Einige von Deutschlands skrupellosesten Finanzbetrügern sind noch lange nach dem Ausbruch der Finanzkrise ungestört auf freiem Fuß - bis sie plötzlich ihren Meister finden und nach Rache gieren. +++ Ein begabter junger Mathematiker der Finanzaufsicht wechselt auf die andere Seite des Gesetzes. Mithilfe eines raffinierten Schneeballsystems bemächtigt er sich Millionen und Abermillionen. Doch er verprasst seinen neugewonnenen Reichtum nicht, vielmehr zählen zu seinen Opfern gezielt nur Finanzbetrüger sowie die Korruptesten unter den Korrupten des internationalen Sportsystems - er verwendet das veruntreute Geld vollkommen uneigennützig. Als ein ungleiches Ermittlerduo diesem modernen Robin Hood auf die Schliche kommt und allmählich Sympathie für seine Verbrechen entwickelt, gerät es ebenfalls ins Fadenkreuz der geprellten Großanleger.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Neo Tell
Ein Wirtschaftskriminalroman
Der Schneeball Neo Tell Copyright: © 2016 Neo Tell published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Die folgende Geschichte und ihre Protagonisten sind frei erfunden. Gleichwohl spielt sie vor dem Hintergrund der Finanzkrise und bisweilen tauchen in ihr Figuren auf, welche trotz anderslautender Namen an weniger rühmliche reale Akteure in diesem oder einem anderen Zusammenhang erinnern mögen. Dies konnte nach Ansicht des Autors dort nicht vermieden werden, wo einzelne Persönlichkeiten über Jahrzehnte beispielsweise eine bestimmte Branche (Finanzvertrieb in Deutschland), einen internationalen Sportverband (FIFA) oder eine Rennserie (Formel 1) in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit derart dominiert haben, dass ihre literarischen Pendants gänzlich unglaubhaft wirken würden, wenn sie nicht zumindest mit einem Teil der biografischen und charakterlichen Merkmale der realen Vorbilder ausgestattet wären. Insofern bedient sich der Autor also im Interesse möglichst realistischer Belletristik der Faktion, das heißt der Verknüpfung von Fakt und Fiktion. Ausdrücklich darauf hingewiesen sei aber, dass nur insoweit eine Anleihe bei der Wirklichkeit gemacht wird, als die Fakten unumstößlich auf dem Tisch liegen; der Rest ist allein des Autors Geistes Kind.
London, Kensington Palace Gardens, Boulevard of Billionaires, teuerste Wohnstraße Englands, vielleicht sogar der Welt.
Alexander Büsking stand auf seinem zur Allee blickenden Balkon, den ein Portikus aus dorischen Säulen trug. An der Balustrade klaffte noch das kunterbunte Wappen der Demokratischen Bundesrepublik Nepal. Büsking hatte das fürstliche Herrenhaus im neoklassizistischen Stil vor anderthalb Jahren dem nepalesischen Botschafter für 18 Millionen Pfund abgekauft – ein Schnapperl, wie er fand, belief sich der durchschnittliche Villenpreis an der 800 Meter langen Milliardärszeile doch zurzeit auf gut 20 Millionen Pfund.
Ein kalter Dezemberwind peitschte dem deutschen Finanzjongleur in der Morgendämmerung unablässig Nieselregen ins Gesicht. Er scannte mit seinen hinter der dicken Hornbrille unruhig hin und her springenden Habichtsaugen das Chaos auf seinem Grundstück.
Armageddon. Es sah aus, als ob ein paar Halunken rund 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal von Pas-de-Calais aus eine Batterie von Wernher von Brauns V2-Raketen in Richtung der britischen Hauptstadt abgeschossen hätten – und diese sämtlich ausgerechnet bei ihm zuhause eingeschlagen wären.
Dort, wo normalerweise die Autos um einen spätbarocken Springbrunnen vorfuhren, welcher der römischen Fontana di Trevi mühelos hatte Konkurrenz machen können, befand sich jetzt ein 12 Meter tiefer Krater. Aus den Untergeschossen des ehemaligen Botschaftsgebäudes transportierten Förderbänder steinige Erde nach oben, die von zahlreichen Arbeitern in Schubkarren verladen und weggeschafft wurde.
Der Bauleiter der Unterkellerungs-Firma London Basement stand neben ihm auf dem Balkon. Es war der 27. Dezember. Auch zwischen den Jahren wurde gearbeitet. Ungefähr 1500 Lkw-Fuhren, so hatte der Mann ihm soeben mit einem schelmischen Lächeln verraten, würden nötig sein, bis genügend Erdreich ausgehoben war, um aus seiner Premiumimmobilie auch noch ein veritables Eisberg-Haus zu zaubern. Jetzt verlangte er von Büsking eine weitere Vorauszahlung. Ca. zwei Millionen Pfund für den nächsten Bauabschnitt.
Büsking bat ihn, ihm zu folgen. Sie gingen durch eine weit geöffnete Flügeltür hinein. Ein langer Flur, der mit natur-romantischen Ölgemälden von William Turner ausstaffiert war, welche Büsking vor Kurzem bei Sotheby’s ersteigert hatte, führte zu seinem Arbeitszimmer.
Anfangs waren seine Pläne noch ganz bescheiden gewesen. Bei einem befreundeten Investmentbanker, von dem er vor einiger Zeit zwecks einer Château Margaux-Vertikaldegustation in sein Brownstone-Townhouse in der Nähe des Chelseaer Sloane Squares eingeladen worden war, hatte Büsking zum ersten Mal ein Eisberg-Haus zu Gesicht bekommen. Der gebürtige Argentinier, Sohn einer der größten Rinderbarone der Pampa und Leiter des Mergers-&-Acquisitions-Geschäfts im Londoner Büro einer französischen Großbank, hatte sich im Wege einer Unterkellerung Platz für einen Weinkeller, einen Golfsimulator, eine Sauna, einen Massageraum, einen Heimkinosaal sowie ein Spiel- und Tobezimmer für seine vier Kinder geschaffen. Ähnlich dezent wollte zu diesem Zeitpunkt auch Büsking noch vorgehen.
Allenfalls hatte er damals neben derartigen Annehmlichkeiten an eine unterirdische Garage für seine Sammlung von Ferrari-Oldtimern gedacht. Denn der Mittfünfziger hatte sich seit seinem 29. Geburtstag jedes Jahr, nachdem die Boni ausgezahlt worden waren, davon einen feuerroten Vintage-Boliden gegönnt. Er liebte dieses Ritual und inzwischen war mithin schon ein respektabler Fuhrpark zusammengekommen.
Doch dann weckte die plötzlich über London gekommene Iceberg-Home-Manie allmählich seinen Ehrgeiz. Überall in Westlondon, wo An- und Ausbauten der in georgianischer, viktorianischer und edwardischer Zeit entstandenen Häuser nicht erlaubt waren, baute man ganze Luxuspaläste in die Erde: in Chelsea, in Knightsbridge, in Kensington, in Notting Hill, in Mayfair, in Belgravia, in Westminster. Flächenmäßig überstiegen diese den überirdischen Teil der Gebäude nicht selten bei Weitem.
Und überall, wo das Portemonnaie ordentlich gefüllt und die Großmannssucht hinreichend hypertroph war, kannte der Erfindungsreichtum keine Grenzen. Unter den Extravaganzen, die sich die nach London in Scharen strömenden Superreichen des Erdkreises für ihre dekadenten Katakomben einfallen ließen, hatte Büsking unter anderem imponiert: der unterirdische Tennisplatz eines durch den IPO seiner Maklerfirma reich gewordenen englischen Immobilienvermarkters, das Below-Ground-Basketballfeld eines in die Jahre gekommenen irischen Rockstars sowie die Unter-Null-Bowlingbahn eines deutschen Industriellen.
Genüsslich hatte Büsking kürzlich über eine Labour-Abgeordnete gelesen, die in ihrem Wahlkreis Westminster in den Keller eines Eisberg-Hauses hinabgestiegen war und sich an das Deck eines Flugzeugträgers versetzt gefühlt hatte. Besonders gefiel ihm auch die Tatkraft eines texanischen Bankiers, der vier Geschosse tief hatte in die Erde bauen lassen, damit sein Untertage-Schwimmbad mit einem Dreimeter-Sprungbrett ausgestattet werden konnte. Sein Favorit aber war der gigantische Underground-Pool eines kanadischen Medienmoguls, dessen Boden auf Knopfdruck automatisch hochfuhr, um sich im Handumdrehen in einen repräsentativen Ballsaal zu verwandeln. Letzteres deshalb, weil es den passionierten Cineasten Büsking immer an eine der finalen Szenen in dem James Bond-Film Goldeneye erinnerte, in der aus einem kubanischen Bergsee das Wasser so lange abläuft, bis eine riesige Satellitenschüssel zum Vorschein kommt.
Er hatte angesichts derartig bombastischen Pomps nicht zurückzustehen vermocht. Schließlich wohnte Büsking in unmittelbarer Nachbarschaft zum britischen Thronfolger im Kensington Palace; ein paar Steinwürfe weiter auf der für den Durchgangsverkehr gesperrten, schwer bewachten Kensington Palace Gardens residierte die saudische Königsfamilie; außerdem hatte der Sultan von Brunei hier seine Londoner Residenz, durch deren sämtliche Fenster goldene Lüster zu sehen waren; des Weiteren zählten zu den illustren Anwohnern der ukrainisch-russische Oligarch Leonard Blavatnik sowie der gebürtige Inder und Stahl-Baron Lakshmi Mittal, seines Zeichens Großbritanniens reichster Mann, welcher seine erste (weitere Zukäufe folgten) Kensington Palace Gardens-Immobilie – nunmehr „Taj Mittal“ genannt – im Jahr 2004 für 57 Millionen Pfund von Bernie Ecclestone erworben hatte; und während der blasierte französische Botschafter sich noch nie dazu hatte herablassen können, Büsking auf der Straße zu grüßen, taten dies unter den dort wohnhaften Botschaftern etlicher anderer Nationen der japanische und russische es erst seit jenem Zeitpunkt nicht mehr, als Büsking trotz ihres Protests mit dem lärmenden Bauprojekt auf seiner Parzelle begonnen hatte.
Büsking selbst dünkte sich als ein Alphatier mindestens vom majestätischen Format seiner Nachbarn. Und als diese ihre Häuser erdwärts zu erweitern begannen, ließ eine Mischung aus Wettbewerbsgeist und Neid seine ursprünglichen Ausbaupläne immer weiter ausufern. Beinahe stündlich wurde es teurer und teurer. Immer spektakulärere Groteskerien fielen ihm ein. Inzwischen war er bei zweitausend neuen Kellerquadratmetern zu deren standesgemäßer Beherbergung angelangt, was bei einem Quadratmeterpreis von 6800 Pfund insgesamt 13.600.000 Pfund Sterling machte – allein für den Rohbau versteht sich. Die verschwenderische Inneneinrichtung und zahllosen coolen, als Füllmasse intendierten Gadgets noch nicht eingerechnet!
Hinter seinem massiven Schreibtisch angekommen, wischte sich Büsking die nassen Brillengläser sauber. Er bat seinen Gast von London Basement, sich auf dem Chesterfield Sofa gegenüber niederzulassen. Die raumhohen Walnussholzregale ringsum ächzten unter der Last tausender antiker Bücher, die von Büsking noch nie aufgeschlagen worden waren und in die er auch niemals einen Blick zu werfen beabsichtigte.
Büsking öffnete sein Online-Account bei Flash Capital, jenem Fondsunternehmen, bei dem er den größten Teil seines liquiden Vermögens investiert hatte.
Auf einmal erschrak er. Eine Ganzkörpergänsehaut machte alsbald kaltem Schweiß Platz. Das konnte einfach nicht sein. Der Kontostand von Alexander Büsking bei Flash Capital betrug null. Statt seines dort eigentlich vermuteten Guthabens von inzwischen rund 27.000.000 Euro fand sich in dem Account bloß eine Nachricht, auf die er sich beim besten Willen keinen Reim machen konnte:
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblass.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar aber ward in selber Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.
Kampen auf Sylt, Hobookenweg, exklusivste Straße der Bundesrepublik, das deutsche Pendant zu Kensington Palace Gardens. Kaufpreis pro Quadratmeter Wohnfläche im aktuellen Marktumfeld: immerhin um die 35.000 Euro.
Kaum eine Stunde bevor Alexander Büsking in die Verlegenheit kam, London Basement um einen Zahlungsaufschub beten zu müssen, hatte sein Freund Fiete Peters sich die neonfarbenen Joggingschuhe in der Diele seines reetgedeckten Wochenendhauses zugeschnürt. Draußen war es zu diesem Zeitpunkt noch stockdunkel gewesen. Seine bezaubernde dritte Frau Nele hatte sich genauso noch im Tiefschlaf befunden wie die fünfjährige Emma und die dreijährige Julia.
Der Hobookenweg lag an der Wattseite der auf dieser Höhe nicht viel mehr als einen Kilometer breiten Insel. Als Peters von dort Richtung westlicher Meerseite durch das noch schlummernde Kampen joggte, erinnerte ihn die Szenerie an J. R. R. Tolkiens fiktiven Literaturort Auenland.
Die sanft geschwungenen Dächer aus Reet schützten im nordisch-insularen Kapitänshaus-Baustil errichtete, in ihrer Gedrungenheit extrem gemütlich wirkende Backsteindomizile vor Wind und Wetter. Peters hätte es ganz und gar nicht überrascht, wenn sogleich eine Kolonie von drolligen Märchengestalten aus den geduckten Behausungen entstiegen wäre und geschäftig den Tag begonnen hätte.
Auf den immensen Reichtum, der sich hier konzentrierte, deuteten allenfalls die in den Einfahrten allerorten parkenden Luxuskarosserien hin, welche zwischen den perfekt getrimmten Hecken bling-blingten.
Die Morgendämmerung setzte ein, während Peters einen Trampelpfad durch die Dünen nahm. An der höchsten Stelle angekommen stellte er dankbar fest, dass der Wind von Norden her blies. Aber auch bei Gegenwind wäre er den Strand am Roten Kliff entlang zum südlichen Ende der Insel gelaufen.
Allmählich ging die Sonne auf. Ein wunderbarer klarer kalter Wintermorgen kündigte sich an. Die Brandung ging leicht. Der Rückenwind beschleunigte seine Schritte auf dem schmalen nassen Strandabschnitt, den die einsetzende Ebbe bereits hinterlassen hatte. Indessen man in dem trockenen Sand weiter oben zu tief einsackte, eignete sich die relativ harte Bodenbeschaffenheit hier ausgesprochen gut zum Laufen. Keine drei Meter von ihm liebkosten die vorsichtig züngelnden Wellen der Nordsee das Land. Muschelschalen knackten jedes Mal, wenn er mit seinen Füßen aufsetzte.
Peters liebte sich und sein fabelhaftes Leben. Gestern noch hatte er einen zweistrahligen Privatjet für 63 Millionen US-Dollar bestellt. Eine Gulfstream G650. 12.964 Kilometer Reichweite. Mit einer Maximalgeschwindigkeit von Mach 0,925 war es das schnellste seiner Klasse. Damit spielte er in der Champions League.
Seit er als mittelloser junger Mann in John Grishams Romanen gelesen hatte, wie die dort durch Sammelklagen in den USA unvorstellbar reich gewordenen Anwälte sich derartige Trophäen leisteten, hatte er sich ein solches Luxusflugzeug gewünscht. Und als ob der Reeder und Initiator zahlreicher Schiffsfonds sich damit noch nicht genug Gutes getan hätte, wartete in den Dünen vor Wenningstedt-Braderup nun noch eine Belohnung ganz besonderer Art auf ihn.
Er bog nach links ab und steuerte auf eine kleine Bretterbude zu. Als Jenny Dumbkowski ihn erkannte, rief sie sofort sehnsuchtsvoll:
„Fieetä, Fieeetää, Morschn!“
Peters hatte die dreiundzwanzigjährige gebürtige Dresdnerin in der letzten Staffel der RTL-Fernsehserie „Der Bachelor“ entdeckt. Die platinblonde, 1,81 Meter große Sächsin war damals unter die letzten drei Kandidatinnen gekommen. Während eines Flirts mit dem braungebrannten „Bachelor“ im Whirlpool hatte die vollbusige Nixe herrlich affektiert von ihrem BWL-Studium in Leipzig und der angeblichen Leidenschaft für Wirtschaftsfragen parliert.
Er rief sie sofort nach Ausstrahlung der Sendung an. Es waren weniger ihre guten Noten als vielmehr ihre optischen Vorzüge, die ihn dazu bewegten, ihr ein Bruttojahresgehalt in Höhe von 96.000 Euro für den Job der Assistenz der Geschäftsleitung zu zahlen. Oder besser gesagt: Für ihre Dienste als seine Kurtisane – er liebte die Bezeichnung „cortigiana“, kam ihm seine Geilheit dann doch immer wie diejenige eines venezianischen Renaissance-Kaufmanns vor, was ihm die Fremdvögelei als etwas durch und durch Ehrbares erscheinen ließ.
„Fieetä, isch muss der edwäsch zeischn.“
„Schhhhhhh.“
Peters ließ sie nicht zu Wort kommen, bevor er das lodernde Feuer zwischen seinen Lenden gelöscht hatte. Er konnte seine verkommenen Finger einfach nicht von ihr lassen. Trotz der klirrenden Kälte – und des für einen Hanseaten gewöhnungsbedürftigen Dialekts – riss er ihr die Kleider vom zitternden Leib.
Sein allmorgendliches Joggingritual war der einzige plausible Vorwand, um vor seiner Familie die Abwesenheit zu rechtfertigen, die das plumpe Schäferstündchen mit seiner verboten heißen Assistentin nun mal verlangte. Zu nachtschlafender Zeit hatte er seine Bettgespielin heute mit seiner Cessna Citation X aus Hamburg einfliegen lassen (die Cessna nahm sich – gebraucht gekauft und mit 15 Flugjahren auf dem Buckel – im Vergleich zu der Gulfstream geradezu wie sozialer Wohnungsbau in der Luft aus). Seine Crew bestach er mit gelegentlichen Gefälligkeiten, damit sie seine Seitensprünge geheim hielt. Bisher hatte das noch immer funktioniert. Außerdem wusste er, dass auf dem Dünenwanderweg, an dem dieser abgelegene Holzverschlag den Passanten Unterschlupf vor einem plötzlichen Regenschauer bieten sollte, nur selten jemand vorbeikam, zumal zu dieser Uhrzeit.
Nach dem ruppigen Sex hing jeder für eine kurze Weile seinen eigenen Gedanken nach. Die Strahlen der Morgensonne fielen in einem solch schrägen Winkel auf die Insel, dass das Dünengras in Flammen zu stehen schien. Peters, der alles durch das Prisma seiner abklingenden Geilheit sah, wähnte sich in einem erbarmungslosen Fegefeuer. Dumbkowski blinzelte, als sie ihm ihr iPhone reichte und noch immer ganz außer Atem sagte:
„Isch wolld es der schön de gansche Zeit zeischn, abar du haschd mer ja nischd de gerinschde Schanzä gelaschn.“
Sie lachte anzüglich. Dann sächselte sie fort:
„Den Göntö bei Fläsch Gäppitäl, es is lärr. Is dasch rischtisch söö?“
Was für eine dümmliche Frage. In Peters Magen fuhr jemand Achterbahn. Er schaute wiederholt auf die App von Flash Capital, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrten. Tatsächlich, sein Kontostand wurde dort mit null angezeigt. Als er gestern das letzte Mal nachgeschaut hatte, hatte da noch die nicht unkomfortable Zahl 78.546.733 Euro gestanden. Jetzt entdeckte er eine Nachricht in seinem Postfach auf der Flash Capital-App. Er blickte auf dieselbe Zeile, die ungefähr zur gleichen Zeit auch Büsking las. Ihm war plötzlich, als ob jemand den Boden unter seinen Füßen weggezogen hätte. Er verzichtet darauf, sich von seiner deflorierten Mätresse zu verabschieden und rannte wie von der Tarantel gestochen zurück zum Hobookenweg.
Seine Frau stand mittlerweile in der mit blauweißen Delfter Fliesen gekachelten Küche und bereitete für ihn das Krabbenrührei mit Schnittlauch vor, das er so liebte. Einen besseren Mann als Peters hätten spätestens jetzt wohl Gewissensbisse heimgesucht. Aber nicht ihn. Er betrog Nele mit erstaunlicher Kontinuität seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren, ohne dass diese auch nur einen blassen Schimmer davon hatte. Und seine Gemahlin war wahrlich nicht die Einzige, die er hinterging.
Nein, das Einzige, was ihn jetzt interessierte, war der Verbleib seines Flash Capital-Geldes. Er holte sein iPhone aus der Jackentasche und wählte ohne seine Laufgeschwindigkeit auch nur einen Deut zu verlangsamen die Nummer seines Freundes Alexander Büsking.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Das kam’s hervor wie Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Was in Gottes Namen hatte das zu bedeuten?
Ammerland am Starnberger See, Südliche Seestraße, der Hobookenweg Süddeutschlands.
Horst Griedl saß in seinem Arbeitszimmer am knisternden Kaminfeuer und hörte seinem sechsundzwanzigjährigen Sohn Alois zu. In der Ecke am Panoramafenster stand einer von vier kolossalen Weihnachtsbäumen des Hauses.
Das Display von Griedls iPhone blinkte auf. Inzwischen summierte sich die Zahl der verpassten Anrufe auf sieben. Die eine Nummer gehörte seinem Amigo und ehemaligen Kollegen bei der Germanischen Bank Alexander Büsking und die andere seinem Kumpel Fiete Peters.
Der fünfundfünfzigjährige Bajuware, dessen gigantischer Körper die Ausmaße eines Allgäuer Braunviehbullen hatte, beschloss, dass die Rückrufe bis nach dem Gespräch mit seinem Sohn warten konnten. Er ließ den Blick schweifen vom schneebedeckten Rasen seines fußballfeldgroßen Seegrundstücks über den Holzsteg am Ufer, das unter dem Eis karibisch-türkisfarben war, hin zu den weißen Gletschergipfeln der Alpen, die sich an diesem kristallklaren Vormittag mystisch am blauen Horizont auftürmten.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll, Papa. McKinsey und BCG hat nicht geklappt, Goldman Sachs hat vor ein paar Tagen geschrieben, die laden mich noch nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein“, resümierte Alois niedergeschlagen das Ergebnis seiner nun schon knapp ein halbes Jahr andauernden Bewerbungsbemühungen.
Der Vater machte sich keine Illusionen darüber, was sein Sohn zu leisten imstande war. Es hatte vor fünf Jahren exorbitanter Spenden bedurft, damit Alois an der renommierten Vallendarer Privathochschule WHU zum Studium der Betriebswirtschaftslehre angenommen wurde. Vergangenen Sommer hatte Alois es dann, wie sein Abitur zuvor auch schon, nur mit Ach und Krach zu Ende gebracht. Seitdem war er recht erfolglos auf Jobsuche. Wie alle WHUler wollte er entweder zu einer der zwei, allenfalls drei Top-Unternehmensberatungen (Roland Berger fiel da gegenüber McKinsey und der Boston Consulting Group schon ab) oder zu einer – möglichst angelsächsischen – Investmentbank oder – was besonders en vogue unter den Elitestudenten war – sein eigenes Unternehmen gründen.
„Was willst du denn am liebsten machen?“ fragte der Vater.
„Am liebsten ein Startup gründen. Erstmal nirgendwo als Arbeitnehmer anfangen. Erstmal reisen. Den Kopf freikriegen. Eine Geschäftsidee entwickeln.“
Horst Griedl hatte diese Antwort antizipiert, als er vor einigen Wochen das heutige Gespräch mit seinem Sohn im Geiste durchgespielt hatte.
„Ist das nicht ein Vorwand, um nicht arbeiten zu müssen? Eine andere, elegantere Art mir zu sagen, dass du einfach keinen Bock hast?“
Der Vater wirkte bierernst, als er dies zu seinem Sohn sagte. Alois reagierte daraufhin verschnupft. Er riss die Arme ungläubig hoch und schnaufte trotzig.
Einige Zeit verstrich in Stille. Alois fühlte sich sichtlich unwohl. Dann erschien plötzlich doch noch ein versöhnliches Lächeln auf Horst Griedls derbem Antlitz. Es verriet, dass alles nur ein Spaß gewesen war. Aufmunternd sagte er:
„Wie heißt noch mal der Absolvent eurer Uni, der in Berlin mit seinem Inkubator Rocket Internet ein Internet-Startup nach dem anderen hochzieht und kurz darauf versilbert? Oliver Samwer? Was hältst du davon, wenn wir beiden unseren eigenen kleinen Inkubator gründen? Wir es den Saupreiß mal zeigen?“
Alois Antlitz hellte sich merklich auf. Seine giftgrünen Augen begannen auf einmal wie zwei weintraubengroße Smaragde im Licht des Kaminfeuers zu leuchten, als sein Vater fortfuhr:
„Wie du weißt, habe ich während meiner Karriere bei der Germanischen Bank ausgezeichnet verdient. Die Finanzkrise führte dazu, dass ich kündigte. Ich habe somit jede Zeit dieser Welt.“
Nach Alois Kenntnisstand hatte sein Vater hochspekulative Finanzprodukte an Kämmerer diverser Kommunen verscherbelt. Während seine Bank und er in der Tat vortrefflich an den Provisionen verdient hatten, trieb es die ein oder andere deutsche Stadt beim Ausbruch der Krise an den Rand des Bankrotts. Die negative Berichterstattung der Medien hierüber hatte den Vorstand der Germanischen Bank veranlasst, seinem Vater die Kündigung nahe zu legen.
„Für mein Geld habe ich vor einiger Zeit eine äußerst rentable Anlage gefunden: Einen Fonds namens Flash Capital. Das Startkapital in Höhe von acht Millionen Euro hat sich inzwischen vervierfacht. Wir haben also auch jedes Spielgeld dieser Welt. Lass uns was Eigenes machen!“
Als Horst Griedl fertig mit seinem Vorschlag war, stellte er befriedigt fest, dass Alois Feuer und Flamme für die Idee zu sein schien. Er genoss es, wie sein Sohn ihn jetzt gerade ohne Einschränkungen und Vorbehalte bewunderte. Die Griedls waren Gewinner, und er würde dafür sorgen, dass es bei seinem Sohn nicht anders war. Nur weil sein einziges Kind akademisch vielleicht nicht der Beste war, bedeutete dies nicht gleichzeitig, dass er am Ende des Tages nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen würde.
„Komm her Alois, ich zeige dir den Stand meines Kontos bei Flash Capital.“
Alois stand auf und folgte seinem Vater hinter den Mahagonischreibtisch zum Computer. Als Horst Griedl online sein Account öffnete, erschrak er.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Er wusste nicht, was ihn mehr schmerzte, der Verlust seines Geldes oder das ungute Gefühl, vor seinem Sohn wie ein windiger Hochstapler dazustehen.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand;
Das kam’s hervor wie Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Jetzt hatte er eine leise Ahnung davon, warum seine beiden Freunde aus der gemeinsamen Studienzeit in Münster, Alexander Büsking und Fiete Peters, so dringend mit ihm sprechen wollten.
Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblass.
Neben dem LIBOR-Manipulator Büsking in London, dem Schiffsfonds-Initiator Peters auf Sylt und dem Croupier der deutschen Kämmerer Griedl am Starnberger See stellten zwischen Weihnachten und Silvester noch weitere dubiose Gewinnler des globalen Finanz- und Sportsystems fest, dass sie mit ihrer Geldanlage bei Flash Capital einem Betrüger auf den Leim gegangen waren. Darunter: ein Hannoveraner Drückerkönig in seiner spektakulären Finca in Port d’Andratx, Mallorca; ein Essener Steuerberater und Organisator von Cum-Ex-Trades in seinem Hide-Away-Chalet in Zermatt; ein Genussschein-Verkäufer eines bankrotten Windkraftanlagenunternehmens in seinem barocken Lustschlösschen auf einem Privateiland nahe Potsdam; ein ehemaliger Landesbanker in seinem Cottage tief in der Naturpark-Idylle der sächsischen Schweiz; der Hausbanker der Warlords am Zuger See; ein zweifacher deutscher Fußballweltmeister im Tiroler Oberndorf; der Präsident der FIFA im Wallis; zwei Vertreiber geschlossener Immobilien-, Erneuerbare-Energien- und Flugzeugfonds im paraguayischen Dschungel; der dekadente Patriarch eines adligen Banker-Clans auf dem weitläufigen Familiengestüt im Kölner Speckgürtel; der Betreiber eines Umsatzsteuer-Karussells in seinerm Serail auf der künstlichen Palmeninsel vor Dubai; ein sogenannter Kunstberater in seinem Oberkasseler Townhouse in Düsseldorf; und last but not least ein kleptomanischer britischer Rennserien-Impresario in Fort Lauderdale, Florida.
Alle fanden sie, statt ihres Geldes, dieselben merkwürdigen Reime in ihren Online-Accounts bei Flash Capital vor:
Die Magier kamen, doch keiner verstand
zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar aber ward in selber Nacht
von seinen Knechten umgebracht.
Vielleicht hätte Rosa Peters es tunlichst vermeiden sollen, in die fensterlose, im Innern des alten Speichergebäudes liegende Teeküche zum Kaffeeholen zu gehen, während sie mit ihrem Vorgesetzten Sebastian von Schirach an diesem 27. Dezember nachmittags alleine in dem Loftbüro war. Und vielleicht hätten bei ihr spätestens dann die Alarmglocken schrillen müssen, als aus den in sämtlichen Räumen befindlichen Lautsprechern Weihnachtsmusik verdächtig laut zu spielen begann.
Doch die attraktive Einunddreißigjährige war eine von Grund auf optimistische, fröhliche und lebensbejahende Person, der dunkle Gedanken für gewöhnlich fernblieben. Und so kam es, dass sie unbekümmert bei „Last Christmas“ von Wham! mitsingend Arabica-Bohnen in den Kaffee-Vollautomaten nachfüllte, bis zwei schwielige Männerhände ihre schlanken Hüften umfassten. Im nächsten Moment schon drückte sich ein erigierter Phallus durch eine Jeans an ihren Schurwollrock.
Sie erschrak. Als sie sich ruckartig umdrehte, verschüttete sie die Hälfte der Kaffeebohnen.
Es war von Schirach, der Leiter der Abteilung investigative Recherche beim homo oeconomicus, dem sie direkt unterstellt war. Sie arbeitete für das Wirtschaftsmagazin nunmehr schon seit etwas über einem Jahr auf der Basis eines revolvierenden Praktikantenvertrags. Auf der Weihnachtsfeier im vergangenen Jahr kannte sie nach kaum einer Woche dort noch niemanden. Von Schirach war ein gut aussehender belesener Mann und sie war seinem Charme nach ein paar Gin Tonics erlegen gewesen. In der Hoffnung, dass niemand sie zusammen sehen würde, hatten sie sich damals mit etwas zeitlichem Abstand von der Party wegstibitzt. Erst als von Schirach sich nach zwei Stunden in ihrem Bett heimlich davonmachen wollte und sie ihn dabei erwischte, hatte Rosa von ihm kleinlaut erfahren, dass er verheiratet und Vater zweier Töchter war.
Angewidert angesichts von Schirachs Untreue und verärgert darüber, sich selbst dafür bereitwillig als Mittäterin hergegeben zu haben, erstickte sie seine zahlreichen Annäherungsversuche in den folgenden Monaten bereits im Keim. Irgendwann hörte er schließlich mit den mehr oder weniger subtilen Avancen auf. Sie hoffte, damit die unappetitliche Affäre für immer ad acta legen zu können. Ein großer Irrtum, wie sich jetzt herausstellte, als sie sich vergeblich aus seinem Griff zu befreien versuchte. Sie bekam Angst, verbarg dies aber, indem sie es mit entwaffnendem Witz probierte:
„Es entbehrt mit unserer gemeinsamen Historie nicht einer gewissen Ironie, wenn ich hier in deiner unvermuteten Anwesenheit mit Wham!‚ Last Christmas I gave you my heart. But the very next day you gave it away‘ singe, findest du etwa nicht, Sebastian?“
Hämisches Gelächter. Von Schirachs Atem roch nach Alkohol und ging flach in ihrem Nacken, sodass ihr ein eiskalter Schauer den Rücken herunterlief.
Er säuselte: „Last Christmas you gave me your pussy. But the very next day you took it away.”
Rosa war jetzt vollends alarmiert. Irgendetwas war heute anders. Von Schirach schien sich so lange an seinem Schreibtisch Mut angetrunken zu haben, bis er sich schließlich in diesen Zustand völliger Triebsteuerung katapultiert hatte. Sie ärgerte sich darüber, dies nicht früher bemerkt zu haben. Gleichzeitig musste sie sich zwingen, nicht in Panik zu verfallen.
„Sei nicht albern, Sebastian.“
Rosa nannte ihn nun schon zum zweiten Mal beim Vornamen, um sich auf diese Weise womöglich unterbewusst sein Wohlwollen zu erschleichen. Unter dem Ablenkungsmanöver eines taktischen Lachens versuchte sie ein weiteres Mal mit aller Kraft, der Zange zwischen von Schirachs andrängendem Leib und der Küchentheke zu entkommen. Keine Chance. Seine Hände wanderten jetzt ihren Rock herunter und zogen ihn am Saum hoch. Sie schrie:
„Stopp Sebastian, ich will das nicht!“
Krampfhaft bot sie Widerstand, der jedoch Wachs in von Schirachs mehrmals wöchentlich im Fitnessstudio gestählten Armen war. Ihr 1,72 Meter großer zierlicher Frauenkörper war nichts weiter als ein Spielball in den Händen des brünstigen Eins-neunzig-Hünen.
„Das ist Vergewaltigung. Hör damit sofort auf!“
Von Schirach hechelte seine Antwort, als er ihr die Strumpfhose samt Slip herunterzog:
„Ach ja, was meinst du, wer dir glauben wird, Schlampe? Hast du schon vergessen, dass wir es schon einvernehmlich getrieben haben und die halbe Belegschaft davon weiß?“
Er riss jäh an ihren Haaren und gab nicht nach. Rosa musste ihren Kopf in den Nacken gelegt halten, um den ohnehin schon kaum aushaltbaren Schmerz nicht noch zu verstärken.
„Rennst du zu den Bullen oder sonst wohin, sage ich einfach, dass du mich heute verführt hast, als wir hier alleine zwischen den Jahren gearbeitet haben; dass du ganz heiß auf mich gewesen bist; dass du dich erst dann dazu entschlossen hast, mir eine in Wirklichkeit niemals geschehene Vergewaltigung anzuhängen, als ich reumütig zurück zu meiner wunderbaren Frau wollte; dass du dich schlichtweg nicht mit dem Umstand hast abfinden können, niemals mit mir zusammen sein zu können; dass du ein bemitleidenswertes kleines Ding bist und es keine Sekunde alleine in deinem miserablen WG-Zimmer aushältst.“
Lüstern flüsterte er ihr jetzt seine ernüchternde Schlussfolgerung ins Ohr:
„Dann steht nämlich Aussage gegen Aussage, Prinzessin. Kannst du dich daran erinnern, wie dieser ARD-Wetterfrosch damit gefahren ist? Ganz zu schweigen davon, dass du einen langen und teuren Prozess durchstehen musst, während deine Karriere brachliegt und langsam zerbröckelt.“
Rosa schäumte vor Wut. Verzweifelt schmiss sie mit einer weit ausholenden Armbewegung alles um, was vor ihr auf der Theke stand. Der dadurch verursachte Krach wurde von der lauten Musik beinahe vollständig verschluckt.
„Nur zu, schmeiß alles um, du Furie. Ich sag einfach, dass du rauen Sex wolltest und dich dabei komplett vergessen, dich ganz purer Leidenschaft überlassen hast.“
Trotzig ruderte sie weiter mit den Armen. Eine Tasse fiel zu Boden und zerbrach. Eine Lache von Milchkaffee breitete sich aus. Jetzt drückte von Schirach sie nieder. Rosa lag auf einmal bäuchlings im kalten Milchkaffee auf den Porzellanscherben. Über ihr der zwei Zentner schwere von Schirach. Der Schmerz wuchs ins Unerträgliche. An Bewegung war schon deshalb nicht mehr zu denken, weil die scharfen Kanten des Porzellans riesige Schnittwunden reißen würden.
Sie schrie wie am Spieß.
Gewaltige Mengen Adrenalin schossen ihr in die Adern. Ihr Verstand raste. Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass sie kurz davor stand, Opfer einer grausamen Vergewaltigung zu werden. Ihr Hinterteil war entblößt und wenn sie sich nicht täuschte, öffnete von Schirach gerade seinen Hosenschlitz. Sie bereute, heute keine ihrer hautengen Skinny Jeans angezogen zu haben. Vielleicht hätte sie es ihrem Peiniger dadurch einen Deut schwerer gemacht, der die Teeküche für sein Verbrechen perfekt ausgewählt hatte.
Es war mit Ausnahme der Toiletten der einzige Ort in dem Loft, an dem niemand sie aus den alten Speichergebäuden am Brooksfleet auf der einen und aus den Neubauten am Sandtorkai auf der anderen Seite beobachten konnte. Die laute Musik übertönte jedes Geschrei. Hinzu kam, dass ein plötzlich auftauchender Kollege äußerst unwahrscheinlich war. Die paar, die keinen Urlaub zwischen Weihnachten und Neujahr genommen hatten, waren bereits zur frühen Mittagszeit nach Hause gegangen.
Nie hätte sie sich träumen lassen, dass dies eines Tages tatsächlich passieren würde. Sie hatte über zahlreiche Vergewaltigungen tiefer gehend gelesen. Dieses Verbrechen war so alt wie die Menschheit selbst. Stets hatte sie sich geschworen, sich die Seele aus dem Leibe zu schreien und zu kämpfen bis zum Schluss. Aber ihre Kräfte schwanden. Die Handgelenke schmerzten. Sie ächzte unter dem gewaltigen Gewicht des von Schirach. Zudem war der Mann stark wie ein Stier. Ihr Wille brach. Leise weinend ergab sie sich ihrem Schicksal und hoffte inständig, dass es nur bald vorbei sein würde.
„Was hat das zu bedeuten ‚Belsazar aber ward in selber Nacht von seinen Knechten umgebracht‘?“, fragte Alexander Büsking seinen Freund Fiete Peters hoch oben in den Wolken über der City. Die Tonalität geriet ihm alles andere als freundlich.
Es war diesig und regnete noch immer leicht in London. Von ihrem Fenstertisch im 40. Stockwerk des Heron Towers konnten sie wegen des schlechten Wetters kaum Themse und umstehende Wolkenkratzer erkennen.
„Das ist aus einer Ballade von Heinrich Heine, du literarischer Analphabet, du schamloser Kulturbanause.“
„Ach, weiß ich doch selber, dass das eine Heine-Zitation ist, du Arsch. Ich hab mein Abitur mit 1,0 gemacht. Kenne die Hälfte der Klassiker der deutschen Literatur noch heute auswendig. Nein, ich meine: Was will man uns damit sagen? Ist das eine Morddrohung?“
„Blaff mich nicht so an, Alexander. Mir ist auch nicht gerade danach zumute, bei Moët & Chandon in der Champagne anzurufen und quer durch die Nordsee eine Dom Pérignon-Pipeline nach Sylt legen zu lassen.“
Büsking musste lachen. Offensichtlich hatte sein Buddy trotz der misslichen Lage den notorischen Appetit des Investmentbankers für derben und stumpfen Humor noch nicht verloren. Er gluckste:
„Und das ganze West Stream zu nennen, Gerhard Schröder als Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft mit einem Jahressalär von sieben Millionen Euro einzusetzen und so zu tun, als habe das nicht den geringsten politischen Hintergrund und geschähe das allein um der Management-Qualitäten des Altkanzlers wegen?“
Schallendes Gelächter. Sie saßen im Duck & Waffle und aßen ungefähr zur gleichen Zeit, zu der Rosa Peters in Hamburg Opfer einer Vergewaltigung wurde, ein zweites Frühstück. Fiete Peters hatte eine 50-Pfund-Note Schmiergeld gezückt und dem Personal am Empfang zugesteckt, um nachmittags noch an ein English Breakfast zu kommen. Vor noch nicht einmal einer Stunde war er mit seiner Cessna Citation auf dem London City Airport gelandet. Seinem Piloten hatte er beim Verlassen des Jets mitgeteilt, dass er nach seiner Unterredung mit Büsking umgehend zurück nach Sylt fliegen wollte.
„Ich denke“ – Peters gab nur widerwillig eine Antwort auf Büskings Eingangsfrage – „dass das eher metaphorisch zu verstehen ist. Man will uns nicht tatsächlich umbringen, sondern uns nur unser Vermögen nehmen, uns sozusagen in unserer Eigenschaft als vermögende Person annullieren.“
„Aber wieso? Wenn ich mich recht entsinne, hat Belsazar in Heines gleichnamiger Ballade Gotteslästerung betrieben:
‚Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und ruft laut mit schäumendem Mund:
Jehova! dir künd ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon! ‘
Was haben wir mit derlei Blasphemie zu schaffen?“
„Das meinst du nicht im Ernst, Alexander, oder?“
Sie waren Freunde seit dem gemeinsamen Studium der Betriebswirtschaftslehre in Münster. Peters wartete ab, bis die junge Kellnerin ihm Kaffee nachgeschenkt hatte. Das tat er nicht, weil er die blutjunge Latina nicht an ihrem Gespräch teilhaben lassen wollte, sondern vielmehr, weil ihr abyssisches Dekolleté seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als sie sich Gästen am Nebentisch zuwandte, fuhr er fort:
„Denk doch mal nach! Welche Leichen liegen bei dir im Keller? Wo kommt das Geld her, mit welchem du dir gerade dein Eisberg-Haus baust mitten im Babylon des 21. Jahrhunderts? Wie viel Zeit ist denn verstrichen, seitdem du dich selbst zum Gott über die Finanzmärkte aufgeschwungen hast? Soll ich das wirklich ausführen?“
Büsking winkte ab. Das brauchte sein Freund nicht zu tun. Schweigend aß er seine Colombian Eggs mit Avocado auf und dachte dabei über seine kometenhafte Karriere nach.
Schon als kleines Kind hatte er, der Sohn eines ostwestfälischen Landwirts, welcher mit seinem Hof im Bielefelder Umland eher schlecht als recht über die Runden gekommen war, nicht verlieren können. Während Büskings BWL-Studiums an der westfälischen Wilhelms-Universität bescherte ihm eine gewisse mathematische Begabung gepaart mit der Fähigkeit, stupide PowerPoint-Slides auswendig zu lernen, Traumnoten. Schließlich verhalf ihm sein gutes Aussehen zu einem Auslandssemester an der berühmten London School of Economics, indem er der Leiterin der Auswahlkommission den Kopf verdrehte.
Ins Berufsleben startete er auf dem Trading Floor der Germanischen Bank in der City of London. Doch schon bald musste der bisher so erfolgsverwöhnte Berufsanfänger feststellen, dass es für gewöhnliche Derivatehändler am Kapitalmarkt kein Erbarmen gab. Man konnte in dem einen Moment gigantische Summen verdienen, nur um im nächsten alles wieder zu verlieren.
Irgendwann fiel ihm auf, dass Mitarbeiter seiner Bank die Höhe des Referenzzinssatzes LIBOR zusammen mit anderen Banken selbst bestimmten. Und dass der LIBOR wiederum für die Entwicklung der Kapitalmarktpreise verschiedener Finanzinstrumente verantwortlich war. Stellte man es also richtig an, war das Reichwerden nicht mehr aufzuhalten, weil man schon im Vorhinein wusste, ob bestimmte Kurse steigen oder fallen würden. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er in diesem Augenblick der Klarsichtigkeit spürte, dass er sich fortan wieder auf der Siegerstraße befinden würde.
Mit deutscher Gründlichkeit schuf und orchestrierte er ein Kartell, das die internationalen Medien später, als es in 2012 aufflog, „French Connection“ tauften. Letzteres deshalb, weil die daran aus seiner und anderen Banken beteiligten Banker in ihren Emails untereinander auf Französisch kommunizierten, um die zu der Zeit nur auf auffällige englische Begriffe abstellenden automatischen Suchprogramme der britischen Finanzaufsicht zu umgehen.
Das Prinzip war einfach: Der LIBOR (London Interbank Offered Rate) sollte idealtypisch dem Zinssatz entsprechen, zu dem sich Banken am Finanzplatz London untereinander Geld leihen konnten. Arbeitstäglich erfolgte die Fixierung des LIBOR dergestalt, dass die in London international tätigen Banken der British Bankers’ Association den Zinssatz meldeten, zu dem sie sich vermeintlich Geld von anderen Banken borgten. Der britische Bankenverband bildete sodann einen Durchschnittswert, den LIBOR. Die bei den jeweiligen Banken für die Mitteilung zuständigen Geldhändler wurden nun von den eingeweihten Derivatehändlern ihres jeweiligen Bankhauses bestochen, damit sie je nach Wunsch der „French Connection“ zu hohe oder zu niedrige Sätze angaben. Die Manipulation des LIBOR war perfekt.
Da es weltweit üblich war, die Höhe der Zinsen von Sparguthaben und Krediten, aber auch von diversen anderen Finanzprodukten an den LIBOR zu koppeln, zählten zu den Geschädigten der Verschwörung unter anderem vor allem Gläubiger, die bei einem nach unten hin manipulierten LIBOR zu geringe Haben-, sowie Schuldner, die bei einem nach oben hin verschobenen LIBOR zu hohe Sollzinsen verzeichneten. Betroffen war vom Sparer über den kleinen Häuslebauer bis hin zum Unternehmer also fast jeder.
Aber das war Büsking schnuppe. Denn unter diesen Vorzeichen war das Trading von Termingeschäften auf den Drei- und Sechs-Monats-LIBOR regelrecht eine Goldgrube. In seinem Rekordjahr allein machte er für sein Bankhaus einen legendären Gewinn von Pi mal Daumen 300 Millionen Euro. Selbstredend wanderte davon ein beträchtlicher Teil in Gestalt eines saftigen Bonus in seine eigene Tasche.
Inzwischen wurden von den Aufsichtsbehörden gegen die beteiligten Banken, darunter neben Büskings eigener Bank unter anderem Barclays, die Royal Bank of Scotland und die UBS, Milliardenstrafen verhängt. Vor dem Hintergrund, dass nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weltweit Finanzprodukte im Wert von mehr als 500 Billionen Euro am LIBOR hingen, war auch mit einer Welle zivilrechtlicher Verfahren zu rechnen, gleichwohl die Beweisführung sich hier als schwierig gestalten dürfte. Ferner sahen sich einige Mitverschwörer bereits persönlicher Strafverfolgung ausgesetzt.
Büsking jedoch, der nach dem Auffliegen des Kartells in 2012 bei der Germanischen Bank gekündigt hatte, blieb weiterhin unbehelligt. Niemand von der Finanzaufsicht oder Staatsanwaltschaft klopfte bei ihm an. Niemand stellte unangenehme Fragen. Stets hatte er im Gegensatz zu seinen Mittätern peinlich genau darauf geachtet, keine Spur zu hinterlassen. Stets hatte er sich wie in diesem Traum gefühlt, in dem man einen Mord begangen hatte und davor zitterte, von der Polizei als der Mörder enttarnt zu werden. Und jetzt war es geschehen, irgendein Möchtegern-Gott, irgendeine kackfreche autodeifizierende Götze maßte sich an, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.
Zwischen Rosa Peters eiskalten Beinen lief das viskose Sperma ihres Vergewaltigers lauwarm herab. Sie ging vornübergebeugt, weil ihr Unterleib schmerzte. Es dämmerte. Das Thermometer einer Apotheke, an der sie vorbeikam, zeigte minus sechs Grad Celsius an.
„Nimm die Pille danach“, hatte von Schirach ihr noch gebieterisch zugeraunt, als er kaum eine halbe Stunde zuvor den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochzog. Danach war er in sein Büro gegangen, hatte seinen Kamelhaar-Wintermantel geholt und sich zu seiner jungen Familie aufgemacht, die in einer geräumigen Harvestehuder Patrizierwohnung mit viereinhalb Meter hohen Decken am Kamin auf ihn wartete.
Rosa wusste nicht wohin als nach Winterhude, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit drei anderen jungen Journalisten eng zusammengepfercht lebte. Von der Speicherstadt in der Hafencity kommend durchquerte sie zu Fuß die noble Einkaufsstraße Neuer Wall, um unter Leuten zu sein. Doch die quirligen Menschenmassen, die in den edlen Geschäften ihre Weihnachtsgeschenke umtauschten oder Bargeschenke in Sachwerte umwandelten, verstärkten ihr Gefühl der Einsamkeit nur noch.
Auf der Höhe der Schleusenbrücke wechselte sie zu den parallel verlaufenden Alsterarkaden. Unter diesen kämpfte sie sich durch die Kälte zum Jungfernstieg vor, dann am Rathaus vorbei auf dem Laternen beschienenen Ballindamm die zugefrorene Binnenalster entlang, bis sie schließlich mit schlotternden Knien auf der Kennedybrücke stand. Die eisbedeckte Außenalster lag nun mit ihrer ganzen Pracht im amethystfarbenen Glast der Dämmerung vor ihr.
Am gegenüberliegenden Ufer ungefähr zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt flimmerten die Lichter von Winterhude. Der an der nördlichen Spitze des berühmten Stadtgewässers kauernde Stadtteil war inzwischen nur noch schemenhaft im Halbdunkel zu erkennen.
Rosa betrat das Eis.
Die Eisschicht war dünn. Zu dünn. Zwar hatten die Alsterdampfer ihre Punschfahrten mittlerweile eingestellt, womit die Alsterschifffahrt endgültig zum Erliegen gekommen war. Aber erst wenn an 50 Messstellen auf der Alster 20 cm geschlossenes Kerneis gemessen wurde, gab die Stadt die offizielle Freigabe, woraufhin bis zu einer Million Menschen die Eisfläche zum Flanieren, Schlittschuhlaufen oder Glühweintrinken in Beschlag zu nehmen pflegten. Für eine Eisschicht derartiger Dicke bedurfte es in der Regel eines starken Frosts von mindestens zweiwöchiger Dauer. Das Thermometer hatte allerdings erst seit drei Tagen mehr oder weniger kontinuierlich deutlich unter null gelegen. Dicker als ein paar Zentimeter konnte die Eisschicht kaum sein.
Weit und breit war niemand auf dem Eis zu sehen. Dass man es überhaupt betreten konnte, hatte Rosa heute Morgen aus dem öffentlichen Bus auf dem Weg zur Arbeit gesehen. Ein paar todesmutige Halbwüchsige hatten sich von der Alsterwiese Schwanenwik aus auf den schilfbewachsenen flachen Uferbereich des Stadtsees hinausgewagt. Das Eis hatte sie getragen. Keineswegs war dies jedoch eine Garantie dafür, dass es auch für eine Erwachsene und außerhalb des Uferbereichs dick genug sein würde.
Zwar wusste Rosa um die Gefahr, der sie sich aussetzte. Mitnichten war sie jedoch lebensmüde. Sie trieb es trotzdem aufs Eis, weil sie glaubte, nur damit Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit wachrufen zu können. Mit deren Hilfe wollte sie das soeben Geschehene aus ihren Gedanken ein für alle Mal tilgen.
Das letzte Mal war die Alster 2012 so fest zugefroren gewesen, dass die Stadt das Eis für das Volksfest freigegeben hatte, welches die Hamburger Alstereisvergnügen nannten. Jene märchenhaften Stimmungen waren wieder einmal entstanden, die den Bürgern Hamburgs keine Zweifel daran ließen, dass sie in der schönsten Stadt der Welt lebten. Überall an den Ufern wurden Buden aufgestellt, die Glühwein, warmen Kakao, heiße Maronen, Bratwürste und allerhand anderes feilboten. Wo ansonsten Boote an den Stegen der zahlreichen Ruderhäuser und kleinen Marinas anlegten, sammelten sich Menschentrauben. Aus manchem Lautsprecher ertönte Musik und das Eis wurde zur Tanzfläche. Anstatt den Landweg zu wählen, nutzten die Hamburger fortan die zugefrorenen Fleete und Kanäle, um zu Fuß, in Schlittschuhen oder auf von ihren Hunden gezogenen Schlitten zur Alster zu gelangen. Obwohl offiziell untersagt, konnte man frühmorgens den einen oder anderen Eissegler erspähen, wie er im Sonnenaufgang nahezu lautlos über die leere Eisfläche schoss.
Vor 2012 hatten die Buden sogar mitten auf dem Eis gestanden. Als kleines Mädchen war Rosa mit ihren Eltern in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Schlittschuhen durch ganz Hamburg gefahren. Seitdem liebte sie dieses Venedig des Nordens abgöttisch. Doch die Erinnerung daran konnte ihren Ekel nicht vertreiben.
Sie war inzwischen schon eine gute Viertelstunde mitten auf dem Eis unterwegs. Es knackte zwar ab und an gespenstisch, hielt ihrem Gewicht aber stand.
Plötzlich war ihr speiübel. Rosa fasste sich unwillkürlich an ihren Bauch, wo die Kleidung unter der Jacke pitschnass von der Milchkaffeelache war, in der sie während der unsäglichen Tat gelegen hatte. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Als sie wieder aufblickte, erkannte sie, dass sie sich genau vor dem Eingang zum Uhlenhorster Feenteich befand. Etwas zog sie dorthin. Sie unterquerte eine Brücke und befand sich bald auf dem im Verhältnis zur Alster kleinen Oval aus Eis.
Ringsherum standen zumeist weiße Patrizierhäuser, die genauso von vergangenem wie von neuem Reichtum der Kaufmannschaft der Hafenstadt sprachen. Die großzügigen Gärten reichten hinunter bis zur hölzernen Spundwand des Feenteichs. Auf dem Steg eines Privatanlegers sah sie einen Mann rauchen, der ihren Spaziergang auf dem dünnen Eis offensichtlich missbilligte, jedenfalls folgerte Roas dies aus seinem langsamen Kopfschütteln. Durch die raumhohen Fenster der Villen konnte sie einen Blick in die hell erleuchteten Zimmer auf die üppig geschmückten Weihnachtsbäume des Großbürgertums erhaschen.
Eine wehmütige Stimmung befiel sie und ertränkte für einen kurzen Moment die Abscheu davor, dass sie noch immer das Stakkato von von Schirachs schmerzhaften Stößen in ihrem Unterleib zu spüren glaubte. Sie selbst hatte einmal zu diesem Großbürgertum gehört, war noch immer Tochter eines berühmten Hamburger Reeders, Schiffsfondsinitiators und Senators. Als Absolventin der Bucerius Law School war sie zwei Jahre lang angestellte Anwältin mit besten Karriereaussichten im Hamburger Büro einer großen US-amerikanischen Wirtschaftskanzlei gewesen.
Doch dann hatte sie sich mit ihrem Vater zerstritten und alsbald auch mit dem Rest der Familie gebrochen.
Warum?
Eines Tages hatte sie im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihn gewartet und hatte dabei aus Langeweile durch einen auf dem Schreibtisch liegenden Stapel Verträge geblättert. Mit einem Schaudern realisierte sie, dass ihr Vater seine Anleger systematisch betrog. Sie konfrontierte ihn damit, er wiegelte ab, forderte ihre bedingungslose Loyalität, appellierte an ihren Familiensinn, rief ihr in Erinnerung, wie auch sie zeit ihres Lebens von seinem Geld profitiert und feudal gelebt hätte.
Der Streit war heftig, aber letzten Endes versprach sie ihm, niemandem davon zu erzählen. Um trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können und weder direkt noch indirekt aus den illegalen Machenschaften ihres Vaters Vorteile zu ziehen, mied sie ihren Vater und seine neue Familie, nahm keinen Cent mehr von ihm an. Ihren gut bezahlten Anwaltsjob hängte sie kurz drauf ebenfalls an den Nagel, hatte man sie dort doch vor allem auch deshalb so gern eingestellt, weil ihr Vater einer der größten Mandanten der Kanzlei war.
Mit einer Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie rückblickend bisweilen heute noch in Erstaunen versetzte, hatte sie sich seit zwei Jahren nun komplett dem investigativen Wirtschaftsjournalismus verschrieben. Wenn sie es schon nicht übers Herz brachte, ihren Vater der gerechten Strafe zuzuführen – so die Logik ihres Ablasshandels –, wollte sie zumindest dafür Sorge tragen, dass anderen Schuften in der von Schuften nicht gerade armen Wirtschaftswelt das Handwerk gelegt wurde.
Aber wohin hatte sie das gebracht?
Diese Frage hämmerte geradezu unerbittlich auf die feinfühlige Klaviatur ihrer zarten Seele, als in Rosas Tasche etwas vibrierte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und las darauf die folgende Textnachricht:
Liebe Rosa, dass es eben noch einmal zwischen uns zum Sex gekommen ist, bereue ich sehr. Nicht nur, weil ich meine Frau betrogen habe, sondern auch, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen, ich dich nicht verletzten will. Nicht zuletzt um deinetwillen muss es bei dem bleiben, worum ich dich kurz zuvor so nachdrücklich gebeten habe: Lass uns mit den Frivolitäten um Gottes Namen aufhören! Ich flehe dich an! Ich bin sicher, dass du bald ebenfalls jemanden finden wirst, mit dem du glücklich sein kannst, jedenfalls hoffe ich das inständig!
Sie schäumte vor Wut. Was für eine zum Himmel schreiende Farce! Rosa durchschaute von Schirachs mieses Spiel augenblicklich. Er agierte strategisch, schaffte schon jetzt in kühl-berechnender Vorausschau die Voraussetzungen, auf denen seine Verteidigung aufbauen würde. Die Nachricht diente einzig und allein dem perfiden Zweck, sie im Falle eines Gerichtsprozesses als eifersüchtige, rachedurstige Lügnerin dastehen zu lassen, während er sich darin den Heiligenschein eines zwar treulosen, nichtsdestominder aber reumütigen, ihr gegenüber gutmeinenden Opfers aufsetzte.
Plötzlich erschien eine weitere Nachricht auf dem Display:
Sehr geehrte Frau Peters, ich habe unser letztes Treffen sehr genossen. Leider konnte ich Ihnen damals noch nicht weiterhelfen. Jetzt glaube ich, etwas zu haben, was Sie und Ihre Leser interessieren könnte. Bitte melden Sie sich möglichst bald bei mir! Mit freundlichem Gruß, Deniz Gül
Für einen kurzen Moment mischte sich ein Klecks Neugier unter die dunklen Farbmassen aus Wehmut, Ekel und Wut auf Rosas Gefühlsleinwand. Dann überließ die Neugier wieder der Wehmut, dem Ekel und der Wut allein das Feld. Dann wichen auch die Wehmut und der Ekel; zurück blieb die Wut.
Dann brach Rosa durch die Eisdecke.
Während am Feenteich schon in der Sekunde nach ihrem Einbruch wieder friedliche Weihnachtsstille herrschte, focht Rosa unterhalb der Eisdecke einen verzweifelten Todeskampf aus. Das schwarze Loch, das sie gerade scheinbar aus dem Nichts verschluckt hatte, glich jenen astronomischen Phänomenen gleichen Namens, in die Materie nur hineinfallen, nicht aber wieder herausgelangen konnte.
Anfangs hätte für Rosas Begriffe die beinahe widerstandlose Masse, in der sie unmittelbar intuitiv zu strampeln begann, genauso gut die dunklen Weiten des Weltraums sein können. Erst als die berühmten tausend Eiswasser-Stecknadeln, von denen über die Jahrhunderte Überlebende so vieler Schiffbrüche berichtet hatten, sie zu malträtieren begannen, ging ihr auf, was passiert sein musste. Sofort versuchte sie verzweifelt, zur Oberfläche zu schwimmen.
Doch in dem Moment, in dem sie eigentlich aufzutauchen hoffte, stieß sie mit ihrem Kopf auf Granit.
Der höllische Schmerz durchzuckte wie ein gleißender Miniaturblitz ihren Körper. Gleichzeitig beschleunigte der Aufprall aber auch die durch ihren Überlebenswillen ohnehin schon stark angekurbelte Maschinerie ihres Verstandes auf Hochtouren.
Sie musste an einer anderen Stelle wieder aufgetaucht sein als sie eingebrochen war. Jetzt galt es, so schnell wie möglich die Einbruchstelle wiederzufinden. In Anbetracht der Menge an Sauerstoff, die sie dabei verbrauchen würde, blieb ihr nicht viel Zeit.
Sie begann, sich an der glatten Eisschicht in der Hoffnung entlang zu tasten, irgendwo eine Lücke zu entdecken.
Zehn Sekunden des hastigen Abtastens vergingen, ohne dass sich nur die kleinste Schwachstelle in ihrem Gefängnis aus Eis offenbarte. Obschon es ihr selbst absurd schien, ärgerte sie am meisten daran, dass von Schirach unbehelligt davonkommen würde, wenn sie jetzt umkäme.