Der Schwabenspiegel. Jahrbuch für Literatur, Sprache und Spiel / Der Schwabenspiegel 2022 -  - E-Book

Der Schwabenspiegel. Jahrbuch für Literatur, Sprache und Spiel / Der Schwabenspiegel 2022 E-Book

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Beschreibung

Zum 75. Gründungsjubiläum der Gruppe 47 im Jahr 2022 veranstaltete die Germanistik der Universität Augsburg ein Symposium und eröffnete anschließend die um Texte und Exponate erweiterte Wanderausstellung „Ich bin als Rebell geboren“ zu Ilse Schneider-Lengyel in der Universitätsbibliothek Augsburg. Im Fokus standen Dichterinnen, Publizistinnen, Verlegerinnen und Übersetzerinnen, die im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ihren Platz behauptet hatten, jedoch von einer männlich dominierten Geschichtsschreibung der Gruppe 47 nur wenig gewürdigt wurden. Besondere Aufmerksamkeit erhielten Leben und Werk der Fotografin und Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel (1903 – 1972) als Mitinitiatorin und Gastgeberin des ersten Treffens der Gruppe 47 in ihrem „Seegut“ am Schwangauer Bannwaldsee. Im vorliegenden Schwabenspiegel widmen sich die Referentinnen und Referenten sowie das Kuratoren-Team schreibenden Frauen aus der Frühphase der Gruppe 47. Mit Beiträgen von Alfons Maria Arns, Bettina Bannasch, Heike Drummer, Wiebke Lundius, Stephanie Waldow und Kay Wolfinger.

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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum 75. Gründungsjubiläum der Gruppe 47 im Jahr 2022 veranstaltete die Germanistik der Universität Augsburg ein Symposium und eröffnete anschließend die um Texte und Exponate erweiterte Wanderausstellung „Ich bin als Rebell geboren“ zu Ilse Schneider-Lengyel in der Universitätsbibliothek Augsburg. Im Fokus standen Dichterinnen, Publizistinnen, Verlegerinnen und Übersetzerinnen, die im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ihren Platz behauptet hatten, jedoch von einer männlich dominierten Geschichtsschreibung der Gruppe 47 nur wenig gewürdigt wurden. Besondere Aufmerksamkeit erhielten Leben und Werk der Fotografin und Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel (1903 – 1972) als Mitinitiatorin und Gastgeberin des ersten Treffens der Gruppe 47 in ihrem „Seegut“ am Schwangauer Bannwaldsee.

Im vorliegenden Schwabenspiegel widmen sich die Referentinnen und Referenten sowie das Kuratoren-Team schreibenden Frauen aus der Frühphase der Gruppe 47. Mit Beiträgen von Alfons Maria Arns, Bettina Bannasch, Heike Drummer, Wiebke Lundius, Stephanie Waldow und Kay Wolfinger.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Alfons Maria Arns/Heike Drummer: Vom Rande her …“ – Frauen in der Gründungsphase der Gruppe 47

Wiebke Lundius: „Es ist merkwürdig mit der schwierigen Zeit nach dem Preis“ – Die Gruppe 47 im Briefwechsel von Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann

Bettina Bannasch: „Gute Literatur ist mit dem Tod identisch“ Ilse Aichingers Spiegelgeschichte

Stephanie Waldow: Auf der Suche nach einer (Sprach-)Haltung: Zur Intertextualität Ingeborg Bachmanns

Kay Wolfinger: Ilses Apotheose – Zur Wiederentdeckung Ilse Schneider-Lengyels

Vorwort

Zum 75. Gründungsjubiläum der Gruppe 47 im Jahr 2022 veranstaltete die Germanistik der Universität Augsburg am 2. Juni ein Symposium und eröffnete anschließend die um Texte und Exponate erweiterte Wanderausstellung „Ich bin als Rebell geboren“ zu Ilse Schneider-Lengyel (1903 – 1972) in der Universitätsbibliothek Augsburg. Wir danken dem früheren Leiter der Universitätsbibliothek Augsburg Dr. Ulrich Hohoff herzlich für die Unterstützung dieses Projekts.

Die Fotografin und Schriftstellerin war Mitinitiatorin und großzügige Gastgeberin des ersten Treffens am Schwangauer Bannwaldsee, wo sie eigene Gedichte vortrug. Es sollte die Geburtsstunde jener losen, bald schon überaus medienaffinen und wichtigen Autorenvereinigung werden, die unter dem Namen Gruppe 47 in die Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist. Darunter wirkten auch Dichterinnen, Publizistinnen, Verlegerinnen und Übersetzerinnen, die im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ihren Platz behauptet hatten. In der Ära Adenauer verlor sich diese Kraft eines kritisch-intellektuellen Aufbruchs für schreibende Frauen weitgehend; viele von ihnen sind heute vergessen.

Der vorliegende Schwabenspiegel präsentiert neue Forschungsperspektiven auf das weibliche Netzwerk um 1947, die literaturgeschichtliche Rezeption sowie prägende Textmuster und Schreibstrategien bei Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann.

Die Herausgeberin und die Herausgeber – Augsburg im Frühjahr 2025

Prof. Dr. Klaus Wolf

Heike Drummer

Alfons Maria Arns

Alfons Maria Arns / Heike Drummer

Vom Rande her …“ – Frauen in der Gründungsphase der Gruppe 471

Nach mehreren Stationen in Bayern und Baden-Württemberg konnte die 2017 im Auftrag der Gemeinde Schwangau erarbeitete Wanderausstellung zu Ilse Schneider-Lengyel und die Gruppe 47 Ich bin als Rebell geboren im Juni und Juli 2022 in der Universitätsbibliothek Augsburg gezeigt werden, erweitert um erläuternde Wandtafeln und zahlreiche Originaldokumente in Vitrinen. In jener Stadt also, in der die 1903 in München geborene Fotografin und Dichterin Ilse Schneider während des Ersten Weltkriegs die gerade neu erbaute Städtische Maria Theresia-Schule (heute Maria-Theresia-Gymnasium) besucht hatte, eine „Höhere Mädchenschule mit Realabteilung und Frauenschule“.2 Bei einem Symposium zur Eröffnung wurde das Ausstellungsthema Frau Dichter*in und die Gruppe 47 – Literarische Aufbrüche in der Nachkriegszeit noch einmal weiter vertieft in der Hinsicht, dass die immer noch überwiegend männlich dominierte Geschichtsschreibung der legendären Schriftstellervereinigung endlich einmal mit dem speziellen Fokus auf die Rolle der Frauen in der Frühphase der Gruppe 47 kontrastiert wurde. Ein wenig so, wie die Marburger Germanistin Wiebke Lundius es in ihrer 2017 erschienenen Studie Die Frauen in der Gruppe 47 unternommen hatte, jetzt allerdings nochmals eingeschränkt mit dem Blick auf die Anfänge der Gruppe.3 Über die wenigen explizit vortragenden Schriftstellerinnen bei den ersten Treffen hinaus waren in der Anfangszeit dort neben den Ehefrauen der anwesenden Männer auch Frauen aus dem verlegerischen und publizistischen Umfeld anwesend. Es geht also, wie Lundius schreibt, ganz allgemein um die „Sichtbarmachung der Bedeutung der Frauen in der Gruppe 47“, was neben der Untersuchung von deren unmittelbarer Präsenz auf den Tagungen auch die Art und Weise ihrer Rezeption einschließen sollte.4

Bereits 1988 hatten die Literaturwissenschaftlerin Irmela von der Lühe und die Schriftstellerin Ingrid Bachér erste Versuche in diese Richtung unternommen im Rahmen ihrer Beiträge für den nach wie vor grundlegenden Ausstellungskatalog Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Bis zu diesem Zeitpunkt schien „die Kolonie der Frauen in dieser Gruppe“, so Bachér, ein „unerforschtes Gebiet“ zu sein.5 Natürlich tauchten später berühmte Persönlichkeiten wie Ilse Aichinger (ab 1951) und Ingeborg Bachmann (ab 1952) auf, deren Leben und Werk im zweiten Teil des Augsburger Symposiums im Zentrum standen; aber noch vor deren Erscheinen auf der Bühne der Gruppe 47, zu Beginn der 1950er Jahre, gab es Frauen, die in unterschiedlichen Funktionen rund um das Jahr 1947 herum an der Gründung der Gruppe bzw. im Umfeld derselben beteiligt waren und heute größtenteils vergessen sind. Dabei spielte die Fotografin und Dichterin Ilse Schneider-Lengyel eine besonders herausgehobene Rolle. Aber auch diese spezielle weibliche Fokussierung kann natürlich nicht die grundsätzliche Tatsache kaschieren, dass die verschiedenen anfänglichen und späteren Akteure in der Gruppe 47 überwiegend Männer waren in ihrer Funktion als Schriftsteller, Kritiker, Redakteure, Journalisten, Verleger, Lektoren, Übersetzer und Karikaturisten. Männer, die vor allem durch das Erlebnis des Krieges als Soldaten von Tod, Gewalt, Verwundung, Gefangenschaft und Heimkehr geprägt und traumatisiert waren; aber auch von erlebter „Kameradschaft“ und kollektiv-solidarischem Gruppenverhalten. Selbst aus männlicher Perspektive fiel die Bilanz über die Rolle der Frauen in der Gruppe 47 am Ende ziemlich ernüchtert aus, wenn der Kritiker Reinhard Baumgart 50 Jahre nach Gründung der Gruppe rückblickend schreibt:

„Nur zugelassen, nur geduldet zu sein war die schwierigste, die peinlichste Rolle. Die meisten der miteingeladenen, mitgeduldeten Frauen durften über sie nicht hinauswachsen. […]. Frauen durften lachen, sollten tanzen, mitessen und mittrinken und, das auch, ihr Gedichtetes vorlesen, nahmen aber nicht teil am kritischen Diskurs. Vom Rande her glänzten sie in eine entschlossen männerbündlerische Versammlung, sogar und auch Ingeborg Bachmann.“6

Ilse Schneider-Lengyel zwischen Zuschreibung und Vereinnahmung

Die Entstehung der Gruppe 47 ist nicht nur mit dem Namen Hans Werner Richter verbunden, sondern gleichermaßen mit der vielseitig aktiven Fotografin, Kunsthistorikerin, Ethnologin und Dichterin Ilse Schneider-Lengyel (1903 – 1972), wie dies vor Ort im Ostallgäu erstmals in größerem Rahmen 1997 anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Gruppe 47 in Schwangau und Füssen deutlich wurde.7 Jene eben nicht bloß mütterlich-umsorgende Gastgeberin, in deren Haus am Schwangauer Bannwaldsee am 6. und 7. September 1947 das legendäre, mythisch besetzte erste Treffen der Gruppe 47 stattfand. Die Hausherrin selbst aber ist trotz vielfältiger Bemühungen in den letzten Dekaden um Leben und Werk immer noch ziemlich unbekannt geblieben oder klischeehaft in Erinnerungen und Fiktionen mythisiert worden, im Schatten einer von Männern bestimmten Sichtweise. Und dies, obwohl sie in den Anfangsjahren eine in vieler Hinsicht zentrale Rolle gespielt hatte. Es geht also auch um die Korrektur eines zuvörderst von Hans Werner Richter bestimmten Bildes der Geschichte der Gruppe 47.8

Es fällt auf, dass der Name Ilse Schneider-Lengyel, und damit auch ihr Leben und Werk, lange Zeit von einer Vielzahl diskriminierender, mythologischer Zuschreibungen schon aufgrund ihrer selbstbewussten äußeren Erscheinung geradezu umzingelt, wenn nicht gar begraben war. Das beginnt bei der vor Ort immer noch anzutreffenden Rede von der „Hex’ vom Bannwaldsee“ oder „Seehex“, setzt sich fort bei Schriftstellerkollegen, den „Skorpionsbrüdern“, wie Gerhard Köpf sie nennt, mit Wasser-Bilder-Wesen wie die „exotische Frau vom See“, „die Zigeunerin vom Bannwaldsee“, Undine oder Melusine bis hin zur Charakterisierung in einer italienischen Literaturzeitung des Jahres 1948 als Vertreterin des weiblichen Geschlechts „unter den 47ern“: „einer Frau vom Typ der George Sand, die Zigarren raucht und gern Männerkleidung trägt“.9 Nach der Tagung in Niederpöcking am Starnberger See im September 1957 blickte der Journalist Arnold Bauer mit unverhohlener Frauenverachtung zurück auf zehn Jahre Gruppe 47:

„Die erste Gastgeberin der Heimkehrer-Schriftsteller war Ilse Schneider-Lengyel, eine begabte Übersetzerin von Negerlyrik, Bewunderin der wilden Tiere des Dschungels und Trägerin von exotischem Schmuck, mit dem sie, reich versehen, auch jetzt wieder erschienen war. […] Die träumerische Verspieltheit der immer noch ein wenig wie eine Waldnymphe wirkenden [Ilse] Aichinger forderte schroffen Widerspruch heraus, Angriff und ritterliche Verteidigung.“10

Während sie für Hans Werner und Toni Richter irgendwann einmal einfach nur ein „Paradiesvogel“ war, sah sie der Schriftsteller Jürgen von Hollander im Jahre 1950 kurz und bündig als „Surrealistin mit der Märchenbrille“. Selbst der befreundete Schriftsteller Gerhard Köpf, der ihr ja mit seinem Debütroman Innerfern ein verständnisvolles literarisches Denkmal setzen wollte, spricht dort immer wieder klischeehaft über das Äußere ihrer Person, etwa als „Indianerin“, und versetzt bzw. entrückt sie dergestalt auf einen anderen, vermeintlich exotischen Kontinent oder ins Reich der Blumen und Pflanzen, wie im Begriff der Asphodele, einem unscheinbaren Liliengewächs am Wegesrand.11 Die größte Verachtung jedoch stammte aus dem Munde des Schriftstellerkollegen Arno Schmidt. Als Ilse Schneider-Lengyel (ab Januar 1956) mehrmals vergeblich versucht hatte, mit dem von ihr bewunderten Autor einen dauerhaften Briefwechsel aufzubauen, reagierte dieser ziemlich genervt. Im Januar 1958 kam es aber trotzdem zu einem kurzen persönlichen Treffen in Darmstadt. In dem nachfolgenden Tagebucheintrag von Arno Schmidt heißt es dazu: „Ilse Schneider-Lengyel 16 – 19 [Uhr]: tief braun + dürr. ½ Magyarin ½ Araberin; häßlich. Viel Tinnef geschwätzt. Froh, als sie ging.“12

Hans Werner Richter, ein Mann rückt sich in den Vordergrund

Es war Hans Werner Richter, der im Rahmen der Selbsthistorisierung der Gruppe 47 zuerst damit begonnen hatte, die Autorin Schneider-Lengyel nach und nach in den Hintergrund zu drängen und sie auf die alleinige „Rolle der Gastgeberin des ersten Treffens fest[legte]“, wie Wiebke Lundius und zuvor bereits der Literaturwissenschaftler Peter Braun dies beschrieben haben.13 Der Lichtstrahl des Mythos Bannwaldsee als geistiger Aufbruch von Vielen sollte, jedenfalls was die Urheberschaft betrifft, nur auf ihn selbst und die männlichen Kollegen im engeren Umfeld abstrahlen, während Ilse Schneider-Lengyel in der mütterlichen Rolle angeblich nur für Unterkunft und Verpflegung gesorgt hatte.

Wie sehr Richter Ilse Schneider-Lengyels Anteil an der Entstehung und Konsolidierung der Gruppe 47 nachträglich bewusst zu minimieren suchte, wird in einem Interview deutlich, das beide im März /April 1965 im Rahmen eines Dokumentarfilms gegeben hatten, den der Kulturjournalist Walther Schmieding (1928 – 1980), der spätere Erfinder und Moderator des ZDF-Kulturmagazins aspekte, für das ZDF produziert hatte. Sein Titel: Kulturbilanz der R-Mark-Zeit, im Fernsehen ausgestrahlt am 10. Mai 1965. In dem fast 60-minütigen Film lässt Schmieding in einem Rückblick durch eine Vielzahl an zeitgenössischen Filmausschnitten das kulturelle Leben der Nachkriegszeit Revue passieren mit dem Schwerpunkt auf Film, Theater und Literatur. Das Gespräch selbst fand auf dem Bootssteg ganz in der Nähe von Schneider-Lengyels Haus und auch direkt davor statt, am durch Schnee- und Eisreste noch winterlichen Schwangauer Bannwaldsee.14 Platziert in der Mitte des Stegs mit einem umgehängten Aufnahmemikrofon stehen rechts von Richter die Hausherrin, ohne Mikrofon, und links der Journalist Schmieding, der sich mit seinen Fragen und Blicken aber ganz auf Richter konzentriert. Als Richter schließlich Ilse Schneider-Lengyel kurz in das Gespräch einbezieht, geht es nur um deren Beitrag zur Versorgung der Gäste; an den beiden Tagen im September 1947 hatte sie schon früh morgens Fische aus dem See geangelt. Schneider-Lengyel kann nur zaghaft wenige bestätigende Worte zu den gefangenen Fischarten sagen und schon entzieht ihr Richter wieder das Wort, während er gleichzeitig ihren Arm berührt und sie mit seinem Redefluss wieder verstummen lässt. Die Kamera schwenkt derweil in Richtung Berge zum nahe gelegenen Schloss Neuschwanstein, womit diese Sequenz ihr Ende findet. Der Gipfel dieser Übergriffigkeit als Inbegriff eines Paradoxons ausgrenzender Einbindung ist aber erreicht, als sich nach einem Schnitt nur die beiden Männer an einem Campingtisch direkt vor dem Haus Schneider-Lengyels niederlassen und Richter ausführlich über das damalige Treffen am Bannwaldsee und die Entstehung der Zeitschrift Der Skorpion dozieren kann. Die Hausherrin selbst wird nicht weiter befragt und taucht in dieser kurzen ca. zweiminütigen Sequenz überhaupt nicht mehr auf. Es ist durchaus zu vermuten, dass es weiteres Drehmaterial gab mit ihr als Interviewpartnerin, das dann aber bei der Montage einfach weggelassen wurde. Recherchen dazu hatten bislang noch keinen Erfolg. Wie in einem visuell einprägsamen Sinnbild verdichtet sich in diesem Filmausschnitt das Schicksal Ilse Schneider-Lengyels im Kontext der Gruppe 47, das nach anfänglichem Interesse zunehmend von Nichtbeachtung, Unverständnis, Ausgrenzung und schließlichem Vergessen gekennzeichnet war. Ein Schicksal, das auch anderen Frauen aus der Frühzeit der Gruppe 47 widerfuhr.

Zwanzig Jahre später ist dann Schneider-Lengyel in der Erinnerung Richters fast völlig verschwunden und marginalisiert, wenn er in seinen 1986 erschienenen 21 Porträts von Teilnehmern der Gruppe 47 mit dem Titel Im Etablissement der Schmetterlinge sie – im Gegensatz zu Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Barbara König – keines eigenen Textteils für würdig erachtet; sie auch im Nachwort nicht erwähnt, sondern sich ihrer erst im Kapitel über Wolfdietrich Schnurre kurz erinnert als „Schriftstellerin, die surrealistische Gedichte schrieb und sich vorwiegend mit Masken beschäftigte“.15 Das nur am Rande: Selbst die drei genannten Frauen verlieren in ihren diversen Erinnerungen kein Sterbenswörtchen über Ilse Schneider-Lengyel, so als hätte sie nie existiert. Dieser traurige Befund bestätigte sich nur kurze Zeit später, als Hans Werner Richter zu einem Werkstattgespräch im Rahmen der 33. Fortbildungstagung für Deutsch- und Geschichtslehrer an den Gymnasien in Bayern eingeladen wurde, die vom 7. bis zum 10. September 1987 im Gymnasium Hohenschwangau stattfand; also exakt 40 Jahre nach Gründung der Gruppe 47 mit dem Bannwaldsee ganz in der Nähe. Ein Akzent der Tagung galt dementsprechend der Gruppe 47 und es hätte während des langen „Werkstattgesprächs“ genug Gelegenheit gegeben, Ilse Schneider-Lengyel zu erwähnen und über sie zu berichten; doch selbst im Moment des Erzählens über das legendäre Wochenende am See herrschte diesbezüglich bloßes Schweigen. Und auch die beiden Gesprächspartner kamen, vielleicht wegen Unkenntnis, nicht auf die Idee, Richter daraufhin anzusprechen.16

Schreibende Frauen in den Nachkriegsjahren: Das Beispiel Ilse Schneider-Lengyel

Hans Werner Richter war es andererseits aber auch gewesen, der Ilse Schneider-Lengyel in einem Brief vom 24. Februar 1947 dazu einlud, Autorin der zu diesem Zeitpunkt noch von ihm und Alfred Andersch geleiteten Zeitschrift Der Ruf zu werden. Dies nachdem sie kurz zuvor Richter das Manuskript zu der Erzählung Der Mondjournalist zugeschickt hatte, verbunden allerdings mit dem eigenartigen Wunsch das Frau-Sein hintanzustellen: „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie doch eine ‚deutsche‘ Dichterin sind? […] Nach dieser Einleitung, wie wäre es, wenn Sie eine ständige Mitarbeiterin des Ruf würden? Dem Rufkreis fehlen noch ein paar gut schreibende Frauen, die keine sein wollen.“17

Eine merkwürdige, auf den ersten Blick paradoxe, schließlich aber durchaus plausible Forderung, auf die wir später noch zurückkommen werden. Schneider-Lengyel sagte jedenfalls zu und publizierte als nunmehr 44-jährige Frau in den Unabhängigen Blättern der jungen Generation die Kurzgeschichte Der Mondjournalist und den Essay Heilige Kunst, in dem sie am Beispiel der modernen „abstrakten Malerei“ in Anknüpfung an die Renaissance deren metaphysischen Ursprung nachzuweisen versuchte. Die moderne Kunst sollte „Zeichen [setzen] für eine neue Zeit, den dringend gewordenen Menschen. Sie fordern ihn auf: Gestalte und laß entstehen, was sich formen will“. Als ein durchaus pädagogisch gemeinter „Ruf an die Jugend“ gehe es um „eine Erziehung des Auges in Hinsicht auf die Form“.18 Es ist bezeichnend, dass Ilse Schneider-Lengyel bereits in der Geschichte Der Mondjournalist, wie auch in dem späteren Gedichtband september-phase (1952), auf ironisch-utopische Weise die Geschlechterfrage aufwirft, gewissermaßen eine poetische Antwort auf und ein Gegenentwurf zu Richters Forderung nach einer Selbstverleugnung des Weiblichen als Bedingung für die Aufnahme in den Männerbund des Ruf. Der auf die Erde geschickte „Mondjournalist“ berichtet nämlich vom Leben auf dem Mond, wo ein „jeglicher liebt, und das ist das Wichtigste, ohne Unterlaß“:

„Das Gefühl des gegenseitigen Besitzes ist frei und unaufhörlich. Fremd ist ihnen die Tragik der Liebe zwischen den Geschlechtern. Die Frauen sind wie Glut in den Männern verbrennend. Die Männer wie Sonnen in den Mondgeschöpfen. […] Die Frauen ergreifen Besitz von den Mondmännern. Diese sind ewig stark und verfallen nicht in physische Schwachheit. Es würde das rollende Lachen der Mondweiber hervorrufen. Die Mondfrauen sind hellhörig. Ihre Männer haben die Schultern breit und die Hüften schmal und wiegen sich wie jene Erdmänner, die den Gang von Königen besitzen. […] Frauen erhalten die Mondkultur, tanzen und werfen ihre Schuhe nach jedem Tanz weg. Sie sind sehr reich, sehr frei und sehr klug. Darum fehlen ihnen Armeen und solche, die gierig nach Kriegen lechzen.“

Zu diesem Zeitpunkt war Ilse Schneider-Lengyel bereits eine bekannte Fotografin und Kunsthistorikerin mit zahlreichen Publikationen für bedeutende Kunstverlage wie Piper, Bruckmann, Plon und Phaidon über die Welt der Skulpturen von Künstlern wie Michelangelo, Donatello und Rodin bis hin zu gotischen und römischen Kopfplastiken. Den Weg zur Dichtung hatte sie auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen gefunden, nachdem die Herrschaft des Nationalsozialismus sie und ihren jüdischen Ehemann 1934 ins Exil nach Paris getrieben hatte. Die Verbrechen von Krieg und Shoah und zunehmend schlechtere Arbeitsmöglichkeiten als Fotografin erklären ihre allmähliche Hinwendung schon während des Kriegs zum Schreiben von zahlreichen Gedichtzyklen, die man anfangs als rein privaten lyrischen Widerstand bezeichnen könnte, aber auch später von Essays aus Paris etwa für die Süddeutsche Zeitung oder die Zeitschrift Neues Europa