Der Schlagbaum - Andrea Kayser - E-Book

Der Schlagbaum E-Book

Andrea Kayser

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Beschreibung

Eine mittelgrosse süddeutsche Stadt in den 1960er Jahren: Helena wächst zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Christina in augenscheinlich besten Verhältnissen auf. So wie sie ist, wird sie in ihrer ach so perfekten Familie jedoch nicht akzeptiert. Verzweifelt versucht sie, das Richtige zu tun, scheitert aber stets. Mehr und mehr flüchtet sie in ihre eigene Welt. Ihre schwierige familiäre Situation ändert sich erst, als sie Hannes trifft, der sie schätzt und bei dem sie Unterstützung findet. Als er jedoch auf Heirat drängt, zögert Helena. Und wieder steht sie allein da. Ein neuer Freund bietet ihr als Ausweg aus dem Familienchaos den Umzug ins Ausland an: Hinterm Schlagbaum gründet Helena in der Schweiz eine eigene Familie. Doch auch dort stellen sich Probleme ein.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


In Liebe und Dankbarkeit für meine Kinder Ben und Nina und ein bisschen auch für Max, den Familienkater

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: An einem Sonntag im Herbst

Kapitel 2: Siegfried, Nora, Heirat

Kapitel 3: Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben

Kapitel 4: Schneelandschaft

Kapitel 5: Schwestern

Kapitel 6: Nachtweihen

Kapitel 7: Schlüssel

Kapitel 8: Schulreform

Kapitel 9: Freundinnen

Kapitel 10: Der perfekte Mann

Kapitel 11: »Ich bin doch Deine Mutter, mein Liebling« oder Der siebzigste Geburtstag

Kapitel 12: Der Schlagbaum

Kapitel 13: Sommer, anders

Kapitel 14: Mitte Vierzig

Kapitel 15: Lauf, solange Du kannst , sagt die Seele

Kapitel 16: Jerusalem

Kapitel 17: Ende eines Lebens

Kapitel 18: Ein neuer Anfang

Kapitel 19: Das Bild

Kapitel 20: Lichtblicke

1
An einem Sonntag im Herbst

Die Begrüssung der Familienmitglieder auf dem Parkplatz hatten sie hinter sich gebracht und drängten in die Wärme des Restaurants. Helena und ihre Schwester Christina hielten sich höflich zurück und überliessen Christinas Mann den Vortritt bei der Begrüssung Julios, des Restaurantbesitzers. Ihre Töchter lachten und redeten lebhaft miteinander. Unter freundlichem Geplauder geleitete Julio die Gruppe an ihren Tisch.

»Willkommen, schön, dass Sie alle da sind, ich hoffe, die Anfahrt war angenehm.« Eilfertig nahm der Kellner Mäntel ab und entzündete Kerzen. Helenas Schwager kümmerte sich um die Tischordnung und sorgte dafür, dass alle gut sassen; seine Frau, die Kinder, Helena, die Freunde der Kinder. Entgeistert starrte er auf seine Schwiegermutter. Alle starrten auf sie und auf Helena. Sahen zu, wie sich die Schwiegermutter entschlossen erhob – nachdem jeder endlich einen Platz gefunden hatte – und sich direkt neben Helena setzte. Helena schnappte nach Luft.

In das entstandene Schweigen hinein fingen alle gleichzeitig an zu reden, während der Kellner die Speisekarten brachte. Unwillkürlich seufzend blickte Christina stumm auf dem ganzen Tisch herum. Wie bei Wilhelm Busch dachte Helena bei sich, in memoriam an fast vergessene Kindertage.

»Erinnerst Du Dich noch an das Buch?« fragte Helena ihre Schwester. Sie hatte das grosse, in grünes Wildleder gebundene und in altdeutscher Schrift geschriebene Buch deutlich vor Augen. »Die Texte waren illustriert«, fügte Helena erklärend hinzu. Ihre Schwester blickte irritiert von der Speisekarte auf.

Helena sass neben der Frau, die ihre Mutter war.

Ein paar späte Sonnenstrahlen drangen in das Dunkel des Lokals, spiegelten sich im Tischsilber und Porzellan und warfen Feuer auf die Rosen, die mitten auf dem Tisch ein Eigenleben zu entwickeln schienen. Rosa, Pink und kräftiges Rot vermischten sich. Der Schein der Farben floss über die Tischdecke, auf das Besteck, die gestärkten Servietten.

Die Konversation nahm ihren Anfang beim Wetter, wechselte zum Angebot auf der Speisekarte, danach wurden Lokal und Einrichtung durchdiskutiert, schliesslich der Besitzer sowie die üblichen und unüblichen Gäste.

Helena liess ihren Blick wandern, versuchte der aufkommenden Panik Herr zu werden, nahm den Teller mit dem »Kleinen Gruss aus der Küche« entgegen und bedankte sich höflich. Die aufwendig angerichtete Pastete war ihr gleichgültig, genauso wie der Wein, der wohl nach Kork schmeckte und an dem alle nervös nippten.

»Magst Du das Essen, Du isst doch so gern?« fragte die Mutter.

Äusserlich ungerührt ignorierte Helena den Druck im Magen und nickte bestätigend. Lustlos kaute sie auf einem Stückchen Lachs, das wohl den Weg in den Mund gefunden hatte, und suchte den Blick ihres Gegenübers. Es fiel leicht, die Nichte nach ihrem Architekturstudium zu fragen. Die Antwort kam blitzschnell und ohne Punkt und Komma.

»Du, es ist sooo interessant, unser letztes Projekt, wir mussten einen Raum erschaffen, durften nichts ausser Karton verwenden und hatten nur drei Stunden Zeit! Schau, wir haben aus Kartondreiecken ein Tipi gebaut. Das Dreieck nimmt die Idee der Zeltplane auf, sieh mal, hier, ich habe es fotografiert.« Mit geröteten Wangen zückte die Nichte ihr Handy. Gleich darauf empfing man einen weiteren Teller: Rindsfilet, knapp medium, genau wie Helena es hasste. Sie hätte sich doch für den Fisch entscheiden sollen. Aus den Augenwinkeln nahm sie missbilligende Blicke auf das Handy der Nichte wahr. Das gehört nicht auf den Tisch, nicht in einem solchen Rahmen. Natürlich nicht.

Nachdem Helena ihr Fleisch auf Erbsengrösse zurechtgeschnitten und verstohlen unter das Gemüse geschoben hatte, erbarmte sich eines der Mädels und fragte den Kellner nach dem Wein.

Julio wurde konsultiert. Alle Köpfe wandten sich ihm zu, als er mit elegantem Schwung wortlos die Gläser mitnahm und unmittelbar danach frische auf dem Tisch bereitstellte. Ein bisschen Mitleid mischte sich in seine Bewegungen, während er eine neue Flasche entkorkte, die Gläser kurz polierte, mit fruchtigem Weisswein füllte und vor seine Gäste stellte. Glas für Glas, kalt beschlagen und duftend.

Er würde alles dafür geben, damit dieses Mittagessen perfekt war; es waren sehr geschätzte Gäste.

Die Frau in den schwarzen Pailletten neben Helena war alt geworden.

Unsicher fragte sie mehrfach nach, als Helena von ihrer letzten Reise erzählte, und schaute nur flüchtig auf die wunderbaren Landschaften, die sich auf dem hingehaltenen ipad darboten.

»Schau, da bist Du auch einmal gewesen.« Helenas Schwager wiederholte geduldig den Satz.

»Du gehst also öfters hierher zum Essen?« fragte Helena zum dritten Mal. Ihre Stimme schien nicht zu den Ohren ihrer Mutter vorzudringen. Erneut musste ihr Schwager den Satz in für Nora verständliche Worte fassen.

»Ja«, bestätigte die Frau, die ihre Mutter war, »ja, ganz regelmässig. Ich fahre aber kein Auto mehr. Die Freundin, mit der ich immer hier bin, wir trinken ein Glas Champagner und nehmen uns dann ein Taxi. Das geht nicht, dass man Alkohol trinkt und anschliessend Auto fährt.«

»Erinnerst Du Dich noch an diese Reise, es ist lange her?« sprang Helenas Schwager hilfsbereit in die Bresche, nachdem Helena es zum dritten Mal erfolglos versucht hatte.

»Ja«, sagte die Frau, »ja, ich war da, und es war sehr schön«.

Sie ist alt geworden, dachte Helena bei sich, aber schau dir die Augen an und hör, was sie sagt, genau dieselben Sätze wie früher, genau derselbe Mist. Und sie versteht dich nicht, weil du nicht das sagst, was sie hören will.

Helena warf einen strengen Blick auf die rebellische Helena in sich und brachte sie energisch zum Schweigen.

Zur Erholung schwatzte sie ein wenig mit Schwester und Nichten.

Ein neuer Anlauf.

»Oh ja, dieses Essen ist wirklich ganz ausgezeichnet. Ich finde dieses Lokal eine wirklich gute Wahl. Und der Blumenschmuck, ganz wundervoll«, versicherte Helena in Richtung der Frau auf dem Platz neben ihr, ihrer Mutter.

Die Blumen auf der elterlichen Terrasse waren für die Frau, die ihre Mutter war, eine ganz wichtige Sache. Welche Blumen, welche Farbe, in welchen Übertopf. Manche Sorten wurden nie wieder gesetzt. Sie hatten sich als aufwendig erwiesen. Täglich um dieselbe Uhrzeit wurden die Blumen getränkt. Wenn es heiss war, zwei Mal. Die Töpfe bekamen die beste Erde vom Gärtner, Dünger und eine genau dosierte Menge Wasser aus der Giesskanne. Regelmässig. Morgens wurde gegossen, da gab es Wasser, und die Blumen hatten diese Pflege zu schätzen. Was nicht blühte, war nicht geeignet. Für komplizierte Blumen war kein Platz im Hause Neumann. Die Terrasse war sehr hübsch und grosszügig angelegt. Gelbe Markisen. Die bunt bepflanzten hölzernen Kübel trugen zur Fröhlichkeit bei.

Helena nippte an ihrem Wein. Zu viel Alkohol kam jetzt nicht in Frage. Trink aus, das entspannt dich, stichelte die rebellische Helena aus den Tiefen ihrer Seele. Hast du jetzt endlich die Augen gesehen, du Feigling? Helena atmete tief ein und wieder aus. Kontrolliert. Eine Hitzewelle liess sie ihre Jacke ausziehen.

Es reicht, wenn ich anwesend bin, dachte sie. Ich bin hier. Ich esse und rede, bin freundlich und trinke, was man mir vorsetzt, nicht zu viel. Alle sind schrecklich nervös und besorgt und essen Speisen, die wie ein Gemälde aussehen. Ich werde jetzt einfach sitzen bleiben und tun, was zu tun ist. Und passende Antworten von mir geben.

Helena trug keine Uhr. Im Restaurant gab es auch keine. Wie im Kaufhaus, dachte sie bei sich. Man läuft herum und wird berieselt von dieser unsäglichen Musikkonserve aus den Lautsprechern – bald gibt es wieder Jingle bells oder White christmas – jedenfalls etwas, das alle unwillkürlich lächelnd mitsingen lässt, weil man es kennt und dabei in irgendwelchen Stapeln wühlt, etwas Bestimmtes oder eine Verkäuferin sucht und dann was ganz anderes findet. Sie hasste Kaufhäuser. Irgendwie kaufte man dort doch immer etwas. Grelle Lampen, die jeden Winkel energiesparend ausleuchten, lassen dich aussehen wie hundert. Und Spiegel sind stets zur Stelle, wenn man sich gerade nicht sehen möchte.

Zeit wird mit dem Gefühl gemessen, meldete sich die rebellische Helena wieder. Die Zeitmesser haben die Menschen doch bloss erfunden, damit sie selbst das Gefühl haben, Herr der Lage zu sein. So können sich alle vormachen, etwas Unbeherrschbares zu beherrschen. Und um sich zu treffen, giftete sie weiter. Ach, ja, ich habe gehört, es soll jetzt ein Projekt geben, bei dem Düfte zur Verkaufsförderung eingesetzt werden, also nicht nur Musik. Unsinn, meinte die rebellische Helena, das wird nie passieren, da geht ja höchstens Vanille, aber das ist bereits omnipräsent. Ich fürchte mich schon vor der zimtgeschwängerten Luft vor Weihnachten. Zimt ist prima, wehrte Helena entschlossen ab.

Helena stand am Familientisch weiterhin Rede und Antwort, versehen mit den passenden Lauten, je nach Situation ein Mmmh oder ein begreifendes Aaah. Hin und wieder ein mitfühlendes Ooah, sorgfältig die Stimme nach unten moduliert.

Lange konnte es nicht mehr dauern. Das Sorbet war bereits abgeräumt und die Espressotassen leer.

Hast du die Augen gesehen? kam es von irgendwo tief innen her. Schau doch hin, wenigstens kurz. Helena streifte die Frau, die ihre Mutter war, mit einem Blick.

Alt ist sie geworden, aber noch rüstig, robust eher. Eine leere Hülle voller Worthülsen, von denen Helena jede einzelne kannte. Eine, die sich seit langer Zeit für nichts Neues mehr interessierte und stets den leichten Weg für sich gewählt hatte.

Helena nahm jetzt doch einen tiefen Schluck aus dem Weinglas.

Dann wandte sie sich nach rechts und schaute ihrer Mutter in die Augen.

Unerwartet preschte sie durch die Mauer und erhaschte einen Blick auf eiserne Entschlossenheit. Kälte blitzte auf und die Furcht eines in die Enge getriebenen Tieres, eingesperrt im vom Alter gezähmten Körper.

Helena reagierte nicht. Sie nahm die Wucht des Zornes zur Kenntnis.

Später am Abend, nach anstrengender Heimfahrt, den üblichen Wortgefechten und dramatischen Ausbrüchen – so wie sich aufgestaute Spannung bei ihren noch nicht ganz erwachsenen und von der Situation heillos überforderten Kindern zu entladen pflegte – lagen endlich alle wieder friedlich im eigenen Bett, zutiefst erleichtert, dass dieser Tag vor bei war.

Helena, in dicken Socken, Schlapphosen und mit einer Kanne Tee vor sich, fuhr den Computer hoch.

»Hi, Elke«, schrieb sie, »es war ein beschissener Sonntag.«

»Nur die Ruhe«, kam es unerwartet schnell zurück. »Geh’ schlafen. Morgen ist ein neuer Tag.«

Helena duschte heiss, zu heiss, cremte sich von Kopf bis Fuss ein und liess sich, den schnurrenden Familienkater im Schlepptau, erschöpft in ihr bequemes, frisch duftendes Bett sinken.

Glücklicherweise war die rebellische Helena geradezu liebevoll, sie waren sich einig. Nein, super lief es nicht, aber besser ist nicht.

Die Frau, die ihre Mutter war, war eine Fremde.

Irgendwann in dieser Nacht schlief Helena ein.

2
Siegfried, Nora, Heirat

Grau und steil umfassten die hohen Mauern ein grünes Rasenviereck. In schwarzen Turnhosen exerzierten blonde Jünglinge sportliche Übungen. Sie kamen Siegfried klein vor, unter der hohen Burg. Zwei Tage war er unterwegs gewesen. Zunächst mit dem Pferdefuhrwerk, danach mit der Bahn bis zur Tante, die dann einen Bekannten mit der weiteren Begleitung des Jungen beauftragte. Die Eltern mit dabei, nein, das kam nicht in Frage, die gehörten nicht zu seinem Leben, dem neuen.

Kurz nach ihrem achten Geburtstag wurde Nora von ihrer Pflegemutter beiseite genommen. Morgen kommen sie. Sie musste nicht fragen. Ihre Frau Mutter nahm sie also wieder zu sich. Nora brachte es nicht über sich, zu protestieren. Es hatte ihr hier gefallen: die perfekt gebügelte Tischdecke, geregelte Mahlzeiten, der Pflegevater sprach das Tischgebet mit ruhiger Stimme, bevor das karge Essen in angewärmtem Porzellan serviert wurde. Die Zimmer waren stets frisch gelüftet, in den Schränken duftete es nach Lavendel. Nora dachte an ihre Pflegegeschwister, älter als sie, bereits hochgeschossen und ungelenk. Der Neid kroch in ihr hoch.

Noras hübscher Mund verzog sich erschreckt. »Aber, Mama Hock … Mama Hock …«

»Nun Kind, sie ist Deine Mutter. Irgendwann müssen wir alle an unseren Platz zurück.«

Nora fühlte die halbe Wahrheit. Niemand sollte sie zwingen dürfen, schon gar nicht die Mutter mit den stechenden Augen. Angst flatterte im Bauch.

»Dies ist dein Bett«, sagte der Junge. »Aber zuerst müssen die Haare ab. 5 mm. Maximal. Dein Erzieher ist Herr Josef. Du tust, was man Dir sagt, das ist das Beste.«

»Aber wenn ich das nicht will«, begehrte Siegfried auf.

»Das gewöhnst Du Dir mal besser ab, Junge. Was Du willst, sagt Dir Herr Josef.«

Er war eigentlich ein netter Kerl, aber das merkte Siegfried erst später. In diesem Moment hasste er ihn. Das konnte Siegfried gut, hassen. Das war besser als Weinen.

Im schwarzen Mercedes kamen sie Nora holen. Heimholen nannten ihre Eltern das. Das bescheidene Köfferchen war rasch gepackt, schnell eine Tasse Kaffee, mitgebracht aus der Stadt, echter Bohnenkaffee. Eine Umarmung für Mama Hock, den Vater, die Kinder. Ein erleichtertes Aufseufzen, gerade noch gehört, als Nora in der Tür stand und unter Tränen zurückblickte. Die Pflegefamilie schien fast froh zu sein über den Abschied. Es war doch eine lange Zeit gewesen.

Es war Sonntag, der Mercedes wurde vorsichtig durch den schmalen Durchgang in den Hof gefahren. Der Lehrling stand schon bereit und öffnete die Flügeltüren zur Garage. Der Vater parkte den Wagen, schweigsam wie immer, und verschwand wortlos in die Wurstküche. Die Mutter wirkte müde.

»Nora, geh’ Deinen Koffer auspacken, ich muss mich hinlegen, morgen muss ich um halb vier Uhr raus.«

Am Anfang war es schlimm, das frühe Aufstehen, das neue Brüderchen mitversorgen. Die Mutter war bereits unten, die Wirtschaft vorbereiten, der Vater in der Metzgerei, seit Stunden schon. Aus Wenigem Viel machen … die Leute rissen es ihnen aus den Händen. Fliegeralarm, ab in den Keller. Irgendwann blieb der Fliegeralarm aus. Die Menschen, zu erschöpft zum Frohsein, krempelten die Ärmel hoch. Das Haus der Grossmutter stand noch, auch das Elternhaus, mehrstöckig. Die Häuser hatten die beiden letzten und schrecklichsten Angriffe überlebt und konnten mit wenigen Reparaturen wieder instand gesetzt werden. Ein Wunder ist das, sagten alle. Die Familie zog in die Stadt um. Unten die neue Metzgerei: grösser, schöner, besser ausgerüstet, mehr Platz. Direkt darüber die Wohnung. Für die restlichen Wohnungen gab es Mieter, mehr als genug, die Eltern konnten sie sich aussuchen. Davon liess sich ganz gut leben. Wohnungen waren rar geworden in der Stadt. Ganze Stadtteile lagen in Schutt und Asche. Nicht mehr wiederzuerkennen. Keine Handwerker, keine Architekten, die waren tot oder in Gefangenschaft. Nur Frauen überall. Und Vater, warum war er nicht im Krieg gewesen? Niemand erklärte ihr etwas. Kriegswichtig, was war das? Die Währung wechselte.

Morgens, wenn die anderen Kinder den Weg zur Schule nahmen, rannte Nora in die andere Richtung zum Milchholen. Jeden Tag kam sie als Letzte in die Klasse, hochrot, mit festen Zöpfen.

»Warum kommst Du immer so spät?« fragte der Lehrer sie nach der Stunde. »Du bist doch sonst so fleissig und gehst gern zur Schule.«

Nora schwieg.

Der Lehrer seufzte müde und entliess sie. Er hatte 48 Schüler.

Der Schlafsaal im dritten Stock mit zwanzig Kindern war sein einziger Platz zum Ausruhen. Ein schmales, hartes Bett, Regal am Fussende, fertig. Trotzdem mehr Platz als zu Hause mit acht Geschwistern, die noch teilweise bei den Eltern wohnten; die ältesten hatten bereits eigene Familien. Der Vater viermal verheiratet, dreimal verwitwet. Immer neue Kinder. Siegfried, der jüngste, wurde verwöhnt von zwei älteren Schwestern, die einen Narren gefressen hatten an dem hübschen Buben. Seine Mutter war zwanzig Jahre jünger als der Alte, kam aus einfachen Verhältnissen. Ihre Eltern waren froh gewesen, sie endlich unter die Haube zu bringen. Schön war sie damals, doch das verging schnell unter den täglichen Pflichten. Einmal jagte der Alte einen Beamten mit der Flinte vom Hof. Er schoss in die Luft: »Lass Dich nie wieder blicken!« Der nahm die Beine in die Hand und floh.

Bücher waren verpönt. Die junge Mutter verschanzte sich mit ihrer Brut, die Älteren sahen zu, dass sie aus dem Haus kamen, weg von Zorn und Ungerechtigkeit. Aber der kleine Siegfried, der hatte so etwas an sich, alle warfen sich dazwischen, wenn der Alte mal wieder tobte. Schulausbildung, wozu? Der Dorflehrer widersprach, was selten jemand wagte. Die höhere Schule, da gäbe es eine Möglichkeit. Der Führer ist interessiert an intelligenten Jungen. Nicht aus dekadentem Adel. Ehrliche, bodenständige Herkunft. Arisch, deutsch. So eine Ausbildung bekäme der Junge sonst nie. Die Familie musste eine Kuh verkaufen, um alles bezahlen zu können. Kuh um Kuh würde folgen, bis zur letzten. »Damit Du bleiben kannst, Jungchen, lern auch schön, damit Du was wirst. Ich bring es dem Vater schon bei.«

Tagsüber Schule, politische Schulung und Sport. Auch Fremdsprachen durften sie lernen, Englisch, Französisch. Die Duschen waren oft kalt. Ein deutscher Junge weint nicht. Nachts Antreten zum Appell. Licht an, Aufstehen, Antreten, Abtreten, Nachtwanderung, Mutproben, Gehorsam. Appelle bis zum Erbrechen. Er konnte nicht schlafen – und wenn, dann aus purer Erschöpfung. Er war doch der Siegfried. Er war doch klug. Der Lehrer hatte immer gesagt: »Schaut, was der Siegfried hat. Wenn ihr das Gleiche rausgekriegt habt, stimmt’s.«

»Der Junge muss auf die Höhere, Herr Neumann«, so hatte der Lehrer den alten Bauern beschworen. Nicht nachgegeben. Hartnäckig.

Wie sie ihm fehlten, seine Schwestern. Hier interessierte sich keiner für ihn. Die waren alle so wie er. Aber nein. Das stimmte ja gar nicht. Die waren alle genauso klug, aber viel stärker. Siegfried war erst elf Jahre alt.

Mittags nach der Schule kochte die Anni für alle. Gedeckt wurde in der Küche. Eine Wachstuchtischdecke, die Teller grob, angeschlagen, Blechlöffel. Die Metzger sassen um den Tisch, geräuschvoll die Suppe schlürfend. Fleisch, Kartoffeln. Kräftige, nahrhafte Kost. Nie die gleiche Anzahl Essende, immer Platz für noch einen. Man rutschte einfach enger zusammen. Die Frau Siegle, ja, die ist schon recht. Kein fester Platz für Nora, die hinterher mit Anni die Küche schrubben musste.

Den Tisch bereit machen. »Wir brauchen noch Maultaschen für den Laden, fünfhundert Stück, geh’ die beiden grossen Töpfe holen, der Teig ist schon vorbereitet.«

Die Hausaufgaben machte Nora gewissenhaft, aber todmüde.

»Ich will aufs Gymnasium, Mama.«

»Kommt nicht in Frage, Kind! Du heiratest einen Metzger. Die Müllers haben zwei Söhne im passenden Alter, einen davon wirst ja nehmen können.«

Aber Nora wollte auf die höhere Schule, nicht heiraten und kein grässliches Kind wie ihren kleinen Bruder zur Welt bringen, für den eh nie einer Zeit hatte, wenn nicht sie. An ihr hing er wie eine Klette. Trotzdem vergötterten ihn alle.

Am Samstagabend, nachdem aufgeräumt und geputzt war, die Metzgerei blitzte und blinkte, gingen alle nach Hause. Ein wohlverdienter Ruhetag, so die Eltern, die fast im Sitzen einschliefen. Am Sonntag, da hatten sie nur Augen für ihn, den Kleinen. Nora wurde unsichtbar. Vor allem für ihre Mutter. Ein spätes Geschenk, sagte die immer über den kleinen Bruder.

Doch sie, Nora, musste sich abgeben mit diesem Geschenk.

»Schau, die kräftigen Hände!« bemerkte der Vater stolz. »Aus dem wird was.«

»Der Lehrer hat gesagt, ich bin gut in der Schule«, jammerte Nora.

Niemand hörte zu. Sie war gar nicht da, nur zum Arbeiten.

»Keiner mag mich, und der Kleine kriegt alles, was er will!« beklagte sie sich bei Anni.

»Ach, Nora«, erwiderte Anni, »Deine Mutter wollte Deinen Vater unbedingt heiraten. Etwas aus sich machen. Obwohl ihre Mutter ganz und gar nicht begeistert war. Die hatte eine ganz andere Partie für sie im Sinn gehabt. Die beiden strengen sich so an und sind fleissig. Und sieh, wie der Laden läuft. Aus der ganzen Stadt kommen die Leute hierher zum Einkaufen. Immer hat sie neue Ideen für den Laden. Und sie füttert die halbe Strasse durch. Sie ist es, die die Preise im Fleischmarkt aushandelt und Deinem Vater keine Ruhe lässt, bis er sich dort durchsetzt. Mein Erich sagt, vor lauter Angst vor Deiner Mutter kriegt Dein Vater die besten Preise im ganzen Landkreis. Du hast doch alles, sogar ein eigenes Zimmer. Meine Kusine wohnt mit ihrer Familie in zwei Zimmerchen mit Badezimmer überm Hof, und die sind zu siebt. Du weisst gar nicht, was Du hast.« Sie strich Nora übers Haar.

Nora senkte den Kopf, stumm. Es war besser, wenn Anni ihre Tränen nicht sah.

Sie standen stramm, zum Appell. Herr Josef riss das Fenster auf. »Rausspringen«, schnarrte er. Es war vier Uhr morgens, im Januar. Siegfried zitterte in Unterhemd und Hose. Wir sind im dritten Stock, dröhnte sein Hirn. Der Junge neben ihm, der Kleinste des Schlafsaals, stand auf, blass, aber entschlossen. Er ging zum Fenster und sprang in die frostkalte Schwärze. Alle sprangen. Siegfried hatte keinen Schmerzenslaut gehört. Er war der Letzte und sah, wie Herr Josef auf ihn zuging, die Lippen schmal, mit Backenknochen weiss vor Wut. Siegfried sprang.

Noch im Springen spürte er warme Nässe an den Beinen.

»Wie konntest Du wissen, dass unten Matten sind, Werner?« würde Siegfried seinen Freund fragen, Jahrzehnte später. Als er zu fragen wagte.

»Ich wusste es nicht«, entgegnete der erstaunt. »Aber der Tod erschien mir als eine faire Alternative.«

Am schlimmsten war das Tauchen. Unter der Eisdecke durch, im Winter, als einzige Sicherung ein Seil zum Festhalten.

Die Schultage waren straff durchorganisiert: Wecken, Schule, Sport, Musik, Handwerk, Hausaufgabenzeit, Rassenkunde. Die Lehrer waren überwiegend jung, völkisch orientiert, reformfreudig. Politik, Propaganda und unbedingter Gehorsam wurden mehr und mehr Inhalt der Schule. Bloss nicht selbst denken. Appelle bis zum Erbrechen. Den älteren Schülern hatte man zu gehorchen. Der Ehrenkodex war streng geregelt.

Eines Tages waren Engländer aus einem Elite-Internat zu Gast. Entsetzt über den vorherrschenden Ton und die sportlichen Prüfungen, fuhren sie wieder nach Hause, schockiert von den hässlichen Deutschen. Danach kamen keine Engländer mehr. Die Schulabgänger gingen direkt »in den Krieg«. Siegfried war neidisch. Er war noch zu jung. Er wollte dem Führer und Herrn Josef beweisen, was Ruhm und Ehre waren. Immer mehr Hilfslehrer tauchten auf und ersetzten die gewohnten Lehrkräfte. Nächstes Jahr würde auch er die Uniform anziehen dürfen, wenn der Endsieg nicht zuvorkam.

Aber das geschah nicht. Notabitur, schnell während des Schuljahres geschrieben. Dann ab an die Front, die bereits in der Heimat war. »Ihr seid die Besten, auf Euch verlässt sich der Führer.« Sie schlichen durch die vordersten Linien. Das war also der Krieg: tote Kameraden überall, zerstörte Häuser, leblose Stille.

In den Nachkriegswirren überall Zerstörung. Wir müssen Deutschland wieder aufbauen. Natürlich, so einfach war das.

Der junge Architekt Siegfried feierte. Sein Freund Werner war zu Besuch. Er zeigte ihm seinen neuen Arbeitsplatz, nichts Besonderes, Sozialbau, aber festes Gehalt. Vom ersten Ersparten ein kleiner Fiat, eine Bruchbude zum Wohnen. Mädchen gab es genug. Er brauchte nur zu wählen. Sie taten alles: kochen, waschen und auch das Übrige. Er sagte, was er wollte, und sie konnten es gar nicht schnell genug erledigen. Ein Mann mit Zukunft, meinten die Mütter und richteten die Röcke und adretten Blusen ihrer Töchter. Der weiss, was er will.

In der Kneipe um die Ecke feierten Siegfried und Werner ihr Wiedersehen.

»Nett, die Schwarze«, meinte Siegfried. »Die soll mir noch ein Bier bringen.«

»Lass sie in Ruhe«, wehrte Werner ab.

»Das Bier hier ist warm, ein neues für mich und meinen Freund. Ein bisschen plötzlich – und eiskalt«, kommandierte Siegfried.

Nora brachte das Bier und knallte es mit empörtem Hüftschwung auf den Tisch. Wie sie das Bedienen hasste. Aber ihre Mutter kannte keine Gnade, dem Pächter war die Hilfe krank geworden, Nora musste einspringen.

Schon wieder dieser Typ. Sie kannte ihn, der war ewig mit anderen Frauen da. Wie die den immer anhimmelten. Na ja, es gab nicht besonders viel Auswahl in der Provinz. Nachdem Nora die Müller-Metzger-Söhne ausgeschlagen hatte, würde sie langsam zum späten Mädchen werden. Also rasch ins Hinterzimmer, dort hing ihr kleiner Spiegel. Nora zückte den Lippenstift, brachte rasch die Augenbrauen mit dem feuchten Finger in Form, strich den Rock glatt und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Dann servierte sie das Tellergericht; er bestellte immer das billigste. Bereitwillig brachte sie einen Aschenbecher, noch eine Gabel und eine extra Serviette.

»Ich hab’ gleich Feierabend, dann kommt der Wirt, wenn Ihr noch was braucht.« Die beiden jungen Männer lachten.

»Der Siegfried braucht doch nichts vom Wirt!«

Kurz darauf waren sie verlobt. Jetzt galt es, ihn zu halten, bis der Ring am Finger steckte. Die Eltern waren empört. Ein Architekt! Zehn Jahre älter. Bei dem hast Du nichts zu lachen, meinte der Vater.

Nora war das egal. Sie spielte ihr Blatt gut aus. Sex gab es erst kurz vor der Hochzeit, nach dem bestellten Aufgebot. Sie wollte einen Mann, eine eigene Wohnung und Ruhe vor ihrer Mutter, dem ewigen nächtlichen Aufstehen und der schweren Arbeit. Frau eines Architekten. Nora Neumann. Das klang gut in ihren Ohren.

Nie mehr den Geruch nach Fleisch und Blut.

Helena war ein braves Kind. Kam neun Monate nach der Hochzeit zur Welt, genau. Ein grossäugiges, niedliches Mädchen. Schlief, wenn es hiess, sie sei müde. Schrie niemals. Folgte den Personen um sie herum – Vater, Mutter, Grossmutter – aufmerksam mit Blicken.

Nora weinte. Ich will nicht schon wieder ein Kind, Herr Doktor. Sie haben doch gesagt, während der Stillzeit kann man nicht schwanger werden. Helena ist doch erst drei Monate alt. Aber Christina kam zur Welt. Klein, hübsch, schützenswert.

Und sie blieb.

Was für ein hübsches kleines Mädchen, sagten die Leute. Die braunen Haare, eine glänzende Flut über dunklen Augen.

»Au«, begehrte Helena auf beim Auskämmen. »Stell’ Dich nicht so an«, sagte die Mutter. Dann ging sie mit ihren Töchtern zum Friseur. Bubikopf, das war damals die neueste Mode.

»Was haben Sie für zwei nette Jungs«, sagten die Leute. Händeklatschen. »Zwillinge?«

»Mädchen«, korrigierte die Mutter.

Keine Zwillinge, dachte Helena.

Ich, Helena, bin die Ältere.

»Wie lange hast Du gestillt, Mutter?« fragte Helena später.

»Überhaupt nicht, und das möchte ich auch Dir dringend raten. Es verdirbt den Busen. Das wird Deinem Mann gar nicht gefallen. Es gibt heute so gute Produkte. Ich musste immer verdünnten Haferflockenbrei kochen. Diese Mühe! Die Mütter von heute haben es viel einfacher.«

»Sie hat keinen Hals«, bemerkte Vater Siegfried.