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Die Geschichte eines Mannes, auf der Suche nach der Wahrheit. Sein Weg gesäumt, mit Dickichten und noch weniger Klarheit. Mach kehrt Menschensohn! Angst vor dem Scheitern, zu besteigen den Thron. So würde er gewiss, einer Sache werden gewahr: Blind waren sie, bis der Mann auftauchte, der nicht mit seinen Augen sah. Auf seinem Weg hinterlassend eine Schneise. Nun möge beginnen seine Reise … Taucht ein in die verhängnisvollen Gefahren und Abenteuer des Königreichs Nefalurin!
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2020
A. K. D.
Der SchlÜssel der Offenbarung
Band I
© 2019 A. K. D.
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-4870-5
Hardcover:
978-3-7482-4871-2
e-Book:
978-3-7482-4872-9
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Der verwundete Wolf
Als er sich nach vorne beugte, um Wasser aus einem Bach zu schöpfen, kam etwas zum Vorschein: Der Schlüssel der Offenbarung und Wahrheit. Er glitt ihm über sein schwarzes Hemd und als er aus seinem Becher trinken wollte, bemerkte er ihn.
»Ist es das wert? Jene, die meinen Vater gestürzt haben, haben auch die Wahrheit gestürzt und sie verschlossen«, murmelte er vor sich hin.
So kam es, dass er den Schlüssel, welcher an einer silbernen Kette hing, abnahm und mit Entsetzen betrachtete. Der schwarze Diamant, aus dem er bestand, funkelte förmlich, als der Schlüssel in seinen Händen baumelte, ein sehr seltener Edelstein, welcher nur dem königlichen Geschlecht vorbehalten war.
»Ich kenne weder die Gesichter meiner Feinde, noch weiß ich, welche Türe ich mit diesem Schlüssel öffnen soll. Der Schlüssel zur Wahrheit.« Er verzog angewidert sein Gesicht. »Welche Wahrheit denn!«, erzürnte seine Stimme. »Die Menschen wollen nichts von der Wahrheit wissen, solange sie satt sind, genug zu essen und zu trinken haben. Keiner wird sich gegen die Aristokraten stellen, nur damit der wahre Thronfolger auf seinem Thron sitzt«, führte er seinen Monolog fort.
»Ich selbst wusste ja bis vor Kurzem nicht einmal, dass ich es bin. Zu viel Angst fließt durch die Adern der Bürger des Königreiches Nefalurin. All jene sahen nur tatenlos dabei zu, wie der König und seine Familie grausam abgeschlachtet wurden.«
Ein lauter Pfiff ertönte aus dem angrenzenden Wald und entriss ihn aus seinen Gedanken. Er war nahe der Grenze zum Wald La-Hul, der von den Elekuden bewacht wurde.
Die Elekuden waren ein längst vergessenes Volk und Noxun, des Königs vergessener Nachfolger, wusste noch nicht, was es mit ihnen auf sich hatte. Schnell schüttete er das Wasser aus und packte seinen Becher in seine Tasche, welche an seinem Pferd hing.
Gerade als er aufsteigen wollte, sprach eine sehr sanft klingende und doch gebieterische Stimme zu ihm: »Dies ist ein heiliger Ort Fremdling, was führt dich zu uns?«
»Ich suche nach Izagun dem Weisen«, antwortete Noxun, während er auf sein Pferd stieg.
»Keiner, außer den Hütern der Erde, darf diesen Ort betreten! Mach kehrt, Menschensohn, oder ich kenne kein Erbarmen!«
Noxuns Pferd trabte ungeduldig umher, während Noxun mit seinen Augen, denen nichts entging, alles abtastete. Immer wieder spähte er in Richtung des Waldes, in der Hoffnung, auf einer Baumkrone den Widersacher ausfindig zu machen.
Elekuden waren uralte Geschöpfe, die noch vor den Menschen erschaffen wurden. Perlmuttweiß flimmerten ihre irislosen Augen je nach Gefühlslage heller oder dunkler. Ihre amazonitgrüne Haut erlaubte es ihnen, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, vorausgesetzt, sie waren in ihrer Umgebung. Für gewöhnlich verließen sie ihre Gebiete nicht und lebten unter sich, abgeschottet vom Rest der Welt. Bis auf die exotische Haut- und Haarfarbe, unterschieden sie sich äußerlich nicht sonderlich von den Menschen, selbst die Kleidung ähnelte der der Menschen sehr, wobei sie Lederrüstungen bevorzugt trugen. Die Menschheit wusste noch nicht um die wahre Bedeutung der Elekuden, dies würde sich aber rasch ändern.
»Du wirst nicht fündig werden, eher steckt ein Pfeil zwischen deinen Augen, als dass du mich entdeckst«, rief die Stimme aus dem Wald.
Der Elekude hielt sich zwischen dem Gebüsch versteckt und seine dunkelgrüne Hautfarbe machte es schwer, ihn von den Blättern, die ebenfalls in denselben Farben schimmerten, zu unterscheiden. Mit seinen hell flimmernden Augen beobachtete er Noxun und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, während seine schulterlangen schwarzen Haare vom seichten Wind ein wenig verwirbelt wurden. Unversehens kam ein anderer Elekude hinzu, der als Wache für dieses Gebiet postiert war und Kulaf ablösen sollte. Er sah wie Kulaf seinen Bogen gespannt hielt und ihn auf einen Menschen richtete.
»Beim Licht von Al-Mihar, was machst du da!«, blaffte er ihn fassungslos an.
Jedoch schien er die Lage einen Moment später zu verstehen. Dass Kulaf die Menschen hasste, war der Wachablösung bekannt gewesen, doch dass er so weit gehen würde, einen umbringen zu wollen, erschütterte ihn. Kulaf, der nun sachte die Spannung aus dem Bogen nahm, fokussierte sogleich die Wache, seine Augen funkelten vor Zorn.
»Ich wollte nur bereinigen, was die Erde befleckt, diese Menschen verdienen nichts mehr als den Tod selbst, sie sind von schlechten Eigenschaften geprägt, sie bekriegen sich, töten sich gegenseitig, wollen Macht, um dann noch mehr ihresgleichen zu töten und ja …«, er hielt inne. »Einige von ihnen stellen sich sogar mit dem Schöpfer gleich.«
»Kulaf …«, noch ehe die Wache ihren Satz vollenden konnte, senkte Kulaf seinen Bogen und ging ohne ein weiteres Wort. Noxun oder der Schwarze Wolf, wie ihn die meisten nannten, bemerkte dieses Gespräch, machte sie ausfindig und schlich sich im Moment der Unachtsamkeit leise an.
Er versteckte sich hinter einem Baum in unmittelbarer Nähe. Sein Pferd ließ er zur Ablenkung am Bachufer zurück. Der Wachmann, der nun verzweifelt nach ihm Ausschau hielt, weil er ihn während des Gesprächs mit Kulaf aus den Augen verloren hatte, kletterte nun auf den Baumwipfel, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Dabei war er schneller an der Spitze als es ein Eichhörnchen jemals hätte schaffen können. Die Elekuden waren geschickte Kletterer und noch geschicktere Kämpfer, wenngleich sie die Gewalt verabscheuten. Ihre enorme Sehkraft war der eines Adlers ebenbürtig.
Der Schwarze Wolf staunte nicht schlecht, als er ihn hochklettern sah. »War das eben ein Elekude? Es gibt sie also wirklich, ich jage nicht nur einem Traumhinterher. Diese Wesen kommen also nicht nur in Märchen und Erzählungen vor. Aber wieso hegte der eine so einen Groll gegen die Menschen?«
Diese Fragen schossen ihm durch den Kopf und machten ihn sichtlich nervös. Die Tatsache, dass er einer der wenigen Menschen war, die zu dieser Zeit einen Elekuden zu Gesicht bekamen, ließ sein Herz schneller klopfen.
Noxun, ein junger Mann, mit schulterlangen dunklen Haaren, des Königs Nachfolger, ein Meister im Umgang mit dem Schwert, schwankte für eine Weile. Für sein zartes Alter handelte er meist sehr weise, aber eben dieser Mann wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte sich nichts erhofft und gleichzeitig alles, als er den Schlüssel in die Hände bekam und dadurch Izagun immer wieder in seinen Träumen erschien und ihm befahl, im Wald La-Hul nach ihm zu suchen. Uneinig waren seine Gedanken, als er aufbrach, es hätte auch eine Reise in das Nichts sein können.
Der Wachmann spähte immer noch zwischen dem Geäst, in der Hoffnung, Noxun ausfindig zu machen. Seine Augen allerdings sahen nichts, außer dem schwarzen Pferd von Noxun, welches sich nicht um die Geschehnisse kümmerte. Es trabte inzwischen heiter am Bachbett entlang und schnüffelte im Gras herum. Das Gebiet war sehr überschaubar, es war flach mit kleineren Böschungen, die bergab ins Tal führten.
Von allen Entscheidungen, die er treffen konnte, traf er die falsche, wie sich später herausstellen sollte, denn Noxun nahm die Verfolgung von Kulaf auf. Er hatte Glück, Kulaf ging langsamen Schrittes und gedankenverloren tiefer in den Wald. Er folgte keinem genauen Pfad und lief ziellos umher. Ganz langsam und mit bedachten Schritten schlich er ihm hinterher, so geschickt, dass man ihn kaum hörte, dabei betrat er den Wald La-Hul.
Der Wald La-Hul oder auch Wald des Todes, wie ihn die Menschen nannten, war ein gefährlicher Ort. Es hieß, die Bäume lebten, atmeten und fühlten wie Menschen, und die Tiere seien feindselig gegenüber denselbigen. Seit Anbeginn der Zeit rankten sich viele Mythen und Sagen um diesen Wald. Menschen, die hineingingen, um zu erfahren, was es damit auf sich hatte, wurden nie wiedergesehen und seit geraumer Zeit kursierten Gerüchte durch die Welt, dass die dunklen Fürsten im Wald umherziehen und alles Leben beenden, was sich ihnen in den Weg stellt. So kam es irgendwann dazu, dass die meisten Menschen diesen Wald mieden und nur vermeintliche Irre hineingingen. Deshalb wusste auch niemand, was hinter dem Wald lag.
Noxun hatte Bedenken, ob diese Elekuden wirklich die Hüter der Erde waren, wie die Sagen es behaupteten und nicht nur ein Volk, das aus Scheu zu den Menschen in Vergessenheit geriet.
Der Wald war dicht besiedelt von hohen Bäumen, deren Stämme kräftig waren und die Kronen hoch in den Himmel ragten. Die Blätter hatten ungewöhnliche Farben. Meist in dunklen, satten Tönen, aber hell schimmernd, als ob jede Pflanze lebte und sich bemerkbar machen wollte. Auf den Baumrinden waren zum Teil seltsame Zeichen eingeschnitzt. Die Schriften konnte der Schwarze Wolf nicht entziffern, aber die Reliefs konnte er deuten. Ein Relief, welches ihm besonders im Gedächtnis blieb, war jenes, das einen Elekuden mit einem hell leuchtenden Kristall in der Hand zeigte, dieser Stand vor einer Art Höhleneingang. Folgendes stand darunter, in einer Schrift, die den Menschen bekannt war: »Jene, die das Licht der Welt erblickten, werden wieder zu Licht. Jene, die ihr Dasein im Schatten verbrachten, werden hier verweilen.«
Noxun war kurz davor, die Verfolgung aufzugeben. Zu viele Fragen schossen ihm durch den Kopf und er war nicht bei klarem Verstand.
Alles wirkte befremdlich auf ihn, als ob sich die Welt von einem in den nächsten Moment verändert hatte.
»Welch ein seltsamer Ort«, war sein Gedanke.
Schon bald hatte er Kulaf aus den Augen verloren und sich seinen Gedanken hingegeben. Er lehnte sich an einen kahlen Baum, ohne Blätter, die das Leben mit einem Funkeln zum Ausdruck brachten. Sein Kurzschwert, welches er nur selten gebrauchte, legte er ab, um seine Last zu erleichtern. Sie steckte in einer mit schwarzem Leder überzogenen Scheide, die verziert war mit silbernen Gravuren. Ein heulender Wolf war zu sehen. Es war einst das Symbol des Königshauses, in dem seine Ahnen seit Anbeginn der Zeit geherrscht hatten.
»Ich weiß nicht, wohin mit meinen Gedanken«, hauchte er kurzatmig durch die Aufregung.
Seitdem ihm der Schlüssel übergeben wurde, beschäftigten ihn Fragen und die Ungewissheit öffnete eine Kluft in ihm, eine Kluft, in die er immer wahrscheinlicher hinabzustürzen drohte.
Noxun wuchs als normaler Junge auf, ohne zu wissen, wer er wirklich war, denn sein Vater Noktrin übergab ihn im Kindesalter an einen Bauern. Dieser Bauer war nicht nur ein einfacher Landarbeiter, wie sich später herausstellen sollte. Noktrin ahnte, was ihm zu drohen schien und wollte somit, indem er Noxun in Sicherheit gab, einen Funken Hoffnung waren. Noxun fühlte sich überrollt von alldem, was geschah. Urplötzlich bekam er einen Schlüssel, um die Wahrheit zu lüften und erfährt, dass er der Sohn des Königs sei.
»Vielleicht bleibt die Wahrheit doch besser verborgen, da wo auch immer sie sein mag. Was kann einer allein schon ausrichten?«
Es war, als ob sein Unterfangen schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, und jetzt sah er auch noch einen Elekuden, von denen er dachte, sie existieren nur in Märchen, die den Kindern erzählt werden. Doch es gab noch viel mehr auf dieser Welt, wovon er noch nichts wusste.
Plötzlich hörte er, wie die Sehne eines Bogens gespannt wurde. Das Geräusch holte ihn aus seinen Gedanken, und ehe er sich versah, stand er vor ihm: Kulaf. Denn während sich Noxun in einer geistigen Umnachtung befand und vor sich hinmurmelte, entdeckte ihn der Elekude. Sein Bogen war bis zum Anschlag gespannt, und er war bereit, ihn jeden Moment abzuschießen. Eine falsche Bewegung vom Wolf genügte und ein Pfeil würde zwischen seinen Augen stecken, dann wäre alles vergebens gewesen und die Welt würde ins Chaos stürzen.
»Welch eine Torheit, du nimmst die Verfolgung eines Elekuden auf. Genau diesen Übermut der Menschen verachte ich so sehr, dass ich euch alle in den Flammen der Unterwelt brennen sehen möchte! Die Sünden sollen auf eurer Haut versengen und ihr sollt schreien«, blaffte er ihn an.
»Nicht alle Menschen sind böse, und nicht alle verdienen die endlosen Flammen der Unterwelt oder den Tod. Ich bin nicht hier, um Feindschaften zu schüren, sondern, um die Wahrheit zu finden.«
Noxun schwieg, er wollte und konnte nicht sagen, was er wirklich vorhatte, denn niemand durfte davon erfahren, außer Izagun, der Oberste und Weiseste aller Elekuden, wollte es so.
»Der Schlüssel und das Loch, zu dem es gehört, und überhaupt alles, was damit in Verbindung steht, müssen einstweilen geheim bleiben«, grübelte er nach.
»Du Narr, kein Mensch darf auch nur in die Nähe unseres Landes kommen. Es ist eine Beleidigung, dass du dich in unsere Nähe wagst und uns mit deiner Anwesenheit besudelst«, verzog der Elekude grimmig das Gesicht.
»Nicht einmal Könige dürfen passieren«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Aber er selbst hat mich in meinen Träumen gerufen«, erwiderte Noxun. »In Ungewissheit treibst du vor dich hin.
Die Leere, in der du dich befindest, wird vom Schatten umhüllt.
Ist es die Lüge, die du versuchst ans Licht zu bringen?
Oder die Wahrheit, die dir das Licht bringt?
Dies und noch weitere Dinge sprach er zu mir, ehe er mir befahl, nach ihm zu suchen.«
Kulaf dachte ein Weilchen nach und wurde unruhig, denn wenn es stimmte, was er sagte und er ihn umbringen würde, würde er als Verräter gelten und damit zum Abtrünnigen werden. Genau diese Minute der Unachtsamkeit nutzte der Schwarze Wolf, denn er wusste, dass der Elekude ihn niemals freiwillig durchlassen würde. Ausgerechnet dieser eine, unter so vielen guten Elekuden, begegnete ihm. Das Schicksal der Welt lag auf Messers Schneide. Blitzschnell warf er seinen Dolch auf ihn und verfehlte ihn absichtlich, um ihn nicht zu verletzen und ergriff daraufhin die Flucht.
Im nächsten Augenblick rannte Kulaf ihm wutentbrannt hinterher. Noxun rannte in dieselbe Richtung zurück, aus der er gekommen war, in der Hoffnung, auf sein Pferd zu treffen und mit ihm zu flüchten. Doch dies stellte sich schwieriger dar als gedacht. Der Wald hatte keine Wege oder Pfade, denen man hätte folgen können. Der Schwarze Wolf musste sich deshalb auf seine Instinkte verlassen. Er konnte nur ahnen in welche Richtung es ging.
Während der Verfolgung erlitt Noxun einige Kratzer durch Äste und Ranken, die von den Bäumen hinabhingen. Hier wuchs alles größer und stärker, als es die Menschen aus den Königreichen kannten. Da die Elekuden hier heimisch waren, verkürzte Kulaf den Abstand zu Noxun immer mehr. Seinen Bogen hatte er liegen gelassen, da er ihn nur behindert hätte, stattdessen wollte er, falls nötig, von seinem Dolch Gebrauch machen, welcher an seinem Gurt hin und her schaukelte.
Kulaf verpasste Noxun immer nur ganz knapp, die Wurzeln der Bäume, die aus dem Boden ragten, fungierten als Stolperfallen für Unachtsame. Immer nur im letzten Augenblick konnte sich der Schwarze Wolf aufrappeln. Glücklicherweise flüchtete er in die richtige Richtung, da der Wald sich immer mehr lichtete. Kurz bevor ihm die Kraft ausging, hörte er das Rauschen vom fließendem Wasser. Und tatsächlich befand sich in einiger Entfernung ein Fluss mit reißender Strömung, welcher bergab ins Tal floss und in den sogenannten Gewissensfluss mündete. Abrupt änderte er seine Rute in Richtung des Lärms. Kulaf bemerkte dies und war erfreut darüber, denn er kannte den Fluss und wusste, dass die Strömungen zu stark waren, als dass sie ihm zur Flucht verhelfen würden.
Das Unterholz war nun nicht mehr so hinderlich und der Wald lichtete sich immer mehr. Während Noxun rannte und den Hindernissen immer geschickter auswich, schossen ihm wieder unzählige Gedanken durch den Kopf.
»Was ist, wenn ich scheitere? Was passiert, wenn ich es nicht schaffe zu entkommen? Endet meine Reise schon zu Beginn, ist dies mein Schicksal?«
Die Sonnenstrahlen drangen immer mehr durch die Äste und Blätter, sodass einzelne Strahlen Noxuns Gesicht trafen. Ab und an blendete ihn das immer heller werdende Licht.
Dem Elekuden hingegen schien dies nichts auszumachen. Seine Augen, die nun vor Wut funkelten und die dadurch noch stärker zum Pulsieren gebracht wurden, ließen sich durch kein Licht der Welt blenden. Seinen Dolch hatte er mittlerweile gezogen, er war ungewöhnlich groß und mit Runen verziert. Es handelte sich dabei um dieselbe Sprache wie die der Menschen. Die ganze Welt sprach nur diese eine Sprache. Die Buchstaben waren allerdings anders als die der Menschen und somit konnten nur die heimischen Elekuden sie entziffern.
»Du Feigling, bleib stehen!«, krächzte Kulaf.
Sein Geschrei war derart hasserfüllt, dass Noxun zusammenzuckte.
Zu seinem Glück war der Fluss nun in Sichtweite. Wegen der vielen schlangenartigen Kurven, die bergab führten, wurde dieser auch der Schlangenrücken genannt. Die Strömungen waren reißerisch und das Wasser schlug an jeder Kurve an scharfkantige Felsen, sodass die Gischt meterweit in die Luft schoss und sich dann auflöste. Es war undenkbar, dass jemand diese Strömung überleben könnte.
Noxun war sich der Gefahr, in der er sich befand, nicht bewusst. Er kannte den Fluss nicht und einen Kampf mit Kulaf wollte er vermeiden. Deswegen sah er keinen anderen Ausweg als hineinzuspringen. Wieder in den Wald zu flüchten, war auch keine Option, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihn dann Kulaf, der auf diesem Terrain einen Vorteil hatte, einholen würde. Noxun traute sich noch nicht, in den Fluss zu springen, jetzt da er den Fluss mit eigenen Augen sah, überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Er rannte am Flussufer entlang der Flussrichtung. Sein Langschwert, das ihn sichtlich beim Rennen behinderte, wollte er nicht zurücklassen. An seinem Gürtel baumelnd, brachte es ihn fast aus dem Gleichgewicht.
Kulaf, der nun seinen Dolch zückte und seinen Arm nach oben streckte, um zum Stoß auszuholen, war nur noch wenige Schritte von Noxuns Rücken entfernt. Geschickt nutzte er einen kleinen Felsen als Sprunghilfe und in der Luft hielt er den Dolch mit beiden Händen, bereit zum Todesstoß wie eine gefährliche Schlange, die jeden Augenblick zubeißt. Der Schwarze Wolf wollte sich in diesem Augenblick umdrehen, um den Dolchstoß abzuwehren, scheiterte jedoch vergeblich. Kulaf durchbohrte Noxun am Rücken, dieser fiel regungslos in den Fluss, der nur darauf wartete, jemanden zu verschlingen.
Erstarrt blieb Kulaf am Flussufer zurück. Blut tropfte von der Dolchspitze hinab auf die Grashalme, die dadurch leicht einknickten. Seine Hände zitterten vor Wut und vor Aufregung, aber auch aus Angst, denn er war nun der erste Elekude, der einen Menschen umgebracht hatte, dies dachte er zumindest. Noch war Noxun nicht tot, die Wunde war tief, aber nicht tödlich gewesen.
Die Strömungen rissen ihn südwärts in Richtung des Gewissensflusses. Jedes Mal, wenn er kurz auftauchen konnte, schnappte er keuchend nach Luft. Das Wasser erschlug ihn fast und durch seine schwere Ausrüstung war es mühselig für ihn, nicht unterzugehen. Trotzdem gelang es ihm zunächst, sich immer kurz vor dem Zusammenprall mit einem Felsen geschickt abzustoßen. Dies schaffte er einige Male, aber seine Verletzung machte sich zunehmend bemerkbar. Seine Wunde blutete unnachgiebig und ihn verließen allmählich die Kräfte. Letztendlich stieß er mit seinem Kopf gegen einen der Felsen, verlor das Bewusstsein und trieb nun völlig wehrlos den Schlangenrücken hinab. Allerdings hatte er merkwürdiges Glück, denn die Strömung schien ihn aus einer Laune heraus nun auf seinem Rücken zu tragen. Das Wasser lenkte ihn so geschickt an den Hindernissen vorbei, dass selbst ein Fisch nicht schlecht gestaunt hätte, sofern er ein gewisses Maß an Intelligenz besäße.
In diesem Fluss aber, waren keine Fische, die dieses kleine Wunder hätten bezeugen können. Das Geström wurde nun langsamer und der Schlangenrücken mündete mitsamt Noxun in den Gewissensfluss, der viel sanfter floss und keine tückischen Hindernisse bot.
Der Gewissensfluss trennte das Reich der Elekuden von dem der Menschen. Vom Nordmeer bis zum Westmeer floss es ohne viele Umschweife.
Bis die Abenddämmerung herbeizog, trieb er die ganze Zeit über Richtung Westen, mit wenigen Anzeichen von Leben, sein Atem war nur sehr flach. Der Mond strahlte so hell in jener Nacht, dass er den gesamten Fluss silbrig schimmern ließ. Seltsamerweise zwitscherten die Vögel immer noch, obwohl es bereits dunkel wurde.
Wahrhaftig war dies ein seltsamer Ort und die Menschen, denen das Unbekannte Angst machte, mieden ihn, ohne die wahre Schönheit darin zu erkennen. Einige Menschen, die auf der anderen Seite lebten und sich dem Fluss nur gelegentlich näherten, um Wasser zu holen, berichteten immer wieder von diesen seltsamen Dingen. Die Eulen riefen ihre Namen im Einklang mit dem Vogelgezwitscher, wie sie nur an herrlichen Sommertagen zu hören waren. Manch einer hörte sogar die Schreie oder das Heulen von Neugeborenen. Aber der Schwarze Wolf bemerkte nichts von alledem, immer noch bewusstlos trieb er weiter gen Westen mitsamt einer roten Linie, welche sein Blut hinterließ, bis plötzlich eine Hand sich ausstreckte und ihn ans Ufer zog. Wie ein erlegtes Tier warf er ihn auf seinen Rücken und lief mit behäbigen Schritten in Richtung des Waldes, aus dem Noxun geflohen war. Spielte das Schicksal ihm einen Streich oder verhalf es ihm ein weiteres Mal? Keiner hätte ahnen können, was der Mann vorhatte und wer er war, und außerdem befand sich niemand freiwillig auf dieser Seite des Flusses, geschweige denn, dass dort überhaupt jemand lebte.
Bis zum Wald hin war das Gelände eben und ziemlich überschaubar, es sei denn, jemand würde sich hinter einem Baum verstecken und lauern, diese wuchsen zwar nicht sehr dicht beieinander, boten aber dennoch ein wenig Schutz und Deckung. Ein zarter Wind brachte die Grashalme, welche bis zu seinen Knien gingen, zum Rascheln. Die mysteriöse Person und Noxun waren an der westlichen Seite des Waldes, noch weiter westlich lag das Meer. Der Mann, mit dem Schwarzen Wolf auf dem Rücken, blieb unvermittelt stehen; vor ihm befand sich eine kleine Holzhütte. Mit einer Hand öffnete er die Tür, welche ein quietschendes Geräusch von sich gab. Innen war sie nicht besonders groß und beheimatete nur ein Holzsprossenfenster, ein Bett und so etwas wie einen Schrank. In der Mitte des Raumes befanden sich ein kleiner Stuhl und ein Tisch, auf der eine kleine Kerze brannte. Sie erhellte den gesamten Raum und tauchte ihn in ein tiefes Rot. Die Decke hatte eine dunkelgrüne Farbe, die blutbefleckt war, da er Noxun ganz sachte auf das Bett gelegt hatte, sodass er die Wunde am Rücken behandeln konnte. Sein Schwert, das an seinem Gurt befestigt war, löste er und legte es zur Seite. Ganz langsam strich er mit seinen Händen über die Wunde und sprach mit gesenkter Stimme: »Dies ist keine Verletzung, die von einem Bären oder einem anderen Tier stammt. Er wurde von einer Klinge verletzt, von einem Dolch, um genau zu sein«, er inspizierte die Wunde genauer, offenbar war er kundig, was solche Verletzungen betraf. »Seine Wunde am Kopf ist glücklicherweise nicht so tief.«
In Gedanken versunken dachte er weiter nach, ehe er weitersprach: »Der Gewissensfluss war ruhig, als ich ihn rausgefischt habe. Es kann nicht sein, dass er sich seine Verletzungen dort zugezogen hat.« Er grübelte eine Weile nach und sprach dann weiter, so als ob ihm jemand dabei zuhören würde. »Er muss sich zuvor diese Verletzung am Rücken zugezogen haben, bei einem Kampf oder ähnlichem und dann ist er in den Schlangenrücken gefallen, wo er sich die Kopfverletzung zugezogen hat. Sehr unwahrscheinlich, aber anders kann ich es mir nicht erklären, ich muss ihn fragen, sobald er wieder bei Bewusstsein ist.«
Er stand auf und ging vor die Türe. Dort hing, an der Wand rechts von der Türe, an einem Nagel befestigt, ein Sack voller Kräuter. Er hing ihn ab und kam mit dem raschelnden Sack in der Hand wieder in sein Zimmer.
»Ich denke, eine Prohibeere wäre jetzt genau das Richtige, um die Blutung zu stoppen.«
Blut tropfte bereits auf die Holzbalken, die den Boden bildeten.
»Er hat schon viel zu viel Blut verloren«, sagte er während er im Sack wühlte und schon bald fündig wurde.
»Da haben wir es.«
Nachdem er die Kräuter in seinem Mund zerkaute, verteilte er sie auf die Wunde und die Blutung stoppte jäh.
»Jetzt braucht der junge Mann nur noch etwas Ruhe und schon bald wird er wieder zu Kräften kommen.«
Als er diese Worte sagte und ihn sachte auf seinen Rücken legen wollte, bemerkte er den Schlüssel. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, warum wusste er selbst nicht. Der Schlüssel war schwarz, schimmerte aber seltsamerweise golden, als das Kerzenlicht draufschien und den Raum mitsamt seinem Gesicht goldig schimmern ließ.
»Merkwürdig, der Schlüssel zu einem Schatz? Oder der Schlüssel seiner Haustüre? Nein, dieser Schlüssel strahlt etwas Eigenartiges aus. Was es ist, kann ich nicht sagen, aber es ist kein gewöhnlicher Schlüssel.«
Seine Worte wurden von einem Geräusch, das wie das Rascheln der Büsche klang, unterbrochen.
»Morgen gibt es Kaninchen zum Frühstück«, sagte er und trat bis zur Türschwelle. Nun schloss er seine Augen und horchte in die Nacht. Nach einer Weile fing er an, jedes noch so kleine Geraschel war zunehmen. Das Zirpen der Grillen und den Flügelschlag der Vögel, all das hörte er. Seine Hand glitt langsam zu seinem Gurt hinab, woran ein Wurfmesser befestigt war. Langsam umkreiste sein Finger den Griff, dabei hielt er seine Augen immer noch fest verschlossen und für einen Moment schien alles stillzustehen. Blitzschnell zückte er das Messer und im selben Moment warf er es in Richtung der Büsche, welche gut fünfzig Schritte entfernt waren. Das Tier hatte keine Chance zu reagieren und Blut tröpfelte aus der klaffenden Wunde, welches das Messer hinterließ. Nach einiger Zeit kam er mit dem Kaninchen in der Hand zurück zur Hütte, nahm die Innereien raus, häutete es und setzte sich auf einen knarrenden Holzstuhl, welcher unter einer Überdachung neben seiner Hütte stand. Irgendwann schloss er im hellen Mondlicht die Augen und schlief ein.
Als Noxun am nächsten Morgen seine Augen öffnete, sah er zunächst noch alles verschwommen und schien ein wenig benommen zu sein. Bei dem Versuch aufzustehen, schmerzte seine Wunde, die er offensichtlich vergessen hatte. Er ließ einen Schmerzensschrei los und in diesem Moment ging die Türe auf.
»Zu früh, um aufzustehen«, sagte der Mann und trat ein.
Zuerst konnte Noxun ihn nicht erkennen, weil die Sonne, die durch den Türspalt hineinschien, ihn blendete. Es dauerte einige Zeit bis sich seine Augen daran gewöhnen konnten und er ihn wahrnahm.
Ein großer Mann, um die vierzig, mit schulterlangen Haaren und glänzenden schwarzen Augen, stand vor ihm. Er trug ein schwarzes Lederwams mit silbernen Fäden am Saum.
»Wer … wer bist du und wo bin ich?«, stammelte der Schwarze Wolf.
»Ich war mal jemand, und bin jetzt niemand, aber du kannst mich Emren nennen und wie lautet dein Name?«
Unser Retter hatte nun einen Namen. Noch ehe Noxun antworten konnte, fuhr er fort.
»Du bist westlich am Eingang zum Wald des Todes. Aber bevor wir weiterreden, iss etwas und komm zu Kräften.«
Er hatte einen Topf in der Hand mit einer dunklen Brühe, die nicht sehr appetitlich aussah, diesen gab er Noxun.
»Kanincheneintopf, mehr kann ich dir leider nicht anbieten«, gab er mit Bedauern zu.
»Danke, mein Name ist übrigens Noxun. Ich verdanke dir wahrscheinlich mein Leben. Dafür werde ich dir auf ewig verbunden sein!«
Gierig löffelte er ein paar Mal und zu seiner Überraschung mundete es vorzüglich.
Emren setzte sich auf einen Stuhl, welcher ziemlich nah am Eingang stand und schaute zu, wie Noxun aß. Nachdem Noxun zu Ende gegessen hatte, bedankte er sich und stellte den Topf neben sein Bett.
»Zuallererst möchte ich wissen, was du hier suchst. Kein Mensch, außer er ist ein Irrer, kommt freiwillig auch nur in die Nähe dieses Waldes.«
»Ich habe mich verlaufen und wurde von einem Bären angegriffen«, sagte Noxun und versuchte dabei keine Miene zu verziehen, um die Lüge nicht auffliegen zu lassen. Das Letzte was er wollte, war das preiszugeben, weswegen er wirklich da war.
»Ich bin kein Kleinkind, das du hinters Licht führen kannst. Ich weiß sehr wohl, dass dir diese Wunde von einem Menschen zugefügt wurde. Durch einen Dolch, um genau zu sein«, seine Stimme war immer noch gelassen und er klang auch nicht gereizt.
Noxun erstarrte für eine Zeit. »Wer war dieser seltsame Mann, der über alles Bescheid wusste?«, dachte er sich.
»Und anschließend bist du den Schlangenrücken runtergetrieben, hast dir unterwegs deinen Kopf angestoßen und bist scheinbar ohnmächtig geworden«, fuhr Emren ungeachtet dessen fort.
»Hast du mich verfolgt?«, fragte Noxun, der nun sichtlich nervös wurde.
»Nein, oder gibt es etwa einen Grund, dich zu verfolgen?«
Noxun schien immer weiter in die Enge getrieben zu werden und wusste nicht, wie er sich helfen sollte.
»Lass mich raten, es hat etwas mit diesem Schlüssel, welcher um deinen Hals hängt, zu tun«, hakte Emren nach.
»Was? Nein! Das ist nur ein gewöhnlicher Schlüssel«, erwiderte Noxun etwas aus der Fassung.
»Gewöhnlich ist nichts auf dieser Welt, aber du umklammerst deinen Schlüssel so fest, dass es etwas damit auf sich haben muss.« Vor lauter Aufregung und Ungewissheit umklammerte Noxun seinen Schlüssel, ohne es zu bemerken. Dies entging Emren nicht. Er war sehr scharfsinnig und hatte eine geschickte Zunge. Noxun wollte das Gespräch in eine andere Richtung lenken und so sagte er: »Du hast recht, es war ein Dolch, doch Unrecht hast du ebenfalls.«
»Unrecht, womit?«, fragte Emren, der nun nicht weiter nach dem Schlüssel fragte.
»Es war kein Mensch, der mir diese Wunde zugefügt hat, sondern …«, er stoppte abrupt.
»Sondern was?«, erkundigte sich Emren, der nun seine Stimme ein bisschen anhob und aufgeregter wurde.
»Ein Elekude.«
Beide starrten sich für eine gefühlte Ewigkeit in die Augen, bis Emren wie wild seinen Kopf schüttelte und voller Argwohn sagte: »Die Wunde an deinem Kopf muss dich verrückt gemacht haben oder du lügst mich an.«
»Du sagtest doch eben selbst, dass nichts auf der Welt gewöhnlich ist. Was mich aber noch mehr wundert ist die Tatsache, dass du in unmittelbarer Nähe des Waldes lebst, aber dennoch keinem begegnet bist.«
»Ich habe den Wald nie betreten, ich bin nicht lebensmüde. Ich lebe zwischen dem Wald und dem Fluss, weil ich allein sein möchte. Hier ist für gewöhnlich niemand, außer Tiere. Noch nie habe ich in all den Jahren einen Menschen auf dieser Seite des Flusses gesehen. Aber ich höre manchmal Stimmen aus dem Wald, manchmal Schreie, manchmal das Weinen eines Neugeborenen, manchmal Wehklagen, aber manchmal höre ich auch nichts«, sagte Emren in einem Flüsterton.
»Du lebst hier ganz allein?«, fragte Noxun verwundert nach. »Hast du denn keine Familie?«, fügte er nach einem Stirnrunzeln hinzu.
»Ich hatte eine Familie«, ein wehleidiger Ausdruck huschte dabei über Emrens Gesicht.
Dies entging Noxun nicht.
»Das tut mir leid, ich wollte keine Wunde öffnen oder sie noch stärker spalten«, entschuldigte sich Noxun demütig. Emren, der nun keine weiteren Fragen stellte, blieb eine Weile sitzen, ohne sich zu regen. Tief in seinen Gedanken verloren, starrte er in die Leere. Wahrscheinlich dachte er an seine Familie, an die Zeiten, an denen alle noch am Leben waren. Oder aber auch an jenen Tag, an dem sie es aushauchten. Sein Blick in diesem Zustand, konnte auf beides hindeuten. Er stand unvermittelt auf und ging bis zur Türschwelle. Draußen schien die Sonne. Es war ein heißer Morgen. Bechermalven blühten in voller Tracht auf der weiten Wiese und verbreiteten einen süßlichen Geruch. Ein anderer Geruch fügte sich dem hinzu, diesen hatte Noxun zuvor nicht vernommen und konnte ihn auch nicht zuordnen. Es war der Duft, den der Wind aus dem Wald La-Hul hertrug. »Genauso schön wie diese Blumen war einst mein Leben. Die Stimmen meiner Kinder waren so klangvoll wie das Zwitschern der Vögel. Meine Frau war wunderschön wie die Sonne, die während sie untergeht, ihre letzten Strahlen auf das Meer wirft und es in ein tiefes Rot hüllt«, dann atmete Emren einmal tief durch und sang:
»Unter der Sonne ist es warm,
ohne dich verfiel ich dem Wahn,
Donner und Blitz brachen über mein Gemüt,
Hass und Zorn, das nun in mir glüht,