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Der erste und vielleicht auch der letzte Fall für Martha Kostka, der Inhaberin der Prischnü Solution, einer Detektei in der Rhein-Neckar Region. Ob sie dem perfiden Ränkespiel der weißen Mamba noch in allerletzter Sekunde entkommen kann, wird sich zeigen. Ein ganzes Heer fremdartiger Puppengestalten hat mit provokanter Absicht die Idylle aus der romantischen Neckarstadt Heidelberg vertrieben. Und so starren tote Augen diabolisch von jedem Gemäuer, von jeder barocken Fassade und aus jedem historischen Winkel und jeden Tag werden sie mehr. Das Glotzen ihrer Augen hypnotisiert die Wahrnehmung der Bewohner und die mit schwarzen Fäden zusammengezurrten Münder schreien sich ungehemmt in jedermanns Psyche. Hinter alldem steckt der perfide Plan der Weißen Mamba, die ihre Manipulationen ohne Skrupel vorantreibt und so die Ängste der Menschen für ihre eigenen Zwecke missbraucht. Martha Kostka, Inhaberin der Prischnü Solution, einer renommierten Detektei in der Rhein-Neckar Region, hat sich gerade noch bei einem Maroc in der Max Bar am Place de la Liberté entspannt, als sich die Lage immer mehr zuspitzt. Und weil auch die Ermittlerin nicht ahnt, was sich wirklich hinter den Kulissen abspielt, erkennt sie viel zu spät, dass sie selbst sich längst in den Fallstricken des gefährlichen Ränkespiels verfangen hat. Und während dessen zieht die weiße Mamba ohne Gnade ihre giftigen Kreise unaufhaltsam weiter.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Adelheid Adrian
Die Puppen der Weißen Mamba
Ein Fall für Martha Kostka
Kriminalroman
Impressum
Text und Inhalt: 2023 © Copyright by Adelheid Adrian
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: 2023 © Copyright by Adelheid Adrian
Unter der Verwendung eigener Kunst, Fotos und KI-Fotokunst
Alle Rechte vorbehalten
Korrektorat: C. Tetzlaff, M. Reichel, M. Schaeffer
Lektorat: U. Kaufmann
Bildmaterial: A. Adrian
Verlag: Adelheid Adrian
Häusserstr. 20
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Herstellung/Druck: Neopubli GmbH HRB 108995 Berlin
ISBN: 978-3-757532-65-9
Schicksalsträchtig und dennoch sind es nur Puppen. Die Idee, die ihre Körper formte ist bestialisch und eine einzige Lüge. Dennoch prägt diese Lüge die Emotionen der Menschen, ohne dass sie merken, dass sie nur zum Werkzeug ihrer Erschaffer wurden.
Manche lassen sich nicht blenden, andere baden sich hingegen in ihren Vorurteilen. Aber es sind nicht die Dummen, die in den endlosen Meeren der Vorurteile ertrinken, sondern es sind die, gegen die sich die Vorurteile richten.
Fiktion und Wirklichkeit treffen kämpferisch aufeinander und manchmal fällt es schwer zu entscheiden, was das eine und was das andere ist. Und dann infizieren traurige Wahrheiten die literarische Kunst und werden zu einer Art Pandemie, der niemand entkommen kann.
Spekulationen bestimmten seit Wochen das Alltagsgeschehen in Heidelberg, und ein Theaterspiel, das weder Theater noch ein Spiel war, nahm einfach kein Ende.
Ich möchte nicht behaupten, dass Hölderlin und all die klugen Dichter und Philosophen ihre Meinung über Heidelberg gänzlich geändert hätten, aber wären sie in diesen Zeiten an den Ort ihrer dichterischen Kreativität zurückgekehrt, hätten sie ihre Gedichte und Lieder korrigiert – dessen bin ich mir sicher.
Die Romantik der Stadt war dem Grotesken und dem Skurrilen zum Opfer gefallen und jeder, der versuchte, dieses zu leugnen, wurde sofort eines Besseren belehrt.
Ein ganzes Heer rätselhafter Puppengestalten hatte mit provokanter Absicht die Stadt eingenommen und so glotzten tote Augen diabolisch von jedem Gemäuer, von jeder barocken Fassade und aus jedem historischen Winkel. Das Glotzen dieser Augen hypnotisierte die Wahrnehmung und die mit schwarzen Fäden zusammengezurrten Münder schrien sich ungehemmt in jedermanns Psyche.
Wie ein Flash Mob, ohne jegliche Vorankündigung, hatten die Puppen Einzug in die Stadt gehalten und es machte den Eindruck als würden sie von Tag zu Tag mehr. Eine ganze Flut von Augen, Mündern und Körpern spülte sich durch die Gassen Heidelbergs und niemand und nichts entkam ihrem skurrilen Anblick. Selbst das prächtige Heidelberger Schloss, das sich auf einer Anhöhe von den Hausdächern der Altstadt erhaben abgrenzte, verlor seine Attraktivität und rückte desillusioniert in den Hintergrund.
Dunkle Emotionen schlichen sich in die Gemüter der Bewohner und dort angekommen, machten sie sich ungefragt und ohne Rücksichtnahme breit. Zwar wanderten täglich viele der Unruhestifter in die städtischen Mülltonnen, aber ebenso viele kamen makellos zurück, als würden sie auferstehen, wie es einst Phönix aus der Asche getan hatte.
Heidelbergs Schicksal schien endgültig besiegelt: Es kämpfte nicht gegen Felsbrocken, wie Sisyphos es tat, sondern es kämpfte gegen rätselhafte Puppen, die in ihrer Abartigkeit schwerer wogen, als ein Fels je hätte wiegen können – ja und es kämpfte gegen die Ängste, die diese Puppen verursachten.
Die düsteren, sonderbaren Gestalten waren aus Holz geschnitzt, manche kunstlos aus Sisal mit Schnüren in Form gebracht und andere aufwendig aus tristem oder glänzendem Garn gestrickt. Einige der Puppen waren akribisch mit buntgemusterten Krawatten und seriösen, grauen Anzügen gekleidet und andere trugen strenge Faltenröcke mit dazu farblich passenden Pumps. Viele der Gestalten waren mit blauen Jeans und Sneakers ausgestattet, aber manche fielen durch ihre hüllenlose, mit Nadeln durchstochene Nacktheit auf. Es gab die Puppen in allen Größen, in allen Formen und Farben, zumeist mit vielerlei schwarzen Applikationen gearbeitet, und besonders an ihren Köpfen waren sie kunstvoll dekoriert.
Allen gemein war die auffällige Machart ihrer Münder. Münder, die makaber wie zu qualvollen Schreien aufgerissen schienen und obwohl sie mit schwarzen Fäden zusammengezurrt waren, schrien sie sich so leibhaftig in die Herzen der Menschen, und die Fäden konnten diese Schreie nicht bändigen.
Bei den meisten Heidelbergern, die noch bis vor Kurzem weit über die Stadtgrenzen hinaus für ihre Bodenständigkeit und ihre Gelassenheit bekannt gewesen waren, erzeugten die seltsamen Gestalten heftige, unkontrollierbare Pulsausschläge – aber nicht allein bei ihnen. Touristen und andere Besucher erlebten tsunamiartige Adrenalinausschüttungen bei dem Anblick dieser Gestalten und falls man es wagte, den Blick vorsichtig in eine andere Richtung zu lenken, konnte man sogar den Eindruck gewinnen, als ließen die Augen und Münder dieser Puppen nicht nur das Blut und die Botenstoffe in den Menschen überschwappen.
Der sonst so sanft durch Heidelberg dahingleitende Neckar tobte in diesen Zeiten mit bedrohlich, schwarzen Wogen durch sein Bett und nagte besonders auf der Neuenheimer Seite gierig an seinen Ufern – zumindest schien es so aus der Sicht manch angeschlagener Psyche. Die Idylle und das Image Heidelbergs hatte durch die Anwesenheit der Puppen nach kurzer Zeit auffällig tiefe Kratzer erhalten.
Zweifellos war die ethnische Herkunft des rätselhaften Puppenphänomens auf den ersten Blick unverkennbar. Aufgrund ihres Aussehens ließen sich eindeutige Parallelen zu den sagenumwobenen Voodoopuppen aus Afrika und Haiti ausmachen und man bekam den Eindruck, als beherrsche ab sofort die schwarze Magie die Stadt Heidelberg – und die schwarze Magie schmückte auf groteske Art und Weise Brunnen, war an Hausfassaden drapiert, hing an Bäumen und Brückenpfeilern und begleitete die Ängstlichen unter uns in ihre Träume und reichte den Albträumen ihre kleinen gruseligen und knöchrigen Händchen.
An eine kühle Weinschorle am Abend oder das wohlverdiente Feierabendbierchen in einer der sonst so romantischen Außenbewirtschaftungen Heidelbergs war kaum mehr zu denken. Überall wurden Genießer, Romantiker, Touristen oder einfach auch nur jemand wie Sie oder ich aus unheimlichen Augen beobachtet, angestarrt, hypnotisiert und wenn die Dämmerung eintrat und der Alkoholspiegel so langsam zu steigen drohte, verursachte der Anblick der skurrilen Gestalten ein unausweichliches, angstvolles Unwohlsein. Das war eben schwarze Magie.
Insgesamt gesehen fielen die Reaktionen auf die neuen Mitbewohner Heidelbergs dennoch recht unterschiedlich aus. Einige wenige Touristen staunten lediglich neugierig, besonders, weil sie ja wussten, dass sie nur ein paar Tage oder Stunden in der Stadt bleiben würden und Kinder, meist die kessen und angstlosen unter ihnen, verfielen amüsiert und vom Unbekannten angetrieben dem Schnitzeljagdfieber. Manch ein Student belustigte sich, weil durch seine oft wissenschaftliche Herangehensweise an Dinge seine Fantasie gehemmt war und manch älterer, stolzer Bewohner Heidelbergs, übte sich heimlich, aber verängstigt, in gespielter Gelassenheit, auch wenn es in der Tiefe seiner Seele verdammt brodelte.
Ach ja, und dann gab es da ohne Zweifel auch noch die Coolen, meist aus dem Schwabenländle Zugewanderte oder Bahnstadtbewohner, die von diesem Blödsinn wie sie es nannten, nichts hielten und sie gaben lautstark damit an, die Puppengestalten gar nicht zu bemerken.
Aber es gab auch die trendglobalen, allwissenden Verschwörungstheoretiker, die Bill Gates und Gründer von SAP wie Dietmar Hopp und Hasso Plattner – Walldorf ist von Heidelberg ja nicht weit entfernt – für die düstere Puppenflut verantwortlich machten und durch ihre Alu-Hüte geschützt auf dem Bismarckplatz, einem städtischen Knotenpunkt, der berühmt und berüchtigt für alles und nichts war, prophezeiten, dass der sichere Untergang Heidelbergs nun endgültig besiegelt sei.
In den Heidelberger Schlossnachrichten, der Lokalzeitung Heidelbergs, erschienen seit fast drei Wochen täglich Artikel über die rätselhafte Herkunft der Puppengestalten. An einem Tag munkelte man journalistisch, dass eine Gruppe Aktionskünstler auf originelle, wenn auch extrem schrille Art und Weise, geschmacklos auf sich aufmerksam machen wollte. Am nächsten Tag war es der Touristikbeauftragte der Stadt Heidelberg, der angeblich ohne Absprache, über die Stadtgrenzen hinaus spektakuläre Aufmerksamkeit erzeugen wollte, wahrscheinlich um die stetig anwachsende Anzahl neu geschaffener Hotelbetten und die Stadtsäckel zu füllen, und dann erschien am übernächsten Tag ein neuer, literarischer Auswurf, der die bis dahin spekulierten Mutmaßungen dementierte und die kreativen Puppenaktionen der Vereinigung der Kindergärten Heidelbergs rühmte.
Ja und ich, Martha Kostka, eine Privatermittlerin aus Heidelberg, war bereits mehr als gespannt, wann die nächste Kuh auf das Eis schwarzer Magie getrieben werden würde. Mit jedem Schluck Maroc weitete sich die Kuhansammlung in meiner Fantasie aus und galoppierte von Cowboys getrieben über die Heidelberger Neckarwiese.
Sonne und Maroc in Heidelberg, auf einem leicht demolierten Stuhl meines Lieblingsbistros, der Max Bar, am Place de la Liberté, direkt vor dem Rathaus, mit dem Blick auf den historischen Herkulesbrunnen und einem verheißungsvollen und Neugierde erweckenden Blickausschnittchen auf die alte, weltberühmte Schlossruine, beflügelte wie eigentlich fast jeden Tag meine unbändige Fantasie.
Fantasie, was gäbe ich für ihre Grenzenlosigkeit, ihre positive Kreativität, doch hin und wieder schoben sich auch bei mir leichte Schatten über sie. Diese vermaledeiten, trüben Schatten, die aus dem Nichts erschienen. Mit grauem Grau verschleierten sie dann meinen Blick und spannten Markisen vor das sonnige Licht – glücklicherweise aber auch vor die puppenhaften, düsteren Gruselgestalten.
Manchmal, wie auch heute, flatterten fantasiegetrieben Fragen auf. Silbergrau zogen sie durch meine Gedanken und stellten unverblümt die drei Elementarfragen:
Erstens: Wie viel Maroc kann ich mir noch leisten, ohne einen neuen Auftrag akquiriert zu haben?
Zweitens: Ist so viel Maroc eigentlich gut für mein Herz- und Kreislaufsystem?
Und drittens: Wie lange wird es eigentlich noch Kühe geben, die von Cowboys über das Eis und falls kein Eis vorhanden sein sollte, über die Neckarwiese getrieben werden?
Vielleicht habe ich Sie, liebe Leserschaft, just in diesem Moment durch die Preisgabe eines kleinen Ausschnitts meiner intimsten Empfindungen neugierig auf mich gemacht, auf die Erzählerin dieser Heidelberger Kriminalgeschichte. Vielleicht aber auch nicht!?
Da ich jedoch wohl kaum drum herumkommen werde, mich bei Ihnen kurz bekannt zu machen, jetzt oder später, tue ich es lieber gleich, damit die Sache erledigt ist. Jeder will schließlich wissen, mit wem er es zu tun hat, wobei ich, diese Anmerkung sei mir erlaubt, als Autorin in diesem Punkt einen großen Nachteil habe – welcher Autor kennt schon seine Leserschaft?
Sicherlich können Sie diese Buchpassage auch gerne überspringen, es stört mich nicht im Geringsten. Ich überlasse Ihnen diese Entscheidung großzügig, nur möchte ich Sie bitten, springen Sie nicht gleich auf die letzten fünf Seiten. Das raubt Ihnen nämlich die Spannung auf den Seiten dazwischen – und das kenne ich übrigens aus eigener Erfahrung!
Nach meiner Einschätzung ist auch in diesem Buch durchaus ein gewisser Spannungsbogen vorhanden, aber ich gestehe Ihnen selbstverständlich zu, die Vorgehensweise, wie Sie dieses Buch lesen möchten, Ihrem freien Willen zu überlassen, schließlich gehört es ja Ihnen.
Für diejenigen, die also wissen möchten, wer die nächsten knapp vierhundert Seiten erzählen wird: Mein Name ist wie schon gesagt: Martha Kostka. Ich bin zurzeit eine berühmte Privatermittlerin in Heidelberg, mir gehört die Prischnü Solution Detektei, und ich freue mich über fast jeden neuen Auftrag, der mir in die Finger kommt. Ich kam zu diesem Job sozusagen aus der Not geboren, nachdem nämlich ein anderer Privatermittler Heidelbergs, übrigens ein wirklich toller Kauz, seinen Job endgültig hingeschmissen hatte. Ihm war das berufliche Risiko eines Tages einfach zu groß geworden und so machte er sich auf zu neuen Ufern, wie man so schön sagt.
Das war nicht nur mein Glück, sondern auch meine große Chance, denn ab dem Zeitpunkt, an dem er nicht mehr zur Verfügung gestanden hatte, wurden plötzlich dringliche Anfragen an mich, die Newcomerin Martha Kostka, in Sachen Ermittlungen jeglicher Art gerichtet. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, kann und will man manchen neuen Herausforderungen nicht einfach widerstehen und so konnte ich es auch nicht.
Und jetzt noch kurz zu meiner Vergangenheit, meinem Leben vor dem Jetzigen: Eines Tages hatte ich den regnerischen, mit tosendem Glockenklang begleiteten Morgengruß Münsters nicht mehr ertragen und hatte die Stadt und ihre Universität gewechselt. Vom kalten Münster im Westfalenland entschied ich nach Heidelberg in die von Wärme und Sonne verwöhnte Hauptstadt der Kurpfalz zurückzukehren, um an der Ruprecht-Karls-Universität, der ältesten Universität Deutschlands, meine Studien der Wirtschaftswissenschaften fortzusetzen.
Im Berufsleben angekommen verfasste ich zunächst in einer von Männern dominierten Softwarewelt Lastenhefte, plagte mich mit ahnungsfremden Chefs herum, zumindest kam es mir damals so vor, diskutierte mit emsigen Computercracks Programmieraufwände und Manntage, weil es selbstredend Frautage als Aufwandsmaßeinheit nicht gab, und leitete nach dieser harten Feuertaufe schließlich Projekte ganz anderer Art. Ich lernte, dass ein Fisch immer am Kopf zu stinken beginnt, und übte mich im nervenaufreibenden Deeskalationsmanagement auf der Bühne gut betuchter Kunden. Bald kannte ich fast jede Stadt Deutschlands und traf meine noch heute beste Freundin Ditschi, eine begnadete Digitalakrobatin.
Unzählige Überstunden und einsetzende Selbstzweifel, ob das Leben, das ich führte, das richtige sei, bahnten ihren Weg in meine erste ernst zu nehmende Orientierungskrise. Schließlich sagte ich Ade zu den Programmiercodes, den Hot Patches, den Releases und Programmneuheiten, und mein pulsierendes Herzblut versickerte verwaist und trostlos in einer Welt, die ich plötzlich nie wiedersehen wollte: Arrivederci 0011010.
Plötzlich galt es mich neu zu erfinden. Ich eröffnete eine kleine Detektei mit dem kreativen Namen ›Prischnü Solution‹ und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Und weil es zunächst mit der Auftragslage meines Start-ups mehr als mau aussah, fuhr ich zweigleisig und bot neuropsychologische Trainings für Senioren und Seniorinnen an, um sie vor Altersvergesslichkeit und frühzeitig einsetzender Demenz zu bewahren.
Bei den ersten Ermittlungsaufträgen, die ich als unerfahrenes Greenhorn akquirieren konnte, handelte es sich meistens um unspektakuläre Aufträge, wie Beschattungen in Beziehungsangelegenheiten. Diese Aufträge langweilten mich qualvoll und unendlich, aber nach einer Weile wurde es aufregender und einmal hätte es mich bei einem solchen Auftrag fast um Haaresbreite erwischt – aber das gehört hier jetzt nicht her.
Ich sehe übrigens nicht aus wie Miss Jane Marple, bin viel jünger und auch etwas, wie soll ich sagen, drahtiger. Ich habe drei best buddies: Zum einen ist das Hans, mein umsichtiger und krisenfester Lebensgefährte, dem ich keine Kinder und keine gute Küche versprechen musste, zum anderen mein nervenstarker Freund Willi, der bei den Schlossnachrichten als Chefredakteur täglich seinen Lebensunterhalt verdient und bei der dritten im Bunde handelt es sich um meine treue Freundin Ditschi, die Digitalakrobatin, die mit richtigem Namen Cordula heißt. Alle drei stehen mir immer, aber auch wirklich immer zur Seite, besonders dann, wenn es brenzlig wird.
Um das Bild Ihrer Erzählerin abzurunden, sollte ich vielleicht noch ganz kurz erwähnen, dass mir schon sehr früh klar wurde, dass es für die weiblichen Menschen dieses Planeten ratsam ist, mehr als Intuition, ein paar Kinder, einen Mann und ein Haus vorweisen zu können. Also absolvierte ich noch vor dem Eintritt in mein Berufsleben Verteidigungskurse unterschiedlicher Disziplinen und übte mich ausgiebig im diplomatischen Umgang mit der vermeintlichen Überlegenheit der männlichen Spezies.
Ach ja, und Kühe gehören zu meinen Lieblingstieren und Rehe auch, wohingegen Cowboys nicht dazu gehören. Ich mag die Kühe allerdings nur auf den Weiden und Rehe mit unversehrten Rücken im Wald und keinesfalls auf dem Teller.
So, das sollte fürs Erste genügen, denn viel spannender sind doch die gruseligen Puppengestalten und was es mit diesen in dem so viel besungenen Heidelberg auf sich hatte.
Kürzlich hatte ich noch gelesen, dass täglich fünf Tassen Koffein lebensverlängernd wirken, und so winkte ich Pierre, der Seele der Max Bar zu, zeigte mit dem Daumen nach oben und bestellte mit dieser schon zu einem Ritual gewordenen Gebärde meinen neuen Maroc, den großen Bruder des Espresso Macchiato.
Irgendetwas war heute anders als gestern. Meine Blicke inspizierten den Steinkorpus des Herkules in der Brunnenmitte, der aus meiner Bistrostuhlposition leider nur von hinten sichtbar war. Ich beobachtete interessiert die Wasserstrahlen, die sich durch schmale, dunkle Röhren in den Brunnen ergossen und ich sah den Tauben zu, die clever auf den Wasserspeiern saßen und genüsslich am Brunnenwasser pickten. Eigentlich saß ich hier noch lieber mit Hans, aber der hatte tagsüber selten Zeit, da er als Finanzexperte Dinge tat, von denen ich nahezu keine Ahnung hatte.
Wie bei den beliebten Kinder- und Seniorenrätseln, bei denen oftmals zwei, in winzigen Details voneinander abweichende Bilder nebeneinander dargestellt werden, versuchte ich die Bilder des gestrigen Tages zu rekonstruieren, um sie schließlich mit den heutigen Bildern, nach dem Motto »Erkenne den Unterschied«, abzugleichen. Und während ich noch mühevoll im Begriff war, gedanklich die Erinnerungsschablone über die aktuelle Wahrnehmungsschablone zu schieben, erkannte ich plötzlich den Unterschied.
Wo gestern noch eine imposante Voodoopuppe um den Hals des Herkules hing, genauer gesagt hing sie auf dem seitlichen Rücken des Herkules, links oberhalb des Löwenkopfes, strahlte mir heute ein unberührtes, nahezu entspannendes Nichts entgegen.
Gestern war ich noch mehr als erstaunt über den Aufwand, den jemand betrieben haben musste, um diese gruselige Puppe so kunstvoll und realitätsnah zu fertigen. Sie war mindestens vierzig Zentimeter groß, trug akkurat sitzende Businesskleidung und schwarze Lackschuhe. Im Gegensatz zu der detailgetreuen Kleidungsausstattung saß auf ihrem Hals ein wüster Kopf aus Jute gefertigt, mit zotteligen, abstehenden Haaren und im Gesicht der Gestalt war der typische, zusammengezurrte Mund, bei dem noch ein blutroter Rachen im Inneren des Kopfes zu erkennen war.
»Wo sind Sie gerade Miss Marple?«, dröhnte es aus meinem Mobilen, als ich es widerwillig in Richtung meines Ohrs bewegte.
»Ich gönne mir gerade eine wohlverdiente Pause auf dem Rathausplatz! Wer ist da und was wollen Sie?«, fragte ich etwas genervt, weil ich es nicht wollte, dass irgendjemand mein morgendliches Ritual störte.
»Das trifft sich ja hervorragend, Miss Marple, sorry Miss Martha – die Stadt hat einen Auftrag für Sie, bei dessen Erledigung es weibliches Feingefühl, Diplomatie und wie ich das ganz persönlich sehe, besonders auch einen professionellen Umgang mit kulturübergreifenden Fragestellungen erfordert. Ich bin mir sicher, Sie haben mich längst erkannt, Frau Kostka, oder? In meiner Funktion als erster Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg möchte ich Sie dringend und ganz offiziell ersuchen, sobald es Ihnen irgendwie möglich sein sollte, ins Rathaus zu kommen. Unser Integrationsbeauftragter Milan van Riemen und weitere von uns ausgewählte Krisenstabsmitglieder erwarten Sie bereits im kleinen Krisensaal. Wäre es Ihnen möglich, so in einer halben Stunde im Zimmer H21 zu erscheinen? Dort können wir alles Weitere besprechen«, sprach der erste Oberbürgermeister der Stadt etwas gestelzt in sein Telefon und wartete nun offensichtlich auf meine Antwort.
Elementarfrage Nummer zwei, Maroc, Kreislauf und Herz, hatte ich mir vor circa zehn Minuten beantwortet und Frage Nummer eins: Sicherstellung der täglichen Maroc Zufuhr durch Auftrag, persönlich durch den ersten Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg angekündigt, schien sich just in diesem Augenblick zu beantworten. Für die Frage Nummer drei, Sie wissen schon, die mit den Kühen und den Cowboys, brauchte es weitere Beobachtungen und Studien und wenn ich so recht darüber nachdachte, waren mir besonders mit Aussicht auf diesen Auftrag Kühe und Cowboys ziemlich egal. Man kennt das ja aus alten Spionagefilmen und Detektivsoaps: Am wichtigsten ist es, wenn die Angel ausgeworfen ist und der Fisch endlich angebissen hat, denselben ordentlich zappeln zu lassen, auch wenn der Blinker längst aktiv ist und sich das Neckarwasser in der Tiefe wild bewegt. Hätte ich ein stattliches Büro, sowie der Name ›Prischnü Solution‹ meiner Detektei ausdrücklich vermuten ließ, hätte ich jetzt meiner Vorzimmerdame zugerufen:
»Frau Sowieso, schauen Sie doch bitte mal in meinen Terminkalender, ob wir kurzfristig für die Stadt Heidelberg noch etwas dazwischenschieben können.« Ohne Vorzimmerdame blätterte ich üblicherweise selbst und das machte ich immer so, geräuschvoll suchend, in den Seiten meines imaginären Terminkalenders in Form eines speziell dafür ausgewählten, stets griffbereiten Buches, um meinem Gegenüber zu signalisieren, ich bin für dich nicht jederzeit zu haben und warte nur auf dich und deine Aufträge.
Aber jetzt mal ganz im Ernst, was macht man, wenn man gerade leibhaftig auf einem Bistrostuhl sitzt, vor sich einen dampfenden Maroc und die anzunehmende Sicht und Schrittdistanz zum potenziellen Auftraggeber, verkörpert durch Heidelbergs ersten Oberbürgermeister, höchstens dreihundertfünfzig Schritte beträgt, also in diesem Fall konkret dreihundertvierundfünfzig Schritte zwischen Bistrostuhl und Rathaustür lagen und ich realistischer Weise damit rechnen musste, dass der Anrufer und womöglich auch der Integrationsbeauftragte van Riemen gerade an einem der Rathausfenster vorbeischlenderten und mich sahen oder noch schlimmer mich gerade beim Chillen, wie man wohl aktuell auf Neudeutsch sagt, beobachteten?
Flexibilität gehörte zu den hervorstechendsten Eigenschaften einer Martha Kostka. Flexibilität war das, was in meiner Wiege lag noch bevor ich in ihr lag und tollkühner, wohlüberlegter und gezielter Aktivismus ergänzte meine Intelligenz und meine hervorragende Empathiefähigkeit potenziellen Auftraggebern gegenüber. So war zumindest meine punktuelle Selbsteinschätzung nach einer ausgeschlafenen Nacht, einem Maroc und einem knusprigen Croissant in der Max Bar.
Um die Show perfekt zu machen, mittlerweile war ich mir sicher, dass eines der Rathausfenster zum urbanen Beobachtungshochstand geworden war, sprang ich motivationsgetrieben auf und zirpte ins Mobile:
»Wenn Sie mir sagen können Herr Feltgen, wie das Reh mit Vornamen heißt, bin ich in fünf Minuten im Zimmer H21.«
Am Ohr vernahm ich das leicht belustigte und zugleich genervte Lachen meines Gesprächspartners.
»Miss Martha, Sie wissen genau, dass ich Sie beobachte. Mein Reh heißt natürlich Martha – okay fünf Euro in die Chauvi-Kasse. Aber jetzt mal im Ernst! In dreißig Minuten beginnt die erste Sitzung eines von mir aufgrund einer besonderen Dringlichkeit einberufenen Krisenstabs. Trinken Sie bitte Ihren Maroc aus und machen sich vielleicht ein bisschen frisch, wir brauchen Sie heute wirklich dringend als eine, wie soll ich sagen, konstruktive aber im Hintergrund verharrende Beobachterin. Alles Weitere besprechen wir dann im Anschluss der Sitzung unter vier Augen.«
Als Inhaberin der Detektei Prischnü Solution hat man leider oft nicht die Wahl und so trank ich mit angespannter Gelassenheit, die Rathausfenster im steten Blick, meinen Maroc und schlenderte exakt nach zwanzig Minuten, dann aber mit festem, energischem Schritt und vorgegaukelter Hast, trotz der falschen Antwort und der Vision eines ausgeführten Karateschlags, meinem neuen Auftrag entgegen.
Sitzungsraum H21. Erst Wochen später fragte ich mich, ob der Name des Raums ein Zeichen oder der pure Zufall war. Dass dieser Raum den Decknamen der unvergleichbaren Mata Hari trug, konnte doch eigentlich gar kein Zufall sein.
Als ich durch die Tür trat, waren bereits alle Teilnehmer des einberufenen Krisenstabs an einem ovalen Konferenztisch vereint. Sieben Auserwählte saßen auf ihren Stühlen, drei weibliche und vier männliche und schauten mich voller Erwartung an. Neben den drei Kannen Kaffee, die verheißungsvoll auf dem Tisch dampften, sie dampften natürlich nicht real, denn es handelte sich, wie bei solchen Konferenzen üblich, um hermetisch verriegelte Thermoskannen, den Wasserflaschen und Orangensaftfläschchen, den Gläsern und Bierdeckeln, stach mir sofort die eindrucksvoll in Szene gesetzte Voodoopuppe ins Auge. In der Mitte des Tisches, gut sichtbar zwischen der Getränkeauswahl, auf einem kleinen Podest drapiert, lag sie da: provokant, nach Aufmerksamkeit schreiend und unübersehbar.
Sofort wurde mir bewusst, dass diese unikale Tischdekoration der Voodoopuppe vom gestrigen Herkulesrücken am Rathausplatz verdammt ähnelte, und dass dieses Corpus Delicti offensichtlich und aller augenscheinlicher Wahrscheinlichkeit nach der Grund dafür war, warum die heutige Krisenstabssitzung überhaupt stattfand.
Oh, Du wunderbare Voodoopuppe, gestern noch auf dem starken Rücken des Herkules befestigt und heute schon im H21 auf der Showbühne vor auserwähltem Publikum und wie ich ahnen wollte, der Beginn meines neuen, hoffentlich sehr einträglichen Auftrags.
Was für ein imposanter Puppen-Karrieresprung, ohne galoppierende Cowboys, direkt serviert auf einem Konferenztisch, im politischen Epizentrum Heidelbergs, direkt neben der Max Bar.
Merkwürdig war allerdings, dass der wüste Kopf aus Jute, nämlich der, mit den zottligen, abstehenden Haaren, dem schwarzen Zickzackstichmund und den grusligen Augen, welcher mir gestern noch besonders ins Auge gefallen war, nur noch zu erahnen war. Und so staunte ich nicht schlecht, als mir klar wurde, was zwischen gestern und heute geschehen war: Über den gestern noch sichtbaren Kopf war heute das fotografische Konterfei des Integrationsbeauftragten van Riemen befestigt und bildete mit dem restlichen Körper der Puppe eine gespenstige, so zu sagen »van Riemische« Einheit. Und dann gab es da eine weitere eklatante Veränderung: In Höhe des Herzens, im Bauch und auch weiter unten, im Bereich der männlichen Kronjuwelen, durchpikten bedrohlich lange Nadeln das Hemd und die Hose der Puppe.
Manchmal ist es schwer, Ernsthaftigkeit zu heucheln, wenn das Groteske sich auf so plumpe Weise durch die Netzhaut ins Bewusstsein schleicht. Aber was tut eine Martha Kostka nicht alles, um Seriosität, Sicherheit und Professionalität auszustrahlen.
Bisher hatte ich den Integrationsbeauftragten der Stadt Heidelberg noch nicht persönlich kennengelernt. Es auf diese Weise zu tun und besonders mit den in der Puppe positionierten Nadeln und meinen unausweichlichen Assoziationen, erleichterte unsere erste Begegnung nicht wirklich.
Im Übrigen gebe ich zu, wäre diese Puppe ich gewesen und wäre ich symbolisch mit diesen Nadeln an besagten Stellen gespickt worden, hätte auch ich eine Krisensitzung einberufen, selbstredend unter der Voraussetzung, dass ich es gekonnt hätte.
Herr van Riemen war ein wacher Bursche. Ich schätzte sein Alter auf etwa achtunddreißig Jahre. Er schien sportlich, fast durchtrainiert und übertrumpfte die meisten Kollegen der Stadtverwaltung mit einem außergewöhnlich lebhaften und weltoffenen Gesichtsausdruck. Er eröffnete um Punkt elf Uhr dreißig die Sitzung, wobei er mich zu meiner großen Verwunderung zunächst völlig zu ignorieren schien. Eigentlich war es mir egal, wenigstens der Auftrag hatte begonnen und auch wenn über die Konditionen noch zu verhandeln war, schmeckte mir der dargebotene Sitzungskaffee vorzüglich. Ich nahm den Signalen entsprechend eine überaus diskrete, stillschweigende Beobachterposition ein und harrte der Dinge, die da auf mich zukommen mochten.
Es war mehr als offensichtlich wie irritiert und auch betroffen Milan van Riemen war. Und auch wenn mir ein prüfender Blick meine Vermutung bestätigte, dass allein die Puppe mit Nadeln durchbohrt war und Herr van Riemen zumindest rein äußerlich unversehrt schien, sorgte allein ihr Anblick für Verletzung und Scham.
Van Riemens Stimme wirkte verunsichert, die Worte kamen nicht richtig auf die Strecke und Mimik und Körperhaltung unterstrichen die Krise, in der sich der Integrationsbeauftragte aktuell, für jeden sichtbar, befand.
Der knappen Eröffnungsrede folgte, dem im Anschluss vorgestellten zeitlichen Ablaufplan des Meetings entsprechend, das Brainstorming der Krisenstabsmitglieder. Spontan sollte sich jedes Mitglied des Stabs nun fromm und frei dazu äußern, wie aus seiner Sicht die Puppenaktion zu bewerten war. Jedes Stabsmitglied wurde explizit gebeten, unreflektiert seine ersten Assoziationen beim Anblick der Puppe mitzuteilen, und außerdem wurde eine Person ausgewählt, um die Anmerkungen auf einem Flipchart, für alle gut sichtbar, zusammenfassend zu notieren. Ich bin mir im Nachhinein sicher, dass das Wort ‹unreflektiert› wenig zielführend gewesen ist und auch wenn es an dieser Stelle vielleicht etwas arrogant klingt – ein in einem gewissen Umfang vorhandenes ›Brain‹ eventuell doch ein Kriterium für die Auswahl der Stabsmitglieder hätte sein sollen. Aber das nur so am Rande.
Frau Elisabeth Ronellenfitsch war das erste Krisenstabsmitglied, das aufstand, um ihren Gehirnsturm zu präsentieren. Sie war ungefähr sechzig Jahre alt, hatte eine graue Kurzhaarfrisur und wog mindestens hundertzehn Kilo. Sie war trotz ihrer Körperfülle außergewöhnlich gut gekleidet und strahlte eine große Portion Selbstgefälligkeit, bei, wie mir schien, unbegrenzter Ahnungslosigkeit aus.
»Spontan empfinde ich die Aktion als einen feministischen Angriff auf, wie soll ich das jetzt sagen, ja genau, auf das Geschlecht unseres Integrationsbeauftragten. Ich sehe darin eine massive Bedrohung und keinen lapidaren Scherz. Ich finde, es ist ein Angriff auf seine Männlichkeit und ein Angriff vielleicht sogar auf seinen Migrationshintergrund! Schließlich ist er ja nicht deutscher Herkunft, gelt?«, sagte Frau Ronellenfitsch aufgebracht und setzte sich wieder.
Spontan vermutete ich nach diesem ersten Beitrag eine latente, ja fast fürsorgliche Verliebtheit der Elisabeth Ronellenfitsch und war äußerst gespannt, wie der Mann am Flipchart das Gesagte zusammenfassen würde. Der erste Aufschrieb lautete:
Diskriminierung rassistischer und feministischer Art
Nun war, wie ich dem Namenschild entnehmen konnte, Herr Friedhelm Pfisterer an der Reihe. Herr Pfisterer war in etwa fünfundsechzig bis siebzig Jahre alt, hatte eine mäßige Haarpracht, man könnte auch eine große plane Spielwiese auf dem Oberkopf und einen unübersehbaren Wohlstandsbauch. Er sprach nahezu dialektfrei und machte zumindest auf mich einen recht konservativen bis reaktionären Eindruck.
»Meines Erachtens ist das gemeiner, hinterhältiger und niederträchtiger Voodoo Zauber, der unsere Stadt doch schon seit Wochen in Atem hält. Eine perfide, politische Drohung, ausgeübt von Asylsuchenden aus Afrika, die nicht mit unseren demokratischen Grundrechten einverstanden sind, und die denken, sie könnten sich hier ins gemachte Nest setzen. Ich habe ja schon immer gesagt, wenn wir die alle reinlassen, dann zahlen wir hinterher nicht nur die Zeche, sondern müssen um unser Leben bangen. Ich habe sogar mal irgendwo gehört, dass man mit diesem schwarzen Voodoo Zauber, ganze Menschengruppen zu Zombies machen kann. Und Sie wissen ja, was Zombies sind. Halbtote zwischen den Welten, die sich gegen niemanden und gegen nichts mehr wehren können. Spielball derer, die sie in diesen Zustand versetzt haben, eben schwarze Magie.«
Als Herr Friedhelm Pfisterer sich nun langsam zu setzen begann, schaute er ein letztes Mal erhaben in die Runde, als wollte er noch sagen,
»Sie wissen doch, dass ich recht habe! Wir müssen jetzt nur dringend handeln, bevor es zu spät ist!«, aber er sagte es glücklicherweise nicht.
Das Flipchart Blatt in seiner fast noch weißen Unschuld erhielt nun den zweiten Aufschrieb:
Mutmaßliche Täter aus dem Umfeld afrikanischer Asylsuchender – schwarze Magie mit dem Ziel, die Grundrechte zu schwächen und Menschen zu manipulieren.
Nun war Frau Lisa Holzner an der Reihe. Ich schätzte sie auf maximal zweiunddreißig Jahre. Sie besaß ein attraktives Äußeres, hatte schulterlanges, blondes Haar und ließ mich hoffen, etwas Neues zu erfahren. Sie stand betont nachdenklich auf.
»Ich bin der Meinung, dass das Gesagte des Vorredners völliger Blödsinn ist. Erstens ist Voodoo kein schwarzer Zauber oder schwarze Magie, wie Herr Pfisterer es ausgedrückt hat und zweitens wird Voodoo, wenn ich es richtig weiß, nur noch in Haiti zu Heilzwecken betrieben. Und ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, jemals von einem aus Haiti gehört zu haben, der bei uns Asyl gesucht hätte, oder Sie? Ich glaube viel mehr, dass es sich um einen dummen Jungenstreich handelt, von jemandem, der vielleicht ein Strafmandat, na ja sagen wir, ein Knöllchen im Halteverbot bekommen hat und sauer auf die Heidelberger Stadtbediensteten ist. Er hat einfach die Gelegenheit der Puppeninvasion genutzt und noch einen draufgesetzt. Das ist alles.«
Frau Holzner setzte sich so betont nachdenklich, wie sie aufgestanden war und die neue Flipchart–Zusammenfassung lautete:
Harmloser Jungenstreich wegen Knöllchen ohne asylpolitischen Hintergrund.
Herr Gregor Wilmershausen, ich schätzte ihn auf ungefähr sechsundvierzig Jahre, entschied sich, seinen Wortbeitrag im Sitzen zu präsentieren.
»Ich glaube, dass die Angelegenheit bei Weitem nicht so harmlos ist, wie meine Vorrednerin uns weismachen will. Diese Puppe da auf dem Tisch ist die erste Puppe in Heidelberg, die eindeutig und ohne Missverständnisse eine bestimmte Person darstellen soll. Außerdem ist es die erste Puppe, soweit mir zumindest bekannt ist, die mit Nadeln versehen ist – zumindest an diesen Stellen, oder irre ich mich? Ich denke auf jeden Fall, dass es sich um einen männlichen Täter mit einer Backgroundgruppe handeln muss, da es einiger Akrobatik und erheblicher Kraftanstrengung bedarf, um die Puppe vom Rücken des Herkules zu holen, sie zu verändern und dann wieder hinzuhängen. Des Weiteren denke ich, dass jemand ganz bewusst dem Integrationsbeauftragten Herrn van Riemen einen massiv drohenden Denkzettel verpassen will. Vielleicht handelt es sich um eine ganze Aktionsgruppe, die sich um die Menschen im Ankunftszentrum kümmert und die sich im persönlichen Disput mit Herrn van Riemen befindet.«
Herr Gregor Wilmershausen beendete seine Gedanken und da er bereits saß, musste er sich nicht mehr setzen. Der neue Eintrag lautete:
Persönlicher Disput mit Integrationsbeauftragten – männlicher Täter evtl. im Umfeld der Aktionsgruppen pro Asyl zu suchen
Frau Ute Renkel, deren Alter bei dieser Art von Frauen kaum schätzbar war, aber wahrscheinlich zwischen vierzig und fünfzig lag, trug einen grauen Businessanzug. Ihre herrschsüchtige Art stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wasserblaue Augen, einen schmalen Mund und ein gespaltenes, spitzes Kinn ließen einen Rückschluss auf ihr markantes Inneres zu. Sie rutschte bereits ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her und als sie endlich das Wort ergreifen durfte, schoss sie förmlich wie unter Strom gesetzt in die Höhe.
»Ich will Ihnen, meine Damen und meine Herren, mal ganz deutlich was sagen. Manch eine und manch einer von Ihnen denkt vielleicht, dass es sich um eine harmlose Aktion handelt. Das ist es keineswegs so! Und da bin ich mir ganz sicher! Haben Sie denn alle Tomaten auf den Augen? Es ist doch offensichtlich! Erst wird seit Tagen beziehungsweise seit Wochen, sozusagen als vorbereitende Maßnahme, eine ganze Stadt mit Voodoopuppen ausgestattet und jetzt wird zum finalen Schwertschlag ausgeholt, indem eine ganz konkrete Bedrohung an der zentralsten Stelle Heidelbergs, direkt vor dem Rathaus installiert wird. Wir Heidelberger sind seit Tagen verunsichert und das mit Recht! Und die, die es nicht sind, sind schlichtweg naiv. Und soll ich Ihnen jetzt noch was sagen? Vielleicht, was hinter dieser erbärmlichen Gewaltaktion steckt? Ja, Sie wundern sich, aber es ist doch ganz einfach: Wir haben in der Henry Village ein Ankunftscenter errichtet, weil das Land das wollte! Auch haben wir dort Flüchtlinge untergebracht, die danach geiern, dass endlich ihre Asylanträge bewilligt werden. Von der Diakonie und der Caritas werden diese Leute gepudert und gehätschelt und jetzt kriegen wir die Quittung. Wir haben Vorschläge gemacht, das Ankunftszentrum aus strategischen Gründen in die Fuchsgärten umzusiedeln. Was ich im Übrigen für überaus wichtig halte, um den neuen Stadtteil Heidelbergs, der europaweit ein Vorbild für Stadtentwicklung werden wird, nicht zu gefährden. Und was tun diese undankbaren, schwarzen Urwald-Affen, diese Halbwüchsigen aus Afrika, sie nutzen unsere Gutmütigkeit aus und bedrohen uns. Plötzlich heißt es, wir wollen nicht auf ein Grundstück zwischen den Autobahnen, dabei sollen sie doch froh sein, wenn sie überhaupt mal moderne Autos zu Gesicht bekommen. Wir haben sogar angeboten, Lärmschutzmauern zu errichten. Ich sage nur, undankbar und versoffen. Täglich sehe ich sie, wie sie Aldi und Penny überfallen und die Alkoholregale plündern. Und jetzt überlegen Sie doch mal, wer hat überhaupt sonst die Zeit, solche Puppen zu basteln und wer weiß denn wirklich etwas über Voodoo? Das ist doch deren komische Kultur aus dem Busch. Für mich ist alles klar! Wir sollten der Polizei sofort sagen, dass zunächst mal Hausdurchsuchungen im Henry Village durchgeführt werden müssen und Sie werden sehen, wie viele von den Puppen dort noch gefunden werden. Ich sage nur, arme Italiener und arme Spanier, die haben noch viel mehr von denen. Ungarn und Polen machen es richtig! Einfach nicht reinlassen!«
Nun, entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise, aber nach so einem gequirlten Hirnlosmonolog bedurfte es selbst für eine Martha Kostka ungeahnte Kräfte, um die Contenance zu wahren. Tresen-Gelaber auf allerhinterletztem Niveau hieß meine abschließende Beurteilung dieses Redebeitrags. Ja, man schaut den Menschen einfach nicht in die Köpfe und manchmal denke ich, ist das auch besser so!
Einzeller aller Nationen, warum habt Ihr andere Körper angenommen, wieso schafft Ihr es, Euch so gut zu tarnen, und warum muss gerade ich immer auf Euch treffen.
Der Krisenstab schwieg und hielt inne, wie auch ich es tat. Nur Herr Michael Hofgarten, der Flipchart Schreiber, wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und schrieb schließlich:
Boatpeople aus Afrika wollen nicht in die Fuchsgärten und üben Rache.
Herr Professor Doktor Reinhold Forster, ein, wie ich fand, eher uriger Typ von ungefähr fünfzig Jahren, der vorerst letzte Redner, sammelte für jeden sichtbar seine Kräfte, strich sich über seinen bauschigen Bart und erhob sich langsam.
»Als Mitglied des Gemeinderats stimme ich meiner Vorrednerin in keinster Weise zu, und ich muss mich ausdrücklich von den eben formulierten, überaus dümmlichen Inhalten distanzieren. Als Professor der Universität Heidelberg leite ich unter anderem die Abteilung für Ethnologie am Südostasien-Institut. Meine Frau Monifa Forster ist seit Anbeginn der Flüchtlingskrise ehrenamtlich im Ankunftszentrum aktiv, um Menschen zu helfen, sie in dieser schweren Phase ihres Lebens zu begleiten und um ihnen Hoffnung zu geben. Es ist eine rassistische und überaus diskriminierende Annahme, dass Menschen, die sich auf der Flucht befinden, egal welcher Couleur und welches Herkunftslandes, mit dieser Aktion etwas zu tun haben könnten. BIPoC, für die, die es nicht wissen, diese Abkürzung bedeutet Black, Indigenous People of Color erleiden aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der weißen Mehrheitsgesellschaft immer wieder Stigmatisierungen und Vorverurteilungen, was ich als wissenschaftlicher und humanistisch ausgebildeter Mensch niemals akzeptieren werde! Und Herr Pfisterer und Frau Renkel, ganz besonders Ihnen muss ich sagen, dass Sie aus meiner Sicht hier im Krisenstab nichts zu suchen haben und sich in Zukunft davor hüten sollten, mit derartigen rassistischen und wie ich finde unhaltbaren Naziplattitüden meinen Intellekt zu beleidigen und besonders auch den Ruf unserer Stadt zu beschädigen. Ich bin derartig geschockt und kann Ihnen nur empfehlen, gehen sie ins Ankunftszentrum und sprechen Sie mit den Menschen dort, vielleicht hilft es ja, Ihren Geist auf einen Normalpegel zurückzubringen, wenn so etwas bei Ihnen überhaupt noch möglich ist.«
Endlich kam Stimmung in den Saal H21. Frau Renkel sprang auf, wackelte unbeholfen auf ihren Absätzen, kam nach kurzem Straucheln in den stabilen Stand zurück und brüllte vor Wut durch den Saal:
»So was muss ich mir nicht bieten lassen! Auch nicht von einem Professor Doktor! Von elitärem Gesindel, das alleinig durch meine Steuergelder auf großem, arroganten Fuß den Luxus besitzt, von hohem Ross auf uns herabzusehen, und dann noch glaubt, die Meinung von Normalbürgern disziplinieren zu müssen. Das können Sie mit Ihren Studenten machen oder Ihresgleichen, aber wir Normalen, die täglich bei Aldi und Penny Angst und Wasser schwitzen, dass wir an der Kasse noch unser Portemonnaie in der Tasche haben, diese Tatsache interessiert Sie wohl nicht!? Warum stehen denn die vielen Wachleute plötzlich in den Geschäften? Weil die alle so harmlos sind? Erzählen Sie das Ihren überzüchteten Studenten, aber belästigen Sie uns nicht mit Ihren Lügen!«
Herr Forster lief rotbläulich an und sah aus, als wolle er ungebremst zu einem Gegenschlag ausholen. Frau Ronellenfitsch sah hingegen wie ein verängstigtes Kind auf den Boden und signalisierte, »eigentlich bin ich gar nicht da, auch wenn ich einhundertzehn Kilo wiege.« Herr Pfisterer schien Blut zu lecken und bereitete sich offensichtlich auf seinen neuen Einsatz vor und die anderen Protagonisten saßen wie gelähmt auf ihren Stühlen und schwiegen.
Und dann verließ Herr Michael Hofgarten, ohne einen weiteren Aufschrieb zu tätigen, unvermittelt das Flipchart, um ganz offensichtlich nicht in irgendeine Schusslinie zu geraten.
Milan van Riemen nutze die Gelegenheit und ergriff spontan das Wort:
»Meine Damen, meine Herren! Ich denke, es ist besser, dass wir unser Brainstorming an dieser Stelle beenden. Wir alle haben einen Eindruck davon gewinnen können, wie die Situation von Ihnen eingeschätzt wird. Auch wenn die Einschätzungen teilweise überaus kontrovers ausfallen, scheint es mir dennoch eine Tendenz zu geben, wie die Aktion der Voodoopuppe von Ihnen beurteilt wird. Auch habe ich für mich den Eindruck gewonnen, dass die Angelegenheit an eine professionelle Stelle weitergeleitet werden sollte. Die Kriminalpolizei hat schließlich ganz andere Erfahrungen und Möglichkeiten.
Mir war es vorab einfach wichtig, Ihre Stimmen zu hören, und nun bin ich bestärkt in meinem Vorhaben, Kriminalhauptkommissar Johannes Falken vom Polizeirevier Heidelberg Mitte mit ins Boot zu holen. Ich denke, er wird beurteilen können, ob hier ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden sollte oder ob es sich eher um einen knöllchenmotivierten Streich handelt, der ignoriert werden kann.
Ich danke Ihnen allen für Ihre aufrichtige Einschätzung, auch wenn ich betonen möchte, dass ich die eine und auch die andere Meinung nicht teilen kann und sehr darüber verwundert bin, welche Gedanken in einzelnen Köpfen vorherrschen. Dennoch ist es für mich eine besondere Motivation, meine Aufgaben als Integrationsbeauftragter und besonders auch die politische Aufklärung noch intensiver und transparenter voranzutreiben. Mir ist heute mehr als je zuvor klargeworden, wie unterschiedlich wir Menschen in Heidelberg zur Asylpolitik stehen und wie stark verkrustete Ängste und Vorurteile in den Köpfen verankert sind. Im Einzelnen möchte ich an dieser Stelle nicht weiter auf die Beiträge eingehen, sondern verspreche Ihnen, dass ich nach geeigneten Plattformen suchen werde und sie auch finden werde, auf denen wir uns in der Gruppe oder aber auch bilateral offen und konstruktiv zu den angesprochenen Themen in Zukunft austauschen können.
Zum Schluss möchte ich im Übrigen noch Folgendes anmerken: Vielleicht hat sich jemand von Ihnen gewundert, dass der heutige Krisenstab von einer Dame begleitet wurde, die Sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht kennen. Ich bitte Sie, Frau Kostka, die verspätete Vorstellung zu entschuldigen, aber ich hatte meine Gründe.
Frau Martha Kostka ist eine professionelle, loyale und sehr erfolgreiche Privatermittlerin, die ich auf Anraten unseres Oberbürgermeisters hinzugezogen habe. Frau Martha Kostka ist ab sofort mit der Aufgabe betraut, diese doch etwas delikate Angelegenheit von unterschiedlichen Seiten her zu durchleuchten und zu untersuchen. Frau Kostka hat bereits in der Vergangenheit Aufträge von der Stadt erhalten und diese stets zu unserer vollsten Zufriedenheit bewerkstelligt. Sie kennt sich perfekt im Umgang mit der hiesigen Kriminalpolizei aus und verfügt über ein, wie soll ich sagen, außerordentlich großes und diplomatisches Geschick.«
Nach diesem Statement schaute er erwartungslos in die Runde und führte dann mit einem noch ernsteren Gesicht aus:
»Ich hoffe, dass Sie verstehen, dass ich Sie als Mitglieder des Krisenstabs eindringlich bitten muss, dass alle Beteiligten dieses Krisenstabs höchste Geheimhaltung über das Gesagte und auch über die einzelnen Teilnehmer selbst, einschließlich Frau Kostka, üben müssen. Ich möchte weder in der Presse noch sonst irgendwo ein Foto der Voodoopuppe mit meinem Gesicht, noch Andeutungen über die Nadeln entdecken, so lange es sich irgendwie vermeiden lässt. Bitte üben Sie auch Geheimhaltung gegenüber Ihren Freunden und Angehörigen aus! Ich muss darauf bestehen, dass alles heute Besprochene ausschließlich in diesem Raum bleibt. Bei Zuwiderhandlungen behalte ich mir vor, wenn nötig auch rechtlich, gegen einzelne von Ihnen vorzugehen. Ein Geheimhaltungsdokument haben wir entsprechend vorbereitet, welches Sie später bitte vor dem Verlassen des Saales unterzeichnen und in einen extra dafür vorgesehenen Behälter legen. Er steht da vorne links auf dem Tisch!«
Van Riemen schwieg einen kurzen Moment, zeigte auf den Tisch und sammelte neue Kraft.
»Meine Damen und Herren, wir wissen alle nicht, wie sich diese Geschichte weiterentwickeln wird. Wir kennen zum jetzigen Zeitpunkt keine Hintergründe oder ich nenne es mal so, wir kennen bisher auch noch keine Tatverdächtigen. Das einzige, was wir kennen, sind unsere eigenen, vagen, sehr unterschiedlichen Spekulationen, von denen wir bisher nicht wissen, ob überhaupt eine von diesen Mutmaßungen in die richtige Richtung geht. Sollten sich in den nächsten Tagen oder gar Wochen, neue Verdachtsmomente ergeben, sollte etwas vorfallen, was zum heutigen Zeitpunkt noch nicht vorhersehbar ist oder sollten ähnliche Puppen auftauchen, die andere Menschen darstellen, gilt das Gebot der absoluten Geheimhaltung gleichermaßen. Haben Sie noch Fragen hierzu?«
Es hagelte Fragen, es tobte der Mob, es flogen intellektuelle Heidelberger Pflastersteine, die meines Erachtens auch manchmal die Richtigen trafen und die Veranstaltung, anders konnte ich die Sitzung des Krisenstabs auch bei allem Wohlwollen nicht mehr nennen, zog sich noch über zwei weitere Stunden hin.
Es wurde gemutmaßt, gejammert, geschrien, diskutiert und spekuliert. Dass allerdings etwas Neues, Inspirierendes oder Erhellendes dabei herausgekommen wäre, blieb ebenso ein Trugschluss wie die Annahme, dass die Institution Krisenstab in diesem besonderen und doch ganz speziellen Fall hätte zielführend sein können.
Noch am selben Abend, im Anschluss an die Sitzung, hatte ich ein langes und aufschlussreiches Gespräch mit dem ersten Heidelberger Oberbürgermeister Hendrik Feltgen und konnte zumindest einen monetär sehr großzügigen Vertrag aushandeln.
Um Ihre Verwunderung vorwegzunehmen: Hendrik Feltgen und ich hatten uns eines Tages in der Max Bar kennengelernt. Ich weiß es noch wie gestern, dass ich mich darüber wunderte, warum ein Mann mit weißem Hemd und Krawatte seinen Kaffee auf einem klapprigen Bistrostuhl vor der Max Bar trank und als er schließlich aufstand, warf ich einen neugierigen Blick auf seinen Rücken, um zu sehen, welche Stuhlabdrücke sich auf sein so strahlend reines Hemd gestempelt hatten.
Ein paar Tage später kamen wir dann am Place de la Liberté ins Gespräch und auch wenn wir nicht über ruinierte Hemden oder guten Kaffee sprachen, fanden wir uns auf eine distanzierte Art und Weise durchaus sympathisch. Seit diesem Zeitpunkt winkten wir uns freundlich zu und tauschten, wenn sich eine Gelegenheit ergab, belanglose Worte aus. Nach einigen Wochen wusste Feltgen, wer ich war und ich wusste, wer er war und es dauerte keine weiteren Wochen mehr, bis ich einen ersten, wenn auch recht kleinen Auftrag von der Stadt Heidelberg bekam.
Als ich an diesem Abend über das Kopfsteinpflaster an der Heiliggeistkirche vorbei Richtung Pfaffengasse zu meinen eigenen vier Wänden ging, begann es zu nieseln. Ich fragte mich voller Hoffnung, ob es wohl Neckarwiesen-Cowboys gab, die in der Lage waren, mit ihren Lassos Plattitüden der Ronellenfitschs, Renkels und Konsorten und auch die, aller anderen maulwerfenden Mitgliedern des Krisenstabs einzufangen, um sie schließlich mit großen Schwüngen in den Fluss zu schleudern, wo sie durch die Schwere ihrer Dummheit für immer versinken würden.
Vor meinen Augen tanzten die gnadenvollen Bilder des Versinkens und noch während sie im Takt der Sehnsucht nach Gerechtigkeit tanzten, dachte ich plötzlich daran, wie ich als sehr kleines Mädchen von meiner Patentante aus der Südpfalz ein schwarzes Babypüppchen in einer Badewanne zu Weihnachten geschickt bekommen hatte. Ich war voller Freude, aber ich wusste nicht, warum dieses Püppchen schwarz war. Und damals dachte ich mir, dass das Püppchen vielleicht wegen seiner dunklen Hautfärbung in einer Badewanne lag. Aber auch wenn ich die Puppenbadewanne mit Wasser und Seifenschaum füllte und das Baby schruppte und wusch, wurde es einfach nicht weiß.
Irgendwie tat mir mein schmutziges Püppchen immer sehr leid und vielleicht liebte ich es aus diesem Grunde mehr als all die anderen Puppen, die ich besaß – aber seinen Namen habe ich vergessen.
Ich war mir sicher, dass ich in der nächsten Nacht anstatt von Kühen von Antilopen und schwarzen Babypüppchen träumen würde, zumindest dachte ich dies zu diesem Zeitpunkt noch.
Alles in allem war der zwölfte Juli nach meinem kleinen Tagesresümee kein nullachtfünfzehn Nachmittag und auch kein gewöhnlicher Abend gewesen: Ein guter Auftrag und die unerwartete Konfrontation mit einer schwatzenden, braunen Dümmlichkeit in Heidelberg, von Heidelbergern inszeniert – und Beides traf mich völlig unerwartet.
Ich hatte einen anspruchsvollen Auftrag erhalten, mit dem die Finanzierung meiner Marocs und auch meiner Croissants für die nächsten Monate gesichert war und hatte zugleich die erschütternde Erkenntnis gewonnen, dass Heidelberg, auch wenn diese Stadt die Außenwirkung eines flauschigen, touristischen Wattebauschs hatte, tief in ihrem Inneren doch ein Abbild einer gesellschaftlichen Realität war, die es überall gab. Eine von außen kaum erkennbare Realität, die in einem verborgenen und dennoch so realen Mikrokosmos stattfand.
Ich schlenderte durch den Nieselregen der Nacht und auf den Wogen des Neckars schwappten die Eindrücke des Nachmittags, purzelte wild über die im Mondschein glitzernden Wellenkronen, um schließlich in der Strömung am Hackteufel zu versinken. Die Cowboys jagten ihr hinterher und fingen sie tatsächlich ein. Antilopen flogen in Riesensprüngen zwischen den Wildgänsen umher, rieben sich an der verwunschenen, kaukasischen Fliedernuss und ich versank in einen tagträumenden, trügerischen Sekundenschlaf, noch ehe ich die Haustür erreichte.
Und die Dummheit spuckte – nur für das geschulte Auge noch sichtbar – kleine aufsteigende Luftblasen durch die Wasseroberfläche des Neckars als sei sie zu einem düsteren, verwesenden Fisch geworden.
Der Integrationsbeauftragte Milan van Riemen schlenderte mit einer für ihn unbekannten, mental verkrampften Gelassenheit durch die dunklen Gassen der Heidelberger Altstadt Richtung S-Bahn. Er kämpfte noch mit klaren Gedanken und immer wieder schossen ihm einige absurde Spekulationsfetzen des Gesagten durch den Kopf. Schließlich war ihm durch die Absurdität und die subtile, braune Aggression einiger Krisenstabsmitglieder bereits am Nachmittag klargeworden, dass eine weitreichende, kriminalistische und somit so hoffte er, neutrale Unterstützung in Sachen Voodoopuppen in Heidelberg längst überfällig war.
Morgen würde er einen Plan schmieden, um dem schleichenden Rassismus endgültig den Kampf anzusagen, und morgen würde er Kontakt mit der Heidelberger Kriminalpolizei aufnehmen, da war er sich sicher. Heute Abend war es einfach zu konfus und auch schon zu spät gewesen, besonders auch, um kluge Pläne zu entwickeln. Morgen würden sich professionelle Polizeiköpfe der ungewöhnlichen, aber doch ganz offensichtlich auch auf ihn, Milan van Riemen, gemünzten Voodoopuppen-Aktion annehmen und mit hoffentlich viel Erfahrung und kriminalistischem Geschick endlich erlösendes Licht in das Dunkel der rätselhaften Geschehnisse dieser Stadt bringen. Irgendwie hing ja alles zusammen. Morgen würde auch die erfahrene Privatermittlerin Martha Kostka beginnen, ihre Fühler auszustrecken, und morgen, da war er sich ganz sicher, würde es schon die ersten Ergebnisse geben.
Wie viel der durch die Voodoopuppen ans Licht gesprudelte braune Brühe bereits eine unübersehbare Oberfläche in Besitz genommen hatte, war auch vor ihm, dem Integrationsbeauftragten der Stadt Heidelberg bis zum heutigen Nachmittag tatsächlich verborgen geblieben.
Es war bereits dreiundzwanzig Uhr fünfzehn. Es nieselte noch immer und der dumpfe Hall seiner eigenen Schritte schien van Riemen hastig zu verfolgen. Vereinzelt kamen ihm Touristen entgegen, munter und in Urlaubsstimmung, doch an diesem Abend wollte die Stimmung einfach nicht auf ihn überspringen. Das Licht dämmerte an diesem späten Abend noch dumpfer, noch gelblicher und ab und zu, so schienen es ihm, flackerten die Straßenlaternen, als wollten sie rufen: »Du zuckst, Du zuckst deinen letzten Atem!«