Der Schrei des Löwen - Ortwin Ramadan - E-Book

Der Schrei des Löwen E-Book

Ortwin Ramadan

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Beschreibung

Der 16-jährige Yoba und sein kleiner Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria. Als Yoba einen Auftrag für den örtlichen Gangsterboss erledigt und plötzlich in den Besitz einer Tasche mit Geld gelangt, ist das ihre große Chance: Sie fliehen und lösen bei einem Menschenschleuser ein Ticket nach Europa. Wie so viele andere wollen sie es auf eines der Flüchtlingsboote nach Sizilien schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang - und viel gefährlicher als gedacht.

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Von Ortwin Ramadan außerdem im Carlsen Verlag lieferbar:Die Superpiraten Band 1: Der Ritter aus dem Hafenbecken Die Superpiraten Band 2: Kaperfahrt ins Reich des Drachen Die Superpiraten Band 3: Alarm auf dem Geisterschiff Die Superpiraten Band 4: Das Schwert der Wikinger Carlsen-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden. Originalausgabe Veröffentlicht im Carlsen Verlag April 2011 Copyright © 2011 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Dennis Wohlfeil Umschlagfoto: istock.com/© MShep2; istock.com/© Guenter Guni Umschlaggestaltung: formlabor Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92123-6 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

1.

Yoba lehnte mit dem Rücken an der Betonwand. Er genoss die Kühle hier unten. Oben würde es schon bald sehr heiß werden. Der Harmattan fegte seit Tagen über die Stadt und brachte mit dem Sand auch die Hitze aus der großen Wüste. Die unterirdische Zisterne war in der Trockenzeit ein wirklich guter Ort, fand Yoba. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass niemand ihnen den Platz bislang streitig gemacht hatte. Dabei waren gute Schlafplätze fast so selten wie ein voller Bauch.

Plötzlich begann sein zwölfjähriger Bruder im Halbdunkeln leise zu wimmern. Er wälzte sich auf seinem Karton hin und her. Yoba beugte sich über ihn und berührte Chioke sanft an der Schulter.

»Chi-Chi!«, flüsterte er. »Wach auf! Es ist nur ein Traum!«

Chioke schreckte von seiner Schlafpappe hoch. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er blickte sich ängstlich um. Yoba fuhr ihm aufmunternd durch die verfilzten Haare.

»Hey, große Ibo-Krieger kennen keine Angst!«, sagte er. »Außerdem ist heute Freitag, schon vergessen? Tag der Löwenfütterung!«

Yoba kroch auf Knien zur gegenüberliegenden Wand und fischte seinen kostbarsten Besitz aus einer Spalte zwischen den Steinen. Das Notizbuch war nagelneu. Als er es vor zwei Tagen im Müll gefunden hatte, war es noch in Folie eingeschweißt gewesen. Offenbar handelte es sich um ein achtlos weggeworfenes Werbegeschenk, denn auf dem grünen Einband prangte das Logo eines internationalen Ölkonzerns.

Yoba steckte seinen Schatz in den Bund seiner zerschlissenen Baumwollhose. Danach schlüpfte er in seine ausgeleierten Plastikschlappen und sprang auf die Füße.

»Na los, hoch mit dir!«

Chioke ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sich widerstandslos hochziehen. Besorgt musterte Yoba die blutigen Schnitte an den Füßen seines kleinen Bruders. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. Sein Bruder brauchte unbedingt Schuhe, denn die Straßen der Stadt waren voller Scherben. Yoba klopfte ihm den Sand von dem Stofffetzen, der einmal ein gelbes T-Shirt gewesen war.

»Wenn ich in die Bruderschaft aufgenommen werde, kaufe ich dir weiße Adidas. Versprochen! Und zwar die echten – keine nachgemachten vom Ariaria-Markt. Na, was sagst du dazu? Freust du dich?«

Chioke sah ihn teilnahmslos an. Yoba seufzte. Seit der schrecklichen Nacht im Dorf redete sein Bruder noch weniger als vorher. Er schien in einer anderen Welt gefangen zu sein und Yoba wusste nicht, wie er ihn von dort zurückholen konnte. Wenigstens waren die Narben auf der Brust seines Bruders gut verheilt. Das magische Zeichen würde er jedoch für immer auf seiner Haut tragen. Es würde ihn stets an die grauenhafte Zeremonie erinnern. Wütend darüber griff Yoba nach der in die Wand eingelassenen Metallleiter und kletterte aus der Zisterne. Chioke blieb unten und wartete.

Trotz der frühen Morgenstunde war die Stadt längst erwacht. Überfüllte Minibusse, hupende Autos und unzählige knatternde Mopeds verstopften die Kreuzung an der Factory Road von Aba. Niemand beachtete den schlaksigen sechzehnjährigen Jungen, der auf dem zugemüllten Grundstück neben der Straße aus einem Loch in der staubigen Erde kroch. Yoba war das nur recht. Er blinzelte in die dunstige Morgensonne und sah sich vorsichtig um. Nachdem er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, pfiff er auf zwei Fingern das vereinbarte Zeichen. Gleichzeitig spuckte er fluchend aus. Der Sand in der Luft ließ das Atmen schon am frühen Morgen zur Qual werden.

Als Chiokes Kopf in der Öffnung der Zisterne auftauchte, drängte Yoba seinen Bruder zur Eile. Sein leerer Magen brüllte vor Hunger. Dass es Chioke nicht viel besser ging, konnte er an den unnatürlich geweiteten Pupillen ablesen. Kein Wunder, ihre letzte gemeinsame Mahlzeit lag schon mehr als einen Tag zurück. Sie hatte lediglich aus einem knochenharten Stück Fladenbrot bestanden. Jetzt lief ihm allein bei dem Gedanken an Mama Kambinas köstliche Onugbo-Suppe das Wasser im Mund zusammen.

Er fasste Chioke an der Hand und nahm am Rand des Grundstücks Aufstellung. Als in dem lärmenden Strom aus Mopeds, Autos und qualmenden Lastwagen endlich eine Lücke entstand, ging er zügig los und zog seinen Bruder hinter sich her über die mehrspurige Straße. Auf der anderen Seite schlängelten sie sich durch die Stände der kleinen Moped-Werkstätten, die ihr Geschäft direkt auf dem ölverschmierten Bürgersteig betrieben. Dann schlugen sie den Weg zum Gefängnis ein.

2.

Adaeke kauerte vor dem Lehmofen und legte ein Stück Wurzelholz in das aufflackernde Feuer. Wie die meisten Mädchen in Westafrika trug sie ein farbenfrohes, mit traditionellen Stammesmustern bedrucktes Kleid. Ihr Haar war von einem kunstvoll arrangierten Kopftuch bedeckt, dessen leuchtendes Gelb sorgfältig auf das Grün-Schwarz des knöchellangen Kleides abgestimmt war. Sie warf ein weiteres Holzstück in die Flammen und hatte Mühe, mit ihrem verletzten Bein wieder aufzustehen. Ihre Mutter war wie jeden Freitagmorgen mit dem Moped-Taxi zum Markt gefahren, und solange sie fort war, trug Adaeke die Verantwortung für das Geschäft.

Ihre mit Brettern überdachte Straßenküche stand unter einer großen Werbetafel für eine einheimische Biermarke, auf der ein junges und vor Glück strahlendes afrikanisches Pärchen den Passanten verheißungsvoll entgegenlächelte. Die Garküche selbst bestand lediglich aus dem Lehmherd, einem großen, zerbeulten Aluminiumtopf und zwei schiefen Plastiktischen samt Kisten zum Sitzen. Diese ärmliche Ausstattung tat der Beliebtheit der Küche jedoch keinen Abbruch, was nicht zuletzt an Mama Kambinas Kochkunst lag. Manche behaupteten, ihre Bitterblatt-Suppe sei die schärfste der Stadt, was in Nigeria durchaus als Kompliment zu verstehen war. Soweit Adaeke wusste, stammte die Rezeptur von ihrer Ur-Ur-Großmutter, und über das Geheimnis der Zutaten wachte ihre eigene Mutter ebenso eifersüchtig wie über die Jungfräulichkeit ihrer Tochter.

Adaeke warf eine Handvoll Chilischoten und ein mittelgroßes Stück Räucheraal in den riesigen Topf auf dem Herd. Anschließend rührte sie mit einem Holzlöffel um. Noch war die dickflüssige Suppe lauwarm. Aber das war kein Problem. Die meisten ihrer Kunden waren Besucher des gegenüberliegenden Gefängnisses und das öffnete seine Tore ohnehin erst am späten Vormittag. Vorausgesetzt natürlich, man verfügte über das nötige Bestechungsgeld für die Wärter. Plötzlich riss sie eine gut gelaunte Stimme aus ihren Gedanken.

»Guten Morgen, du schönste aller Blumen Afrikas!«

Adaeke stieß vor Schreck einen Schrei aus und fuhr herum. Hinter ihr standen zwei verdreckte Jungen in zerrissenen Hosen. Es waren Yoba und sein kleiner Bruder.

»Müsst ihr mich so erschrecken?«, schimpfte Adaeke. Dabei fuchtelte sie mit dem übergroßen Holzlöffel in der Luft herum.

»Tut mir leid«, erwiderte Yoba und setzte seine beste Unschuldsmiene auf. »Aber Chioke und ich haben Hunger.«

»Ach ja? Und was geht mich das an?« Adaeke rammte den Löffel zurück in den Topf und rührte zornig darin herum. »Außerdem ist die Suppe noch nicht heiß. Ich habe gerade erst Feuer gemacht.«

»Hast du noch Schmerzen in deinem Bein?«, erkundigte sich Yoba. »Hat die Polizei den Okada-Fahrer gefunden?«

»Machst du dich etwa lustig über mich?« Adaeke hörte mit dem Rühren auf. Gleichzeitig warf sie einen schuldbewussten Blick über die Schulter. »Ich erzähle euch was. Aber ihr müsst mir versprechen niemandem etwas davon zu sagen. Vor allem meiner Mutter nicht!«

»Keine Sorge.« Yoba knuffte seinen Bruder in die Seite. »Der hier kriegt den Mund sowieso nicht auf.«

Er setzte sich an einen der Tische. Adaeke wischte sich die Hände an einem schmutzigen Tuch ab und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich war in der Kirche«, raunte sie geheimnisvoll.

»Na und?« Yoba wunderte sich. »Was soll daran so besonders sein?«

Erneut sah sich Adaeke hastig um. Dann flüsterte sie: »Da habe ich zu Jesus gebetet, damit der Fahrer einen Unfall hat. Er soll genauso viele Schmerzen haben wie ich!«

Nach diesem Geständnis rührte Adaeke weiter in der Suppe und wirkte irgendwie zufrieden. Yoba hingegen konnte seine Verwunderung kaum verbergen. Wenn er den Pfarrer in seinem Dorf richtig verstanden hatte, flehten Christen den Heiland um Beistand an. Nicht, um jemandem zu schaden.

»Das wirkt ganz sicher!«, versicherte Yoba seiner Freundin mit dem gebührenden Ernst. »Der Mann wird bestimmt einen Unfall haben.« Nebenbei linste er in den Topf. »Wann ist die Suppe denn fertig?«

Adaeke verdrehte die Augen. Sie ging zu einem mit Wasser gefüllten Eimer und nahm zwei bunte Plastikschüsseln heraus. Erst jetzt sah man, dass sie schwer hinkte. Ein betrunkener Okada-Fahrer hatte ihr am Unabhängigkeitstag das Knie zertrümmert. Während Adaeke blutend auf der Straße gelegen hatte, war der Mann einfach in Schlangenlinien davongefahren. Yoba und Chioke waren zufällig Zeuge gewesen und hatten Adaeke geholfen, bis jemand einen Transport ins Krankenhaus organisiert hatte. Auf diese Weise hatten sie sich kennengelernt.

Mit gekonntem Schwung löffelte Adaeke die Suppe in die beiden Plastikschüsseln und stellte sie auf den schiefen Tisch. »Guten Appetit!«

Yoba ließ sich nicht zweimal bitten. Nachdem Chioke neben ihm Platz genommen hatte, fielen sie wie ausgehungerte Raubtiere über den ebenso köstlichen wie scharfen Suppeneintopf her. Mit bloßen Fingern fischten sie die verschiedenen Fisch- und Fleischeinlagen heraus, und als Adaeke ihnen noch dazu einen Kloß aus Maniokmais auf den Tisch legte, fühlten sich die Brüder endgültig wie im Paradies. Yoba riss mit zittrigen Händen ein Stück aus dem weißen Teig, formte eine Kugel und tunkte sie in die Schüssel. Dann biss er hinein. Die curryfarbene Suppe tropfte ihm aus den Mundwinkeln und er spürte, wie sein leerer Bauch in Erwartung der ungewohnten Nahrung rebellierte. Magenkrämpfe schüttelten ihn, aber als die ersten Bissen den geschrumpften Magen zu weiten begannen, durchflutete ihn eine wunderbare Wärme. Yoba fühlte sich wie neugeboren.

»Mehr!« Chioke hatte seine Schüssel bereits leer gegessen und hielt sie Adaeke hin.

»Sei nicht so gierig!«, schalt ihn Yoba mit vollem Mund. »Sonst hast du später nur Bauchweh!«

»Schon gut«, entgegnete Adaeke. »Lass ihn.« Sie nahm Chioke die Schüssel aus der Hand. Kaum war sie wieder gefüllt, riss er die Schale wortlos an sich und vergrub sein Gesicht erneut in dem köstlichen Essen. Adaeke setzte sich auf eine geflickte Holzkiste und sah dabei zu, wie Chioke die Suppe in sich hineinschlang.

»Seit wann ist dein Bruder eigentlich so?«, fragte sie Yoba stirnrunzelnd. »Ich habe nie gehört, dass Chi-Chi mehr als zwei Wörter sagt.«

»Da ist mal was passiert«, wich Yoba aus und stopfte eine weitere Maniokkugel in sich hinein. »Vorher war es nicht so schlimm.«

Entgegen seiner Hoffnung ließ Adaeke jedoch nicht locker. »Was ist denn passiert?«, bohrte sie weiter. »Nun sag schon! Ich erzähle es auch keinem weiter!«

Yoba schob Adaeke seine Schüssel hin. »Kann ich auch noch was haben?«

Adaeke sah ihn prüfend an. Endlich nahm sie die Plastikschüssel und humpelte zu dem Topf. »Ich hoffe nur, meine Mutter erfährt nie etwas davon«, stöhnte sie. »Sonst muss ich für meine Gutmütigkeit ewig büßen!«

»Keine Angst. Wenn ich meinen Onkel gefunden habe, zahle ich alles zurück«, verkündete Yoba großzügig. »Ich halte mein Wort.«

»Ist dein Onkel denn reich?«

»Klar«, erwiderte Yoba mit einer großspurigen Geste. »In Europa ist doch jeder reich.«

»Dein Onkel ist in Europa?« Adaeke war überrascht. Gleichzeitig war sie skeptisch. »Und wo da?«

Yoba angelte sein Notizbuch aus der Hose und entnahm ihm ein sorgfältig zusammengefaltetes Stück Papier. Seine kranke Mutter hatte ihm den Zettel auf dem Sterbebett zugesteckt und geflüstert, ihr ausgewanderter Zwillingsbruder Abeche würde sich um sie kümmern. Anscheinend ahnte sie, was nach ihrem Tod geschehen würde.

Yoba faltete das Papier vorsichtig auseinander und strich es behutsam glatt. Auf ihm stand nur ein einziges Wort: HAMBURG.

»Wo soll das denn sein?«, erkundigte sich Adaeke. Sie konnte nicht lesen. Ihre Mutter hatte sich das Schulgeld nie leisten können.

Yoba zuckte mit den Achseln. »Das ist irgendein Ort in Europa. Mehr weiß ich auch nicht«, schmatzte er mit vollem Mund. »Auf jeden Fall werde ich meinen Onkel bald besuchen.«

»Du willst nach Europa?«, empörte sich Adaeke. »Du bist verrückt! Und was wird aus Chi-Chi?«

Yobas Bruder leckte sich völlig in sich versunken die Finger ab. Wie immer schien er nichts von dem mitzubekommen, was um ihn herum geschah.

»Wenn ich gehe, nehme ich Chi-Chi mit«, erklärte Yoba seelenruhig. »Wer weiß, vielleicht finde ich sogar einen Doktor, der ihn wieder gesund machen kann. Europäische Ärzte sind viel besser als unsere!«

Adaeke lachte. »Pah! Weißt du überhaupt, wie viel die Reise nach Europa kostet? Woher soll ein zerlumpter Straßenjunge wie du schon Dollars oder Euros nehmen!«

»Bald verdiene ich genug Dollars und Euros!«, erklärte Yoba lässig. »Irgendwann gibt mir Big E eine Chance. Du wirst schon sehen!«

»Ach ja?«, schimpfte Adaeke. »Ich kann dir genau sagen, wie diese Chance aussieht: Big E schickt dich als Pick Pocket auf die Straße und früher oder später erwischen sie dich. Dann stecken sie dich da drüben ins Gefängnis.« Adaeke zeigte auf den hässlichen, mit Stacheldraht gesicherten Bau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Es ist besser, ihr beiden kehrt in euer Dorf zurück«, sagte sie mit strenger Miene.

»Das können wir nicht«, erwiderte Yoba, während er auf einer gegarten Schnecke herumkaute. Sie schmeckte göttlich.

»Und weshalb nicht?«, erkundigte sich Adaeke. »Habt ihr was angestellt?«

Yoba schüttelte den Kopf. »Es ist wegen meinem Vater.« Er zögerte. »Und wegen Chi-Chi«, fügte er leise hinzu.

Yoba mochte Adaeke. Er mochte ihre hohen Wangenknochen und er fand, sie war das hübscheste Mädchen, dem er jemals begegnet war. Wenn er genug Geld hätte, würde er sie auf der Stelle heiraten. Auch wenn viele das anders sahen, aber ihm war ihr zertrümmertes Bein egal. Trotzdem wollte er nicht mit ihr darüber reden. Yoba sah seinem Bruder dabei zu, wie er seine Schüssel mit einem Stück Maniokteig immer wieder ausputzte, obwohl sie bereits blitzblank war. Seine Wangen glühten vor Glück.

Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte Yoba seine leere Schüssel auf den Tisch. »Das vergesse ich dir nie!«, sagte er zu Adaeke und tätschelte seinen Bauch unter dem löchrigen T-Shirt. »Ich bin so voll, dass ich gleich platze!«

Bevor Adaeke etwas erwidern konnte, erklang inmitten des Straßenlärms ein schrilles Kreischen. Ihre mit Körben und Tüten beladene Mutter stampfte wie ein wütender Wasserbüffel direkt auf sie zu. Dass sie im Gedränge des Marktes das Opfer eines jugendlichen Diebes geworden war, der ihr in einem unachtsamen Moment zwei prächtige Yamswurzeln stibitzt hatte, hatte ihre Laune nicht gerade gebessert.

»Ihr nichtsnutzigen Bettler!«, keifte Mama Kambina schon von weitem. »Verschwindet aus meinem Restaurant! Bei mir gibt es nichts umsonst!«

Schon flog eine Wurzelknolle durch die Luft. Sie verfehlte Yoba nur um Haaresbreite. Chioke sah ihn verständnislos an.

»Oje!«, jammerte Adaeke. »Meine Mutter ist heute besonders schlecht gelaunt.«

»Das kann man wohl sagen!«, meinte Yoba nur.

Er griff nach der Hand seines Bruders, dann suchten die beiden schleunigst das Weite.

»Lasst euch hier nie wieder blicken!«, schrie ihnen Adaekes Mutter hinterher. Die ersten Leute auf der Straße drehten sich bereits um. »Hätte eure Mutter euch doch nie geboren! Ihr elenden Diebe!«

Da war es, das Wort. Yoba fuhr es eiskalt den Rücken herunter. Jetzt wurde es brenzlig. In dieser Stadt klaute für gewöhnlich jeder, egal ob reich oder arm. Selbst die Polizisten nahmen, was ihnen nicht gehörte. Aber nichts schien den Menschen mehr Vergnügen zu bereiten, als einen Dieb zu jagen und ihn halb totzuprügeln. Yoba zerrte seinen Bruder hastig hinter sich her. Erst als sie in eine enge, zugemüllte Gasse eingebogen waren, atmete er erleichtert auf.

»Das war knapp!« Yoba legte den Arm um seinen Bruder. »Verstehst du vielleicht, warum Erwachsene wegen einem bisschen Essen immer so ein Theater machen?«

Chioke hatte die Hände auf seinen Bauch gelegt, so als befürchte er, jemand könnte ihm die gerade genossene Mahlzeit wieder entreißen.

»Was soll’s!«, meinte Yoba und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Auf jeden Fall macht die alte Hexe die beste Onugbo-Suppe der Welt!«

Jetzt nickte Chioke heftig.

»Gutes Essen!«, stammelte er mit leuchtenden Augen.

3.

Als Yoba und sein Bruder die schmale Gasse wieder verlassen wollten, versperrte ihnen plötzlich eine Handvoll Straßenkinder den Weg. Sie waren unterschiedlich alt, aber alle liefen barfuß und waren in Lumpen gehüllt.

»Sieh an, wen haben wir denn da?«, sagte ihr Anführer spöttisch. »Unsere Dschungelaffen!«

Kalu war der unumstrittene Boss der Kinder aus der Azikiwe Road. Obwohl er klein gewachsen und dürr wie eine Bohnenstange war, fürchtete ihn jeder. Unter den Straßenkindern der Stadt erzählte man sich, Kalu habe einmal einer trächtigen Hündin den Bauch aufgeschlitzt und die lebendigen Welpen über einem Feuer gegrillt.

»Keine Angst!«, raunte Yoba seinem Bruder zu. »Sie werden uns nichts tun. Das verspreche ich dir.«

Mutig trat er Kalu entgegen. »Lasst uns in Ruhe! Das hier ist nicht euer Gebiet!«

»Unser Gebiet ist da, wo ich es sage.« Kalu deutete auf die ausgeleierten Schlappen an Yobas Füßen. »Gib mir die!«

»Niemals!«, erwiderte Yoba. Auch wenn die Plastikschlappen längst auseinanderfielen, sie hatten ihn einen ganzen Naira gekostet. Außerdem hätte es sowieso nichts genutzt. Kalu wollte Streit, das war nicht zu übersehen. Mit Unbehagen registrierte Yoba, dass der Anführer der Kinderbande total bekifft war. Allem Anschein nach waren sie irgendwie zu Geld gekommen.

Ehe Yoba reagieren konnte, versetzte eines der Kinder Chioke einen heftigen Stoß. Sein Bruder strauchelte und landete in einem Abfallhaufen an der Hauswand. Sofort erhob sich eine wütende Wolke aus fetten schwarzen Fliegen. Chioke schrie und schlug mit den Armen um sich.

»Seht euch den Krüppel an!«, höhnte der Junge, der ihn gestoßen hatte. Er war bis auf eine kurze, löchrige Turnhose nackt. Sein magerer Körper und seine gekräuselten Haare waren komplett mit Sandstaub bedeckt.

»Du hast doch keine Ahnung!«, schrie Yoba den Jungen an. »Mein Bruder ist kein Krüppel! Wehe, du fasst ihn noch mal an!«

»Sonst passiert was …?« Kalu machte einen Schritt auf Yoba zu und entblößte seine abgebrochenen Schneidezähne. Plötzlich hielt er ein selbst gebasteltes Messer aus einem spitz zugefeilten Stück Blech in der Hand. Seine Kumpels zogen rostige Nägel aus den Hosentaschen.

Um Hilfe zu rufen hatte keinen Sinn. Das wusste Yoba nur zu gut. Wenn man in dieser Stadt um Hilfe rief, erreichte man das genaue Gegenteil. Alle verschwanden wie durch ein Wunder von der Bildfläche. Also sah er sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Für sein Alter war Yoba zwar überdurchschnittlich groß, aber mit dieser Übermacht konnte er es nicht aufnehmen. Er machte sich bereits auf das Schlimmste gefasst, als plötzlich auf der Hauptstraße ein Polizeiwagen im Schritttempo vorbeikroch. Der Wagen bremste, setzte zurück und hielt genau vor dem Eingang der engen Gasse.

Ein übergewichtiger Polizist in kurzärmeliger Uniform lehnte sich aus dem Fenster und sah gelangweilt zu ihnen herüber. Offenbar überlegte er, ob es die Mühe wert war, auszusteigen und sich einzumischen.

Kalu wurde sofort nervös. Er kannte den fetten Bullen und verspürte wenig Lust, von ihm noch einmal zusammengeschlagen zu werden. Also gab er seiner Bande das Zeichen zum Rückzug. Als er an Yoba vorbeikam, versuchte er dennoch ihm mit dem Blechmesser unauffällig die Seite aufzuschlitzen. Aber Yoba war darauf gefasst. Mit einer blitzschnellen Drehung wich er dem heimtückischen Stoß aus.

»Bis zum nächsten Mal, du Kakerlake!«, zischte Kalu. Er ließ das selbst gebastelte Messer unter seinem ausgebleichten T-Shirt verschwinden und trottete mit den anderen davon. Auch der Polizeiwagen setzte sich wieder in Bewegung.

»Hey, es ist vorbei!« Yoba drückte seinen Bruder fest an sich. Chioke zitterte am ganzen Körper. »Du hattest doch nicht etwa Angst?«, versuchte er ihn aufzumuntern.

Chioke schluchzte.

»Mach dir nichts draus«, sagte Yoba. Er schob seinen Bruder ein Stück von sich weg und wischte ihm die Tränen aus dem schmutzigen Gesicht. »Ich hatte auch Angst. Jede Menge sogar. Aber heute scheint unser Glückstag zu sein, meinst du nicht auch? Mutters Geist beschützt uns!«

Chioke biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Er blickte stumm auf seine blutigen Füße.

Der Parkplatz der ausländischen Firma war von einem meterhohen Maschendrahtzaun umgeben. So wie alle Stellplätze in der Stadt. Niemand wäre so verrückt gewesen, sein Auto einfach so am Straßenrand abzustellen. Anthony, der alte Wächter des Firmenparkplatzes, wohnte in einem Bretterverschlag direkt neben der Zufahrt. Sein Bett bestand aus einer ausgebauten Autorückbank, deren Polster mit den Jahren rissig geworden war. Dennoch verging kein Tag, an dem Anthony nicht pünktlich um acht Uhr die Kette löste, das quietschende Tor öffnete und die ersten Firmenangestellten in einer tadellos gebügelten Uniform begrüßte. Viele der Angestellten waren US-Amerikaner. Sie wohnten in den Villenvierteln außerhalb der Stadt und für die gestressten Pendler war Anthonys freundliches Gesicht in der Regel die erste angenehme Erscheinung des Tages.

An diesem Morgen vermochte Anthonys Begrüßung allerdings kaum jemanden aufzuheitern. Zu dem alltäglichen Verkehrschaos gesellte sich die drückende Hitze und der Sand des Harmattan. Die Ausländer fuhren grußlos an ihm vorbei, sprangen aus ihren Wagen und retteten sich in den Schutz des klimatisierten Firmengebäudes. Anthony taten diese Menschen leid. Die meisten Weißen kannte er nun schon lange und ihm kam es so vor, als würde Afrika ihre bleichen Gesichter nicht nur röter, sondern auch härter machen.

Als der alte Parkplatzwächter Yoba und seinen Bruder die Straße entlanglaufen sah, winkte er ihnen schon von weitem zu.

»Ihr kommt spät!«, rief er.

»Tut mir leid!« Yoba schnappte atemlos nach Luft. »Aber wir konnten nicht eher. Wir waren frühstücken.«

»Das ist gut«, freute sich Anthony. »Was gab’s denn?«

»Onugbo-Suppe«, platzte es aus Chioke heraus und er streichelte seinen gefüllten Bauch.

»Er redet ja doch!« Der weißhaarige Greis kniff Yobas kleinen Bruder in die Wange. »Ich habe dir ja gesagt: Wenn du fest daran glaubst, kannst du den Fluch besiegen. Irgendwann wirst du wieder sprechen können. So wie dein Bruder.«

Dass Yoba und Chioke seit ihrer Ankunft in der Stadt nicht verhungert waren, lag vor allem an Anthony. Der alte Mann hatte sie beim Aufbrechen eines Autos erwischt und wider Erwarten nicht die Polizei gerufen oder einfach Selbstjustiz geübt. Vielmehr hatte er den hungernden Brüdern ein Angebot unterbreitet: Wenn sie ihm bei seinen Pflichten zur Hand gingen, würde er ihnen im Gegenzug erlauben auf »seinem« Parkplatz einen Autowaschservice anzubieten. Yoba hatte natürlich sofort eingeschlagen. Seither konnten die Angestellten ihr Auto während der Arbeitszeit für ein bisschen Kleingeld putzen lassen.

Anthony schmunzelte. »Für euer Geschäft sehe ich allerdings schwarz«, sagte er zu Yoba. Er wies auf den restlos belegten Parkplatz. »Ihr seid zu spät. Die Weißen sitzen bereits alle in ihren Büros.«

»Dann warten wir eben auf die Langschläfer«, meinte Yoba gut gelaunt. »Wer weiß, was noch passiert. Heute ist nämlich unser Glückstag. Das spüre ich in meinem großen Zeh!«

Anthony lachte. Es hörte sich an wie das Krächzen eines sterbenden Hahns. »Da könntest du sogar Recht haben. Siehst du den Mercedes dort?«

»Den schwarzen da?«, fragte Yoba sofort.

Anthony nickte ehrfurchtsvoll. »Das ist der neue Wagen vom Direktor. Er hat mich gebeten ihn putzen zu lassen. Und dafür hat er mir das hier gegeben!«

Anthony winkte mit fünf druckfrischen Dollarscheinen. Als Yoba mit leuchtenden Augen danach greifen wollte, ließ der zahnlose Greis sie mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit verschwinden. »Erst die Arbeit, dann der Lohn, junger Mann!«, schmunzelte er.

Yoba eilte in den Pförtnerverschlag, zog den Eimer hinter einem Haufen Gerümpel hervor und füllte ihn an dem rostigen Wasserhahn. Anthonys Reich bestand nur aus einem einzigen Raum, dennoch verfügte es über fließendes Wasser. Der alte Parkplatzwächter kannte Gott und die Welt, und einem seiner vielen Bekannten war es gelungen, eine in der Nähe verlaufende Wasserleitung anzuzapfen. Jetzt drehte man einfach den quietschenden Hahn auf und das Wasser floss heraus. Meistens zumindest. Trotzdem staunte Yoba jedes Mal aufs Neue. Bei ihm zu Hause im Dorf konnten sich nicht einmal die wohlhabenden Familien solch einen Luxus leisten. Da gab es einen Brunnen für alle.

Yoba drehte den Wasserhahn wieder zu. Er zog einen Stofffetzen unter dem Waschbecken hervor, der einmal ein Hemd gewesen sein musste, und schleppte den schwappenden Eimer nach draußen.

»Macht bloß keine Kratzer in den Lack!«, ermahnte ihn Anthony besorgt. »Sonst verliere ich meine Arbeit. Und dann habt ihr auch keine mehr, vergesst das nicht!«

»Keine Sorge, Großvater! Wir sind Profis!« Yoba zwinkerte seinem Bruder zu. »Stimmt’s?«

»Profis!«, nickte Chioke.

Dann trottete er Yoba mit dem gebührenden Ernst hinterher. Die nagelneue Mercedes-Limousine stand auf dem Direktorenparkplatz neben dem gläsernen Firmenportal. Noch nie hatte Yoba ein so vollkommenes Auto gesehen. Ehrfürchtig strich er über den schwarzen, staubbedeckten Lack des Kotflügels. Wo derart perfekte Maschinen gebaut wurden, mussten auch die Menschen perfekt sein. Daran bestand für Yoba nicht der geringste Zweifel. Er linste durch die getönten Scheiben in das Innere des Wagens. Bestimmt besaß sein Onkel Abeche in Europa nicht nur ein Haus aus Steinen, sondern auch so ein kostbares Auto.

4.

»Und du bist dir wirklich sicher?« Big Eagle schnellte mit katzenhafter Geschmeidigkeit aus seinem überdimensionalen Korbsessel und ging wütend vor seinem Schreibtisch auf und ab. Die gelb-braun getüpfelte Hyäne, die sich vor dem Mahagonitisch auf einem Antilopenfell rekelte, spitzte die Ohren und kaute unruhig auf ihrem locker sitzenden Maulkorb herum. Hyänen galten in Nigerias Gangsterkreisen neuerdings als der letzte Schrei. Sie waren nicht nur weitaus kräftiger als ein Kampfhund und mindestens so intelligent, sondern auch um ein Vielfaches gefährlicher. Ihre Bisskraft stand der eines Löwen in nichts nach.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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