Manege - Simon Sailer - E-Book

Manege E-Book

Simon Sailer

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Beschreibung

Der Straßenkünstler Art ist nicht gerade ein Publikumsliebling. Seine Nummer, sich alleine mit einer Zwangsjacke zu fesseln, führt mehr zu Streit als zu Kleingeld im Hut. Dennoch wird er eines Tages von Zozo, einer Mitarbeiterin beim größten Zirkus der Gegend, angesprochen. Sie erkennt das Poten­zial seiner Fesselungskunst und will Art auf die große Bühne bringen. Doch der Weg zur Manege ist verschlungen und voller wunderlicher Begegnungen. Da sind die mysteriöse Reiterin Moni, Edgar, der Dompteur für imaginäre Tiere, bei dem Art ein Praktikum machen soll, die angehende Trickschleicherin Hildegard, ein zwielichtiger Schlangenmensch und viele mehr. Art verliert sein Ziel aber nicht aus den Augen. Wird er es ins Zirkuszelt schaffen?

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

1

In fünf Minuten würde sich eine Traube um Art gebildet haben. Man stellte sich mit einer Zwangsjacke an einen belebten Platz, und die Leute blieben stehen, wollten wissen, was da vor sich ging. Er hatte eine Blechschale aufgestellt, in die er schon einige Münzen und kleine Scheine gelegt hatte. Niemand wirft Geld in eine leere Schale. Diesmal war ihm ein besserer Platz zugewiesen worden. Es gab reichlich Passanten, und sie konnten anhalten, ohne dabei den Weg zu blockieren. Ein gutes Dutzend von ihnen stand schon im Halbkreis und streckte die Augen aus.

Art legte sich die Posey über die Schulter, und wenn jemand in seine Richtung lächelte, lächelte er zurück. Eine Frau kam nah heran, musterte die Jacke, musterte Art. Er ließ sich begutachten. Sie griff nach der Posey, und Art drehte ihr die Schulter zu, damit sie leichter fühlen konnte.

»Meine Damen und Herren! Kommen Sie näher, keine Angst. Kommen Sie heran, ganz nah heran. Verfolgen Sie jeden Schritt. Bestaunen Sie den gefesselten Art! Kommen Sie, ja, Sie auch. Und Sie, worauf warten Sie? So etwas haben Sie noch nicht gesehen. Erleben Sie die Kunst der Fesselung. Ja, Sie haben richtig gehört. Das haben Sie noch nicht erlebt. Kommen Sie! Keine Angst. Es kann Ihnen nichts passieren – außer natürlich das Unvorstellbare, das Unglaubliche. Kommen Sie!«

In dem Halbkreis standen jetzt dreißig, vierzig Schaulustige. Art fasste seine Jacke mit beiden Händen an den Schultern und streckte sie in die Höhe. Er drehte eine Runde, die Zwangsjacke vor sich hertragend wie ein Banner.

»Das ist eine Posey-Zwangsjacke. Die Crème de la Crème der Zwangsjacken. Fühlen Sie, greifen Sie! Keine Scheu, packen Sie richtig zu.«

Ein stämmiger Mann griff sich die Jacke mit beiden Pranken und zerrte sie auseinander.

»Das ist Qualitätsarbeit«, sagte Art. »Da reißt nichts, da leiert nichts aus.« Er beendete die Runde und stellte sich wieder an seinen Ausgangspunkt, einen Meter vor dem Koffer, in dem er seine Requisiten aufbewahrte. »Sie haben gesehen: Es ist eine echte Zwangsjacke. Die gleiche finden Sie in den Psychiatrien, in den Gefängnissen.«

Er zog sich die Jacke über den Kopf. Die Gurte hatte Art so justiert, dass er gerade noch hineinkam. Man musste nur den richtigen Punkt erwischen – zu locker eingestellt sah es nach nichts aus, und saß sie zu fest, konnte es peinlich werden. Er wand sich in die Jacke, drehte sich und wiegte hin und her. Als Art den Kopf durch die Öffnung geschoben hatte, sah er, dass die Menschentraube kleiner geworden war, während er getanzt hatte. Er hatte gelernt, sich nicht allzu sehr um die Reaktion des Publikums zu kümmern. Wenn er einmal angefangen hatte, dann machte er seine Nummer auch fertig, mutete sich dem Publikum regelrecht zu.

Art kniete sich auf den Boden und klemmte den Gurt zwischen die Beine. Der Gurt verhinderte, dass man sich die Jacke einfach über den Kopf abstreifte. Die Arme hatte er noch frei, auch wenn sie in vorne geschlossenen Ärmeln steckten. Er zog den Schrittgurt fest, schob die Arme durch die Schlinge an der Brust. Um die Schnalle hinten festzuziehen, verwendete er ein Hilfsseil, das er danach abzog.

Damit hatte er den Punkt erreicht, an dem er sich nicht mehr selbst befreien konnte.

Über Arts Gesicht rollten Wellen, von der Stirn über die Nase zum Kinn, und mit jeder Welle lächelte er mehr. »Gefesselt!«, rief er. »Ganz und gar gefesselt!«

Er rappelte sich so elegant es ging auf und verbeugte sich.

»Danke schön! Sie waren ein wunderbares Publikum.«

Einige Zuseher applaudierten. Ein Großteil ging sofort weiter, eine Dame im Nerz schüttelte den Kopf und murmelte etwas. Die Frau, die vorhin so neugierig gewesen war, schnippte ein Fünfzig-Cent-Stück in die Blechschale.

»Vielen Dank«, sagte Art. »Sie waren das beste Publikum!«

»Das war’s?«

Es war der Mann, der vorher an der Jacke gezerrt hatte. »Diese Jacken sind dafür gemacht, dass man nicht rauskommt. Reinkommen kann ich selber.« Er kam angeprescht, fletschte die Zähne und fuchtelte schon beim Laufen mit den Armen in der Luft herum.

Art duckte sich und machte sich bereit, den Aufprall mit der Schulter abzufangen. Am besten war es immer, auf der Schulter zu landen, wenn man gefesselt fiel. Aber der Mann bremste ab und klopfte Art auf den Nacken.

»Starke Leistung, Garfunkel«, sagte er.

Art verzog den Mund. »Tut mir leid, wenn Ihnen die Show zu subtil war. Für die Nuancen der Fesselung sind halt nicht alle empfänglich.« Er blickte sich im Publikum nach Unterstützung um.

Der Mann zog Arts Gurte fester. Er tat so, als prüfe er nur, ob alles gut saß, aber er zog dabei so fest, dass es Art die Rippen zusammenschnürte.

»Hören Sie auf«, sagte Art. »Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn Ihnen meine Show nicht gefallen hat, dann gehen Sie eben weiter. Hatte ich nicht gesagt, was ich vorhabe? Ich hatte es doch gesagt.« Er suchte erneut in den Augen der Umstehenden nach Unterstützung. »Habe ich es nicht gesagt?«

»Komm, Garfunkel«, sagte der Mann. »Befrei dich! Zeig, was du kannst!« Er zückte einen Fünfzig-Euro-Schein und drehte sich zum Publikum, das, sicherlich vom Tumult angezogen, wieder auf zwei Dutzend angewachsen war. »Das sind fünfzig Euro. Wenn er sich in fünf Minuten ohne Hilfe aus seiner Jacke befreit hat, bekommt er sie. Hast du gehört, Garfunkel? Fünf Minuten. Fünfzig Kröten. So viel hast du noch nie verdient, was?«

Art atmete ein und spannte die Arme an, blähte sich auf, um etwas mehr Platz in der Jacke zu schaffen. »Schieben Sie sich Ihre fünfzig Euro sonst wohin! Ich bin ein Fesselungskünstler. Entfesselung interessiert mich einen Scheißdreck. Jeder Möchtegern-Houdini entfesselt. Sie haben gesehen, was es zu sehen gibt. Es war Ihnen zu hoch, dafür kann ich nichts. Und jetzt hauen Sie ab.« Art schob die Brust nach vorne und streckte das Kinn nach oben.

Der Mann lächelte ins Publikum. Mittlerweile waren sogar mehr Menschen hier als am Anfang der Show. Einige mussten glauben, der Rüpel sei Teil der Show, ein bezahlter Schauspieler, und Art würde sich jeden Moment befreien und ihm einschenken. Der Mann versetzte Art einen Stoß. Art knallte auf den Boden und sein Gesicht malte einen Blutfleck auf den Beton.

»Noch drei Minuten!« Der Mann forderte das Publikum zum Applaudieren auf, und einige folgten.

»Kann mir bitte jemand aus der Jacke helfen?« Art sah sich nach der Frau um, die ihm fünfzig Cent zugeschnippt hatte, aber sie war wohl schon gegangen.

»Du!« Er meinte einen Teenager, der neongrüne Kopfhörer trug. Der Teenager tippte sich auf die Brust.

»Ja, du, machst du mir die Gurte auf?« Art drehte sich auf den Rücken, hob den Kopf.

»Du rührst dich nicht, Pisser«, sagte der Mann.

Der Teenager nahm die Kopfhörer ab und grinste den Mann an. Er ging zu Art, kniete sich neben ihn und öffnete die Gurte.

»Ja, dann hilf ihm halt aus seinem Jäckchen«, sagte der Mann. »Du kannst ihm gleich einen blasen, wenn du dabei bist. Das wäre doch was. Ihr seid mir zwei.«

»Tolle Nummer, die du da machst«, sagte der Teenager zu Art. »Voll Bondage.«

»Es ist Kunst«, sagte Art. »Dieser Grobian versteht das einfach nicht.«

»Kümmere dich nicht um den. Du machst dein Ding.«

»Leckt mich doch am Arsch«, sagte der Mann und zog vor sich hin schimpfend ab.

Man umringte Art, half ihm aus der Jacke.

»Alles in Ordnung?« Eine Dame reichte ihm ein Taschentuch. »Ihre Lippe.«

»Es geht schon.« Art zog sich die Knie an die Brust. Er zitterte, als habe er zu lange in der Kälte gehockt. »Entschuldigung. Es ist alles gut, ich muss nur ein bisschen sitzen.«

Der Teenager kam mit der Schale Kleingeld an, stellte sie neben Art. Er brachte auch den Requisitenkoffer und legte die Posey hinein. Dann nickte er noch, wohl um Art aufzumuntern, setzte sich die Kopfhörer wieder auf und schlenderte davon.

Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, man beachtete Art nicht mehr. Er zählte das Geld. Keine zehn Euro hatte er gemacht, aber wenigstens fehlte nichts. Es kam vor, dass am Ende weniger in der Schale war, als er selbst hineingegeben hatte.

Tauben pickten ein Salzstangerl vom Boden, das jemand verloren haben musste. Eine hatte ein übergroßes Stück im Mund und schüttelte heftig den Kopf, wohl in der Hoffnung, es möge davon zerbrechen. Schließlich legte sie es ab und pickte darauf herum. Eine andere Taube packte das Stück. Die Tauben rauften darum, bis es endlich riss. Die eine Taube hatte ein kleines Stück, die andere ein immer noch zu großes. Der Vorgang wiederholte sich mehrere Male, bis das Salzstangerl restlos verschwunden war.

Art griff sich an die Lippe. Am Finger war Blut. Er leckte die Lippe, presste den Handrücken auf die Stelle. Bald hatte er lauter rote Tupfer darauf. Er leckte sich sauber und wischte das Blut mit dem Taschentuch der Dame ab, faltete es zusammen, steckte es in seine Hosentasche und schloss die Augen.

Als er etwas neben sich spürte, öffnete er sie wieder. Neben ihm saß eine junge Frau. Sie war klein und eine Sonnenbrille bedeckte fast ihr gesamtes Gesicht. Obwohl es ein warmer Tag war, trug die Frau einen schweren Trenchcoat.

»Na«, sagte sie.

»Sitze ich auf deinem Platz?« Art lehnte sich nach hinten und blickte die Hauswand hinter sich hinauf.

»Auf meinem Platz.« Die Frau machte den Mund auf, als müsste sie lachen. »Glaubst du, man kann sich hier einen Platz am Gehsteig reservieren?«

»Ich dachte nur«, sagte Art.

»Starke Nummer«, sagte die Frau. »Ich bin Zozo.«

»Freut mich, ich bin –«

»Jaja, der gefesselte Art.«

»Was ist das für ein Name: Zozo?«

»Eigentlich heiße ich Zoey, aber so nennt mich niemand.«

»Tut mir leid wegen der Show.«

»Ach was. War doch gut! Du hast den Kerl provoziert, das ist ein gutes Zeichen. Wie ein richtiger Künstler.«

»Ich will aber nicht provozieren, ich will begeistern.«

Zozo verschränkte die Arme hinterm Kopf und rutschte ein Stück nach vorne. Dann zog sie eine Zigarette aus ihrer Brusttasche.

»Auch eine?«, fragte sie.

Art hob die Hand. »Nichtraucher.«

»Hab ich mir schon gedacht.«

Zozo zündete ihre Zigarette an, rauchte, blies den Rauch nach vorne, aber der Wind wehte Art alles ins Gesicht.

Er wedelte mit den Händen in der Luft. »Kannst du bitte?«

»Entschuldigung«, sagte Zozo. »Du bist mir vielleicht ein Pflänzchen.«

»Man kann hier überall sitzen«, sagte Art. »Du hast gesagt, es ist nicht dein Platz.«

»Ich wollte mit dir quatschen. Wegen deiner Nummer. Wie gesagt, sie ist stark.«

Zozo nahm noch einen Zug, klopfte Asche ab und drehte die Zigarette zwischen den Fingern, die Glut studierend wie Kaffeesatz.

»Ob sie auch gut ist, weiß ich nicht so genau. Wer will schon sehen, wie jemand eine Zwangsjacke anzieht?«

»Es ist schwieriger, als es aussieht«, sagte Art. »Vor allem, wenn es halbwegs schnell gehen soll.«

»Die Leute wollen aber etwas sehen, das schwierig aussieht. Ob es wirklich schwer ist, ist denen egal. Ein Freund von mir ist Jongleur. Und immer, wenn er einen neuen Trick zeigt – sagen wir, er jongliert mit fünf Keulen –, weißt du, was die Leute zu ihm sagen? Ob er das mit dem Apfel machen kann. Du weißt schon, wenn man beim Jonglieren vom Apfel abbeißt. Der leichteste Trick von allen, den kannst du an einem Tag lernen. Das wollen die Leute sehen.«

»Nicht alle Leute«, sagte Art.

»Nicht alle«, sagte Zozo. »Mir zum Beispiel macht es nichts aus, dass deine Nummer keinen Höhepunkt hat, keine Spannung und so weiter.«

»Meine Nummer hat Spannung.«

Zozo legte den Kopf auf die Seite. »Welche Spannung? Ob du in die Jacke kommst oder nicht?«

»Setz dich bitte auf die andere Seite oder blas deinen Rauch nach oben.«

Zozo blies aus, halb nach oben. »Wie gesagt, mir ist es egal. Deshalb nehme ich dich mit.«

»Aha«, sagte Art. »Du nimmst mich mit?«

Zozo sprang auf die Beine, flinker, als Art es ihr zugetraut hatte. »Komm schon! Hopp!«

»Geh du schon mal vor.«

»Du wirst es bereuen, wenn du nicht mitkommst.«

»Wie soll ich es bereuen?« Art stemmte sich im Sitzen hoch. »Ich weiß ja nicht einmal, wo du mich hinbringst.«

»Du wirst dir dies oder das ausmalen«, sagte Zozo. »Zum Beispiel wirst du denken: Vielleicht war sie vom Zirkus und wollte mir einen Platz in der Show anbieten. Das könntest du doch denken?«

»Ist es so?«

»Du wirst schon sehen«, sagte Zozo.

»Sag mir doch einfach, was du willst, dann kann ich entscheiden, ob ich mitkomme.«

»Art«, sagte Zozo. »Art, Art, Art. Du kommst doch sowieso mit. Das weiß ich so genau, wie ich gewusst habe, dass du deine Jacke anbekommen wirst. Willst du, dass ich bettle?«

Sie schnippte die Zigarette auf den Boden, sodass sie Arts Hose streifte. »Auf, los geht’s!«

Ehe Art über ihre Aufforderung nachdenken konnte, war er schon auf den Beinen.

»Und jetzt?«

Zozo drückte ihm den Griff seines Koffers in die eine Hand und packte die andere, schleifte ihn in eine Seitengasse.

»Ist es weit?«, fragte Art. »Sollen wir nicht die Straßenbahn nehmen?«

»Komm. Es ist nicht weit, und wohin wir gehen, führt keine Straßenbahn.«

Es war doch weit. Außerdem fuhren hier Straßenbahnen. Offenbar bevorzugte Zozo es, ihn mit dem Koffer durch die Gassen zu schleifen. Ab und zu drehte sie sich nach Art um, als wolle sie prüfen, ob er noch da sei. Dabei hielt sie doch die ganze Zeit über seine Hand, klammerte sich daran, als würde er davongeschwemmt werden, sobald sie losließ.

»Wie hat der Mann dich genannt? Garfunkel.« Zozo schmunzelte. »Das hörst du sicher oft. Dabei ist es eigentlich ein schöner Name: Art.«

»Garfunkel ja auch«, sagte Art. »Klingt wie Funkeln.«

»Aber auch wie Furunkel«, sagte Zozo. »Da ist Art besser. Eine schöne Silbe.«

Art hielt an, löste sich aus Zozos Griff. Er stellte den Koffer ab und schüttelte die Arme aus. »Können wir die Seiten wechseln?«

»Da vorne ist es schon.« Zozo zeigte geradeaus.

Hinter einem Maschendrahtzaun erstreckte sich eine Wiese bis zum Horizont. Das Gras war braun und wuchs brusthoch.

Art stellte den Koffer ab und setzte sich darauf, seitlich, sodass auch Platz für Zozo blieb. Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen, aber sie schüttelte den Kopf.

»Wir sind doch gleich da.«

»Und dort ist der Zirkus?«, fragte Art.

»Du wirst schon sehen, komm.«

Art beugte sich vor, vergrub den Kopf zwischen den Knien. Er spürte, wie sich Zozo doch neben ihn setzte.

»Wenn das so ist«, sagte Zozo, »dann lasse ich dich hier. Du wirst den Zirkus aber ohne mich nicht finden. Es ist schon für mich schwer, zurückzufinden, allein wirst du dich in der Wiese verirren.«

»Ich dachte, wir sind fast da.«

»Sind wir auch. Man muss den Weg aber kennen.«

»Der Zirkus wird mich nicht wollen, Zozo. Du meinst es gut, aber du hast ja gesehen, wie das Publikum auf mich reagiert.«

»Das Publikum ist nicht alles«, sagte Zozo. »Heutzutage sind wir nicht mehr vom Publikum abhängig.«

»Was gefällt dir überhaupt an meiner Nummer?«

»Sie hat was«, sagte Zozo. »Mehr suche ich gar nicht. Das ist schon recht viel, weißt du. Ich sehe viele Nummern. Die meisten sind kompetent, aber haben nichts.«

»Irgendwas wird doch jede haben«, sagte Art.

»Nein, nicht das.« Zozo klopfte auf den Koffer. »Man kann es eigentlich nicht beschreiben. Ich spüre es eben.«

»Wenn es das Publikum aber nicht spürt …?«

»Ich verrate dir etwas über das sogenannte Publikum: Das sind Idioten. Die nehmen, was man ihnen vorsetzt. Ja, natürlich, wenn du so auf der Straße stehst, dann erlauben sie sich weiß Gott was, aber im richtigen Rahmen, wenn man ihnen die Nummer nur richtig serviert, dann schlucken sie alles.«

Art fasste sich an den Hals. »Ich mache eben meine Nummer – aber wenn es nicht ankommt, dann glaube ich schon, dass es auch an mir liegt. Es gibt ja andere, die stellen sich nur hin, und die Leute sind schon verrückt nach ihnen.«

»Das ist leicht«, sagte Zozo. »Da gibt es Tricks, und dann geht das. Du machst eben etwas Eigenes. Diese Art von Show liegt dir nicht.«

»Sie liegt mir schon«, sagte Art. »Das ist es, was ich machen will, es gelingt mir nur nicht.«

Zozo sprang auf, machte eine Pirouette, bei der sie fast stolperte. Im letzten Moment fand sie ihr Gleichgewicht. Dann hopste sie los, hörte erst nach zwanzig Metern mit dem Gehopse auf und ging normal weiter. Als die Silhouette ihres Kopfes – mehr ragte nicht über die Borsten des Grasteppichs – schon fast am Horizont verschwunden war, sprang Art auf, schnappte den Koffer und hastete ihr hinterher.

»Warte!«, rief er. »Ich komme ja schon, warte auf mich!«

2

»Wieso hast du nicht gewartet?«

Zozo kicherte.

Das Gras war hier größtenteils abgetragen und sie gingen über steinige Erde. Nur hier und da ragte noch ein Büschel auf. Sie mussten sich auf einer kleinen Erhöhung befinden, denn man sah hinunter auf die Stadt.

»Von hier sieht sie ganz anders aus«, sagte Art.

»Du warst eben noch nie auf dieser Seite.«

»Wenn wir vorher gleich da waren«, fragte Art, »was ist dann jetzt?«

»Siehst du das Zelt dort vorne?«

Art sah nur noch mehr Erde und Gras, ganz hinten am Horizont schimmerte etwas oder es flimmerte nur die Luft. »Das da?«

»Was sonst?«, fragte Zozo.

Das Schimmern wuchs, verwandelte sich in eine blaue, rote, und gelbe Fläche, aus der sich Konturen hoben, die schließlich wirklich ein Zelt ergaben: das Zirkuszelt.

»Da ist es!«, rief Art.

»Vorher müssen wir aber noch woandershin«, sagte Zozo.

»Wir sind doch schon fast da. Können wir nicht erst zum Zirkus?«

»Sie werden dich nicht reinlassen. Du willst doch nicht nur außen ans Lager, sondern mitmachen. Wenn du das willst, musst du die Schritte wie vorgesehen durchlaufen. Es hat noch niemand ins Zelt geschafft, der nicht den Ablauf durchgemacht hat. Da wirst du keine Ausnahme sein. Nur bei den Allerersten war es noch anders, notgedrungen, weil es da selbstverständlich noch keine Prüfwagen gegeben hat, aber seit es sie gibt, kommt man nicht um sie herum.«

Zozo griff nach Arts Hand, ließ sie aber sofort wieder los. Dann bog sie rechts ab und Art folgte. Die Wiese formte hier einen flachen Krater, den man zunächst gar nicht hatte sehen können. In der Mitte des Kraters stand ein einzelner Wagen. Davor rauchte ein Grill.

»Seltsam«, sagte Art, »dass wir vorhin gar keinen Rauch gesehen haben.«

»Man sieht eben, worauf man achtet«, sagte Zozo. »Das Offensichtlichste kann man übersehen.«

Am Grill stand ein Mann, der eine Grillzange hielt. Er musste gemerkt haben, dass sich jemand näherte, zeigte aber keine Reaktion, sondern drehte wie in Gedanken versunken seine Würstchen um. Der Wagen war ein alter Campinganhänger, von dem die vergilbte Plastikbeschichtung abblätterte. Die Wiese hatte ihn von allen Seiten umwachsen, und Auto war keines zu sehen.

»Ich habe wieder einen«, sagte Zozo, als sie in Hörweite war. »Art heißt er.«

»Art«, sagte der Mann. »Such dir einen Platz im Wagen. Ich komme dann zu dir.«

Art sah Zozo an, die ihn mit dem Kinn zum Wagen schickte.

»Entschuldigung«, sagte er, »aber das ist ein Missverständnis.«

»Willst du nicht mitmachen?«, fragte der Mann.

»Schon, aber …«

»Dann geh in den Wagen, Herrgott! Ich komme ja gleich. Was bringst du mir da für einen, Zozo?«

»Du weißt doch, wie sie sind«, sagte Zozo. »Komm schon, Art. Er kommt ja gleich. Das ist eben der Ablauf. Ich habe es dir doch erklärt.«

»Der Ablauf, ja.« Art machte drei Schritte auf den Wagen zu und drehte sich um. Sein linker Mundwinkel zuckte. »Du hast gesagt, du magst meine Nummer. Warum muss ich jetzt in den Wagen? Was ist das überhaupt für ein Ablauf?«

»Art.« Zozo war in einem Sprung bei Art, legte ihm die Hand über den Mund und ließ sie locker darauf liegen. »Pass auf, was du sagst. Du blamierst nicht nur mich. Wenn du nicht aufpasst, sagt er dir, dass du wieder gehen kannst. Es kann sein, dass du deine Chance schon vergeben hast. Wenn du jetzt brav bist, kannst du dich noch retten.«

Sie wendete sich dem Mann zu. »Nimm es dem Kleinen nicht übel, Frank. Du weißt, wie nervös sie alle sind.«

»Lass mich damit in Ruhe«, sagte der Mann, den Zozo Frank genannt hatte. Er hielt eine Wurst mit der Zange in die Höhe, drehte sie vor seinem Gesicht und kniff die Augen zusammen. Er besah sich die Wurst von allen Seiten, legte sie ab, nahm sie wieder auf und studierte sie erneut, nickte dabei vor sich hin, als hätte er allerhand erfahren.

»Was ist das für einer?«, flüsterte Art. »Warum soll ich in den Wagen?«

»Er hört dich«, sagte Zozo. »So leise kannst du nicht sprechen, dass er dich nicht hören würde. Ich habe gedacht, du willst zum Zirkus, und jetzt fängst du so an. Was ist denn so schlimm an dem Wagen? Du warst noch nicht einmal drinnen und er passt dir schon nicht.«

»Es ist nur … dann gehe ich eben, wenn es sein muss.«

»Natürlich muss es sein«, sagte Zozo. »Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du mit der Fesselei angefangen hast.«

»Aber ich habe ja nicht deshalb …«, sagte Art, während er schon auf den Wagen zuging.

Zozo hopste voraus, hielt ihm die Türe auf.

»Und bleib ja drinnen, bis Frank zu dir kommt. Auf keinen Fall darfst du vorher herauskommen, verstehst du? Dann hättest du keine Chance mehr. Ich mag dich und will, dass du es schaffst, aber dafür musst du dich an die Regeln halten.«

»Wann kommt er?«

»Geh hinein«, sagte Zozo. »Er kommt schon, wenn er so weit ist. Wenn du an der Reihe bist, kommt er.«

Art stieg die Stufen hinauf und duckte sich, um den Kopf durch die Tür zu bekommen. Es kam ihm ein heißer Schwall von nach Pilzen stinkender Luft entgegen. Hinter ihm fiel die Tür zu. Drinnen gab es zwei Bänke, auf denen Leute saßen, und am Herd stand ein Mann mittleren Alters und rührte mit einem langen Holzlöffel in einem Topf herum. Eine Frau auf der Bank, die ein Trikot trug, wie es Akrobaten hatten, machte sich klein und ließ Art vorbei, damit er sich auf den freien Platz neben ihr setzen konnte. Er lächelte in die Runde. Grüße wurden gemurmelt.

»Ich bin Art«, sagte er schließlich noch.

»Es gibt Steinpilze«, sagte der Mann hinterm Herd. »Du magst Pilze, ja?«

Art zuckte mit den Schultern. »Kann man hier ein Fenster öffnen? Die Luft.«

»Leider«, sagte der Mann.

»Gab es nicht einmal eine Lüftung?«, fragte die Akrobatin.

»Der Schalter klemmt«, sagte der Mann. »Man gewöhnt sich an die Luft. Es riecht doch nicht schlecht? Die Pilze riechen doch nicht schlecht?« Er nahm mit dem Kochlöffel etwas Soße, blies darauf und kostete. Dann salzte er nach, presste Zeigefinger und Daumen der freien Hand aufeinander, küsste die zusammengepressten Finger und warf die Hand in die Luft: »Spitze! Einfach magnifico. Wer will, kann sich holen kommen.«

Es rührte sich niemand.

»Art, ja?«, fragte der Mann.

»Ja«, sagte Art.

»Komm, du hast doch Hunger, so etwas sehe ich.«

»Na ja, schon.« Art stand auf.

Die Frau neben Art gab ihm einen Schubs. »Geh ruhig. Keine Angst.«

Neben dem Herd standen ein Stapel Teller und ein Glas mit Löffeln. Art nahm von beidem und streckte den Teller aus.

Der Mann schöpfte einen Löffel und einen halben darauf. »Brot?«

Art schüttelte den Kopf.

Der Mann legte ihm eine Scheibe Brot auf die Soße. »Ohne Brot schmeckt es einem nicht«, sagte er.

Art bedankte sich. »Isst sonst niemand etwas?« Er schnupperte an den Pilzen.

»Das riecht, was?«, fragte der Mann.

Art nahm einen Pilz auf den Löffel. Er schmeckte herb und salzig, hatte aber kaum mehr Biss, zerging im Mund wie Brei. Das Brot war trocken, aber man konnte es zerkrümeln und in der Soße aufweichen, dann lagen die Stücke angenehm im Mund.

Nach drei Bissen fragte Art: »Wie oft kommt Frank?«

»Nenn ihn lieber nicht so«, sagte die Akrobatin, und die anderen im Wagen pflichteten ihr nickend bei.

»So heißt er doch«, sagte Art.

»Das mag ja sein«, sagte die Akrobatin. »Besser ist es trotzdem, wenn er seinen Namen nicht hört. Einmal hat ihn einer so genannt, der ist gleich rausgeflogen.«

»Also wie soll man ihn nennen?«

»Am gescheitesten ist es, überhaupt zu vermeiden, einen Namen zu nennen. Wenn man zum Beispiel sagt: ›Wie oft kommt er?‹, dann ist klar, wer gemeint ist.«

Art lachte.

»Was ist komisch?«, fragte die Akrobatin.

Art nahm noch einen Bissen, um sich beim Kauen eine Antwort zu überlegen. »Ich weiß nicht. Es ist nur … ist das nicht seltsam? Er ist ja nur ein Mensch wie du und ich, wie wir alle.«

Ein Mann, der vorher schon besonders eifrig genickt hatte, beugte sich vor. Er trug eine Pelzhaube und hatte spitze Piercings in Nase, Lippe und Augenbrauen stecken. Ein besonders langer Stachel ragte ihm aus der Wange. »Er ist besser und schlechter als wir.«

»Verstehe«, sagte Art.

Jetzt war es die Akrobatin, die lachte. »Er sagt, er versteht es.«

Der Mann hinterm Herd stimmte ins Lachen ein, alle lachten.

»Ich meine ja nur«, sagte Art.

»Dann erklär es uns.« Die Miene der Akrobatin wurde ernst und erwartungsvoll. »Wenn du es so gut verstehst, kannst du es uns ja erklären.«

»Lass ihn«, sagte der Mann hinterm Herd. »Er will doch nur in Ruhe essen. Stimmt doch, Art? Sag es, dann lassen sie dich in Ruhe.«

»Ich wollte nicht unhöflich sein.« Art nahm einen Löffel Pilze und senkte beim Kauen den Blick.

»Hörst du?«, fragte die Akrobatin. »Er hat nichts verstanden. Er wollte eben nicht unhöflich sein. Na ja, wenn das so ist, nicht wahr?« Sie sah den Gepiercten mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Höflich«, sagte der und schnaubte. »Du hast also nichts verstanden?«

»Doch. Besser und schlechter als wir.«

»Besser und schlechter«, sagte der Gepiercte.

»Weil wir Künstler sind, ja?«, fragte Art.

»Was?« Der Gepiercte spielte an seinem Wangenstachel herum, zog daran, sodass sich die Haut aufspannte wie ein Zelt und sich seine Pelzmütze herumschob, als lebte sie noch ein wenig.

»Ich denke mir nur«, sagte Art, »wir alle hier, wenn ich mich nicht irre, wir machen ja Kunst, wir machen Nummern, nicht? Insofern könnte man sagen, also in dieser Hinsicht, dass wir besser sind als er, ja?«

»Sei still«, sagte die Akrobatin und sah zum Fenster hinaus.

»Er kann mich doch nicht hören«, sagte Art.

»Wie willst du wissen, was er kann oder nicht?«, fragte die Akrobatin. »Warum glaubst du, nennen wir seinen Namen nicht, wenn er uns gar nicht hören kann? Er muss es ja auch nicht selbst hören. Wir sind hier doch nicht allein. Zum Beispiel sie.« Die Akrobatin zeigte auf eine Frau, die ihr schräg gegenüber auf der Bank hockte und irgendetwas mit ihren Fingern machte. Was, war im Halbdunkel schwer zu erkennen. »Was wissen wir von ihr? Fast nichts wissen wir von ihr. Schon gar nicht, ob sie eine Künstlerin ist. Gesagt hat sie noch nie etwas, und den ganzen Tag häkelt sie ihre Deckchen, ihre lächerlichen Deckchen.« Die Akrobatin beugte sich vor, wohl um das Gesicht der Häklerin zu sehen. »Sie reagiert auf nichts, sagt nichts. Sie könnte genauso gut für ihn arbeiten. Sieh sie dir gut an.« Die Akrobatin beugte sich noch weiter vor, war jetzt fast mit ihrem Gesicht an der Brust der Frau, die unbeirrt weiter häkelte, nicht einmal den Kopf regte. »Mit der stimmt so einiges nicht.«

»Das weißt du nicht«, sagte der Gepiercte.

»Jaja«, sagte die Akrobatin. »Kann sein, dass sie nichts dergleichen vorhat. Der Punkt ist, dass man aufpassen muss, was man sagt. Du kannst nicht einfach sagen, er wäre kein Künstler, er sei schlechter als wir, weil er kein Künstler ist.«

»Was hast du dann gemeint?«, fragte Art den Gepiercten. »Du hast gesagt: Er ist besser und schlechter.«

»Besser und schlechter«, sagte der Gepiercte.

»Was soll das heißen?«

Der Mann hinterm Herd nahm Art den Teller ab, klatschte noch einen Löffel Nachschlag hinein und gab ihn zurück. »Lass dich nicht beim Essen stören«, sagte er. »Schlechter, besser. Das heißt nichts, mach dich nicht verrückt. Sie kennen ihn so wenig wie du. Sie sind länger hier, aber er war ja in der ganzen Zeit noch nicht da. Was wissen sie also schon? Selbst ich, der ich ihn schon einige Male getroffen habe, weiß nicht, wie er ist oder was er weiß. Besser, schlechter. Man hat ja keinen Maßstab. Man müsste doch erst wissen, wie gut man selber ist, um sich zu vergleichen. Wahrscheinlich ist er besser als die meisten hier und schlechter als die eine oder der andere. Iss lieber, das ist das Einzige, worauf es ankommt. Damit du bei Kräften bleibst.«

»Er war noch gar nicht hier?«, fragte Art, stellte den Teller Pilze zwischen seine Füße.

»Das kann man so nicht sagen«, sagte die Akrobatin. »Wenn hier sein bedeutet, hier drinnen, also im Wagen, dann stimmt es, dann war er wirklich noch nicht hier. Aber mindestens zweimal ist er auf uns zugekommen, hat fast die Türe geöffnet. Einmal hat er sogar beim Fenster hereingelugt.«

»Dreimal war er hier«, sagte der Gepiercte.

»Beim dritten Mal sind wir uns uneinig«, sagte die Akrobatin. »Ich meine, er hat sich nur umgedreht, weil sich eine Bremse in seinen Nacken gesetzt hat.«

»Da war keine Bremse«, sagte der Gepiercte.

»Und du kennst ihn?«, fragte Art zum Mann hinterm Herd gewandt.

»Ich sage doch, dass ich ihn nicht kenne. Getroffen habe ich ihn einige Male. Manchmal lässt er mich holen. Wir sprechen aber nur über die Versorgung, über die Kost. Letztens wollte er wissen, wie viele Zwiebeln er bestellen soll. Er spricht ganz ruhig, sieht einem in die Augen.«

»Bist du eigentlich auch ein Künstler?«, fragte Art.

»Ich?« Der Mann hinterm Herd bohrte sich einen Finger in die Brust.

»Du meinst«, sagte die Akrobatin, »von seinen Kochkünsten abgesehen?«

Die Häklerin hustete. Erst leise, dann immer heftiger, bis ihr sogar das Häkelzeug auf den Boden fiel. Als sie fertig war, hob sie Nadel und Wolle auf und häkelte weiter. Während des Anfalls hatten ihr alle schweigend und mit zusammengekniffenen Augen beim Husten zugesehen.

»Ich habe mich einmal für einen gehalten«, sagte der Mann hinterm Herd. Er legte den Kochlöffel über den Topf wie eine Brücke. »Ein Künstler ist ja jemand, der Kunst macht, nicht? Dann bin ich nämlich keiner mehr. Nach so einer langen Zeit kann man wirklich nicht sagen, dass ich noch einer wäre. Es geht mir aber ganz gut so. Wenigstens essen wir fein. Du isst gar nicht mehr. Iss, Art. Das ist das Wichtigste. Man muss schön essen.«

Die Akrobatin verzog das Gesicht zu einer kindlichen Grimasse. Die Unterlippe umgestülpt und die Augen aufgerissen fuhr sie sich mit dem Zeigefinger über die Lippe und blubberte vor sich hin.

»Mach dich nicht lustig«, sagte der Mann hinterm Herd. »Dir schmeckt doch auch, was ich koche. Also mach dich nicht lustig!«

»Man bleibt ein Künstler«, sagte sie und sah sich in der Runde um. »Ein Künstler ist man auch, wenn man keine Kunst macht. Es ist eher ein Wesenszug.«

»Ein Wesenszug«, wiederholte der Gepiercte.

Der Mann hinterm Herd zog die Wangen nach hinten, sodass sich sein Mund zu einer Linie spannte. Er wedelte mit der Hand in der Luft. »Ein Wesenszug, ein Wesenszug.«

»Warum ist er besser?«, fragte Art. »Darüber können wir ja zumindest reden, oder?«

»Er ist besser«, sagte der Gepiercte.

»Er hat eben viel gesehen«, sagte die Akrobatin. »Er macht das lange genug, weiß, was funktioniert und was nicht. So ist das. Wir Künstler halten natürlich unsere Nummer für die beste von allen. Das müssen wir ja, sonst würden wir nicht an uns selbst glauben.«

»Na ja«, sagte Art. »Ich mache eben, was ich mache.«

»Er macht eben, was er macht«, sagte der Gepiercte.

»Wie auch immer«, sagte die Akrobatin. »Dann glaubst du eben nicht, dass es gut ist, was du machst. Aber du hast trotzdem Gründe, warum du es gerade so machst, wie du es machst. Wenn du Gründe gegeneinander abwägst und etwas entscheidest, dann nennt man das Urteil. Stimmt das nicht?«

»Kann sein«, sagte Art.

»Es ist dein Urteil«, sagte die Akrobatin. »Aber gerade im Urteilen ist er besser, weil er eben schon so viel gesehen hat.«

»Was du immer redest«, sagte der Mann hinterm Herd. »Was sie immer redet.«

»Jetzt kommt wieder das«, sagte die Akrobatin.

»Wieder was?«, fragte Art.

»Jetzt fängt er gleich damit an, dass jeder seine eigene Nummer am besten kennt, sogar besser als er und so weiter. Das wolltest du doch gerade sagen.«

»Gar nichts wollte ich«, sagte der Mann hinterm Herd.

»Ist auch gescheiter so. Man kennt nämlich die eigene Nummer am schlechtesten. Versteht auch überhaupt nicht, warum man es so macht oder so. Sicher, man hat seine Gründe. Aber es sind nicht die wirklichen.«

Der Gepiercte sprang auf. »Da war etwas!«

Art lauschte, die Akrobatin lauschte, der Mann hinterm Herd lauschte, alle lauschten. Der Gepiercte stand mit nach vorne gerecktem Kopf im Wagen. Er berührte mit dem Scheitel fast die Decke.

»Er steht doch noch am Grill«, sagte die Akrobatin.

»Es könnte sein«, sagte der Gepiercte, »dass er mit dem Fuß gescharrt hat.«

»Warum hätte er das tun sollen?«, fragte die Akrobatin.

Der Gepiercte setzte sich wieder.

»Warum kommt er nicht?«, fragte Art. »Er scheint gar nicht so viel zu tun zu haben.«

Die Häklerin kicherte leise.

»Stimmt doch«, sagte Art. »Er grillt doch nur.«

»Sei nicht ungerecht, Kleiner«, sagte der Mann hinterm Herd. »Das ist gar nicht so ›nur‹. Wenn man so eine Wurst vergisst, dann verkohlt sie einem. Außerdem gibt es eben die Arbeit, die man sieht, und die unsichtbare, die Arbeit des Geistes. Er ist ein Kopfarbeiter.« Der Mann hinterm Herd tippte sich an die Stirn.

»Und was arbeitet er in seinem Kopf?«, fragte Art.

»Darüber können wir natürlich nur mutmaßen. Er denkt über uns nach. Er hat uns ja schon gesehen. Der erste Eindruck ist nicht unwichtig. Natürlich geht es auch um die Nummer, aber bevor er zu viel davon sieht, will er den Eindruck verarbeiten, den er von uns hat. Ich bilde mir ein, er hat sogar einmal etwas in diese Richtung bemerkt, als er mich um Kohle gebeten hat, um seine Glut wachzuhalten.«

»Das hast du gar nicht erzählt.« Die Akrobatin legte sich die Hand an den Unterkiefer, knetete die Stelle.

»Wahrscheinlich habe ich es vergessen«, sagte der Mann hinterm Herd. »Es tut ja auch nichts zur Sache. Falls er etwas gesagt haben sollte, wäre es nur eine Andeutung gewesen. Es kommt mir einfach plausibel vor. Er spinnt uns in Gedanken weiter, während er den Wurstrauch einatmet und in die Glut stiert.«

»Verstehe«, sagte Art. »Es ist eine Vorbereitung.«

»Vorbereitung. Das trifft es exakt. Er stellt sich auf die Sichtung der Nummern ein.« Der Mann hinterm Herd öffnete ein Kästchen und holte einen Küchenhocker heraus, auf den er sich setzte. Der Hocker war für ihn zu klein und er hatte sichtlich Schwierigkeiten, die Knie in der Kochnische unterzubringen. Nur seine Augen ragten noch über die Arbeitsplatte. »Das ist aber nur das eine. Er macht auch eine Vorauswahl, eine Reihung.«

»Ja, eine Reihung«, sagte der Gepiercte.

»Das war seine Idee.« Der Mann hinterm Herd zeigte auf den Gepiercten. »Das hat er gut kombiniert. Ein paar Nummern kommen ja von vornherein nicht in Frage.«

»Tun sie nicht?« Art sah zur Tür.

»Natürlich nicht«, sagte der Mann hinterm Herd. »Zozo schleppt ja allerhand an. Nicht, dass sie keinen guten Blick hätte, das will ich gar nicht sagen, auf keinen Fall will ich das gesagt haben. Es ist eher … sie darf großzügig sein. Es ist ihr Job, alles anzuschleppen, was irgendein Potenzial hat.«

»Aber wenn man nicht in Frage kommt, warum schickt er einen dann nicht gleich weg?«

»Das haben wir uns auch gefragt«, sagte die Akrobatin, die die letzten Minuten bloß auf den Boden gestarrt hatte. »Es ist nämlich noch nie vorgekommen, dass er jemanden direkt weggeschickt hat. Zumindest sagen das alle hier. Noch kein einziges Mal sei das vorgekommen. Dabei kann man sich kaum vorstellen, dass er nicht manchmal auf den ersten Blick sieht, wenn etwas nichts ist.«

»Kaum vorstellen«, wiederholte der Gepiercte.

»Vielleicht«, sagte Art, »muss er den Eindruck erst verarbeiten.«

»Sehr gut«, sagte die Akrobatin. »Du denkst mit. Sehr gut.« Sie drehte sich zum Mann hinterm Herd. »Er denkt mit.« Dann zur Häklerin. »Er denkt mit.«

»Das dürfte es sein«, sagte der Mann hinterm Herd. »So ein Eindruck entwickelt sich eben. Es kann sein, dass er zuerst denkt, es ist nichts, aber nachdem er ein bisschen an der Nummer gearbeitet hat – das heißt an der Vorstellung von der Nummer, gesehen hat er ja noch nichts –, dann kippt es ihm im Kopf um. Das sind die Früchte der Kopfarbeit. Dieses Kippen. Und so wird aus nichts etwas. Und das Gegenteil ist natürlich ganz genauso möglich. Manchmal denkt er sicher sofort: Das ist es, das wird die nächste Nummer. Aber er lässt es sich nicht anmerken, weil er in all den Jahren, die er seine Arbeit schon macht, gelernt hat: Nach ein wenig Kopfarbeit verwandelt sich dieser gute Eindruck zuweilen in Enttäuschung.«