Der Schrank - Simon Sailer - E-Book

Der Schrank E-Book

Simon Sailer

0,0

Beschreibung

Der letzte Auftrag des Tages sollte für die Möbelpackerin Lena und ihre Kollegen eigentlich rasch erledigt sein. Doch der Transport des sperrigen Kleiderschranks, den sie aus dem Haus einer alten Dame an einen neuen Standort bringen sollen, wird zu einer schier unlösbaren Aufgabe. Zeitdruck, prekäre Arbeitsbedingungen und faule Kollegen ist Lena in ihrem Job gewöhnt, doch diesmal ist da noch was anderes. Plötzlich steht sie ganz alleine da, umringt von Tieren, die in der Großstadt eigentlich nichts zu suchen haben. Was ist hier eigentlich los und wie wird sie nun diesen verfluchten Schrank los? Eine hochkomische, sozialkritische Erzählung über das Verhältnis von Mensch, Arbeit und Leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 82

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SIMON SAILER

Der Schrank

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Die Schrift

Das Salzfass

1

Das Treppenhaus war eng, aber hell. Lena Kovac wohnte im siebten Stock eines Gemeindebaus, zusammen mit ihrem Freund Hakan. Sie arbeitete als Möbelpackerin bei einer Transportfirma und er als Nachtwächter in einem Messezentrum. Es gab einen Lift, mit dem Lena nie fuhr, weil sie fürchtete, er könnte steckenbleiben. (Sie wäre im Schacht gefangen, könnte sich nicht aus eigener Kraft befreien; vor dem Sterben hatte sie keine Angst, nur vor dem Eingesperrtsein.)

Lena blieb im vierten Zwischengeschoss stehen. Frau Bostanci von Tür neun hatte hier einen Kaktus aufgestellt, der rot blühte. Die Stacheln bildeten Dornenkränze: je Kranz sieben Stacheln. Die Sonne hatte die Luft erhitzt. Lena atmete ein und aus (schwer), beobachtete die Kinder beim Fangenspielen im Innenhof. Von oben sahen sie aus wie Eichhörnchen.

Lena verbrachte unter der Woche nur eine halbe Stunde täglich mit ihrem Freund: Sie kam um sieben nach Hause, Hakan musste um halb acht zur Arbeit. In der gemeinsamen Zeit aßen die beiden oder liebten sich auf dem Boden und ließen das Essen stehen. An den Wochenenden gingen sie im Lainzer Tiergarten spazieren (früher) oder sie lagen auf der Couch, sahen fern, aßen Chips und Gummibärchen.

Lena stieg die restlichen Treppen hoch, zog ihren Rucksack vor die Brust und tastete darin nach dem Filzball, an dem der Schlüssel hing. In der Wohnung roch es nach Knoblauch und getrockneter Minze. Lena rief einen Gruß und setzte sich auf das Garderobenbänkchen, um die Stiefel aufzuschnüren.

Ein schmaler Raum diente gleichzeitig als Vorzimmer, Küche und Bad. Der Vorzimmerbereich bestand aus ein paar in die Wand geschraubten Kleiderhaken, einem Schuhregal und der ledernen Sitzbank. Lena musste aufpassen, beim Schuheausziehen nicht an der Spüle zu rütteln. (Der zum Trocknen aufgeschichtete Geschirrturm könnte einstürzen.) Neben der Spüle köchelte etwas auf dem Herd. Hinter dem Herd gab es eine Duschkabine, ein Waschbecken und einen Spiegelschrank. An der Decke verdunkelte ein Wasserfleck, der sich als resistent gegen Übermalungsversuche erwiesen hatte, den Verputz. Lena wusch sich die Hände. Die Seife war hart und schäumte fast gar nicht. Auf das Einseifen konzentriert zuckte Lena zusammen, als Hakan sie umarmte. Er stand hinter ihr, sodass seine Hände sich vor ihrem Bauch berührten, und küsste sie auf den Hals.

»Es gibt Joghurtsuppe«, sagte er leise, das Kinn auf ihre Schulter gestützt. »Mit Käsetoast.«

Lena sah Hakan über den Spiegelschrank in die Augen. »Ich bin eine hungrige Bärin«, sagte sie und fasste ihm mit den nassen Händen an den Hals, drehte sich um und biss ihm, zur Demonstration ihrer Bärigkeit, erst in die Brust und dann in den Oberarm. Hakan schüttelte sich und kitzelte Lena an der untersten Rippe (dort war sie besonders empfindlich). Er führte sie an den gedeckten Tisch im Wohnzimmer. Zwischen den Suppentellern standen Gänseblümchen in einem nachtblauen Eierbecher.

»Selbst gepflückt«, sagte Hakan.

»Ach, Bär«, sagte Lena.

Das Wohnzimmer hatte nur ein Fenster, und das wurde halb vom Hochbett verdeckt, unter dem der Esstisch stand. Ansonsten gab es noch ein Sofa (dem an der Wand montierten Flachbildschirm gegenüber), auf dem zwei Menschen Platz hatten, die gerne kuschelten. Lena hatte es zwei Monate zuvor beim Abtransport einer Verlassenschaft abgezweigt. Um Platz zu schaffen, hatte Hakan an der Küchendecke einen Flaschenzug montiert, mit dem man den Wäscheständer hochziehen konnte. (Sonst hätte er dort gestanden, wo jetzt das Sofa war.) Zum Fernsehen saßen sie entweder am Esstisch, was auf Dauer unbequem war, oder krochen ins Bett und steckten die Köpfe durch das Hochbettgeländer. Alles in allem hatte das Wohnzimmer etwas Höhlenartiges. Hakan nannte die Wohnung nur »Bau«.

Den Boden bedeckten Flickenteppiche und Ansammlungen von Kleidungsstücken. Lena zog Hakan mit sich hinunter: »Deinen Toast kannst du am Weg zur Arbeit essen.«

2

Lena mochte den Benzingeruch in der Betriebsgarage. Normalerweise tankte man beim Einrücken, nach dem letzten Auftrag, aber das Team vom Vortag hatte wieder einmal nicht vollgetankt. Yilmaz saß bei geöffneter Tür auf dem Beifahrersitz und faltete aus einem violetten Papierquadrat einen Schwan. Er faltete immer, wenn er nicht rauchen konnte (Schwäne, Frösche, Schmetterlinge). Um die Hände zu beschäftigen, hatte er einmal erklärt.

»Wie viele Schwäne hast du schon?«, fragte Lena, die am weißen VW-Sprinter lehnte und die Tankanzeige im Auge behielt.

»Viele.« Yilmaz faltete den Kopf des Schwans zur Seite, wendete das Papier und bog es in die andere Richtung. Dann stülpte er alles so um, dass ein kleiner Schnabel entstand. »Hier.« Er hielt Lena den Schwan entgegen.

Lena deutete auf den Tank: »Gleich.«

»Die meisten schmeiße ich weg«, sagte Yilmaz und setzte den Schwan auf das Lenkrad (Lenas Platz). »Manchmal mache ich so ein Hängeding für meine Kinder. Oder Schmuck, man kann auch Schmuck machen. Meine Frau liebt Ohrringe.«

Es klickte, weil der Tank voll war. Lena hängte den Schlauch in die Halterung und sagte halblaut: »55 Liter.«

»Was?«, fragte Yilmaz.

»55 Liter«, sagte Lena. »Schreib auf.« Sie ging um den Wagen herum zur Fahrertür und stieg ein. »Egal, ich mach schon.« Um das Fahrtenbuch aus dem Handschuhfach zu nehmen, musste sie über Yilmaz greifen. »Wieso sind die Leute so unzuverlässig und unselbstständig? Kannst du mir das sagen?«

Yilmaz hob den Schwan auf, den Lena eben vom Lenkrad gefegt hatte, und setzte ihn vorne an die Windschutzscheibe.

»Wenn ich im Management wäre«, sagte Lena, »würde das hier ganz anders laufen.«

»Bewirb dich«, sagte Yilmaz und zog ein frisches Papier (rot) aus seiner Umhängetasche. »Niemand kennt sich hier so gut aus wie du.«

»Ich habe keine Ausbildung, nur die Matura. Das reicht nicht. Irgendwas brauche ich.«

»Mach FH.« Yilmaz begann zu falten.

»Was wird das?«

»Ein Frosch.«

»Wann soll ich eine FH machen?«, sagte Lena. »Ich muss arbeiten. Ich habe einen Freund. Es geht nicht.«

»Na dann«, sagte Yilmaz. »Mit uns ist es auch nicht so schlecht.«

»Du bist wenigstens verlässlich.« Lena sah auf die Uhr. »Wir kriegen noch Korni dazu.«

(Korni, eigentlich Georg Kornherr, war eine Institution: ein Trinker, unpünktlich und ungeschickt, aber schon dreißig Jahre Möbelpacker. Alle kannten ihn, mochten ihn, aber niemand wollte ihn haben. Deshalb wurde er von Firma zu Firma weitergereicht. Jede stellte Korni ein Jahr ein, dann übernahm ihn die nächste.)

Korni stolperte die Stufen hinunter. »Drecksstiegen«, sagte er und klopfte sich Schmutz von der Hose. »Jedes Scheißmal.«

»Schuhband«, sagte Lena.

Sie wartete, bis er sich die Schnürsenkel gebunden hatte. Dabei vermied sie den Blick in sein Maurer-Dekolleté, die Ritze vom Hintern, die aus der Hose ragt, und hielt sich den Auftrag vors Gesicht, tat, als würde sie darin lesen. (Eigentlich wusste sie schon alles.)

Korni setzte sich neben Yilmaz auf den zweiten Beifahrersitz.

»Jägermeisterjause?«, fragte der und klemmte sich die Nase zu.

»Na mei«, sagte Korni.

Lena öffnete das Fenster. »Also: Kleiderschrank, antik. Erster Stock ohne Lift im neunzehnten Bezirk, dritter Stock ohne Lift im ersten.«

»Zerlegbar?«, fragte Yilmaz.

»Leider nicht«, sagte Lena, presste die Lippen aneinander, kniff die Augen zusammen und nickte langsam dreimal.

Korni lehnte sich aus dem Fenster, als würde er etwas suchen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Lena.

»Das wird eine Villa sein«, sagte Korni. »Da sehen wir kein Trinkgeld.«

»Wenn du pünktlich gekommen wärst«, sagte Lena, »würden wir zumindest rechtzeitig fertig werden.« Sie trug die Zeit ins Fahrtenbuch ein (15:38). »Das geht sich nie aus bis halb sechs.«

»Bis sechs haben wir«, sagte Yilmaz.

Lena tippte sich pro Satz einmal an die Stirn: »Wagen zurückbringen. Tanken. Umziehen.«

»Okay. Scheiß drauf. Zu Hause?« Yilmaz sah Korni an und lachte.

»Sehr lustig«, sagte Lena. »Und die Kollegen morgen früh dürfen dann tanken.«

»Wir haben doch jetzt getankt«, sagte Yilmaz.

»Der Schurl tankt nie«, sagte Korni.

»Was der Schurl macht, ist mir wurscht«, sagte Lena. »Bei mir sicher nicht. Wir rücken ein, tanken voll und geben alles vorschriftsgemäß ab.«

»Dann fahr halt.« Korni machte eine Geste Richtung Garagentür, als würde er Tauben von der Straße scheuchen.

»Passen Sie auf, Georg Kornherr!« Lena starrte Korni zwischen die Augen, dorthin, wo seine Augenbrauen zusammenwuchsen.

Der sah sich auf die Finger. »Ich mein ja nur … dann schaffen wir es vielleicht.« Er faltete die Hände und legte sie sich auf die Oberschenkel.

»Das geht sich nie aus.« Lena gab die Adresse ins Navi ein und schob die Auftragsmappe unter den Sitz. »Kein Lift, nicht zerlegbar und wir haben dich dabei.« Sie startete den Motor und fuhr ans Garagentor.

»Nach hundert Metern links halten.«

»Gib Ruhe«, sagte Lena und stellte das Navigationsgerät stumm.

Eine Schnur, die Lena durch das Fenster greifen konnte, öffnete das Garagentor. Es war ein sonniger Frühlingstag: Die Vögel keiften von den Bäumen, und Pappelsamen verschneiten die Straßen. Auf der Wienzeile beschleunigte Lena, der Wind fegte durch die Fahrerkabine und Kornis Jägermeisterfahne flog durch die offenen Fenster in die Schnäbel, Schnauzen und Nüstern der Tiere der Stadt.

»Mach bitte zu«, sagte Lena, und Korni kurbelte zu.

(Lena ließ ihr Fenster halb offen.)

»Wie geht’s Hakan?«, fragte Yilmaz. »Arbeitet er immer noch im Prater?«

»Messezentrum, ja.« Lena gab Gas, überholte ein Fahrschulauto. »Ich glaube, es geht ihm ganz gut.«

»Du glaubst?« Yilmaz sah von dem Papierlöwen oder -tiger auf, den er gerade faltete.

»Wir sehen uns halt wenig. Er muss immer gleich los, wenn ich nach Hause komme. Aber so lieb ist er, kocht jeden Tag für mich. Dann essen wir, und er geht.«

»Ein richtiger Hausmann.« Yilmaz grinste.

»Da kannst du dir was abschauen.«

»Ich koche auch«, sagte Yilmaz. »Letztens Lammkoteletts. Da mach ich Honig dran.«

Korni kurbelte das Fenster runter, zog Schleim hoch und spuckte auf die Straße.

»Dir geht’s wohl nicht gut?«, sagte Lena und wedelte sich vorm Gesicht (Scheibenwischer).

»Können wir halten?«, fragte Korni. »Ich muss pissen.«

»Wir halten sicher nicht.« Sie schüttelte den Kopf und warf Yilmaz einen Blick zu. »Weißt du, wie spät es schon ist?«