jede missliche Lage hinwegtrösten. Morgen war die Andacht, und mein Lampenfieber wuchs.

«Du hast das doch schon mal gemacht.» Jan schob mir seine Tomaten zu. Das Gericht kam sehr gut ohne meine Assistenz aus, aber Jan gab mir manchmal kleine Aufgaben, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass wir zusammen kochten.

«Das gibt sich von alleine, wenn du da rausgehst.»

Ich hackte Jans gehäutete Tomaten in Stücke. Mein Schneidebrett war bald ein Schlachtfeld aus rotem Saft und kleinen gelben Kernen.

Jan inspizierte mein Arbeitsergebnis.

«Ein bisschen kleiner, bitte.»

Ich sah auf das Brett, das jetzt schon einen Haufen Tomatenmatsch enthielt.

«Ist das nicht egal, wenn sie in der Soße sind?»

Jan konzentrierte sich darauf, den Knoblauch zu schneiden. «Die Soße besteht nur aus drei Zutaten. Sie lebt davon, dass das Gleichgewicht stimmt.»

Er legte den Knoblauch weg und machte mir vor, wie groß die Stücke sein sollten. Ein paar Widerworte stiegen in mir auf, aber sie hatten nichts mit den Tomaten zu tun, also schluckte ich sie runter und bemühte mich, Jans Pasta-Ordnung wiederherzustellen. Ich musste zugeben, dass die Blöckchen, die Jan geschnitten hatte, weniger matschten und appetitlicher aussahen.

 

Im Bett schmiegte Jan sich von hinten an mich und legte seine Hand auf meinen Bauch. Zum ersten Mal seit Tagen entspannte ich mich etwas. Ich hab Angst, wollte ich sagen, richtig Schiss, dass es nicht klappt morgen, und dann wollte ich flüstern, wenn das nicht klappt, dann fürchte ich, dass nie etwas klappen wird, und ich wollte ihm sagen, das ist sie, das ist meine größte Angst, und ich flüsterte: «Jan», aber er war schon eingeschlafen und hatte mich in seinen Armen allein zurückgelassen.

Ich schloss die Augen und versuchte, Ruhe zu finden. In meinem Kopf hallten die Wortfetzen wider, die nicht mehr in Ordnung waren, Vater unser, Im Land Uz, da lebte … da lebte … Die Wörter wiederholten sich in Endlosschleife, wie ein Ohrwurm, der sich festsetzt, weil man nicht auf die nächste Zeile kommt. Ich suchte nach den Bruchstücken, die eigentlich Teil meiner DNA sind. Worte, die mir Wärme geben. Sie fehlten mir, als hätte jemand mir lebenswichtige Organe entfernt.

Stattdessen fand ich eine Art Vulkanwüste vor. Eine grobe, dunkle Ödnis. Ich versuchte, einen Horizont auszumachen, aber dieser Ort hatte keine Grenzen. Es gab nichts, woran man sich orientieren konnte, kein Oben, kein Unten, kein Links, kein Rechts, kein Vorn und kein Hinten. Das Einzige, was die stille Landschaft unterbrach, waren schwarze Löcher, schwelend, als brennten sie noch. Sie riefen mich, versuchten, mich in sich hineinzuziehen. Ich ahnte, dass sie die Fehlstellen waren, die Teile meines Geistes, die plötzlich nicht mehr existierten. Ich rannte, weg von den Brandlöchern, so weit wie möglich, und kam doch keinen Meter voran.

 

Am nächsten Morgen fühlte ich mich schlecht vorbereitet auf den Gottesdienst, obwohl ich alles aufgeschrieben hatte, was ich sagen wollte. Ich hatte die Predigt ordentlich ausgedruckt und in einer Mappe abgeheftet und trug sie fest unter dem Arm.

Die Kapelle im Albertusstift war ein ganz gewöhnlicher Raum. Es gab weder eine Kanzel noch einen Altar, und die Orgel kam vom Band. Wir hatten Kerzen aufgestellt, damit es etwas feierlicher aussah, aber es konnte genauso gut ein Wartezimmer sein. Heute Morgen saßen vier Wartende da. Magda, die demente Dame, ganz vorne, in der ersten Reihe, außerdem Frau Weber mit den freundlichen Augen, und zwei Herren waren gekommen, die ich nur vom Sehen kannte. Ich ging an den wenigen Reihen entlang und nickte ihnen freundlich zu.

Ich schlug die Mappe auf und begrüßte die Gemeinde, auch jene, die vom Zimmer aus zusahen.

In der letzten Reihe nahm Gert Platz. Das war ungewöhnlich, denn meist nutzte er die Dienste, die ich übernahm, für einen freien Sonntag.

Es war still im Raum. Die kleine Versammlung schaute mich erwartungsvoll an. Ich blickte auf das abgeheftete Papier in meiner Hand.

Begrüßung der Gemeinde, stand da als erster Punkt. Hatte ich das jetzt schon gemacht? Oder musste ich noch?

«Herzlich willkommen zu unserer Andacht, hier in der Kapelle und an Ihren Bildschirmen auf den Zimmern», begann ich, aber sobald ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich das bereits gesagt hatte.

Ich fing an zu blättern, wie weit war ich denn gekommen? Alles kam mir bekannt vor und zugleich fremd. Die Buchstaben gehörten nicht zusammen, sie standen einfach nur gemeinsam auf dem Papier.

Meine Haut juckte.

Noch einmal blätterte ich durch die Seiten, aber mir sprangen Worte entgegen, die mir nichts sagten. Die wilde Anordnung von Buchstaben machte sich lustig über mich.

Ich schaute in die wartenden Gesichter, Magda nickte mir zu, voller Freundlichkeit, aber ich konnte einfach nicht, ich fand keinen Anfang, und wo kein Anfang ist, da ist auch keine Mitte und erst recht kein Ende, dann ist alles grenzenlos und leer, und dann hat man nichts, wirklich nichts mehr zu geben.

Ich hatte hier vor allem nichts mehr zu suchen. Langsam ging ich in Richtung Ausgang, und als ich an Gert vorbeikam, der mich fragend ansah, beschleunigte ich und rannte hinaus.

 

Gert stellte mich am Fahrradstand. Ich stopfte gerade meine Mappe mit der zerknüllten Predigt in die Fahrradtasche, als er neben mir auftauchte. «Was war denn das?»

Ich umklammerte den Griff meines Lenkers. Der schwarze Kunststoff hatte Risse. Ich musste an meinen Traum denken, an die dunkle Ödnis, die in mir war.

«Das war … ich hab Gottdemenz.»

«Wie bitte?»

«Ich erinner mich nicht.» Ich knibbelte ein Stückchen vom Griff ab. Darunter schimmerte Metall. «… an Gott. Gottdemenz halt.»

«Gottdemenz.» Gerts Gesicht verriet nichts.

Ich nickte und knibbelte weiter.

Gert packte mich am Arm. Ich zuckte wegen der plötzlichen Berührung.

«Soll das ein Scherz sein?»

Ich lehnte mich an mein Fahrrad. Der Lenker bohrte sich in meine Seite.

«Nein! Ich kann da nichts für! Ich will das doch selber nicht. Das ist wirklich eine … Krankheit oder so was.»

«Dann solltest du wohl erst mal nicht mehr herkommen.» Er ließ mich los. «Bis du dich … auskuriert hast.»

Ich spürte den Fahrradlenker in meinen Rippen, es schmerzte, aber ich war unfähig, mich zu bewegen.

«Es tut mir leid», sagte ich, aber Gert entfernte sich schon, er brachte drei Meter zwischen uns, dann sechs, dann neun, immer schneller wurde er. Als könnte er der Enttäuschung davonlaufen.

 

Als ich nach Hause kam, räumte Jan die Küche auf. Er hatte gerade einen Obstsalat gemacht. Ich schwoll an von innen. Während ich meine Zukunft verspielte, stand Jan in der Küche und schnitt Obst. In bunte Blöckchen.

Das wäre alles nicht passiert, wenn Jan einfach mitgekommen wäre. Wenn er neben Magda gesessen und mir zwischendurch mal zugelächelt hätte. Dann hätte ich Lampenfieber gehabt und keine Gottdemenz.

Aber Jan kam nicht mit, nie.

Jan hielt Kirchgänger für Naivlinge. Das sagte er nicht, aber ich spürte es.

Für ihn war mein Job im Albertusstift eine Art Freizeitbeschäftigung, bis ich raushatte, was ich mit meinem Leben anstellen wollte. Es erschütterte ihn entsprechend wenig, dass Gert mich suspendiert hatte. Ich könne das doch als Ansporn nehmen, jetzt etwas zu finden, was mir Spaß mache. «Du kannst überall arbeiten», sagte er, «du findest schon was, sogar mit Theologie.»

 

Jan glaubte an die Liebe, an das Leben und an einen wirklich gut gemixten Drink. Das sagte er jedenfalls. Tatsächlich glaubte er an Klarheit, Ordnung und Stabilität. Das eine ist mit dem anderen nicht unbedingt vereinbar, denn in der Liebe ist selten etwas klar, Ordnung ist nur das halbe Leben, und seine Gin Tonics gehen definitiv auf Kosten der Stabilität.

Ich habe ihn kennengelernt im Bolscha Wika, der Bar, in der er jobbte und wo ich regelmäßig an der Theke herumhing, um mich über mein Dasein zu beschweren und seine Locken zu bestaunen. Ich studierte Theologie und wusste nicht, wo ich mich festhalten sollte. Die Theke war robust und bot für alle Lebenslagen Halt.

Ich will deine verdammten Haare haben, soll der erste Satz gewesen sein, den ich an Jan richtete. Das weiß ich nicht mehr, denn ich hatte mir zuvor mit perfekt gemischten Gin Tonics Mut gemacht. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, denn heute noch finde ich es ungerecht, dass sein Haar so verdammt vollkommen ist. Ein Mann mit göttlichen Locken, der mich zum Fluchen brachte, flößte mir Respekt ein. Er gab mir das Gefühl, dass es ausreichte, einfach ich zu sein. Solange ich nur diesen in sich ruhenden Atheisten mit dem wallenden Haar an meiner Seite haben könnte.

Seine Locken waren seitdem gewachsen. Sie waren pechschwarz und sprangen so wuchtig von seinem Kopf ab, als würde er einen Urknall mit sich herumtragen. Der Anblick dieser gebändigten Naturgewalt beruhigte mich noch immer, sogar jetzt, obwohl ich wütend auf ihn war. Ich sah zu, wie Jan das benutzte Geschirr in die Spülmaschine einräumte, Messer zu Messer, Gabel zu Gabel, Tassen aufgereiht nach Größe. Ein jeder nach seiner Ordnung.

Als er die Teekanne vorsichtig umdrehte und sie exakt in die Lücke zwischen den großen und den kleinen Tellern passte, leuchtete sein Gesicht auf.

Wie Jan die Welt ordnete, so vorausschauend und klar, so übersichtlich, löste in mir heftige Sehnsucht aus. Ich wollte Teil dieser Welt sein, mich einfügen in eine Lücke, die genau für mich bestimmt war, die jemand für mich geschaffen hatte. Das Verlangen war so groß, dass ich meine Wut herunterschluckte und meine Arme so fest um Jan schlang, als könnte ich in ihm aufgehen.

3

In der Nacht träumte ich wieder von der Ödnis und von schwelenden Löchern, die mich riefen. Diesmal rannte ich nicht fort, sondern blickte hinein, in die tiefe, dunkle Leere. Ich hatte noch nie ein so sattes Schwarz gesehen. Nur einen kleinen Schritt musste ich gehen, um von dieser Vollkommenheit umgeben zu sein. Sie würde mich aufnehmen wie der Schoß einer Mutter, in ihr wäre ich geborgen, und endlich wäre Ruhe.

 

Unter meiner Bettdecke war es kalt. Nicht wie bei einem Wintereinbruch, sondern in mir, das Zentrum der Kälte war ich. Jan war schon aufgestanden, ich lag allein im Bett und fror von innen. Ich strich mir über die nackten Arme. Sie waren kühl. Langsam schob ich mein Nachthemd hoch und berührte meinen Bauch. Sofort bildete sich Gänsehaut. Es fühlte sich an, als würde ich ein Stück Käse streicheln, frisch aus dem Kühlschrank. Ich fasste mir unter die Achseln, die einzige Stelle, die wirklich nicht kalt werden kann. Erschrocken zog ich die Hand zurück. Auch meine Achseln waren kalt.

Mir fiel nur ein Zustand ein, in dem ein Körper kalt wird. Aber ich war doch am Leben. Ich schluckte. Vielleicht war in mir drin etwas gestorben, und die Leichenstarre arbeitete sich jetzt vor, von innen nach außen.

Ich schlüpfte aus dem Bett und durchsuchte die Schublade im Bad. Irgendwo musste das Thermometer sein. Da. Hinter einer abgelaufenen Handcreme und ineinander verkeilten Haarspangen. Ich legte mir das Thermometer unter die Zunge und wartete.

Aus der Küche klang leises Gemurmel, Jan telefonierte. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber allein seine Stimme beruhigte mich.

Jan wusste bestimmt, was zu tun war. Vielleicht gab es ja so etwas wie ein Negativ-Fieber. Erniedrigte Temperatur. Als es piepte, hoffte ich inständig, mir eine umgekehrte Grippe eingehandelt zu haben. Eine kleine Verkühlung. Aber das Thermometer zeigte etwas anderes an: Mein eiskalter Körper war ganz durchschnittliche 37,0 Grad warm.

 

Ich stellte mich unter die Dusche und drehte heiß auf. Das Wasser tat mir weh, es brannte auf meinen Schultern und rann gleißend an mir hinunter. Trotzdem stellte ich die Temperatur etwas höher. Ich musste an das vollkommene, schwarze Nichts denken, das mich fast in sich hineingezogen hatte. Ich drehte noch heißer auf.

Meine Haut wurde rot, sie wehrte sich. Sie konnte ruhig Alarm schlagen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren. Das Wasser sammelte sich unten, bevor es abfloss, und umspülte meine Füße. So mussten Jans Tomaten sich fühlen, wenn sie überbrüht wurden.

Ich drehte den Thermostat weiter, er war jetzt tief im roten Bereich. Nun kam kein Wasser mehr von oben, sondern Schmerz, purer Schmerz, der sich in Wellen über meinen ganzen Körper ergoss. Ich zwang mich zu bleiben. Die Hitze bildete Nebel, um mich herum verschwamm alles. Der Schmerz umfing mich, er drang in mich ein, und ich nahm ihn auf, als sei er ein willkommener Gast, auf den ich lange gewartet hatte.

 

Die Tür der Duschkabine wurde so barsch aufgeworfen, dass sie sich fast aus den Angeln hob. Zwei Arme langten hinein, griffen mich und zerrten mich hinaus. Jan betrat die Kabine wieder, um die Dusche auszustellen, und er schrie auf, als das Wasser ihn traf. Ich glitt zu Boden, keuchend. Meine Haut brannte, aber es war kein guter Schmerz. Er war unerträglich.

Jan nahm ein Handtuch und tupfte mich vorsichtig ab. Er konzentrierte sich mit aller Macht auf das Trockentupfen, aber sein Entsetzen konnte er nicht verbergen. «Was machst du denn, was machst du denn, was machst du denn», wiederholte er, ohne Unterlass. Es war keine Frage, eher ein Flehen.

Die Hitze im Bad beschlug noch immer den Spiegel, obwohl das Fenster sperrangelweit offen stand. Schweiß rann mir den Rücken runter, sogar meine Haare fühlten sich an, als hätte ich sie gekocht. Jan reichte mir ein Glas kaltes Wasser. Es war das Köstlichste, was ich seit Langem getrunken hatte. Meine roten Oberschenkel dampften noch.

Jan setzte sich zu mir auf den Boden.

«Was ist denn los?», sagte er leise.

Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Mit den Brandlöchern im Kopf. Der Gottdemenz. Mit der Kälte, die in mir war und die ich nicht rauskriegen konnte. Dass ich heute Morgen Angst gehabt hatte, bei lebendigem Leib zur Leiche zu werden. Nichts von alledem erklärte, was ich getan hatte.

«Ich hab gefroren», sagte ich nur.

Jan seufzte. Er wollte etwas erwidern, aber er schwieg.

Ich legte meine Hände in den Schoß. Sofort durchzog es mich wieder kalt. Ich berührte meine Beine mit beiden Händen, an verschiedenen Stellen. Ich zitterte.

«Meine Beine, sie sind immer noch kalt.» Meine Stimme überschlug sich.

«Das kann doch gar nicht?»

Ich nahm Jans Hand und legte sie flach auf meinen Oberschenkel.

«Fühl doch, fühl doch mal, wie kalt das ist.»

Jan sah mich voller Sorge an.

«Deine Beine sind ganz warm, Elke.»

 

Jan vermutete, dass es etwas Neurologisches sein könnte. Er recherchierte, bei welchen Krankheiten das Kälte- und Wärmeempfinden gestört ist, und zeigte mir auf seinem Handy Bilder von Patienten im Rollstuhl.

«Amytrophe Lateralsklerose», sagte er, «das musst du checken lassen.»

Für mich klang das nicht nach fortschreitender Gottdemenz mit zunehmender innerer Kälte. Aber es war schön, dass Jan meinen Zustand ernst nahm. Er wusste jetzt, dass etwas grundlegend nicht mit mir stimmte. Und wenn es wirklich eine echte Krankheit war, hätte ich wenigstens die Medizin auf meiner Seite. Ich machte einen Termin, und Jan schälte Gurken, damit ich sie zum Kühlen auf meine verbrannten Beine legen konnte.

 

Meine Ärztin schickte mich ins MRT, nahm Blutproben, kontrollierte Herzrhythmus und Herzfrequenz, sah mich streng an und erklärte, ich sei völlig gesund.

«Aber es ist wirklich wahr, ich habe Gott verloren», sagte ich.

Dr. Aldemir zog die Augenbrauen hoch. «Dann sind Sie hier aber falsch.» Sie kramte in ihrer Schreibtischschublade, während sie mit mir sprach, was ich ziemlich unhöflich fand.

«Ich bräuchte wirklich eine Diagnose», sagte ich, «das ist doch Ihr Beruf.»

Dr. Aldemir schaute mich jetzt über ihre Brille an. Bestimmt ein Trick, um Hypochonderinnen einzuschüchtern. Er funktionierte ziemlich gut.

«Ich bin Spezialistin für Erkrankungen des vegetativen Nervensystems», sagte sie, «und ganz bestimmt nicht zuständig für Ihre Lebenskrise.»

«Aber mir fehlt Gott.» Ich verabscheute, wie sehr das nach Lebenskrise klang. «Ich meine, ich brauche ihn wirklich, ich bin Theologin. Gott ist sozusagen mein Beruf. Da müssen Sie doch etwas tun!»

Dr. Aldemir tauchte aus der Schublade auf. Sie hatte endlich gefunden, was sie gesucht hatte.

«Nicht ich, Sie», sagte sie und schob mir die Visitenkarte eines Psychotherapeuten zu.

 

«Ich bin doch nicht verrückt», sagte ich zu Jan.

«Ein bisschen schon.» Jan räumte die Teller ab.

Ich fragte mich, ob er trotzdem oder deswegen mit mir zusammen war. Es beunruhigte mich, dass ich es nicht wusste. Ganz sicher würde Jan sich niemals in die Hände eines Seelenklempners begeben. Aber da sein Inneres so aufgeräumt war wie eine Schmuckvitrine, würde sich ihm diese Frage auch nicht stellen.

«Ich brauche keinen Psychiater, ich brauche ein Reboot des Gehirns oder so.»

«Genau dafür sind die da, glaube ich», sagte Jan.

 

Der Therapeut hieß Dr. Dietmar Diehse. Ein Name wie ein Kinderreim, und auch die Praxis war unangenehm niedlich. Der flauschige Teppich. Ein Tischkalender mit Mutmachsprüchen. Kuscheldecken und bunte Kissen, auf dem Boden verteilt. Auf der Fensterbank überlebte ein Farn, der zu oft gegossen wurde. Er hatte überall braune Stellen. Im Regal stand eine Holzfigur mit ausgebreiteten Armen, als ob sie auf eine Umarmung sänne, der man nicht entrinnen konnte. Ich nahm Platz in einem Korbsessel mit beigen Kissen. Das Geflecht knirschte. Ich hatte Lust, mich wie ein Teenager zu benehmen.

Der Therapeut stellte eine Tasse Tee vor mir ab und knirschte sich auch in seinen Sessel hinein. Er hatte gute Augen, aufmerksam. Sie passten nicht zur schrillen Wohligkeit seiner Praxis. Auf seinem Pulli hatte er einen Fleck. Eigelb vielleicht, vom Frühstück. Er prangte auf der Brust wie ein Abzeichen.

Dr. Diehse sah mich forschend an.

«Sie haben also Gott verloren.»

«Nicht wirklich verloren, nur kurz verlegt», sagte ich. «Ich dachte, Sie sagen mir, wie ich ihn wiederfinde.»

Der Therapeut schwieg. Langsam fühlte ich mich unwohl unter seinem Blick. Er betrachtete mich, wie ich ihn betrachtete. Er hatte diese ganzen Liebesutensilien im Raum auf seiner Seite. Ich kapitulierte und senkte den Blick.

Dr. Diehse diagnostizierte eine selektive Gedächtnisstörung, und er sah sich nicht in der Verantwortung, sie zu beheben.

«Ich kann Ihnen aber helfen, selbst Verantwortung zu übernehmen.»

«Und wenn ich das nicht schaffe?»

«Dann müssen Sie versuchen, mit den Defiziten zu leben.»

 

Jan fegte die Küche, als ich nach Hause kam. Wir haben zwar einen Staubsauger, aber Jan zog es gelegentlich vor, den Besen zu benutzen, weil er besser in der Hand lag.

«Ich soll mit den Defiziten leben.» Ich öffnete die Keksdose und nahm eine Handvoll Mürbekekse heraus.

«Also ohne Gott», sagte Jan und häufte Staubknäuel an. Sobald er es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich, als hätte jemand meine Eingeweide nach außen gekehrt. Nichts saß mehr richtig. Ich kaute und krümelte und schüttelte meinen Pulli aus, um die Krümel loszuwerden. Jan schaute zu Boden.

«Ich weiß gar nicht, wie das geht, ohne Gott.»

«Mach ich doch auch», sagte Jan.

«Das ist nicht das Gleiche.» Ich sah zu, wie Jan die Krümel auf den Staubhaufen fegte.

«Glaubst du denn noch daran?»

Ich biss mir auf die Zunge. Mürbekeks und Blut vermischten sich. Jan hätte genauso gut fragen können, ob ich immer noch glaubte, die Erde sei eine Scheibe. Er schwor, es sei kein Problem für ihn, dass ich an Gott glaubte, auch wenn er selbst keinen Glauben habe. Aber wenn wir seine Freunde trafen, oder seine Familie, spielten wir beide den Teil meines Lebens oft herunter. Jan betonte dann, dass ich Theologie studiert hatte, um unsere Kulturhistorie zu verstehen, und ich erzählte, dass kirchliche Arbeit mir Freude mache, weil ich mit unterschiedlichsten Menschen zu tun hätte. Das stimmte alles, aber es ließ eine wichtige Tatsache außen vor: die tiefe, große Liebe, die ich empfand, wenn ich an Gott dachte.

«Natürlich glaube ich noch an Gott», fauchte ich und stieg über seinen Staubhaufen hinweg, raus aus der Küche.

 

Als Kind konnte ich im Auto nicht schlafen. Erst recht nicht, wenn wir mitten in der Nacht aufbrachen, um in den Urlaub zu fahren. Obwohl ich so müde war, dass mir die Augen immer wieder zufielen, genoss ich diese Reisen. Das ruhige Rauschen des Wagens auf der Autobahn. Die leisen Stimmen meiner Eltern vorne. Das Atmen meines Bruders neben mir. Manchmal summte ich dann Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern, ein Kirchenlied, das ich innig liebte. Es gehörte zwar in den Advent, aber ich fand es auch im Sommer schön. Ganz leise sang ich den Refrain, um die Nacht nicht zu stören, aber wenn meine Mutter mich hörte, stimmte sie mit ein und sang dazu die Strophen, wie Gott im Dunkeln wohnt und es doch erhellt. Es waren die friedlichsten Momente des ganzen Urlaubs: Alles lag noch vor uns, über uns wachte der Heiland, und morgen wären wir am Strand. Ich legte meinen Kopf an die Fensterscheibe und schaute hinaus in die Dunkelheit.

Draußen wechselte die schwarze Nacht sich ab mit gelben Inseln aus Licht. Es waren die Straßenlaternen, die an mir vorüberzogen. So fühlte Gott sich für mich an: wie eine Kette aus warmem Licht, die sich durch mein Leben zog. Meine Liebe zu Gott bestand aus der Gewissheit, dass die kleinen dunklen Strecken dazwischen nur kurze Intervalle waren.