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Ein zischender Schrei. Er verhallt wie ein Gewitter in der Nacht. Der Jurist Dr. Paul Squamat traut seinen Augen nicht. Liegt da ein totes Kind am Neckarufer? Ein nacktes Mädchen mit nassem Haar direkt vor seinen Füßen? In Panik ergreift er die Flucht. Auf der Alten Brücke angekommen, setzt er sich zu Füßen Minervas und starrt auf ihre steinerne Eule. Er ist sich plötzlich nicht sicher, ob diese Kinderleiche nur eine Sinnestäuschung seiner geschwächten Psyche ist oder ob sie wirklich existiert. Hat er etwas mit dem Mord an dem Kind zu tun? Ein Schwindelgefühl jagt ihm durch den Kopf. Am nächsten Tag geht ein Foto im Netz viral. Das Motiv: Ein Mann, der ohne Zweifel Paul Squamat ist, zusammen mit dem leblosen Körper des Mädchens. Unter dem Foto steht: Pädophile immer dreister – die Schweine kennen keine Skrupel. Eine unerbittliche Hetzjagd beginnt. Ohne auch nur zu ahnen, dass er die Todesliste eines Kinderschänder-Rings anführt, gerät der Jurist immer tiefer in die dunklen Machenschaften seines längst verstorbenen Vaters. Erst ein fehlgeschlagener Mordanschlag auf ihn führt dazu, dass der Heidelberger Kriminalhauptkommissar Johannes Falken anfängt, auch in andere Richtungen zu ermitteln. Kann Martha Kostka, die Heidelberger Privatermittlerin ihrem neuen Klienten trauen? Trotz ihrer Zweifel versucht sie ihn vor seinen Widersachern zu schützen und gerät bald selbst in ein Fadenkreuz, von dem sie nichts ahnt.
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Der Schrei des Chamäleons
Impressum
Prolog
Kapitel 1 - Der Schrei
Kapitel 2 - Mimikry
Kapitel 3 - Der Hackteufel
Kapitel 4 - Der Auftrag
Kapitel 5 - Die Gottesanbeterin
Kapitel 6 - Blitzlichtgewitter
Kapitel 7 - Die Recherche
Kapitel 8 - Das Scholzgläschen
Kapitel 9 - Der Abschiedsbrief
Kapitel 10 - Chauves Souris
Kapitel 11 - Willis Vernetzung
Kapitel 12 - Silicon Valley
Kapitel 13 – Die Katakomben
Kapitel 14 - Totes Mädchen im Fluss
Kapitel 15 - Der Liebespavillon
Kapitel 16 - Im Reich der Perversion
Kapitel 17 - Weiße Rosen
Kapitel 18 - Die Sichel des Kronos
Kapitel 19 - Schirm und Schild
Kapitel 20 - Der Schlüsselstein
Kapitel 21 - Justitias Sieg
Kapitel 22 - Das Tor ins Glück
Kapitel 23 - Squamats Erwachen
Kapitel 24 - Rettende Ferkelei
Kapitel 25 - Die Flucht
Kapitel 26 - Genetisches Desaster
Kapitel 27 - Polizeischutz
Kapitel 28 - Der Staatsanwalt
Kapitel 29 - Arctium lappa
Kapitel 30 - Frankfurter Kranz
Kapitel 31 - Post vom BKA
Kapitel 32 - Verpasste Chancen
Kapitel 33 - Die vierte Fliege
Kapitel 34 - Paradiso Vegetale
Kapitel 35 - Glück mit Perspektive
Fernab des Himmels und der Freiheit
Epilog
Adelheid Adrian Bucherscheinungen:
Adelheid Adrian
Der Schrei des Chamäleons
Ein neuer Fall für Martha Kostka
Kriminalroman
Ein neuer Fall für Martha Kostka
Tiefes Schwarz hat sich über die Häuser und den nächtlichen Neckar gelegt. Nur das Tosen des Wassers, das über die Staustufe stürzt, ist zu hören. Paul Squamat traut seinen Augen nicht. Liegt vor ihm ein totes Kind? Ein nacktes Mädchen mit nassem Haar? Ist diese Kinderleiche real oder ist sie nur eine weitere Sinnestäuschung seiner geschwächten Psyche? Ein Schwindelgefühl jagt durch seinen Kopf. Der Schrei, der nun zischend seiner Kehle entweicht, lässt die Vögel weit oben am Königsstuhl aufschrecken. Dann geht ein Foto im Netz viral. Eine unerbittliche Hetzjagd beginnt und drängt den Juristen immer tiefer in die Machenschaften seines längst verstorbenen Vaters. Auch die Heidelberger Privatermittlerin Martha Kostka traut ihrem neuen Klienten nicht, aber versucht ihn trotz ihrer Zweifel aus dem Fadenkreuz der Ermittlungen zu ziehen. Tut sie das Richtige?
Text und Inhalt: 2023 © Copyright by Adelheid Adrian
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: 2023 © Copyright by Adelheid Adrian
Unter der Verwendung eigener Kunst und KI-Fotokunst
Alle Rechte vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Korrektorat:M. Reichel, C. Tetzlaff,
Lektorat:M.H. Schaeffer
Bildmaterial:A. Adrian/Neuroflash
Verlag: Adelheid Adrian
Häusserstr. 20
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Herstellung/Druck: Neopubli GmbH HRB 108995 Berlin
ISBN: 9783758414121
Ein greller, zischender Schrei. Er verhallt wie ein tosendes Gewitter in der Nacht. Das Chamäleon, das ihn erzeugt, ist so irreal, wie es real ist. Die Ansprüche der anderen, aber auch seine eigenen Launen, gestalten Paul Squamats Körper wechselhaft und immer wieder aufs Neue. Seine Mimikry ist eine reflexartige Reaktion, auf die der Mann längst keinen Einfluss mehr hat. Täglich ändert er mehrfach sein Kolorit, aber nicht, weil er es kann, sondern weil es ohne sein Dazutun geschieht. Bei Stress leuchten die Farben seiner Haut besonders bunt. Sein so prächtiges Äußeres macht ihn unangreifbar, weil niemand ahnt, dass hinter der faszinierenden Buntheit Verunsicherung und Anspannung ihren Schutz gefunden haben.
Und wer von uns kennt es nicht auch? Ohne genau zu wissen, wann und warum es beginnt, halten wir plötzlich mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft. Wir sind darum bemüht, keinen einzigen von ihnen entgleiten zu lassen. Es passiert im Job, beim Managen der Familie oder, wenn wir versuchen, beides auf einmal zu stemmen. Wir denken noch, ach, wir sind ja begünstigt, ach, wir sind ja mit einer außergewöhnlichen Portion Resilienz ausgestattet und dies um so viel mehr als alle die anderen, deren trauriges Schicksal wir als Voyeure heimlich beobachten. Doch dann biegen wir uns selbst geschmeidig im Dschungel der täglichen Herausforderungen wie Bambushalme bei wildem Sturmgebraus und bemerken nicht, dass das Jonglieren der Bälle längst zu einem unabdingbaren Selbstläufer, längst zu einer zwanghaften Manie geworden ist. Und diesem Zwang können wir nicht mehr entkommen. Wir sind gefangen im Verlies der Einsamen, liegen in Ketten und spielen uns trügerisch vor, dass dies der Aufstieg zum Gipfel der Entfaltung des unantastbaren Erfolgs sei.
Die Bälle sind die To-dos der Listen, mit denen wir täglich beauftragt sind, beäugt von Kollegen, Mitarbeitern, Chefs, Auftraggebern, Partnern, Mandanten, Klienten und all denjenigen, die ein unaufrichtiges Interesse an uns haben. Und wir sind beäugt von uns selbst, dem ungnädigsten aller Kritiker. Wir schlüpfen in Rollen und werden Teil eines seltsam inszenierten Schauspiels, ohne zu bemerken, dass die Realität uns längst verloren hat und wir die Realität. Die Regie unseres Wirkens liegt in den Händen anderer und diese Hände formen uns in ihrem Sinne.
Und genau so ergeht es dem Protagonisten dieses Kriminalromans, Doktor Paul Squamat. Seine Identität, sein Ich, sein Selbstbild sind längst unter der Haut eines Chamäleons verblasst. Er, der viel zu spät bemerkt, dass er wie ein Bälle jonglierendes Chamäleon sein Dasein fristet, obwohl er nur ein ganz gewöhnlicher Jurist und Wirtschaftsprüfer ist, der das Erbe seines Vaters angetreten hat.
Tief in sich versunken stolperte das Chamäleon, ausgebrannt und getrieben von dem Wahnsinn seiner strapazierten Psyche, über das Kopfsteinpflaster der in dumpfes Gelb getauchten Gassen Heidelbergs. Auf seinen Händen tanzten Bälle schwer wie eiserne Bocciakugeln. Ähnlich einem Jongleur der Meisterklasse wirbelte es sie durch die Luft. Zwei der Bälle berührten dabei zeitgleich seine Hände, während die drei anderen immer wieder aufs Neue kunstvolle Formationen vor der Kulisse des nächtlichen Himmels erschufen.
Mit all seiner Konzentration zeichnete das Chamäleon für jeden seiner fünf Bälle Flugbahn für Flugbahn auf eine unsichtbare Leinwand. Niemals fiel auch nur eine dieser schweren Kugeln auf das holprige Pflaster.
Eine akrobatische Herausforderung, denn nicht nur über seinem Kopf und vor seiner Brust schossen die schwarzen Objekte durch die Luft, sondern auch unten auf dem Boden lagen runde Bälle, die es unmöglich machten, einen sicheren Halt zu finden. Bei jedem Schritt versuchte das Chamäleon mit seinen Krallen das Runde zu greifen, das sich ihm bedrohlich in den Weg stellte. Eine sehr wacklige Angelegenheit, wie man sich denken kann.
Dieses Kunststück begann jeden Tag am frühen Morgen, nämlich dann, wenn das Chamäleon die kunstvoll mit Eisen beschlagene Eichentür der renommierten Wirtschaftsprüfer- und Steuerberatungsgesellschaft öffnete und die historische Eingangshalle der über einhundertdreißig Jahre alten Sandsteinvilla betrat.
Auch die dekorativ geschwungenen Linien sowie die großflächigen floralen Ornamente des Jugendstils konnten ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf dem Boden der Flure tückische Kugeln verteilt lagen, die bereits bei der leichtesten Berührung zu einer ausufernden Verunsicherung führten.
Jeden Abend, manchmal etwas früher und manchmal etwas später, ließ die Konzentration des Chamäleons nach, und mindestens einer der Jonglierbälle verließ seine Flugbahn und glitt polternd zu Boden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Paul Squamat meist seinen Arbeitsplatz verlassen und so fiel dieser Ball auf das Kopfsteinpflaster einer Heidelberger Altstadtgasse. Wo genau, konnte man nicht vorhersagen, denn es kam darauf an, in welcher der Gassen er sich gerade befand.
Sein Körper geriet dann gewaltig ins Schwanken, weil die Kugeln in seinen Fußkrallen so halsbrecherisch zu wackeln begannen und er sich fast nicht mehr auf seinen Beinen halten konnte.
Wenn Paul Squamat diesen Zustand erreicht hatte, waren die Farben seines Körpers längst normal geworden, so normal wie man es sich bei einem Menschen vorstellt, dessen Haut kaum in Berührung mit Sonnenlicht kommt. An ihrer Oberfläche bildeten sich ebenfalls, wenn auch nur zaghaft, die kleinen, stachligen Zacken zurück. Zacken, die tagsüber so scharf waren, dass sie ihm den größtmöglichen Schutz vor An- und Übergriffen garantierten.
Da in Heidelberg bereits Temperaturen wie im Frühsommer herrschten, schlug Paul Squamat den Weg Richtung Neckar ein. Er lief über den alten Münzplatz Richtung Schleuse und erreichte schließlich die Schleusenbrücke, die über den Neckar auf die andere Uferseite führte.
Allnächtlich löste er auf dem Neckarübergang die schweren, schwarzen Bälle aus seinen Krallen, stellte seine Füße, jetzt endlich in sich wieder stabil, auf den Boden und warf mit aller noch übriggebliebener Kraft, die Schwere des Tages über das Geländer der Brücke.
Manchmal, wenn die Schleusenwalzen hochgezogen waren und sich Hölzer, Autoreifen, Plastikstücke und anderer Unrat verfangen hatte, landete diese erdrückende Schwere, wie Squamat stets dachte, in guter Gesellschaft. Er schaute dann versonnen in den nächtlichen Dunst, der noch schwer über dem Neckar lag. Er trauerte gemeinsam mit dem Flusslauf, der sich auf Höhe der Theodor-Heuss-Brücke ohne Schutz in die sich öffnende Rheinebene ergab, wie er sich selbst täglich schutzlos seinem Los fügte. Er verweilte nur kurz an dieser Stelle.
Wenige Minuten später hatte er das andere Ufer erreicht, lief die Treppen am Fluss-Kraftwerk hinunter, durchquerte den kleinen Brückentunnel und zog aus einem Versteck einen Campingklappstuhl hervor.
Es war einer der beschaulichsten Plätze Heidelbergs, wie es Paul Squamat für sich entschieden hatte. Von hier aus sah er die spärlichen Lichter der Stadt, konnte bei Vollmondnächten die Silhouette des Schlosses erahnen und blickte auf die Beleuchtung der alten Brücke, die um diese Uhrzeit meist in einen tiefen Schlaf versank.
Die Wassermassen donnerten tosend über die Staustufe. Gleichmäßig stürzten sie in die Tiefe, und die in der Nacht weißleuchtenden Schaumkronen dufteten nach Waschmittel.
Die Temperaturen waren zu dieser Jahreszeit lau. Wenn der Nebel sich feucht auf seine Haut legte, strebte er sehnsuchtsvoll diesem Moment der schläfrigen Ruhe entgegen. Jetzt musste er endgültig keine Buntheit mehr vorgaukeln und auch keine Farbe mehr bekennen. Nun blieb er für mindestens eine Stunde unerkannt – ohne Anstrengung, ohne Schwanken und ohne Jonglieren.
Wie in jeder Nacht gesellte sich auch in dieser ein kleines Mädchen zu ihm. Es setzte sich auf einen seiner Schuhe und wartete darauf, dass Squamat es zu schaukeln begann. Es legte vertrauensvoll ein Händchen auf seine große Hand und stimmte ein Gutenachtlied aus alten Zeiten an. Es summte leise vor sich hin und Squamat wippte sein Bein im Takte der Melodie.
Er begann zu träumen und in seinen Träumen war ihm das Kind so vertraut, dass er ihm alles erzählte. Er erzählte von seinem größten Mandat und von den neidenden Kollegen, die ihm nicht zutrauten, diesen Mandanten richtig zu beraten. Er erzählte von seinen Farben und Bällen und den Flugbahnen, auf denen er sie in Bewegung hielt. Und das Kind hörte nur zu und summte die Melodie.
Nach einer Zeit erwachte Paul Squamat und schaute zunächst nach dem Kind, wie er es in jeder Nacht tat. Er spürte einen ziehenden Schmerz in seinem Kopf und irgendwie war ihm ganz blümerant zumute. Und weil die Melodie des Mädchens verstummt war und auch sein Händchen nicht mehr seine Hand berührte, schaute er irritiert um sich.
Neben ihm häufte sich ein spärlicher Stapel mit sorgfältig gefalteter Kleidung, und nur wenige Schritte von ihm entfernt lag ein kleiner Kinderkörper nackt auf dem Boden – direkt neben dem schwarzen Poller.
Squamat sprang auf und beugte sich panisch über das Kind. Es hatte seine Augen geschlossen. Schwarze Haare umschlossen sanft sein Gesicht. Seine Haut schimmerte im Licht der Schleusenlaternen in einem zarten blaugrau und seine Lippen waren weiß. Wie eine virtuelle, grafische Fiktion, ja wie ein Avatar, lag der Körper des kleinen Mädchens vor ihm.
Das Kind hatte keine sichtbaren Wunden, nur an manchen Stellen drangen durch die blaue, eisige Haut dunkle Flecken – große und kleine. Auf der Suche nach einem Lebenszeichen berührte Squamat vorsichtig seinen Hals mit zwei Fingern. Das Kind war tot und sein Körper war starr und kalt – ungewöhnlich eiskalt.
Ein greller, zischender Schrei hallte wie der Lärm eines Düsenjets durch die Nacht. Das Chamäleon schrie und zischte so schmerzerfüllt, so laut und so betäubend, dass die schrillen Laute, so wollte man es zumindest meinen, wohl bis an den Rand des Universums drangen. Das tosende Wasser nahm zwar einen großen Teil dieser Stimmexplosion in sich auf, aber weit oben am Königsstuhl schreckten die Vögel von ihren Schlafplätzen hoch. Die Neckarfluten gerieten ins Trudeln und viel später erfuhr man, dass ein Angler den berühmt berüchtigten Hackteufel hatte aus dem Wasser springen sehen.
Squamat leuchtete grell in allen Farben, denn das tun Chamäleons, wenn sie in großen Stress geraten. Es schleuderte den Klappstuhl in die Uferböschung und rannte auf dem Leinpfad das Ufer Richtung Westen entlang. Es rannte die Böschung hinauf zur alten Brücke und stolperte unbeholfen über das Kopfsteinpflaster. Jetzt verlor die Haut seines Körpers die Farben und wurde kohlrabenschwarz, so schwarz wie selbst die Nacht bei Neumond und dichter Bewölkung nicht sein konnte.
Bei einem Chamäleon ist die Farbe Schwarz ein Hinweis darauf, dass sich das Tier seiner Unterlegenheit bewusst ist, aber Vorsicht: Squamat fühlte sich aufgrund dessen, was er gerade erlebt hatte zwar auf eine besondere Art und Weise der Situation unterlegen, aber seine Farbenpracht hatte er dennoch nicht bewusst wechseln können. Das kann ein Chamäleon nämlich nie und niemals.
Auf der Karl-Theodor-Brücke sank das Chamäleon neben dem Sockel einer mächtigen Skulptur erschöpft in die Knie. Es war wohl mehr dem Zufall geschuldet als einer bewussten Handlung, dass sich der Ort seines Strauchelns direkt neben der zu Stein gewordenen römischen Göttin Minerva und nicht neben Karl-Theodor befand. Als es sich wieder aufzurichten versuchte, sah es den Speer in ihrer rechten Hand und zu ihrem linken Fuß die Eule. Minerva, die Hüterin des Wissens, vereinte alle wesentlichen Attribute in sich, die das Chamäleon jetzt dringend benötigte. Weisheit und taktische Verteidigungskunst waren nur zwei davon. Es starrte auf die Eule.
Was war passiert? War es das, wonach es ausgesehen hatte? Squamat fuhr sich verwirrt mit dem Handrücken über seine Stirn. Das konnte nicht sein! Das konnte wirklich nicht wahr sein! Wieso lag da ein totes Kind? Er hatte doch nur kurz geschlafen, sich erholt von den Strapazen des Tages!
Und wieder fasste er sich an den schmerzenden Kopf. Ihm war schwindelig und so unglaublich schlecht. Sein Schädel drohte zu zerbersten.
Ich brauche Hilfe! Benommen stützte er sich auf die Brückenbrüstung und rang nach Luft.Das schwarze Wasser des Neckars schob sich gespenstig unter seinen Füßen Richtung Rheinebene.
»Hilfe« hörte er erschrocken die leisen Buchstaben, die sich wie in einem Kaugummi klebrig zusammengeschoben hatten.
Hatte er das kleine Mädchen wirklich ertränkt? Ermordet? Aber wieso? Er musste hier weg oder besser, er würde gleich die Polizei alarmieren. Und dann? Niemand würde ihm glauben und er, Paul Squamat würde in Handschellen abgeführt.
Seine Augen fokussierten erneut den Speer der Minerva. Wie zum Teufel noch mal hieß denn diese Privatermittlerin? Die von der Detektei mit dem albernen Namen? Erst kürzlich hatten die Heidelberger Schlossnachrichten ein Porträt von ihr veröffentlicht. Die Ermittlerin hatte sich im Zusammenhang mit der Zerschlagung eines von der nigerianischen Mafia unterstützen Syndikats einen großen Namen gemacht. Wer mit der Mafia fertig geworden war, könnte auch in seiner Angelegenheit erfolgreich sein. Angelegenheit? Was für eine Angelegenheit eigentlich? Er hatte doch nichts getan, außer zu schlafen! Oder?
Prischnü Solution – genau! Das war der Name. Hatte er die Nummer dieser Detektei nicht für den Fall der Fälle in seinem Adressbuch abgespeichert?
Es war mittlerweile drei Uhr dreißig geworden. Paul Squamat wählte die Nummer der Prischnü Solution.
Einige von Ihnen kennen mich vielleicht – nicht aus der Zeitung wie das Chamäleon, sondern im Zusammenhang mit meinem ersten großen Ermittlungsfall. Oder aus der Max Bar? Egal, ob Sie mich kennen oder auch nicht – drei Uhr dreißig morgens war so gar nicht die Zeit, in der mich die Probleme anderer Leute interessierten oder in der ich bereit war, stilvollendete Konversation zu betreiben.
»Prischnü Solution! Was ist passiert? Es ist halb vier Uhr morgens! Ich hoffe, Sie haben sich verwählt«, gähnte ich schlaftrunken ins Telefon. Am anderen Ende herrschte Stille, absolute Stille. Dann plötzlich ein leises Räuspern.
»Eventuell habe ich gerade ein kleines Mädchen ertränkt, aber ich weiß es nicht! Ich brauche dringend Ihre Hilfe! Kann ich bitte bei Ihnen vorbeikommen und können wir uns darüber unterhalten? Ich habe Geld und kann Sie auf jeden Fall bezahlen!«
Vielleicht war ich zu müde oder zu unausgeschlafen oder auch beides in gefährlicher Kombination, und so stellte ich keine Fragen, sondern verabredete mich mit diesem Mann, der angeblich Doktor Paul Squamat hieß und Geld hatte. Treffpunkt: das spartanische Zuhause meiner Freundin Ditschi, die wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit als Digital Nomade auf Fuerteventura weilte. Ich gab kurz entschlossen ihre Zweizimmerwohnung in der Dantestraße als Büroräume der Prischnü Solution aus, weil ich mir auf die Schnelle nicht anders zu helfen wusste.
Um Punkt vier Uhr dreißig, also genau in einer Stunde, sollte das Treffen mit Doktor Eventuell-Mörder stattfinden. Na dann mal Prost Mahlzeit.
Dass ich mich bereits mit Beendigung des Telefonats verfluchte, können Sie sich sicherlich denken, und ich tat dies so laut, dass Hans, mein treuer Lebensgefährte aus seinem Bett sprang und orientierungslos, ohne einen Ton zu sagen, zur Kaffeemaschine wankte und in Aktion trat.
Nach einer Katzenwäsche und einem wunderbaren heißen Kaffee machte ich mich mit unserer elektrischen Vespa auf den Weg in die Weststadt. Ich beneidete Hans, der sich noch für zwei Stündchen, wie er mir mit einer Spur gehässiger Rache unter die Nase gerieben hatte, aufs Ohr hauen würde.
»Äähm«, sagte das Chamäleon und dieses ›Äähm‹ glich phonetisch dem letzten Aufheulen eines ausgedienten Benzinmotors, kurz bevor dieser zwischen die zermalmenden Eisenzähne einer Schrottpresse gelandet war.
»Das sind also die Büroräume der renommiertesten Detektei Heidelbergs, der Prischnü Solution?«
Der Mann glotzte jetzt skeptisch und ohne Skrupel die mumifizierte Topfpflanze auf Ditschis Schreibtisch an, deren Seele sich staubverfangen auf dem direkten Weg ins Nirwana befand.
Was sollte das denn jetzt? Der konnte doch froh sein, dass er hier sein durfte! Hatte ja nicht behauptet, dass die Örtlichkeit meiner Detektei in der Bahnstadt liegen würde. Und überhaupt Bahnstadt! Da gehörte nicht nur eine mumifizierte Topfpflanze zum Ambiente, sondern auch mumifizierte und noch viel schlimmer, lebendige Ratten und aus Duschen springende Legionellen. Pah!
»Das ist nur Tarnung – Herr Äähm – wie war noch gleich Ihr Name?«, fragte ich und gab dem Äähm einen ähnlichen Lautklang, wie ich ihn gerade vernommen hatte.
Mimikry ist zurzeit ja sehr angesagt und so spiegelte ich nicht nur den Klang seines Tones wider, sondern übte mich sogleich auch in vergleichbarer Körperhaltung und Gestik. Grundkurs Coaching Teil eins: Durch das Spiegeln kann subtil ein vertrauensvolles Verhältnis zu einem anderen Menschen hergestellt werden. Aber wollte ich das überhaupt?
Was das Zeug hielt, versuchte ich, obwohl ich mir diese Frage noch nicht beantwortet hatte, mit der aufwendigen Performance seiner nonverbalen Kommunikation Schritt zu halten. Vielleicht stellte diese menschgewordene Bewegungsexplosion ja doch das Subjekt meiner Begierde dar. Vielleicht barg Doktor Paul Squamat ja doch das Potenzial in sich, mein zukünftiger Klient zu sein.
Grundsätzlich brauchte ich dringend einen neuen Auftrag.
»Sie wissen doch heute läuft alles digital. Coworking-Space ist die Devise – ist gerade nur keiner da. Um diese Uhrzeit! Kein Wunder oder finden Sie nicht? Ich stelle meinen Mitarbeitern unterschiedliche Offices zur Verfügung, und die Prischnü Solution wechselt sie ständig. Aber das versteht sich von selbst. Die perfekte Tarnung ist das A und O – Sie haben ja keine Vorstellung davon, wie viele, ich nenne sie neutrale Kritiker, sich während und besonders auch nach einem gelösten Fall um einen tummeln. Es kommt natürlich immer ganz auf den Fall an.«
Dieser merkwürdige Typ war mir bereits jetzt schon alles andere als sympathisch. Vielleicht sollte ich ihm mal den Tipp mit dem Pacing geben.
Und überhaupt? Was ging den eigentlich das aufgewühlte Bett von Ditschi und ihre Zimmerpflanze – Gott hab sie selig – an? Vielleicht sollte ich diesen Typen besser sofort abwimmeln. Kritik um halb fünf früh war keine Basis für den Beginn einer guten Zusammenarbeit, oder? Und auf einen guten Start kommt es schließlich an!
Es ist wie immer: Die ersten drei Sekunden entscheiden!
Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts, widersprach ich mir sehr leise und ohne einen Laut von mir zu geben.
Nachdem mir endlich wieder der Name eingefallen war, sagte ich energisch: »Herr Doktor Squamat! So war doch Ihr Name, oder? Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie dringend meine Hilfe benötigen, weil Sie sich davor ängstigen, eventuell ein kleines Mädchen ertränkt zu haben. Es ist jetzt vier Uhr vierzig, falls Sie also tatsächlich wollen, dass ich Ihnen helfe, dann wäre ich Ihnen äußerst dankbar, mir dies jetzt mitzuteilen! Ansonsten möchte ich Sie bitten, die Prischnü Solution zu verlassen!«
Ich staunte über mich selbst, aber zu dieser Uhrzeit, und daran hatte auch der gute Kaffee von Hans nichts ändern können, war ich für gewöhnlich noch ungeduldiger als sonst.
Der Mann reagiert prompt auf meine resolute Ansage und es schien mir, als nähme er, um mich gütlich zu stimmen, plötzlich alle Farben der Welt an.
»Frau Kostka, verzeihen Sie mir bitte meine Übergriffigkeit! Ich bin einfach sehr durcheinander! Selbstverständlich möchte ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, sonst wäre ich nicht hier! Wo ist der Vertrag! Wo darf ich Ihnen den Auftrag unterschreiben?«
Nun, das war eine Basis, auf der ich arbeiten konnte. Sogar um diese Uhrzeit.
»Gut, dann wäre das schon mal geklärt! Das mit dem Vertrag hat Zeit! Erzählen Sie mir bitte, was Sie damit meinen, dass Sie nicht wissen, ob Sie ein kleines Mädchen ertränkt haben oder nicht. Ich schlage vor, wir setzen uns da vorne an den Tisch, ich mache uns einen Kaffee und dann schildern Sie mir mal ganz in Ruhe, was passiert ist!«
»Das ist pure Zeitverschwendung! Einen Schnaps könnte ich jetzt vertragen! Setzen kann ich mich schon überhaupt nicht! Frau Kostka, da lag ein nacktes, totes Mädchen neben mir am Neckar, ungefähr drei oder vier Jahre alt. Es war eiskalt und sah aus wie ein Avatar, so blau war seine Haut. Und seine Kleidung lag ordentlich zusammengelegt neben meinem Stuhl, als ich aufwachte. Ich war wohl ein bisschen weggedöst.«
»Was meinen Sie mit ein bisschen weggedöst? Und wieso dösen Sie am Neckar und nicht in Ihrem Bett?«
Squamat schien meine Fragen komplett überhört zu haben.
»Ich bin dann aufgesprungen und abgehauen, total durch den Wind, wie Sie sich vorstellen können. Das war, ich denke eine halbe Stunde, bevor ich Sie angerufen habe. So gegen drei Uhr! Tun Sie bitte irgendetwas!« Squamat Gesicht war schmerzverzerrt.
Ob Ditschi so etwas wie Schnaps im Haus hatte? Wahrscheinlich nicht! Obwohl, ich konnte mich gut an das Absinth-Gelage erinnern, bevor sie wieder nach Fuerteventura in ihr digitales Nomadinnen-Dasein abgedüst war. Könnte ja mal in den Schrank davor gucken, vielleicht steht da noch eine Flasche der grünen Fee. Würde Squamat sicherlich beruhigen! Ich stand auf und ging in den anderen Raum, um ein Glas und eventuell auch die Flasche zu holen.
»Vielleicht eine grüne Fee? Ist nicht unbedingt die richtige Uhrzeit dafür, hilft in solchen Fällen aber meistens.«
Doktor Paul Squamat reagierte nicht auf mein Angebot.
»Das kann doch einfach alles nicht sein, Frau Kostka!«
»Was genau können Sie nicht glauben? Fangen wir noch mal von vorne an: Was haben Sie um drei Uhr nachts mit einem kleinen Kind am Neckar gemacht? Was ist das für ein Mädchen? Sind Sie irgendwie bekannt oder verwandt mit ihm?«
»Nein und ja! Das Mädchen ist meine kleine Schwester und sie ist sozusagen jeden Abend zusammen mit mir am Neckar. Sie singt mich in den Schlaf und streichelt mir dabei meine Hand. Ich schaukele sie immer sanft auf meinem Fuß hin und her. Sie besucht mich jeden Abend und dann hilft sie mir, die vielen Stunden des Tages zu verarbeiten. Sie singt immer das gleiche Lied. Vielleicht kennen Sie es?« Squamat begann leise die Melodie von dem Lied ›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹ zu summen. Dann hielt er nachdenklich inne.
»Wie? Und die ist jetzt tot?«
»Ich weiß nicht! Eigentlich hat mein Schwesterchen goldenes, schulterlanges Haar und das Mädchen, das dort lag, hatte eher dunkles, gewelltes Haar und sah auch sonst ganz anders aus. Ja, sie sah ganz anders aus!«
Mir schossen plötzlich tausend Gedanken durch den Kopf. Eins war sicher: Mein neuer Auftraggeber war ein Irrer! Ein promovierter Irrer! Vielleicht war dieser Irre dazu auch noch ein Pädophiler oder ein Mörder oder beides. Halleluja und das um diese Uhrzeit.
Ein Schwesterchen, dass einem mehr als dreißig Jahre älteren Mann ein Lied trällert und dabei seine Hand streichelt – wohlgemerkt seine Hand? Meine Fantasie tobte sich szenenreich aus: Lieder singend und streichelnd; goldenes Haar; am Neckar; in der Nacht; totes Mädchen; nackt! Genügend Input, um einen Oscarverdächtigen Horrorschinken zu inszenieren.
Ich machte einen Schritt zurück! Jetzt war auch mir die Lust auf einen Kaffee vergangen. Drei Selbstverteidigungskurse! Mit diesem Typen würde ich fertig!
»Ich verstehe gar nichts! Bitte nennen Sie mir einen Grund, warum ich Sie jetzt nicht direkt rausschmeiße? Wenn Sie eine Psychotherapeutin suchen, sind Sie hier falsch! Oder ist das ›Versteckte Kamera‹ oder irgendein Reality-Humbug? Was wollen Sie von mir, Herr Doktor Squamat?«, herrschte ich den Mann selbstbewusst an und hoffte, dass meine in diesem Moment aufkeimende Angst unentdeckt bliebe.
»Sorry, Sie müssen ja von mir denken, dass ich total irre bin! Das ist alles etwas anders, als Sie das jetzt vermutlich sehen! Lassen Sie mich bitte ganz kurz erklären: Wenn ich am späten Abend aus dem Büro komme, fühle ich mich wie ein völlig ausgebranntes und gerädertes Mobbing-Opfer. Den ganzen Tag einen Spagat nach dem anderen zwischen Steuerrecht und Mandanten, zwischen Kollegen und Wirtschaftsprüfer, zwischen Mandantenumsatz und meinem eigenen, zwischen Menschenverächtern und Heiligen. So dehnbar ist keine Psyche! Immer integer sein! Das ist der wahre Horror! Verstehen Sie das?«
»Nicht so ganz, aber sprechen Sie weiter.«
»Also jeden Abend flüchte ich mich an den Neckar, da in Höhe der Schleuse auf der Neuenheimer Seite und versuche abzuschalten. Ich habe dort extra einen Klappstuhl deponiert. Wie soll ich sagen, es ist wie eine Art Meditation. Während ich meine Gedanken auf Off schalte, erscheint in meinen Bildern meine jüngere Schwester, und das tut sie schon seit mindestens zwei Jahren. Sie ist in diesem Jahr einunddreißig geworden und ich habe sie seit genau achtundzwanzig Jahren, drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen nicht mehr gesehen. Meine Mutter ist damals, ich war sechs Jahre, von heute auf morgen verschwunden und hat mich und meinen Vater allein gelassen. Ich weiß weder, wo sie sich heute aufhält, noch weiß ich, wo meine Schwester ist. Ich weiß nicht einmal, ob die beiden überhaupt noch leben. Es hieß immer, dass meine Mutter nach Australien verschwunden sei.«
Squamats Erinnerungsfrequenzen schlugen Salti. Er machte zwischen den Sätzen kaum eine Pause. Seine Stimme hallte monoton zwischen meinen Ohren hin und her. Sollte ich ihn einfach quatschen lassen und durchhalten? Eventuell eine Frage einwerfen, um ihn aus diesem Trancezustand zu befreien?
»Mein Vater ist vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen und ich war derjenige, der den Unfall im Rückspiegel sah. Hilflos wurde ich Zeuge der letzten Sekunden seines Lebens. Als ich endlich zum Unfallort kam, war er bereits verstorben.«
»Herr Doktor Squamat, das ist eine ganz furchtbare Geschichte, die Sie mir da von Ihrem Vater erzählen, aber vielleicht wäre es gut, wenn Sie mir doch noch mal ganz genau erklären, warum Sie meinen, ein kleines Mädchen getötet zu haben?«
»Aber das tue ich doch, Frau Kostka! Sie müssen einfach nur zuhören!«, blaffte mich mein neuer Klient erbost an.
»Ich will Ihnen gerade erklären, dass das kleine Mädchen, das mir jeden Abend den Weg in meine mentale Entspannung ebnet, nicht wirklich real ist und auch für niemanden sichtbar ist! Verstehen Sie Frau Kostka? Sie existiert nur in meinen Gedanken, in meinen Sehnsüchten nach Geborgenheit!«
»Ah ja. Jetzt beginne ich zu begreifen. Das ist nur eine Fiktion.«
»Ja, genau! Aber dieses Mädchen, das da vorhin nass und nackt auf dem gegossenen Beton lag, das war real, und es war tot, so tot wie jemand nur tot sein kann.«
Jetzt starrte ich auf Ditschis mumifizierte Topfpflanze und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht war Squamat ja dem Wahnsinn verfallen, aber war es nicht diese Art ganz normaler Irrsinn, mit dem wir uns alle ab und zu herumschlagen müssen? Dann, wenn uns der Schlaf fehlt oder die Sorgen überhandnehmen?
»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen glaube, aber ich habe eine Idee! Unten vor dem Haus steht eine fahrtüchtige Vespa. Sind Sie damit einverstanden, dass wir zwei jetzt an den Neckar fahren und Sie zeigen mir die Stelle, an der Sie das kleine Mädchen gefunden haben? Ich verspreche Ihnen, wenn sich dort die Spurensicherung tummelt, verschwinden wir sofort wieder und überlegen dann ganz in Ruhe, was die nächsten Schritte sein könnten. Wären Sie damit einverstanden, Herr Doktor Squamat?«
Squamat fiel in eine Art Schockstarre, holte dann aber tief Luft und stimmte meiner Idee wortlos zu. Ich griff nach Ditschis Helm, warf ihn Squamat zu und lief den irren Typen im Gefolge die Treppen hinunter.
Wir fuhren Richtung Adenauerbrunnen, dann am Bismarckplatz vorbei auf die Theodor-Heuss-Brücke, bogen rechts auf die Neuenheimer Landstraße ab und stellten die Vespa zwölf Minuten später an dem Treppenabgang zum Wasserkraftwerk ab. Es waren weder Polizei noch Spurensicherung zu sehen.
Der neblige Flussdunst hatte sich längst verflüchtigt und die ersten Sonnenstrahlen tauchten den Neckar in eine glitzernde Pracht. Wir hasteten die Stufen hinab, liefen unter der Schleusenbrücke hindurch und stoppten an dem Poller, an dem angeblich der tote Körper eines ungefähr vierjährigen Mädchens liegen sollte.
»Herr Doktor Squamat, hier ist nichts, absolut gar nichts! Weder sorgfältig gestapelte Kleidung noch ein ertränktes Mädchen! Sind Sie sich sicher, dass dies hier die richtige Stelle ist«, fragte ich erleichtert den Mann, den ich bis vor Kurzem noch für irre gehalten hatte und genau das jetzt wieder tat.
»Ja sicher bin ich mir sicher«, sagte Squamat.
»Das ist der Stuhl! Der stand wie jetzt genau hier. Und da, genau da lag die Kleidung und dort das Kind«. Squamat zeigte auf zwei Stellen unweit des Stuhls.
Es war mittlerweile sieben Uhr geworden, eigentlich kein idealer Zeitpunkt, um Kriminalhauptkommissar Johannes Falken bei seinem Morgenkaffee im Polizeirevier Mitte zu stören. Aber es nutzte ja nichts! Ich kramte mein Mobiles aus der Jackentasche.
»Moin Johannes Lanzarote war super, danke der Nachfrage! Nein, Spaß beiseite: Ist heute Morgen ein totes, ungefähr drei oder vier Jahre altes Mädchen am Neckarufer in Höhe der Schleuse oder weiter unten gefunden worden? Oder ist vielleicht ein vierjähriges Mädchen mit schwarzen, welligen Haaren als vermisst gemeldet«, fragte ich so unaufgeregt wie möglich.
»Guten Morgen Martha, auch wenn ich nicht weiß, was daran gut sein soll, wenn Du mich um diese Uhrzeit anrufst. Liebe Miss Marple, ist Dir der Urlaub nicht bekommen? Was willst Du alles von mir wissen? Nee, wir haben glücklicherweise kein totes Mädchen am Neckar gefunden und ob es eine Vermisstenanzeige gibt, kann ich Dir erst dann sagen, wenn ich danach recherchiert habe. Aber warum willst Du das alles wissen, meine Liebe?«
Das Verhältnis zwischen Johannes Falken und mir hatte sich aufgrund der gemeinsamen Erlebnisse, die wir bei der Lösungsfindung im letzten Fall gemacht hatten, erheblich verbessert. Man könnte sogar sagen, wir hatten eine vertrauensvolle, freundschaftliche Ebene des Umgangs miteinander gefunden, die vorbildlicher nicht hätte sein können.
»Eine Sekunde noch. Ich habe es gleich«, sagte Falken ganz langsam ins Telefon, »also, es gibt weder eine Leiche noch ein vermisstes Mädchen in diesem Alter. Ich habe jetzt im Umkreis von fünfzig Kilometern geguckt. Kann ich Dir sonst noch irgendwie dienlich sein? Sonst würde ich jetzt gerne meinen Kaffee genießen und meine Work-Life-Balance zurechtrücken. Kann ich Dir im Übrigen zu dieser Uhrzeit auch wärmstens empfehlen.«
»Danke und sorry noch mal für die Störung!«
»Martha, lass uns doch vielleicht einfach noch mal in ein, zwei Stunden telefonieren und dann verrätst Du mir, warum Du mir diese Fragen gestellt hast. Also bis später!«
Johannes Falken hatte wie immer die Antwort nicht abgewartet und aufgelegt. Ich war überaus froh über seine so grobschlächtigen Umgangsformen, denn eine Erklärung für meine Fragerei hätte ich ihm jetzt in der Kürze der Zeit nicht geben können.
Doktor Paul Squamat war verwirrt, aber dennoch erleichtert gewesen, als ich ihm die Antworten des Heidelberger Kommissars mitgeteilt hatte. Er bedankte sich sehr zögerlich und drängte mir einen weiteren Termin auf. Um zehn Uhr, in drei Stunden also. Mir sollte es recht sein und diejenigen von Ihnen, die mich bereits kennen, wissen auch warum: Ein gepflegter Maroc in der Max Bar und dazu ein knuspriges Croissant müssen schließlich finanziert werden und Squamats ersten, unvergesslichen Worte waren: Ich habe Geld und kann Sie auf jeden Fall bezahlen. Was wollte ich also mehr!
Wir verabredeten uns in der Max Bar, einem Café am Place de la Liberté, meinem Lieblingsort für guten Maroc, gute Freunde und nette Bekanntschaften. Zudem bot dieser Platz die beste Aussicht auf entspannte Touristenhorden, auf Globetrotter, die sich Kultur dürstend in auftürmenden Wellen durch den flauschigen Wattebausch Heidelberg wälzten.
Ich parkte unsere Vespa in der Pfaffengasse hinter einem von meinem Nachbarn Karl aufgestellten Blumenkübel. Dann vergrub ich mich für ein kleines Stündchen in meinen Federn, um genügend Kraft für den Rest des Tages zu tanken.
Wenn ich meine Auftragslage so recht betrachtete, war keine neue Kuh aufs Eis getrieben worden, denn der Squamat-Auftrag stand auf überaus wackligen Füßen. Wer konnte schon zu diesem Zeitpunkt mit Gewissheit sagen, ob es sich bei Doktor Paul Squamat lediglich um einen armen Teufel handelte, der zum Burnout-Opfer geworden war oder ob an der Sache mit dem ertränkten Kind tatsächlich etwas dran war.
Ich sah meine Kuhherde dort in der Ferne auf der Neckarwiese stehen und wo die Kühe sich gemächlich am Gras labten, da waren auch die Cowboys nicht fern. Alles war wie immer, und so fiel ich schnell in eine Phase der Entspannung.
Nachdem mein Mobiles einen terroristischen Anschlag nach dem anderen auf meine Ohren verübt hatte, entschied ich mich um des lieben Friedens willen, den quälenden Anrufer zurückzurufen. Mit müdem Erstaunen sah ich, dass der Übeltäter kein anderer als Johannes Falken persönlich war.
»Hallo Johannes hier Martha. Was gibt es denn so Dringendes? War gerade beschäftigt«, heuchelte ich waches Interesse.
»Ach schön, dass Du zurückrufst! Wollte jetzt doch mal wissen, warum Du vorhin all diese Fragen gestellt hast.«
»Ach nicht so wichtig.«
»Nicht so wichtig? Wir haben vor fünf Minuten den Anruf eines Mannes erhalten, der heute in den frühen Morgenstunden nicht weit von der Schleuse entfernt geangelt hat. Er hat von einem Schrei berichtet, der so angsteinflößend war, dass er Hals über Kopf seine Sachen zusammengepackt hatte und fluchtartig nach Hause gerannt ist. Er sagte wortwörtlich: Das war ein Schrei, der durch Mark und Knochen ging und man dachte, die Hölle täte sich auf. Der Angler ist jetzt fest davon überzeugt, dass gegen drei Uhr ein Gewaltverbrechen am Neckar stattgefunden hat.«
»So, so ist er das? Und was habe ich bitte damit zu tun, Johannes?«
»Martha, Karten auf den Tisch! Da war doch irgendetwas! Komm, sag schon! Was weißt Du, was ich nicht weiß?«
Auf dramatischen Tratsch-Talk hatte ich in meinem momentanen Entspannungszustand so überhaupt keine Lust. Falken sollte mit seiner Neugierde bleiben, wo der Pfeffer wuchs.
»Sorry Johannes, ich bin im Moment etwas indisponiert. War einfach zu früh für mich heute Morgen! Am besten rufe ich Dich am Nachmittag noch mal an, dann passt es besser bei mir. Bis dann.«
Und da ich über eine große Gabe in Sachen Imitationslernen verfüge, beendete ich ohne ein weiteres Wort des Abschieds das Telefonat.
Die Lider legten sich wohltuend auf beide Augäpfel und trugen mein taumelndes Bewusstsein in ein schützendes Dunkel. All meine Gedanken, all meine Träume drehten sich nun um ein kleines Mädchen, obwohl eigentlich drehten sie sich um zwei kleine Mädchen. Eines mit goldenem Haar, das summend und wippend auf dem Fuß seines Bruders saß und ein anderes, das aussah wie ein Avatar und dessen dunkles Haar sich wärmend um den eiskalten Körper schmiegte.
Die Augen des summenden Kindes strahlten lebhaft versonnen und die des nassen waren geschlossen. Sie schauten tot in die Innenseiten seiner Augenlider, die umschlossen mit einem schwarzen Wimpernkranz den Nachthimmel für immer verbergen würden. Wimpernkranz – Totenkranz. Alles war still.
Das Mädchen mit dem Goldhaar unterbrach plötzlich die Unendlichkeit der Stille und sang leise das Lied ›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹. Seine Stimme klang in meinen Ohren, wie ein Schleier, der leise aus den Sphären des Himmels hinunter zu den Menschen fiel. Dann fühlte ich, wie alle die Sterne des Universums mich sanft in meinen Schlaf begleiteten.
Vernebelt sah ich wieder den blauen, eiskalten Körper des Avatarkindes. Das Kind öffnete zaghaft seine Augen und schaute nun geheimnisvoll in Richtung der Felsvorsprünge, die sich tückisch unter den seichten Wellen des Neckars verbargen. Genau diese Felsvorsprünge hatten vor Urzeiten von den Heidelbergern den Namen Hackteufel erhalten und ihr Taufname gilt bis in die heutige Zeit hinein.
Ich erblickte den Angler, der auf der anderen Seite des Neckars stand und zufrieden am Firmament meine Sterne zählte. Und dann sah ich, wie die Menschen aus der Altstadt an das Neckarufer strömten, um dem Klang der Stimme des Mädchens mit dem goldenen Haar ganz nahe zu sein. Für das andere Mädchen schien sich niemand zu interessieren, obwohl sein Körper doch so geheimnisvoll blau in der nächtlichen Dunkelheit schimmerte.
Es wurden immer mehr Menschen, die sich in ihre Boote setzten und versuchten, sich durch ihr Rudern dem Sternenlied zu nähern.
Was war das? Ich traute meinen Augen nicht. Mein Verstand trudelte hilflos in den Sog der nun aufblitzenden Szenerie, ohne dass ich die Kraft aufbringen konnte, mich gegen die Macht des Traumes zu wehren. In einem der Boote sah ich den Teufel höchstpersönlich, zumindest ließ sein Äußeres diesen Rückschluss zu. Er trug gefährlich hervorstechende Hörner auf seiner Stirn, seine Ohren waren spitz und groß und seine Haut glänzte feuerrot. Sie entfachte immer wieder aufs Neue rote Funken, die in die Dunkelheit hineintanzten. Was für ein sonderbares Spektakel! Der teuflische Huf seines Pferdefußes hing über den Holzplanken des Kahnes und die Quaste des Teufelsschwanzes glitt neben dem Gefährt durch das aufgewühlte Neckarwasser. Und wenn man genau hinschaute, hinterließ diese Quaste einen Lichtkanal, der sich wie ein glühender Lavastrom gespenstig durch das Wasser grub.
All jene, die den Teufel erblickten, nahmen sofort Reißaus, denn jeder wusste, dass die Sicherheit der eigenen Seele doch viel mehr wog, als der Liebreiz des Gesangs eines unbekannten Mädchens. Schließlich wippte nur noch das Boot des Beelzebubs durch die Fluten.
Wie in einem Liebestaumel gefangen, steuerte er kopflos dem Gesang entgegen, ohne die Strömung des Flusses zu beachten. Ein verliebter Teufel, besessen von dem Bestreben, der himmlischen Stimme des Mädchens ganz nahe zu sein! Und dann geschah plötzlich das Unfassbare: Bei dem waghalsigen Manöver, den Kahn über die im Verborgenen hervorstehenden Felsvorsprünge zu lenken, krachten die Planken, zerbarsten an den tückischen Felsen und das Plankenholz wurde regelrecht in Hunderte von Stücke zerhackt.
Es dauerte keine sechsundsechzig Sekunden und die Überreste des havarierten Bootes versanken in den Fluten des Neckars. Sie zogen den leuchtenden Lavafluss, den die Schwanzquaste des Teufels hervorgebracht hatte, in ihre Tiefe, bis sein Leuchten zischend erlosch. Im Untergang stieß der Teufel einen höllischen Schrei aus. Und der Schrei war tatsächlich so laut, dass zuerst die Blätter weit oben am Königsstuhl von den Bäumen fielen und anschließend der Wind sie sanft auf die Dächer der Heidelberger Altstadt legte.
Und als der Dämon endgültig ertrunken war und ich mir sicher sein konnte, dass er nie wieder auf die Welt zurückkehren würde, wusste ich plötzlich, woher die tückischen Felsvorsprünge ihren Namen erhalten hatten.
Der Hackteufel war mir leibhaftig im Traum begegnet. So bizarr seine Gestalt auch gewesen war und meine träumerische Neugierde geweckt hatte, beruhigte es mich, dass ihn sein liebestolles Manöver die verwundbare Existenz gekostet hatte. Gut gelaunt schob ich meine absurden Träumereien beiseite.
Meine erwachte Fantasie tauchte ein knuspriges Croissant in ein Gläschen schäumenden Genusses und so freute ich mich auf den ersten Maroc des Tages in der Max Bar.
Squamat saß bereits auf einem der Bistrostühle und blätterte hektisch in der aktuellen Ausgabe der Heidelberger Schlossnachrichten.
»Ach Frau Kostka, da sind Sie ja schon! Darf ich Ihnen etwas bestellen?«, fragte er übertrieben höflich.
»Ich habe im Büro angerufen und mir für den Rest des Tages freigenommen, obwohl das in meiner Position gar nicht so einfach ist. Aber Sie wissen ja, digitale Vernetzung. Ist heute alles gar kein Problem mehr. Wir haben also von meiner Seite aus genügend Zeit, um alles noch einmal ganz in Ruhe zu bereden! Wie viel von Ihrer Zeit können Sie mir schenken?«
Ja, manchmal hält das Schicksal nicht nur für andere, sondern auch für mich schwere Schläge bereit. Und überhaupt, was meinte Squamat damit, wie viel Zeit ich ihm schenken könnte? Hatte er nicht am Telefon gesagt, Geld sei nicht das Problem?
Nicht, dass Sie, liebe Leser*innen mich jetzt falsch verstehen und meinen, ich bin ein Geier, der nicht die Not anderer erkennt. Ich halte sehr viel von Altruismus und bin sogar ein wahrer Fan davon, wenn Menschen selbstlos für andere da sind, aber die Finanzierung zur Sicherstellung der täglichen Bedürfnisbefriedigung sollte und darf dabei niemals aus dem Blickfeld geraten.
Die drei Ms, die in meinem persönlichen Focus lagen, hießen: ›Miete‹, ›Maroc‹ und ›Mindestens ein Croissant am Tag in der Max Bar‹ und dafür spendete ich mein allerhöchstes Gut, nämlich meine Lebenszeit, die für mich sowieso grundsätzlich unbezahlbar war. Jeder, der meinte, mit einem Obolus meine Zeit käuflich erwerben zu können, irrte sich gewaltig.
Im Übrigen bevorzuge ich das Wort Aufwandsentschädigung für diese Art von Tauschgeschäft, weil mir der Begriff bei Weitem angemessener erscheint als Begriffe wie zum Beispiel: Honorar, Lohn oder Verdienst. Schließlich gibt es keinen angemessenen Gegenwert für die Zeit, die doch in ihrer Summe nichts anderes ist als der Umfang der Verweildauer auf diesem Planeten.
Glücklicherweise hatte Pierre bereits bei meiner Ankunft Blickkontakt zu mir aufgenommen und stellte mir im richtigen Moment zwei der drei Ms vor die Brust.
»Sie schauen so erstaunt, Frau Kostka! Habe ich etwas Falsches gesagt? Oder möchten Sie das mit dem Auftrag noch einmal grundsätzlich überdenken?«, fragte mich Squamat sehr selbstsicher und aalglatt.
»Ich für meinen Teil wäre nach der kleinen Kostprobe Ihrer Arbeitsweise am heutigen Morgen durchaus an unserer Zusammenarbeit interessiert, auch wenn ich im Moment noch nicht im Detail sagen kann, was der Inhalt Ihres Auftrags genau sein wird.«
»Nein Herr Doktor Squamat, verzeihen Sie mir meine Unhöflichkeit!« Was Squamat konnte, konnte ich schon lange!
»Ich war einfach für einen Augenblick nicht bei der Sache. Sicherlich werde ich mich gerne um Ihre Belange kümmern. Ich habe heute Morgen Ihr Einverständnis voraussetzend, einen kleinen Vertrag aufgesetzt, dem Sie meinen Stundensatz und die Details zur Spesenabrechnung entnehmen können«.
Ich nahm einen großen Schluck des Maroc, versuchte meine gestelzte Zunge wieder auf Vordermann zu bringen und überreichte Squamat den Vertrag, der unsere Zusammenarbeit, wie er es nannte, besiegeln würde. Squamat zuckte nicht im Geringsten zusammen, als er einen Blick auf die Höhe der stündlichen Aufwandsentschädigung warf. Er holte aus der Jacke seines Jacketts einen Füllfederhalter und unterschrieb.
»So, wenn wir das jetzt geklärt haben, lege ich am besten gleich los, vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen, Frau Kostka? Ach ja, und ich gehe davon aus, dass alles, was nun besprochen wird, der absoluten Verschwiegenheit unterliegt?«, setzte er rhetorisch nach.
»Davon können Sie selbstverständlich ausgehen, Herr Doktor Squamat«, erwiderte ich.
»Ich hätte da allerdings noch eine Bitte: Falls es um wichtige Namen, Daten, Zahlen geht, wären Sie dann damit einverstanden, dass ich diese notiere?«
In der nächsten Stunde erfuhr ich jede Menge Details über meinen neuen Auftraggeber. Er erzählte mir aufschlussreiche Episoden aus seiner Kindheit, aber auch aus seinem aktuellen Leben. Langsam aber sicher entstand ein Bild, welches mit den Informationen von heute Nacht zu einer plausiblen Einheit zusammenwuchs. Hiermit würde ich arbeiten können.
Doktor Paul Squamat war doch viel mehr als der irre, spießige Sonderling, der mich heute Morgen mit seiner absurden Geschichte brutal aus dem Schlaf gerissen hatte.
Er war fünfunddreißig Jahre alt, hatte seine schulische Bildung in einem Internat am Bodensee erhalten. Anschließend hatte er in Heidelberg, London und Sankt Gallen Jura studiert und sogar in seinem Spezialgebiet Gesellschaftsrecht promoviert. Er hatte in einer großen WP-Gesellschaft gearbeitet und vor einem Jahr das Wirtschafsprüfungsexamen abgelegt. Seitdem war er als Jurist für gesellschaftsrechtliche Angelegenheiten tätig und beriet seine Mandanten weltweit bei Unternehmenskäufen, Insolvenzen und unternehmenspolitischen Maßnahmen.
Squamat erzählte, dass sein Vater ihm nicht nur einen Haufen Geld, sondern auch Immobilien, Aktien, und eine Partnerschaft in einer renommierten Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft hinterlassen hatte, nachdem er bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
»Herr Squamat«, da ich die Formulierung mit dem schlechten Gewissen nicht so einfach ignorieren wollte, unterbrach ich seinen Redefluss, »was meinen Sie genau mit: Seitdem habe ich ein schlechtes Gewissen? Fühlen Sie sich auf eine bestimmte Art und Weise für den Tod Ihres Vaters verantwortlich? Möchten Sie mir eventuell erzählen, was damals geschehen ist?«
»Ja gerne, weil das, was in dieser Nacht passierte, ging nicht mit rechten Dingen zu! Davon bin ich bis heute überzeugt! Aber die Ermittlungen verliefen im Sande. Sie können sich vielleicht denken, wie so etwas abläuft!«
»Sorry, kann ich leider nicht. Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge!«
»Also, mein Vater war in der Nähe von Frankfurt zu einer Festlichkeit bei einem Mandanten eingeladen, dem Hauptgesellschafter eines fleischproduzierenden Unternehmens. Ein riesiger Konzern mit mehr als dreißig Produktionsstätten in ganz Europa. Eigentlich ging es ihm an diesem Tag gesundheitlich nicht sonderlich gut, aber Mandantenbindung und auch Mandantengewinnung spielt in unserem Job genauso eine wichtige Rolle, wie in der freien Wirtschaft. Ich hatte doch erwähnt, dass auch mein Vater Jurist und Wirtschaftsprüfer war, oder?«
»Ja, das sagten Sie bereits, allerdings weiß ich noch nicht genau, was das mit seinem Unfall zu tun haben könnte.«
»Er fuhr gegen achtzehn Uhr los, und das weiß ich noch so genau, weil an diesem Tag ein wichtiges Spiel der Dallas Mavericks übertragen wurde, das er gerne gesehen hätte. Bereits um zweiundzwanzig Uhr bekam ich einen merkwürdigen Anruf von dem Gastgeber, dass mein Vater zu tief ins Glas geschaut hätte. Ich sollte ihn dringend abholen. Ich fuhr sofort los und war gegen dreiundzwanzig Uhr dort. Mein Vater stand bereits auf dem Parkplatz und machte einen fideleren Eindruck als da, wo er losgefahren war.«
»Sie meinen, er war gar nicht betrunken?«
»Ja! Und er machte mir sehr schnell klar, dass er keinen einzigen Schluck getrunken hatte. Es war wohl zu einem Eklat zwischen ihm und dem Gastgeber gekommen. Er freute sich, endlich nach Hause fahren zu können.«
»Was für ein Eklat? Und wunderte er sich nicht, warum Sie plötzlich da waren?«
»Klar wunderte er sich, er war sogar richtig sauer, dass mich der Mandant einfach so her zitiert hatte.«
»Und der Eklat?«
»Er wollte nichts sagen.«
»Merkwürdig.«
»Ja, das fand ich auch. Aber mein Vater stieg in sein Auto – und es gab für mich ehrlich gesagt auch keinen sichtbaren Grund dafür, dass ich ihn davon hätte abhalten müssen. Er hatte nicht mal einen Hauch von Fahne.«
»Ja und was passierte dann?«
»Na ja, ich fuhr mit meinem Wagen voran und musste schließlich im Rückspiegel mit ansehen, wie das Auto meines Vaters in einer Kurve bei Darmstadt in die Leitplanken raste und sich überschlug. Es war der wahre Horror!«
»Das ist ja schrecklich!«
»Das Ganze passierte in einer Ausfahrt im Kreuz und ich konnte nicht einfach wenden und zurückfahren. Ich informierte aber sofort einen Krankenwagen und die Polizei. Als ich am Unfallort ankam, war mein Vater bereits verstorben.«
»Das war sicher ein gewaltiger Schock für Sie.«
»Davon können Sie ausgehen! Aus irgendeinem Grund hatte sich sein Airbag nicht geöffnet. Angeblich ein technischer Defekt, für den im Nachhinein allerdings niemand aufkommen wollte.«
»Sorry, ich will Ihnen nicht zu nahe treten! Aber als Jurist mussten Sie doch wissen, wie so etwas geht, oder?«
»Da haben Sie vollkommen recht! Aber es wäre nur um Schadenersatz um Geld gegangen! Das Leben meines Vaters konnte ja durch kein neues Leben ersetzen werden. Verstehen Sie? Also brach ich den Rechtsstreit vor einem Monat ab. Ich hatte einfach keinen Nerv mehr dafür.«
»Na ja.«
»Ich weiß noch so genau, dass wir sehr entspannt nach Heidelberg zurückfuhren und in der Ausfahrt die Geschwindigkeitsbegrenzung einhielten. Ich fuhr ja voraus. Angeblich konnte die Polizei nicht nur den defekten Airbag, sondern auch Unregelmäßigkeiten im Lenksystem des Fahrzeugs meines Vaters nachweisen! Es bestand kein Zweifel daran, dass bei diesem Unfall ein Fremdverschulden nicht auszuschließen war. Trotzdem wurden die Ermittlungen eingestellt. Angeblich weil kein Verdächtiger ausfindig gemacht werden konnte.«
»Komisch, wenn so unsere Justiz funktioniert, wundert mich eigentlich gar nichts mehr.«
Etwas merkwürdig hörte sich diese Geschichte schon an, aber eigentlich hörte sich ja einiges komisch an, was mir Squamat erzählte. Nachdem er meine letzte Bemerkung ignoriert hatte, ging ich nicht weiter auf den Autounfall ein. Ich bat ihn, mir kurz alles Wichtige zusammenzufassen, was aus seiner Sicht für meine Ermittlungen relevant war und hoffte, dass er die Anspielung ›kurz‹ verstanden hatte.
Squamat erzählte in epischer Breite weiter. Er berichtete davon, dass er, wie testamentarisch vorgesehen, in die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft eintrat und bis auf eine Ausnahme die gesamte Mandantschaft seines Vaters übernahm. Der Hauptgesellschafter des besagten Fleischkonzerns, auf dessen Party Squamat Senior seinen letzten Abend verbracht hatte, zeigte sich mit der Weiterführung des Mandats durch den Sohn nur mit Einschränkungen einverstanden. So wurde festgelegt, dass eine Übernahme aller steuerrechtlichen Angelegen im Rahmen einer Testphase sukzessive erfolgen sollte.
Squamat erzählte davon, dass die Erbschaft von Seiten der Gesellschafter mit Missgunst und wenig Akzeptanz begleitet war. Dass sie keine Handhabe gehabt hatten, seinen Einstieg zu verhindern, gestaltete die Atmosphäre nicht gerade positiver, doch da der Vater seine Nachfolge von langer Hand geplant und schließlich wasserdicht vertraglich vorbereitet hatte, konnten sie nichts gegen Squamat Juniors Einstieg unternehmen.
Die offenen Arme, die Squamat empfingen, waren also mit grobmaschigem Stacheldraht umwickelt und ließen ihm kaum eine Chance, richtig Fuß zu fassen. Mobbing, Informationsboykott und andere subtile Querelen gehörten an allen Ecken und Enden zum Alltagsgeschäft, dem Squamat nun ausgesetzt war. Ob diese Gepflogenheiten letztendlich auch dazu beitrugen, dass die geerbte Mandantschaft und besonders auch der Mandant nahe Frankfurt, Squamat Junior eine Zeit lang mit allergrößter Skepsis begegneten, konnte nie nachgewiesen werden.
Aber Squamat war, wie er mir versicherte, anfangs so voller ungetrübtem Tatendrang, gepaart mit einer viel zu großen Portion Gutgläubigkeit und Naivität – diese Formulierung gefiel mir besonders gut – dass er beschloss, seine Position durch qualitativ hervorragende Arbeitsergebnisse auszubauen. Er wurde zu einem Meister der Mimikry, der nicht nur viel zu viele Bälle auf einmal in der Luft jonglierte, wie er es ausdrückte, sondern seine akrobatischen Einlagen sogar ständig im Spagat vollzog.
Squamat begann mich langsam aber sicher zu interessieren. Hatten seine anfänglichen Begegnungsrituale eher befremdlich auf mich gewirkt, schilderte er jetzt strukturiert und sachlich berufliche Alltagssituationen, die authentischer nicht hätten sein können.
»Herr Doktor Squamat«, unterbrach ich meinen neuen Auftraggeber, »Sie haben mir bereits Einblicke in Ihr Leben gewährt und das sind sicherlich auch alles ganz wichtige Informationen, allerdings frage ich mich, was hat das alles mit dem kleinen Mädchen zu tun? Wo ist der Zusammenhang?«
»Nun Frau Kostka, für mich ist es wichtig, dass Sie die Komplexität der gesamten Geschichte begreifen. Die Kausalität erschließt sich mir bisher ehrlich gesagt auch noch nicht so ganz. Aber der Mandant, der Unfall, mein Erbe, das tote Mädchen – ich spüre, dass es da irgendwelche Verbindungen gibt! Aber welche? Ich habe nicht den blassesten Schimmer.«
»Nun, dann sind wir uns in diesem Punkt ja schon mal einig! Kommen wir doch noch mal auf das kleine Mädchen zurück. Sind Sie immer noch davon überzeugt, dieses Kind heute Nacht tot bei der Schleuse entdeckt zu haben? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber bis jetzt ist für Sie, zumindest was diese Sache betrifft, ja noch alles im grünen Bereich. Bisher hat niemand, außer Ihnen, dieses Mädchen überhaupt gesehen! Und Sie wissen ja, dass selbst Kommissar Johannes Falken, der Chef der Mordkommission uns versicherte, dass zurzeit keine Vermisstenanzeige vorliegt. Auch ist kein totes Mädchen aufgefunden worden.«
»Ja, das ist tatsächlich das, was auch mir im Moment die meiste Sicherheit gibt!«
»Das kann ich nachvollziehen! Es stellt sich mir allerdings vor diesem Hintergrund die Frage: Was machen wir hier eigentlich, außer uns nett zu unterhalten? Was ist Ihr tatsächliches Anliegen?«
Während ich meinen lukrativen Auftrag, kaum, dass ich ihn ergattert hatte, schon wieder pampig aufs Spiel setzte, beobachtete mich Squamat intensiv. Schließlich brachte er mich mit seinen pseudoanalytischen Blicken vollkommen aus dem Konzept.
»Frau Kostka, es ist gut, zu wissen, dass Sie nicht nur hinter meinem Geld her sind. Das weiß ich sehr zu schätzen! Aber das, was ich heute Nacht gesehen habe, habe ich gesehen, auch wenn Sie mich vielleicht für total verrückt halten! Es gibt dieses Mädchen und dieses Mädchen lebt nicht mehr! Tot, nachdem es wahrscheinlich ertränkt wurde! Ich versichere Ihnen, es handelt sich nicht um eine Fantasiegestalt, die da nackt auf dem Beton lag! Davon müssen Sie bitte ausgehen! Meine kleine Schwester ist vielleicht so eine Illusionsgestalt, aber nicht dieses tote Kind! Ich kann das durchaus differenzieren!«
Squamat machte eine nachdenkliche Pause und sah mich provokant an.
»Bis vorhin dachte ich allerdings, dass ich sein Mörder sei, das hat sich mittlerweile geändert. Ganz sicher bin ich mir zwar noch immer nicht, aber das liegt bestimmt daran, dass ich mich irgendwie gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe fühle.«
Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Diese Ansage war so klar formuliert und ließ keinen Spielraum für Interpretationen zu. Die Hoffnung, dass Squamat einer Täuschung zum Opfer gefallen war, hatte er mit Schmackes ins Abseits geschossen.
»Gut Herr Doktor Squamat, die Botschaft ist angekommen! Dann fasse ich mal zusammen: Sie sind sich sicher, dass es ein Kind gibt, das getötet wurde, während Sie schliefen oder dass Sie schlafwandelnd selbst getötet haben könnten. Der Täter oder Sie selbst haben das Mädchen ausgezogen, seine Sachen ordentlich gefaltet und neben Ihren Stuhl gelegt. Und dann haben Sie oder der unbekannte Dritte das Mädchen gepackt und so lange gewürgt oder ihm die Hand vor den Mund gehalten, bis es tot war.« Squamat guckte mich verwirrt an! Seine Atmung ging so schnell, als hätte er gerade einen hundert Meter Sprint hinter sich gebracht.
»Hören Sie auf mit dem Kokolores! So war das nicht! Hören Sie doch auf!«
Squamats Verzweiflung eskalierte und ich lief zu meiner Höchstform auf.
»Wäre ganz gut, Herr Doktor Squamat, wenn Sie meine Ausführungen bis zum Ende verfolgten«, grätschte ich in seine Unterbrechung. Ich wollte ihn nun vollends aus der Reserve locken.
»Als der Täter sich aus dem Staub gemacht hatte, sind Sie aufgewacht und haben die Sachen und den toten Körper gefunden? Oder aber, Sie verließen Ihre Traumwelten und fanden die Situation so vor, wie Sie es geschildert haben.« Ich machte eine auffordernde Pause. Squamat antwortete nicht.
»Ja dann erzählen Sie mir bitte mal, wie lange Sie ungefähr auf Ihrem Klappstuhl meditiert haben? War es eine halbe Stunde oder waren es eher zwei oder drei Stunden? Sie riefen mich gegen drei Uhr dreißig an.«
Jetzt war der Mann völlig am Ende. Nur wusste ich nicht genau warum. Hatte ich ein Trauma erneut zum Leben erweckt oder hatte Squamat tatsächlich den angeblichen Mord an dem Kind verschlafen? Selbstbewusst unterbrach er abrupt meine Gedanken.
»Nun, das weiß ich ziemlich genau. Ich bin so gegen zweiundzwanzig Uhr aus dem Büro gekommen. Wissen Sie, wenn abends niemand mehr da ist, kann man am konzentriertesten arbeiten. Dann bin ich ungefähr eine Stunde durch die Gassen gelaufen. Ich habe mir beim Imbiss am Markt eine Currywurst gekauft und musste anschließend in einer Bar ein Wasser und einen Schnaps trinken, weil mein Magen gegen die Wurst rebellierte. Das hat aber nicht länger als eine viertel Stunde gedauert.«
»Machen Sie das öfter? Bei diesem Imbiss eine Currywurst kaufen?« Kein Wunder, dass dieser Mensch so blass und ungesund aussah.
Squamat ignorierte meine Frage großzügig und schaute mich spöttisch an.
»Anschließend bin ich wie gewohnt langsam Richtung Schleuse gelaufen und war so unfassbar erschlagen, wie ich es sonst kaum von mir kenne. Meistens bin ich um diese Uhrzeit auf dem Schleusenüberweg immer alleine. Selten huscht mal ein Jogger oder eine Joggerin an mir vorbei. Gestern Nacht war das allerdings anders.«
»Was meinen Sie mit anders?«
»Es standen so fünf oder sechs junge Leute mit Bierflaschen herum – ungefähr in Höhe der zweiten Walze. Sie rangelten grölend miteinander. Sehr unangenehm! Ich dachte kurz, dass ich besser umkehren sollte, aber ich war so sehr erschöpft. Als ich in ihrer Höhe war, kam einer der Kerle auf mich zu und zog mich unsanft zu den anderen. Er hatte so pinkfarbene Stacheln, die ihm aus der Kopfhaut wuchsen und so Ringe und Stäbe aus Metall im Gesicht. Diesen Modetrend habe ich nie verstanden! Willste auch ein Bier, schrie ein anderer und als ich dankend ablehnte, beschimpften sie mich und schubsten mich hin und her.«
»Fünf oder sechs sagen Sie?«
»Ja! Ich habe bestimmt einige blaue Flecken, denn das war ein äußerst heftiger Angriff. Sie schleuderten mich immer wieder gegen das Geländer. Einer der Betrunkenen schrie: Mann Krempi, jetzt mach endlich! – ja und jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau, dann spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Hüfte. Plötzlich war der Spuk vorbei. Sie rannten wie die Teufel davon! Einer von den Kerlen ging kurz zu Boden und schleuderte mir noch eine Bierflasche entgegen. Die Flasche zersprang in tausend Stücke, schäumte und hinterließ eine Riesensauerei! Mich haben die Scherben aber nicht erwischt!«
Hatte mein neuer Klient eine so blühende Fantasie? Ein Typ namens Krempi mit pinkfarbenen Stacheln, die aus der Kopfhaut wuchsen? Punker hatte ich in Heidelberg schon lange nicht mehr gesehen! Jetzt war ich diejenige, die kurz ins Straucheln geriet.
»Was haben Sie dann gemacht?«, versuchte ich die Erzählung in Gang zu halten.
»Na, ich bin wie immer zu meinem Platz gegangen. Und dann habe ich mir überlegt, ob ich vielleicht die Polizei rufen soll – aber es war ja nichts Gravierendes passiert. Es wird so dreiundzwanzig Uhr gewesen sein, als ich meinen Stuhl aufstellte. Ich war von jetzt auf gleich so unglaublich müde, fast wie gelähmt.«
»Ja und weiter? Ist Ihnen vielleicht einer dieser Typen gefolgt?«
»Nein, ich denke nicht, das hätte ich gewiss bemerkt. Sie waren glücklicherweise verschwunden.«
»Da sind Sie sich ganz sicher?«
»Ja, da war niemand! Ganz bestimmt!«
»Und dann saßen Sie also müde auf Ihrem Stuhl?«
»Ja! Üblicherweise gehe ich kurz ins Internet und lese, was während des Tages alles passiert ist. Oftmals spiele ich auch online eine Partie Doppelkopf – aber heute Nacht war alles anders. Ich bin, sehr schnell eingenickt und habe auch meine Schwester nur ganz kurz gesehen. Ja lachen und spotten Sie nicht, manche sprechen mit einem lieben Gott! Oder nicht? Und der ist doch genauso wenig real wie meine Schwester, oder?«
»Das weiß ich nicht! Ich bin da eher auf der Seite der Agnostiker! Ist aber auch egal.«
»Interessant! Aber wie Sie schon sagen, es spielt in diesem Fall keine erhebliche Rolle. Kommen wir zum Wesentlichen zurück: Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen habe. Ich weiß nur, als ich wieder aufwachte, war es wie der Ritt aus einem Koma und ich war noch genauso müde oder sogar müder als zuvor.«
Jetzt schaute mich Squamat erwartungsvoll an.
»Was meinen Sie mit Ritt aus einem Koma? Haben Sie für gewöhnlich einen eher leichten oder einen eher festen Schlaf?«
»Was soll das für einen Mehrwert bringen, wenn ich Ihnen erzähle, durch was sich mein Schlafverhalten auszeichnet?«
Ich ignorierte die Pampigkeit seiner Antwort.
»Wissen Sie, mir geht die ganze Zeit eine Frage durch den Kopf,« erwiderte ich freundlich, »wie soll in der Zeit, in der Sie geschlafen haben, ein Kind zu Ihnen gekommen sein, ein lebendiges, das dann genau an dieser Stelle auf seinen Mörder trifft, von ihm ausgezogen und anschließend von ihm getötet wird? Und das, ohne, dass Sie von diesem Todeskampf etwas mitbekommen haben? Äußerst unwahrscheinlich, finde ich! Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Erst Möglichkeit, es gibt dieses Mädchen gar nicht und Sie haben alles nur geträumt oder zweite Möglichkeit, es gibt dieses Mädchen und es wurde an einer anderen Stelle ausgezogen und getötet und danach dort hingelegt, wo Sie es gefunden haben.«
Ich hatte noch eine dritte Möglichkeit in petto, aber die wollte ich zu diesem Zeitpunkt weder denken noch laut aussprechen.