Der Schokoladenboy - Patricia Vandenberg - E-Book

Der Schokoladenboy E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Mutti, Mutti, dort kommt Sascha!« Nick rief es Denise von Schoenecker zu, die eben den Wagen besteigen und hinüber nach Sophienlust fahren wollte. Tatsächlich rollte der etwas abenteuerliche Kleinwagen, den Denises Stiefsohn sich neuerdings zugelegt hatte, durch die Allee von Gut Schoeneich. Es war Samstag. Doch Sascha, der in Heidelberg studierte, war für das Wochenende nicht angemeldet gewesen. Im Gegenteil, noch vor wenigen Tagen hatte er geschrieben, dass er bis über beide Ohren in Arbeit stecke. »Eine Dame hat er mitgebracht«, fügte Nick mit gesenkter Stimme hinzu, denn nun war das Auto seines großen Bruders schon in Hörweite. »Tag, Mutti!« Sascha sprang aus dem Wagen und umarmte seine geliebte Mutti. Denise fühlte beglückt, welche innige Zuneigung sie mit Sascha, wie auch mit Andrea, den beiden Kindern aus der ersten Ehe ihres Mannes, verband. Sie dachte in diesem Augenblick aber auch daran, dass Alexander ihren lang aufgeschossenen Dominik ebenfalls wie einen leiblichen Sohn liebte, ihren Nick, der seinen wirklichen Vater niemals kennengelernt hatte, da dieser noch vor seiner Geburt gestorben war. Tatsächlich entstammte der überaus glücklichen Ehe des Paares nur ein einziges Kind, der kleine Henrik, verwöhnter Liebling der Eltern und der größeren Geschwister. »Wen hast du mitgebracht, Sascha? Wie kommt es, dass du so plötzlich hier aufkreuzt?«, fragte Denise nun lächelnd. Sascha ging zum Wagen und ließ das hübsche blonde Mädchen mit dem halblangen seidigen Haar aussteigen. »Darf ich dir Jella Englert vorstellen, Mutti?«, sagte er. Denise reichte dem Mädchen die Hand.

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Sophienlust Bestseller – 83 –

Der Schokoladenboy

Patricia Vandenberg

»Mutti, Mutti, dort kommt Sascha!« Nick rief es Denise von Schoenecker zu, die eben den Wagen besteigen und hinüber nach Sophienlust fahren wollte. Tatsächlich rollte der etwas abenteuerliche Kleinwagen, den Denises Stiefsohn sich neuerdings zugelegt hatte, durch die Allee von Gut Schoeneich. Es war Samstag. Doch Sascha, der in Heidelberg studierte, war für das Wochenende nicht angemeldet gewesen. Im Gegenteil, noch vor wenigen Tagen hatte er geschrieben, dass er bis über beide Ohren in Arbeit stecke.

»Eine Dame hat er mitgebracht«, fügte Nick mit gesenkter Stimme hinzu, denn nun war das Auto seines großen Bruders schon in Hörweite.

»Tag, Mutti!« Sascha sprang aus dem Wagen und umarmte seine geliebte Mutti.

Denise fühlte beglückt, welche innige Zuneigung sie mit Sascha, wie auch mit Andrea, den beiden Kindern aus der ersten Ehe ihres Mannes, verband. Sie dachte in diesem Augenblick aber auch daran, dass Alexander ihren lang aufgeschossenen Dominik ebenfalls wie einen leiblichen Sohn liebte, ihren Nick, der seinen wirklichen Vater niemals kennengelernt hatte, da dieser noch vor seiner Geburt gestorben war.

Tatsächlich entstammte der überaus glücklichen Ehe des Paares nur ein einziges Kind, der kleine Henrik, verwöhnter Liebling der Eltern und der größeren Geschwister.

»Wen hast du mitgebracht, Sascha? Wie kommt es, dass du so plötzlich hier aufkreuzt?«, fragte Denise nun lächelnd.

Sascha ging zum Wagen und ließ das hübsche blonde Mädchen mit dem halblangen seidigen Haar aussteigen. »Darf ich dir Jella Englert vorstellen, Mutti?«, sagte er.

Denise reichte dem Mädchen die Hand. »Herzlich willkommen, Frau Englert. Die Freunde unserer Kinder sind auch unsere Freunde. Ich bin allerdings gerade im Begriff, nach Sophienlust zu fahren, weil zwei Kinder krank geworden sind. Falls Sie mit Sascha hier auf Schoeneich bleiben wollen, sehen wir uns zum Essen. Aber wenn Sie mich begleiten möchten, so sind Sie herzlich willkommen.«

»Ich würde mir das berühmte Kinderheim sehr gern ansehen, gnädige Frau«, antwortete Jella. »Sascha hat mich mitgenommen, um es mir zu zeigen.«

Denise war über das Interesse an Sophienlust ein wenig verwundert. Aber sie stellte keine Fragen.

»Wir haben ein Anliegen, Mutti«, ergänzte Sascha. »Doch darüber sprechen wir später, wenn es dir recht ist. Glaubst du, dass wir drüben ein ordentliches Frühstück kriegen? Wir sind nämlich um fünf Uhr losgefahren.«

»Magda macht euch bestimmt etwas zu essen. Also, fahren wir los! Ich sorge mich ein bisschen.«

Eilig stiegen Sascha und die Besucherin in Denises Wagen ein.

»Darf ich mit?«, fragte Nick, den wieder einmal die Neugier plagte. Er hätte zu gern gewusst, was Sascha und Jella Englert auf dem Herzen hatten. Wenn es um Sophienlust ging, handelte es sich nach seinen Erfahrungen um ein Kind, das Hilfe brauchte. Da er aber durch das Vermächtnis seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin der Erbe des schönen Besitzes Sophienlust war, der jetzt noch von seiner Mutter für ihn verwaltet wurde, fühlte er sich in gewisser Weise für alles, was in Sophienlust geschah, mitverantwortlich. Deshalb kletterte er rasch in den Wagen, als seine Mutter zustimmend genickt hatte.

»Wer ist denn krank?«, fragte Sascha, während Jella Englert die Umgebung interessiert musterte. Sie war ein Stadtkind und kam sich auf dem Boden von Gut Schoeneich wie verzaubert vor. Nur undeutlich drangen die Worte, die im Wagen gewechselt wurden, an ihr Ohr.

»Pünktchen und Malu«, antwortete Denise. »Dr. Wolfram ist sich nicht ganz klar darüber, ob es eine Magenverstimmung ist oder eine Art Grippe. Malu soll ganz teilnahmslos im Bett liegen, und das ist nun wirklich nicht ihre Art«

»Stimmt«, antwortete Sascha. »Malu ist immer guter Dinge.«

»Pünktchen sowieso«, ergänzte Nick. »Darf ich sie gleich besuchen?«

»Ich will erst mit Dr. Wolfram sprechen. Wenn er nicht ganz sicher ist, dass es nicht ansteckend ist, möchte ich nicht, dass du Pünktchen besuchst, Nick.«

»Als ob ich mich anstecken würde«, wiederholte Nick. »Pünktchen ist bestimmt traurig, wenn ich nicht zu ihr komme.«

Damit hatte Nick allerdings recht. Pünktchen war Nicks besondere Freundin. Er hatte sie vor Jahren selbst nach Sophienlust gebracht und fühlte sich seither für dieses Kind, das seinen seltsamen Namen den lustigen Sommersprossen auf Wangen und Nase verdankte, persönlich verantwortlich. Pünktchen, sie hieß eigentlich Angelina Domin, hatte ihrerseits Nick ihr ganzes Herz geschenkt.

»Warten wir ab, was der Doktor sagt«, entschied Denise. »Er wollte vorsichtshalber noch ein paar andere Kinder untersuchen.«

»Vielleicht müssen wir mal wieder ein Lazarett aufmachen«, lachte Nick unbekümmert. »Weißt du noch, wie es war, als so viele Kinder Mumps hatten?«

»Na, so lustig fand ich das nicht«, wandte Denise ein.

Als das Herrenhaus von Sophienlust auftauchte, stieß Jella Englert einen Ruf des Entzückens und der Überraschung aus.

»Nicht wahr, es ist schön?«, fragte Nick voller Stolz. »Es gehört mir.«

»Ja, dein Bruder hat mir davon erzählt.« Jella fand den hübschen Jungen amüsant.

»Wollen Sie vielleicht Ihr Kind zu uns bringen?«, erkundigte sich Nick nun geradezu.

Jella Englert wurde dunkelrot. »Aber nein, ich habe überhaupt kein Kind, Nick«, widersprach sie hastig. »Aber so ganz danebengeraten hast du trotzdem nicht. Es ist eine recht seltsame Geschichte, und Sascha ist deswegen sogar mitten im Semester mit mir hierhergefahren.«

Denise wandte kurz den Kopf. »Mein Sohn Dominik ist manchmal ziemlich neugierig, Frau Englert. Wir unterhalten uns nachher über Ihr Anliegen. Ich möchte nur zuerst mit Dr. Wolfram sprechen, der nicht allzu lange auf sich warten lassen kann. Sascha wird dafür sorgen, dass Sie ein ordentliches Frühstück bekommen.«

Jella errötete ein zweites Mal. »Es macht nichts, wenn Nick nachher zuhört, gnädige Frau. Ein Geheimnis gibt es bei unserer Geschichte nicht, höchstens ein Problem.«

»Mutti löst alle Probleme«, behauptete Nick und strahlte Jella zum Dank dafür, dass er der Unterredung beiwohnen durfte, an.

Dr. Wolfram erwartete Denise schon. Er war inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass Malu und Pünktchen irgendetwas gegessen haben mussten, was ihnen nicht bekommen sei. Da beide Mädchen am Tag zuvor in der Kreisstadt gewesen waren und Eis sowie Pommes frites gegessen hatten, lag hier wahrscheinlich die Wurzel des Übels.

Nick rannte sogleich davon, um Pünktchen zu besuchen, als er erfuhr, dass die Krankheit nach des Arztes Meinung nicht ansteckend sei. Er hielt sich allerdings nur zwei Minuten bei Pünktchen auf, um das Gespräch zwischen Sascha, Frau Englert und seiner Mutter nicht zu verpassen. Pünktchen nahm ihm noch rasch das Versprechen ab, ihr hinterher genau Bericht zu erstatten.

Endlich fuhr Dr. Wolfram ab, und Denise geleitete Jella Englert ins Biedermeierzimmer. Sascha und Nick folgten.

»Jella ist Sekretärin von Rechtsanwalt Sauer in Heidelberg«, begann Sascha, als sie alle auf den zierlichen Sesseln Platz genommen hatten. »Wir kennen uns schon ziemlich lange aus dem Tennisclub.«

Denise lächelte abwartend. Sie wusste aus Erfahrung, dass es manchmal einer umständlichen Einleitung bedurfte, ehe jemand das sagte, was er eigentlich auf dem Herzen hatte. Sie legte sich dabei die Frage vor, was die Geschichte wohl mit Sascha zu tun haben könne. Auch wunderte sie sich, dass der Name Jella Englert bisher niemals von ihrem Ältesten erwähnt worden war. Aber so langsam musste sie sich wohl daran gewöhnen, dass ihre Kinder ein eigenes Leben führten.

»Vielleicht darf ich Ihnen die Sache erklären, gnädige Frau«, schaltete sich nun Jella ein. »Herr Sauer braucht dringend einen Heimplatz für ein verwaistes Kind. Es ist eine recht tragische Geschichte. Ein deutscher Ingenieur namens Friedrich Hofmann ist mit seiner jungen Frau in Ghana in Westafrika tödlich verunglückt. Zurück blieb ein fünfjähriger Junge namens Gerald. Friedrich Hofmann hatte in Deutschland einen Bruder, den er für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte, testamentarisch als Vormund und Vermögensverwalter für seinen Sohn eingesetzt. Doch der Kontakt zwischen den Brüdern Hofmann war offenbar schon seit längerer Zeit abgerissen. Jedenfalls scheint der in Afrika tödlich verunglückte Vater des kleinen Gerald nicht erfahren zu haben, dass sein Bruder längst gestorben war.«

»Du meine Güte«, rief Nick mitleidig aus. »Da sitzt der kleine Gerald ganz allein in Afrika und hat keine Menschenseele, die sich um ihn kümmert.«

Jella nickte. »Es ist sogar noch komplizierter. Der dort mit der Regelung des Nachlasses betraute Anwalt hat an Herrn Sauer geschrieben, ihm alle Unterlagen geschickt und ihn außerdem informiert, dass der Junge bereits übermorgen, am Montag, in Frankfurt ankommen wird. Der Anwalt in Afrika war natürlich überzeugt, dass der Onkel seinen kleinen Neffen sofort persönlich in Empfang nehmen würde. Herr Sauer ist selbst unverheiratet und ziemlich entsetzt, dass er plötzlich die Verantwortung für einen fünfjährigen Jungen hat. Akten, Wertsachen und dergleichen kann man in einen Tresor einschließen. Aber einen kleinen Jungen kann man selbstverständlich nicht wegschließen, sondern muss ihn betreuen. Als Herr Sauer mir die Papiere gab, fiel mir sofort Sascha ein, der schon so oft von Sophienlust erzählt hat.« Jella hielt nun inne.

»Das Problem wäre also, ob du

den kleinen Gerald aufnehmen willst, Mutti«, beendete Sascha Jellas Bericht.

»Klar nehmen wir ihn«, mischte sich Nick entschlossen ein. »Er hat niemanden sonst. Vielleicht kriegen wir damit endlich wieder einmal ein Kind, das bei uns bleibt.«

»Andere Verwandte hat Gerald nicht. Das steht schon fest«, entgegnete Jella. »Ich glaube, Herr Sauer wäre dankbar und erleichtert, wenn der Junge zunächst einmal hier unterkommen könnte.«

Denise hatte ihren Entschluss ebenso rasch gefasst wie ihr Sohn. »Selbstverständlich kann er zu uns kommen, liebe Frau Englert.«

Jella atmete erleichtert auf. »Jetzt sind wir wenigstens einen Schritt weiter. Ich glaube, mein Chef hat schon befürchtet, dass der Junge ab Montag in seiner Kanzlei herumgeistern wird.«

Alle lächelten.

»Sicher ist der kleine Gerald sehr traurig«, gab Denise noch zu bedenken. »Wir müssen besonders nett zu ihm sein. Hoffentlich ist Malu bis Montag wieder in Ordnung. Sie versteht es besonders gut, fremden Kindern das Einleben zu erleichtern.«

»Pünktchen auch«, warf Nick ein.

»Stimmt, Nick, Pünktchen auch.« Denise wandte sich wieder der jungen Besucherin zu. »Möchten Sie sich unser schönes Sophienlust einmal anschauen, Frau Englert? Sascha und Nick zeigen es Ihnen bestimmt gern.«

Jella nickte. »Es würde mich schon interessieren. Dann kann ich Gerald gleich davon erzählen, wenn ich ihn am Montag am Flughafen abhole. Denn diese Aufgabe hat mir mein Chef zugedacht.«

Nick machte eine Handbewegung. »Sascha kennt sich prima hier aus, Frau Englert. Er wird Ihnen alles zeigen. Ich muss jetzt nämlich noch einmal zu Pünktchen, weil sie doch krank ist.«

Denise verbarg ein Lächeln. Sie wusste, Nick wollte nur die Neuigkeit verbreiten, dass sie diesmal ein Kind aus Afrika bekommen würden. Das war nun wirklich einmal etwas Neues, wenn es auch schon öfter vorgekommen war, dass ein Kind aus den entferntesten Teilen der Welt nach Sophienlust gekommen war.

Während Nick also neben Pünktchens Bett hockte und über das Gespräch im Biedermeierzimmer berichtete, führte Sascha seine Freundin Jella durch das schöne alte Herrenhaus, das für die Kinder etwas umgebaut worden war. Er zeigte ihr das Büro, in dem Frau Rennert, die Heimleiterin, ihre schriftlichen Arbeiten zu erledigen pflegte, das Musikzimmer, wo Wolfgang Rennert, der Sohn der Heimleiterin, unterrichtete, den Anbau, in dem Wolfgang Rennert mit seiner jungen Frau Carola und den niedlichen Zwillingen wohnte sowie das große Speisezimmer, den Park, den Pavillon und den sprechenden Papagei Habakuk.

»Wir haben noch mehr Tiere«, berichtete Sascha vergnügt. »Es gibt auch Hunde, Ponys und Pferde, dazu den normalen Viehbestand eines Gutes. Eine Zeit lang hat auch ein Esel hier gelebt. So etwas stört weder meine Mutter noch Frau Rennert, noch sonst jemanden in Sophienlust.«

»Ein Kinderheim mit Tieren, das ist wirklich nur auf dem Lande möglich«, stellte Jella überwältigt fest. »Fast kommt es mir vor, als würde es der kleine Gerald hier viel besser antreffen als bei einem ältlichen Onkel, der ein Hagestolz war und sicher kein echtes Verhältnis zu einem so kleinen Jungen gefunden hätte.«

Sascha hob die Schultern. »Das kann man jetzt nicht mehr sagen, denn der Onkel ist tot. Aber eins ist sicher: Der Schützling deines Chefs wird hier gut aufgehoben sein. Viele Kinder haben ein schweres Schicksal hinter sich, wenn sie hierherkommen, doch sie finden in Sophienlust eine neue Heimat. Mutti ist zwar für alle ›Tante Isi‹, aber im Grunde genommen sehen sie in ihr ihre über alles geliebte Mutti. Denn die Kinder, die für immer in Sophienlust leben, haben keine Mutter mehr.«

»Deine Mutter ist eine wunderbare Frau, Sascha«, äußerte Jella mit einem tiefen Atemzug. »Seid ihr nicht manchmal eifersüchtig, dass sie für so viele Kinder da ist?«

»Aber nein, sie hat immer genügend Zeit für den, der sie gerade am nötigsten braucht. Wie sie das macht, ist ihr persönliches Geheimnis. Nicht einmal mein Vater kommt zu kurz. Jedenfalls habe ich noch nie gehört, dass er sich beklagt hätte.«

Jella schüttelte den Kopf. »Hier ist eine Welt, von der man meinen sollte, dass es sie nur im Traum oder in einem wunderbaren Märchen geben könne.«

»Wir sind ganz realistisch, Jella«, lachte Sascha. »Es gibt auch bei uns gelegentlich Ärger oder Kummer, wie überall auf der Welt. Was Sophienlust vielleicht ein bisschen heraushebt, ist der Leitgedanke, dass man immer bereit sein soll zu helfen. Es ist das Vermächtnis von Nicks Urgroßmutter. Meine Mutter erfüllt es aber in idealer Weise. Und ich muss sagen, auch mein kleiner Bruder Nick ist auf dem besten Wege, sich zu einem recht würdigen Nachfolger zu entwickeln. Seine Hilfsbereitschaft und sein Verantwortungsbewusstsein gehen manchmal weit über sein Alter hinaus. Aber das sagt man besser nicht in seiner Gegenwart, sonst schwillt ihm der Kamm gar zu sehr. Denn ein überirdisches Wesen ist Nick keineswegs«, fügte Sascha vorsichtig hinzu.

Jella lachte. »Er gefällt mir gut, dein kleiner Bruder.«

Sie standen jetzt bei den Ponys, deren samtweiche Mäuler Sascha streichelte.

»Beinahe ist Gerald Hofmann zu beneiden, dass er hierherkommen darf«, seufzte Jella.

»Du bist kein Kind mehr, Jella, sondern die unentbehrliche Sekretärin von Herrn Sauer.«

»Stimmt«, gab Jella zu. »Aber ich hause in einem supermodernen Appartement-Block aus Beton, Marmor und Glas. Für mich ist Sophienlust tatsächlich ein echtes Wunder.«

»Fein, dass du es auf diese Weise kennenlernst. Wir sind alle stolz auf Sophienlust. Da du den Jungen am Montag bringst, wirst du bald wieder hier sein.«

»Ich freue mich schon darauf, Sascha. Würdest du zum Flughafen mitkommen? Herr Sauer hat am Montag einen Termin bei Gericht, den er nicht absagen kann. Leider habe ich keinen Wagen und kann auch nicht selber fahren, wie du weißt.«

»Eigentlich müsste ich arbeiten, Jella. Aber da ich die Sache nun einmal in die Wege geleitet habe, werde ich mitkommen. Hoffentlich kriegen wir Vatis Wagen. Wenn der Junge viel Gepäck hat, hält das mein rasender Roland nicht aus.«

*

Denise war erfreut, als sie hörte, dass Sascha den kleinen Afrikaner abholen wollte. Immer wieder beglückte es sie, dass ihre ganze Familie an dem großen Werk, das den Namen Sophienlust trug, freiwillig und aus ganzem Herzen mitwirkte, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergab.

Denise telefonierte mit dem Rechtsanwalt Sauer in Heidelberg und vereinbarte mit ihm, dass Jella über das Wochenende auf Sophienlust bleiben und am Montag früh mit Sascha nach Frankfurt fahren sollte, um das dem Anwalt anvertraute Kind in Empfang zu nehmen.

Jella war glücklich, als Denise ihr das Ergebnis ihrer Unterredung mit dem Anwalt mitteilte.

»Ich darf hierbleiben?«, fragte sie atemlos. »Ich dachte, dass Sascha noch heute zurückfahren müsste.«

»Er kann sich auch hier ein paar Stunden mit seinen Büchern beschäftigen, liebe Frau Englert. Für Sie ist das Bett im Gästezimmer schon bezogen. Sophienlust ist jederzeit auf Besucher eingerichtet, und Magda muss für so viele kleine Mäulchen kochen, dass Sie ganz gewiss ebenfalls satt werden. Heute mittag würde ich Sie allerdings gern mit nach Schoeneich nehmen, damit Sie auch einmal unser persönlicher Gast sind.«

Jella brachte dieses herzliche Entgegenkommen geradezu in Verlegenheit. Schüchtern erzählte sie, dass sie selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen sei. Gerade deshalb erscheine ihr ein Heim wie Sophienlust wie ein Märchentraum.

»Armes Kind«, erklärte Denise spontan und strich ihr über das seidige blonde Haar. »Wir hätten Sie sicherlich gern hier aufgenommen, wenn wir etwas von Ihrem Schicksal gewusst hätten.«

»Das wäre nicht gegangen, gnädige Frau«, wandte Jella ein. »Ich hatte kein großes Erbe anzutreten wie der kleine Gerald. Für mich zahlte nur die Fürsorge.«

Denise schüttelte den Kopf. »Sophienlust nimmt Kinder ohne Ausnahme auf, liebe Frau Englert. Auf die finanziellen Verhältnisse kommt es überhaupt nicht an. Nicks Urgroßmutter hat ein großes Vermögen hinterlassen. Aus diesen Mitteln wird der Unterhalt für die Kinder bestritten, die nichts oder nur wenig zahlen können.«

Nun wusste Jella gar nichts mehr zu sagen.

Mittags saß sie auf Schoeneich am Familientisch und lernte nun auch Alexander von Schoenecker kennen, dessen herzliche Art sie ihre anfängliche Schüchternheit rasch überwinden ließ. Ebenso wie die anderen ließ sie sich das Essen schmecken und freute sich bereits auf die Kahnfahrt, die Sascha ihr für den Nachmittag in Aussicht gestellt hatte.

»Ich dachte, du müsstest arbeiten«, warf Andrea spöttisch ein. »Da Frau Englert Tennis spielt, könnten wir uns auch sehr gut ohne dich beschäftigen, nicht wahr, Frau Englert?«

»Ich meine, wir fahren erst ein bisschen auf den See hinaus, und später könnt ihr Tennis spielen, während ich pauke«, zog sich Sascha geschickt aus der Affäre.

»Vielleicht kommt Frau Englert aber lieber mit nach Sophienlust. Sie wohnt nämlich drüben«, mischte sich Nick ein. »Heute Nachmittag dürfen die Kleinen auf den Ponys reiten. Das ist immer sehr niedlich. Allerdings hat man auch alle Hände voll zu tun, damit nichts passiert.«

Jella sah ein bisschen hilflos in die ihr zugewandten Gesichter. »Am liebsten würde ich alles mitmachen«, gestand sie.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, tröstete Denise. »Das Programm wird sich schon richtig einteilen lassen.«

So verging dieses Wochenende für Jella Englert wie im Fluge. Im Gästezimmer auf Sophienlust fand sie Nachtzeug und Waschzeug, weil Frau Rennert von Denise darauf aufmerksam gemacht worden war, dass Jella kein Gepäck bei sich habe. Carola Rennert kam und lieh ihr, was sie sonst noch brauchte, sogar eine frische Bluse für den nächsten Tag.

»Warum sind Sie alle so nett zu mir?«, wunderte sich Jella, nachdem Carola sich ein allerletztes Mal erkundigt hatte, ob ihr auch nichts mehr fehle.