Der Schwarze Engel - Uwe Westfehling - E-Book
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Der Schwarze Engel E-Book

Uwe Westfehling

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein Mörder geht um in der Ewigen Stadt. Seine Opfer: junge Frauen.

Rom im Jahr 1600: Der Privatermittler Berto Vanga wird vom Vatikan beauftragt, einen Mörder zu finden, der seit Wochen Aufsehen erregt. Bereits drei Frauen sind ihm zum Opfer gefallen. Grausam verstümmelt liegen sie in dunklen Gassen, stets mit einer Zeichnung neben sich: dem Porträt der Toten, das mit satanischen Symbolen versehen ist. Die Bevölkerung hält den Teufel selbst für den Täter. Berto Vanga hält jedoch nichts von Aberglauben. Seine gefährliche Suche nach dem wahren Mörder führt ihn in Spelunken und Paläste, in Ateliers und Katakomben und schließlich in den Bann einer gefährlichen Frau ...

Ein spannender Kriminalfall vor prächtiger historischer Kulisse - für Fans von Rebecca Gablé, Richard Dübell und Philipp Vandenberg.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.





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Inhalt

CoverWeitere Titel des AutorsÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumVorspannAuftaktEröffnung: Campo de’ FioriErster Teil: Via GiuliaZweiter Teil: Portico d’ OttaviaDritter Teil: Castel Sant’ AngeloVierter Teil: Ponte RottoZwischenspiel: ValnerinaFünfter Teil: Palazzo SanterraNachspiel: Bocca della VeritàIn Caravaggios Welt

Weitere Titel des Autors

Tanz der Dämonen

Über dieses Buch

Ein Mörder geht um in der Ewigen Stadt. Seine Opfer: junge Frauen.

Rom im Jahr 1600: Der Privatermittler Berto Vanga wird vom Vatikan beauftragt, einen Mörder zu finden, der seit Wochen Aufsehen erregt. Bereits drei Frauen sind ihm zum Opfer gefallen. Grausam verstümmelt liegen sie in dunklen Gassen, stets mit einer Zeichnung neben sich: dem Porträt der Toten, das mit satanischen Symbolen versehen ist. Die Bevölkerung hält den Teufel selbst für den Täter. Berto Vanga hält jedoch nichts von Aberglauben. Seine gefährliche Suche nach dem wahren Mörder führt ihn in Spelunken und Paläste, in Ateliers und Katakomben und schließlich in den Bann einer gefährlichen Frau …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über den Autor

Uwe Westfehling ist promovierter Kunsthistoriker und in Köln als Museumswissenschaftler und Universitätsdozent tätig. Seine Romane zeichnen sich durch Bilderreichtum und eine lebendige Atmosphäre aus.

U W E W E S T F E H L I N G

DER

SCHWARZE

ENGEL

HISTORISCHER ROMAN

Mit Illustrationen des Autors

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2011/2015/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Innenillustration: Uwe Westfehling

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Iakov Kalinin/AdobeStock; ba888/iStock; geengraphy/iStock/Getty Images Plus; Anton Tokarev/iStock/Getty Images Plus; Suradech14/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1754-0

be-ebooks.de

lesejury.de

Vater unser,

der Du bist in der Hölle,

gepriesen sei Dein Name – und verflucht!

Dein Reich komme mit Feuer und Blut,

Dein Wille geschehe,

wie in der Hölle, so auch auf Erden.

Unser täglich’ Brot bedeutet nichts,

und keiner fragt nach Schuld,

wenn Du nur Kraft gibst für die Rache

an jenen, die ich hasse.

Denn keinen andern Zweck hat mein Leben,

so wahr sie mich

des Satans Schwarzen Engel nennen!

Blut fließt dicker als Wasser.

Hass brennt heißer als Feuer.

Schärfer als Stahl schneidet Rache.

Lass diese Hand weder zögern noch zittern

bei dem, was sie in Deinem Namen tun wird!

Denn Dein ist das Reich der Finsternis

und Dein sind die Macht und die Herrlichkeit

des Schreckens

in Ewigkeit …

AUFTAKT

Zwielicht und Schatten. Die Welt des Mannes mit der Maske. Kein Sonnenstrahl, kein Lachen, kein Leben. Verharren ohne Regung. Mit geblähten Nüstern sog er den stechenden Geruch der Essenzen ein, die sich, von schwelender Glut verzehrt, in einer ehernen Schale mischten. Über seinem Kopf waren die Beutel aufgehängt, in denen die unaussprechlichen Dinge vereinigt waren, symbolische Gaben, deren Bedeutung so hoch über alles Vorstellbare hinausgriff, dass ihm beim bloßen Gedanken daran ein heiliger Schauder über den Rücken lief. Wie von selbst zitierten nun seine Lippen die magischen Worte, welche eine Brücke zu den Welten schlugen, die jenseits lagen, jenseits von Raum und Zeit und Verstand: »Hört mich, Ihr Mächtigen, Großen, Uralten …« Die Zeit war nahe. So musste es sein, denn seine Geduld war zu Ende.

Seine Finger zuckten und tasteten. Nun glitt seine Hand über blanken, kalten Stahl. Die Kuppe des Zeigefingers fuhr eine biegsame Klinge entlang. Doppelschneidig. Haarfein geschliffen und poliert. Bereit, alles Weiche zu durchdringen, aufzuschlitzen und zu zerfetzen. Er glaubte plötzlich, den Geruch von Blut in der Nase zu haben. Er konzentrierte sich auf die Schärfe des Stahls. So glatt und elastisch dieser auch sein mochte, konnte es keineswegs schaden, ihm ein paar Streiche über das Ziegenleder zu geben, einen zum Abwetzen gespannten Riemen, wie ihn Barbiere benutzten, und dann – ja, dann noch auf jede Schneide einen Tropfen Öl.

Langsam vollführte er das Ritual. Dabei trat er zu der gestaltlosen Form, die sich im Halbdunkel abhob: ein Ledersack, groß wie eines Menschen Bauch. Eine Welle der Erregung schüttelt ihn, und er stürzt sich in die tausendmal geübten Bewegungen. Blitzschnell vor und zurück. Sein Atem keucht. Schweiß. Er spürt schon das Zerreißen von Haut und Fleisch, die dampfende Wärme von spritzendem Blut. Endlich!

ERÖFFNUNG: CAMPO DE’ FIORI

Als Berto Vanga erwachte, herrschte noch Finsternis. Sein erster Gedanke war: Dies ist der Tag, den ich gefürchtet habe.

Pazzia! Was für ein Unsinn …

Er hatte keine Angst vor dem Anblick des Todes. Es war etwas anderes. Etwas, das er nicht benennen konnte. Oder nicht wollte.

Vanga trank einen Schluck Wasser aus dem Tonkrug, kleidete sich hastig an und stieg die Treppe hinunter. Durch die Seitentür seiner Herberge trat er ins Freie. Die Morgenröte färbte allmählich den Dunst, der die Stadt einhüllte. Es war kalt in den Gassen. Vom Fluss herauf kam ein leichter Wind, der den Duft von Gras und Erde mit sich trug. Ein Hauch von Frühling, aber auch der Geruch von Fäulnis.

Um diese Zeit war sonst noch Stille in Rom. Nur die wenigen Leute, deren Gewerbe ein frühes Aufstehen erforderte, waren bereits unterwegs. Bauern strömten durch die Tore in die Stadt, zum Beispiel über die ruhmreiche Via Appia. Hier jedoch, zwischen dem alten Ghetto und dem Ponte delle quattro Capi, hörte man kaum etwas vom Ächzen der hölzernen Lastkarren. Auf den Märkten begann gerade erst das Geschäft, und die zahlreichen Pilger, die wegen des anno santo, des Heiligen Jahres, schon am Beginn der Fastenzeit die Ewige Stadt bevölkerten, lagen gewiss noch in tiefem Schlaf.

An diesem Morgen jedoch war alles anders. Da zogen bereits im Halbdunkel Scharen von Menschen die Gassen entlang. Das Geräusch ihrer Schritte. Schattenhafte Umrisse. Sie bewegten sich alle in dieselbe Richtung und sprachen wenig. Aber es war eine befremdliche Unruhe zu spüren.

Vanga verharrte kurz auf den niedrigen Stufen. Niemand beachtete ihn. Ein unauffälliger Mann von mittlerer Größe, von einem abgetragenen Mantel nur unzureichend geschützt. Die seit langem gebrochene Nase schnupperte noch einmal in den Wind. Dann trat er in die Menge, so wie man sich in einen langsam vorüberziehenden Fluss gleiten lässt und mit der Strömung davontreibt.

Immer mehr dieser menschlichen Schemen umgaben ihn. Sie kamen aus Torwegen und Durchgängen. Hier tappte eine Frau mit einem Kind an der Hand, dort schlurfte ein Greis mit gebeugtem Rücken. Vor ihm schritt ein Mönch mit einer Kapuze, der leise den Rosenkranz betete, dort ein Maurer mit Kelle am Gürtel, da eine dralle Dienstmagd. Der dürre Schneider aus dem Nachbarhaus mit seiner ewig keifenden Frau. Heute Morgen war sie still. Ein paar Nonnen rafften ihre Gewänder, um die Säume nicht dem Schlamm der Gosse auszusetzen. Plötzlich schien es jeder eilig zu haben. In allen Gesichtern ein Ausdruck geheimer Erregung, eine unverhohlene Gier, die etwas von Erwartung, ja Lüsternheit an sich hatte. Vanga verlangsamte den Schritt und zog den Mantel fester um die Schultern. Zwei oder drei Leute rempelten ihn an, und einer murmelte einen Fluch. Weil er sich dem Tempo der anderen nicht anpassen mochte, wurde er zu einem Hindernis im Strom.

Was tu ich hier?, dachte er.

Gerade wollte er zur Seite treten, als hinter ihm eine schneidende Stimme erklang.

»Alberto!«

Verdammt! Es gab nur einen Menschen, der seinen Tauf-

namen vollständig aussprach, und Vanga wurde den Verdacht nicht los, dass es nur geschah, um ihn zu ärgern. Es klang förmlich und spöttisch zugleich. Der Mann stand halb verborgen im Schatten einer Mauerecke, an der Vanga gerade vorbeigegangen war. Eine große Gestalt, die einen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen hatte. Das Gesicht lag völlig im Dunkeln.

Vanga reagierte mit einem mürrischen Nicken.

»Cecco«, knurrte er. »Mein liebwerter Vetter.« Dabei schoss ihm durch den Kopf: Ob er hier auf mich gewartet hat? Aber dann verwarf er den Gedanken. Zu viel der Mühe!

Der andere schien den abweisenden Tonfall gar nicht bemerkt zu haben.

»Willst du nicht weitergehen?«, forschte er.

»Was geht es dich an?«

»Es fällt mir einfach auf …«

»Nur so, aus Neugier? Oder von Amts wegen?«

Cecco tat einen Schritt nach vorn, und an seinem Mantel schimmerte das Abzeichen der Stadtwache. Er war mindestens einen Kopf größer als Vanga und blickte ganz beiläufig über seinen Anverwandten hinweg auf die Vorübergehenden.

»Was von beidem wäre dir denn lieber?«

Inzwischen war es fast hell in den Gassen.

Nichts, was du tun könntest, ist mir recht, dachte Vanga. Außer, du hängst dich auf. Aber ehe er sich entschloss, etwas Derartiges zu äußern, redete schon wieder der andere.

»Nun also – ein erhebendes Schauspiel! Du willst doch nicht darauf verzichten?«

Vanga hatte tatsächlich erwogen umzukehren, aber er hatte nicht die Absicht, sich deswegen ausfragen zu lassen.

»Ein Mensch wird sterben«, sagte er. »Das ist nichts Beson-

deres.«

Cecco holte empört Luft. »Er ist ein Ketzer, und er kriegt die gerechte Strafe.«

Vanga kehrte ihm den Rücken zu und ging langsam weiter. Es ärgerte ihn ein wenig, dass es so wirken mochte, als geschehe es auf fremden Willen hin. Aber in Wahrheit war ihm auch das nicht besonders wichtig. Eher störte ihn, dass Cecco ihm folgte und wie selbstverständlich neben ihm Schritt fasste. Vanga blickte ärgerlich empor. »Du glaubst an Gerechtigkeit? Ist das dein Ernst?«

»Ich vertrete die Gerechtigkeit!«

Vanga deutete eine Verbeugung an. »Oh ja. Wie konnte ich das vergessen, tenente?«

Er betonte den Dienstrang, der die stellvertretende Funktion kennzeichnete. Wusste doch jeder, dass Cecco sich gern capitano titulieren ließ, seit sein Vorgesetzter auf dem Krankenbett lag. Aber es war keine Wirkung zu erkennen.

»Höre ich da etwa Spott?«, kam es herablassend zurück. »Von einem wie dir?«

»Ich hab noch nie einen betrogen, der sich mir anvertraut hat.«

Cecco griff nach Vangas Kragen und hielt ihn fest. »Du mieser kleiner Schnüffler«, zischte er. »Steckst deine schiefe Nase in jeden Dreck, und für Geld tust du alles!«

»Genau das stimmt nicht«, konterte Vanga und stieß die Hand des anderen weg. »Nicht für mich!«

Cecco verstand und blieb stehen. »Ich muss dich in Zukunft wohl besser im Auge behalten«, rief er.

Vanga tat, als habe er es nicht gehört.

Doch einem Mann, der eben vorbeitappte, war der Wortwechsel nicht entgangen. Er beugte sich zu Vanga und flüsterte: »Bläst sich auf wie der Frosch in der Fabel. Pass auf, wenn er platzt!«

Eine massige Gestalt in Lumpen, ein strahlendes Gesicht mit einer großen dicken Nase.

»Ach, Ihr seid es, Bugiardone!«

»In Person, mein Freund! Lasst Euch nicht einschüchtern von der sbirraglia!« Es klang wie ein Ausspucken, dieses Schimpfwort für die Polizei.

»Was der sagt, berührt mich nicht.«

»Ach nein? Ist das so? Und mich nennen sie Bugiardone, den Lügner!«

»Ich ganz allein entscheide, wohin ich gehe.« Vanga ärgerte sich, weil er die Gereiztheit in seiner Stimme nicht verbergen konnte. »Und wenn ich es mir anders überlege, dann ist das auch meine Sache.«

Ein Grinsen war die Antwort. Der Bugiardone verschwand in der Menge. Auch der Kommandeur der Stadtwache war nicht mehr zu entdecken.

Vanga ging langsam weiter, nun allein mit dem Aufruhr seiner Gedanken.

Wirklich: Weshalb um alles in der Welt hatte er sich an diesem Morgen aufgemacht? Das bevorstehende Schauspiel war ihm nichts Neues. Im Gegenteil. Eigentlich hatte er mehr Hinrichtungen erlebt, als ein Mensch ertragen konnte. Die Erinnerung verursachte ihm Übelkeit und Zorn. Gern hätte er sie von sich geschoben. Verdammt: Dieses bittere, hilflose Wissen, dass kein Mensch an dem, was er getan hat, jemals etwas ändern kann. Das spöttische Grinsen dieses Kettenhundes hatte sich ihm eingebrannt. War es vielleicht so, dass er Cecco deshalb verabscheute, weil der ihn an seine eigene Vergangenheit denken ließ?

Und daran, dass er einmal anders empfunden hatte …

Vanga schritt eine dunkle Gasse entlang, die leicht anstieg und durch die vorspringenden Obergeschosse ihrer düsteren Häuser, die niedrigen Torwege und die geneigten, bröckligen Mauern etwas Höhlenartiges hatte. In Gedanken verstrickt, wich er gewohnheitsmäßig den stinkenden Pfützen aus und dem Unrat, der in der Gosse aufgehäuft war. Am Ende dieser Gasse lag der Platz, zu dem alle strebten.

Warum gehe ich dorthin?

Vielleicht war es einfach der Wunsch zu sehen, was geschah. Das war besser, als es sich vorzustellen. Dann rückte es aus dem Bereich der dumpfen Vorstellung und des Albtraums ins Tageslicht.

Oder wollte er seinen Mut erproben? Ob er den Anblick solcher Dinge auch heute noch ertragen konnte – oder heute wieder … Was hatte er damals empfunden? Wer war er gewesen?

Und wer war er jetzt?

Es mochte auch mit diesem verhassten Drang, sich selbst zu peinigen, etwas zu tun haben.

Unsinn!, dachte er bitter. Wahrscheinlich genießt du es einfach. So wie jeder andere Scheißkerl. Leben, wenn andere sterben. Willst es bloß nicht zugeben.

Er schreckte auf. Helligkeit umfing ihn. Die Sonne war über die Dächer gestiegen. Die engen Gassen lagen hinter ihm. Er stand auf dem Campo de’ Fiori. Rings um den Platz dunkle, unregelmäßige Bauten, viele alt und immer wieder ausgebessert – keineswegs ein prächtiger Anblick. Eher eine dreckige Lumpengegend, geprägt von den Spuren eines harten Lebens. Dies war das Herz seines Stadtviertels, eines Viertels voll unglaublicher Kontraste: Zwischen Märkten, Werkstätten und Spelunken, inmitten labyrinthischer Gassen und schmutziger Höfe standen Paläste – wie Gebäude aus einer anderen Welt. So der Palazzo Farnese, dessen breite Fassade nun zu seiner Linken über den buckligen Dächern emporragte, aufgemauert wie eine schattige Bergfront. Der gebaute Stolz eines der einflussreichsten Geschlechter von Rom.

Lange her, dass ich mit dergleichen etwas zu tun hatte!

Auf diesem Platz war die Richtstätte. Vanga zögerte, bevor er sich in das Menschengewimmel begab. Da schien kaum ein Durchkommen zu sein. Von der düsteren Stimmung, die er in den Gassen gespürt hatte, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Hier herrschte Gespanntsein. Die Schaulustigen redeten aufeinander ein. Witze wurden gerissen. Müßiggänger hockten auf einer Mauer und machten sich über jeden Vorübergehenden lustig. Ausrufer warben für Wein, Wasser und Gebäck. Ringsum waren alle Fenster besetzt, wahrscheinlich teuer vermietet. Einige junge Burschen hatten sich sogar auf die Dächer gewagt.

Vanga fühlte einen Stein im Magen.

Es war, als bereite man sich hier auf irgendein beliebiges Spektakel vor, eine drastische Komödie oder einen Auftritt von Gauklern und Schaustellern. In fast allen Gesichtern stand die Gier nach Sensation. Eine fiebrige Erregung, die sich in lauten Worten und übertriebenen Gesten Luft machte. Falls es auch Leute gab, die Bangigkeit oder Widerwillen spürten, dann verbargen sie es gut.

Warum gehe ich nicht fort? Noch ist es Zeit.

Aber Vanga kam nicht dazu. Unversehens stand er im Gedränge vor einer jungen Frau, die in einen bauschigen Umhang mit prachtvoller Stickerei gehüllt war. Auf einen Blick erkannte er sie und versuchte durch eine rasche Wendung auszuweichen, doch die Schöne hatte ihn längst bemerkt. Sie hob herausfordernd das Kinn. Ihre Augen blitzten. Es traf ihn wie Messerstiche.

»Ha!«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Du weißt wohl nicht mehr, wer ich bin?«

Diese Zähne leuchteten wie Perlen.

Vanga bekam den Mund nicht auf. Er war viel zu bemüht, seine Verwirrung zu verbergen. Es gelang ihm schlecht.

»Schleichst wohl um mich rum, damit du noch mal was fürs Auge kriegst?«, fragte sie spöttisch. Dabei drehte sie sich nach links und nach rechts, ließ das Umschlagtuch freizügig heruntergleiten, zeigte ihm die schimmernde Haut ihrer Schultern und den Ansatz der Brust.

»Oh – he! Der will das Gedränge benutzen, um mir den Hintern zu tätscheln. Wie? Gib besser Acht! Einen Schritt näher, und es kostet was …«

Ihr Gesicht trug zu viel Schminke, dennoch war es hinreißend. Und dieses funkelnde Lachen hatte ihn immer hilflos gemacht. An all das andere wollte er lieber gar nicht denken.

Sie gab ihm einen spielerischen Streich mit dem Fächer – ein unerwartet heftiger Schmerz. Dann hielt sie das Teufelsding vor ihr Gesicht, wohl berechnend, dass er ihren Busen weiterhin bewundern konnte.

»Lass gut sein!«, gurrte sie. »Ich will nicht mehr, und du willst nicht mehr. Was sollen wir uns quälen?«

Hexe!, dachte er. Erst zustechen und dann Süßholz raspeln. Wiegst einen in Sicherheit und dann – zack! – die nächste Wunde.

Ein Kuss in die Luft von ihrem viel zu roten Mund.

Er trat einen Schritt zurück und fand genug inneres Gleichgewicht, dass er murmeln konnte: »Du hast Recht. Also spreiz dich nicht so!«

Trotzdem. In seinen Gedanken war Aufruhr. Warum nur, zum Teufel? Es stimmte doch. Er wollte sie nicht mehr, wenn auch der Bruch von ihr ausgegangen war. Deshalb konnte es ihm doch gleichgültig sein!

Während er sich das sagte, griff von der anderen Seite her eine knochendürre Hand nach ihm und packte seinen Ärmel.

»Na, na, bell’ Olimpia«, raspelte eine trockene Stimme. »So früh schon auf Fang aus? An so einem Tag? Schäm dich, hihi! Du solltest ehrenwerte Männer in Ruhe lassen!«

»Pah! Ehrenwerte Männer!«

Sie streckte hingebungsvoll die Zunge heraus, und selbst das durchbohrte Vanga das Herz wie glühende Nadeln. Er versuchte den festen Griff des hageren Mannes abzustreifen, aber der packte ihn darauf nur noch fester.

Olimpia zog beleidigt ihr Tuch um sich und wandte sich zu einem jungen Mädchen an ihrer Seite, das weitaus einfacher gekleidet war.

»Schau sie dir an, Ginetta! Solchen Kerlen geht man besser aus dem Weg. Der da ist ein nichtswürdiger Drecksack.« Sie zeigte auf Vanga. »Und der Alte da, dieses bocksbeinige Gerippe, der hat den Geruch des Satans an sich!«

»Hüte deine Zunge!«, zischte der Geschmähte zurück. »Magister Pandolfo, Bibliothekar im Dienste der Santa Ecclesia, erkennt eine Hexe, wenn er eine sieht!«

Damit zerrte er Vanga beiseite, und zwar mit einer Kraft, die man seiner dürren Gestalt gar nicht zugetraut hätte.

Verdammt, warum lässt er nicht los? Vanga wünschte den Kerl zur Hölle. Und nicht nur ihn. Waren an diesem Tag denn alle, denen er nicht begegnen wollte, hinter ihm her wie eine Hundemeute? Und jeder legte es darauf an, ihm einen Stich zu versetzen.

Warum, zum Teufel, ließ man ihn nicht in Ruhe?

Ein Trupp Tagediebe aus Trastevere schob sich gewaltsam vorbei, und schon war Olimpia mit ihrer Begleiterin nicht mehr zu sehen. Vanga ging durch den Kopf, was er ihr hätte sagen sollen und wie üblich nicht herausgebracht hatte. Pandolfo hingegen war nicht auf den Mund gefallen.

»Sie hat eine geschickte Zunge«, konstatierte er grinsend. »Auch dann, wenn sie damit redet, hihi. Frech wie eh und je! Aber ihre kleine Schwester! Hast du die gesehen? Verflixt, die ist kein Kind mehr. So werden alle älter. Jeder. Selbst ich!«

»Ach, lasst mich doch los!«, knurrte Vanga und stieß die Krallenhand von sich. »Jedes Mal, wenn ich Euch begegne, seid Ihr närrischer.«

»Schon gut, hihi. Du solltest froh sein, dass ich dich vor den Sirenen gerettet habe.«

Sie waren jetzt fast in der Mitte des Platzes, und Vanga schluckte seinen Ärger herunter. Heute war kein Markt. Eine sandige Fläche, von der unzählige Füße Staub aufwirbelten. Die Morgensonne überstrahlte alles. Sie leuchtete auf Ziegel und Putz, so dass man beinah vergaß, wie schäbig die Stadt wirklich war. Noch einmal sprang Vangas Blick zum Palazzo Farnese hinüber.

Ein herrschaftlicher Katafalk. Wenn auch mitten auf einer Müllhalde. Was für eine Demonstration!

Kein Zweifel: Gegen die Farnese waren die Aldobrandini nur Emporkömmlinge, stellten aber den Papst! Früher einmal eng verbündet, jetzt erbitterte Feinde. Böses Blut ohne Ende!

Der Platz wimmelte von Menschen. Alle Rangstufen, jedes Alter und mancherlei Geschlecht. An einigen Stellen war das Gedränge so dicht geworden, dass ängstliche Personen fürchteten, zerquetscht zu werden. Man hörte Flüche und Geschrei. Dann ertönten Posaunen, und eisige Stille fiel über die Menge. Ein bleiernes Schweigen, wie es dem Anlass des Zusammenströmens angemessen war. Nur Pandolfo, der sich an Vangas Rockschoß geklammert hatte, konnte den Mund nicht halten.

»Wenn das Lamm das siebente Siegel zerbricht …«, winselte er bedeutungsvoll.

Erst jetzt kam Vanga dazu, sich die Szenerie genauer anzuschauen. Da stand der Schandpfahl, drohend aufgerichtet über dem düsteren Gefüge des Scheiterhaufens. Daneben erhob sich eine hölzerne Tribüne, umstellt von Wachsoldaten im Harnisch, mit bunten Fahnen und wehenden Federbüschen auf dem Helm. Die blanken Hellebarden hatten sie einschüchternd aufgepflanzt.

Man fürchtet Unruhe, dachte Vanga. Mag sein, dass man Grund dazu hat.

»Längst nicht jeder ist einverstanden mit dem, was sie da tun«, raunte Pandolfo, als hätte er Vangas Gedanken erraten.

»Haltet Ruhe!«, presste Vanga hervor.

Obwohl der Bibliothekar seine Stimme zu dämpfen glaubte, verbreitete er immer noch eine Lautstärke wie die eines krähenden Gockels, die man in weitem Umkreis vernehmen konnte. Wenn er doch endlich schweigen wollte! Zur Sicherheit gab Vanga dem Alten einen kräftigen Rippenstoß.

Pandolfo zischte wütend, aber wenigstens schwatzte er nicht weiter.

Da also war die Bühne. Aber das Schauspiel hatte noch nicht begonnen. Vanga reckte den Hals. Die Würdenträger der Kirche und der Stadt hatten schon ihre Plätze eingenommen. Da konnte das Warten nicht mehr lange dauern.

»Die Eminenzen vom Heiligen Offizium«, säuselte der Bibliothekar und wappnete sich gegen einen erneuten Knuff, der jedoch ausblieb. Gemeint war vor allem Kardinal Santerra, dessen Gestalt durch die selbstbewusste Haltung ins Auge fiel. In strengem Ornat und stets unübersehbar. Bei der Inquisition führte er ein großes Wort, wie manche sagten. Und das, obwohl er nicht viel zu reden pflegte und keine offizielle Funktion besaß. Das herrische Wesen dieses Mannes drückte sich in jeder Bewegung aus. Seinem Blick hielt niemand lange stand. Dennoch … Vanga hätte den Kirchenfürsten gern von näher bei betrachtet. Ob es da nicht etwas gab in seinem Gesicht, das geheime Unsicherheit verriet? Vielleicht ein unwillkürliches Zögern oder ein kaum merkliches Zucken um den Mund? Vanga kannte ihn nur allzu gut. Er hatte schon mehr als einem dieser Herren des hohen Klerus von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und einige von ihnen hatten seine Dienste in Anspruch genommen. Nicht immer in Angelegenheiten, die das Licht des hellen Tages vertrugen. Er wusste genau, dass hinter solchen herrschaftlichen Masken bisweilen Gefühle ganz anderer Art verborgen waren. Und was Seine Eminenz dort betraf …

Vanga wehrte alle Erinnerungen ab, die sich hervordrängen wollten.

Es ist lange her, dass mir der zu befehlen hatte!

Aber ganz konnte er die Bitternis nicht unterdrücken.

Hat es weit gebracht!

Ob es wohl stimmte, dass dieser machtgierige Charakter sich Chancen auf den Thron Petri ausrechnete? Das heißt: für den Fall, dass Seiner regierenden Heiligkeit etwas zustoßen sollte – was durchaus vor der Zeit wäre, denn Clemens VIII. Aldobrandini stand erst vor seinem vierundsechzigsten Geburtstag. War das etwa ein Alter für einen Papst?

Nun, zweifellos hatte mancher Kirchenfürst Appetit auf das Erbe. Aber Santerra? Seine Familie stammte aus Spanien. Doch das war kaum ein Hindernis. Galt es nicht auch für die Aldobrandini? Und man denke an die Borgia! Dennoch gab es andere mit älteren Rechten. Ob wohl Kardinal Madruzzo ein weiteres Mal sein Glück versuchen und endlich eine Chance bekommen würde?

Was zerbrech ich mir den Kopf?, dachte Vanga. Schwierige Zeiten! Aber ich hab andere Sorgen.

Auch Madruzzo war zugegen. Er hatte etwas weiter entfernt Platz genommen. Als Kardinal-Inquisitor wurde ihm besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Aber wie lange noch? Ein alter Mann, dessen Kräfte verbraucht schienen. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Dennoch war er zweimal – oder war es dreimal? – im Konklave als aussichtsreicher Kandidat gehandelt worden. Zuletzt noch 1592. Allerdings: Er war von deutscher Herkunft, und das betrachteten viele als Grund für sein abermaliges Scheitern.

Na und? Gerüchte! Besser, sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen.

Dort thronte Kardinal Crispiani in seiner Sänfte, Spross einer hochberühmten Familie, ein Mann mit einem Körper, der zunehmend aus den Fugen geriet – und mit einem Gesicht, das von sinnlicher Gier gezeichnet war. Er hatte Vanga vor ein paar Jahren mit einer Aufgabe betraut, die über simple Ermittlungen weit hinausgegangen war. Das war dem hohen Herrn eine beachtliche Summe wert gewesen. Vanga erinnerte sich gut. Das Geld hatte er nie gesehen. Und nach Erfüllung des Auftrags hatte er es für besser gehalten, einige Zeit aus der Stadt zu verschwinden. Manchmal ist es nicht gut, wenn man über die Machenschaften hoher Herren allzu gut Bescheid weiß. Und der da ist einer, der viel zu viele Fäden in der Hand hält!

Da, eben steckte seine Eminenz einem Pagen aus dem Gefolge etwas zu. Aha, ein Brief. Suchend ging der erlauchte Blick über die Menge. Und wohin? Wer stand da und nickte verständnisinnig Antwort? Niemand anders als Olimpia.

Es hätte Vanga gewiss erstaunt, wenn er nicht längst dies und das darüber gewusst hätte. Der fette, alte Sack! Ob er den Prügel wirklich noch hochbekam?

Nun, ja. Es kann ziemlich gefährlich sein, etwas zu wissen, vor allem, wenn es nur wenig ist. Ein ausreichender Einblick hingegen ist beinahe das Unterpfand für ein langes Leben. Vorausgesetzt natürlich, man hat Beweise für seine Kenntnisse und man deponiert sie so, dass niemand Zugang dazu hat, solange man wohlauf ist, aber auch mit der Gewissheit, dass alle Welt ins Bild gesetzt wird, sollte einem etwas zustoßen. Diese Kunstgriffe waren Vanga vertraut, aber ihr Erfolg machte ihn niemals froh.

»Es heißt, Seine Heiligkeit werde selbst erscheinen!«, drängte sich erneut die rasselnde Stimme des Alten auf.

»Der Papst? Seid Ihr sicher?«, entfuhr es Vanga. Der Heilige Vater, der Statthalter Gottes – Vanga hielt es für ausgeschlossen, dass der sich bei diesem Anlass zeigen werde. Papst Clemens, der von seinen Gegnern als frömmelnder Prinzipienreiter ge-

schmäht wurde, liebte die Öffentlichkeit nicht, das war bekannt. Und dann an einem solchen Tag …

Wie war es denn gewesen, als man die schöne, junge Cenci auf das Blutgerüst führte? Lange war das weiß Gott noch nicht her! Es hieß, da habe Seine Heiligkeit im Lateran gekniet und zur Rettung ihres Seelenheils gebetet. Aufs Stichwort – sobald ihm gemeldet wurde, dass ihr Kopf gefallen war. Als wäre nicht gerade er es gewesen, der auf das Todesurteil gedrängt hatte!

Vanga staunte über sich selbst, dass er so leidenschaftslos daran denken konnte.

Aber es schmerzte dennoch, und er schob das alles von sich. Punktum.

»Ich seh ihn nicht …«, murmelte er.

Allerdings hatte man keinen freien Blick. Die Soldaten rückten zusammen, und ihre Federbüsche verdeckten große Teile der Tribüne.

Der Bibliothekar hatte gar nicht hingehört. Er redete schon wieder: »Zuletzt ging alles Schlag auf Schlag. Santità hat den Befehl gegeben, den Prozess endlich abzuschließen. Und zwar schnell. Die Sache wurde allmählich peinlich. Und das im Heiligen Jahr! Vor allem: Ein wirkungsvolles Exempel, hihi … Fiat iustitia! Gerechtigkeit muss sein! Der schmutzige Rest ist dann – wie immer – eine Sache der weltlichen Behörden.«

Ohne Pause sprang Pandolfo zu einem anderen Thema. »Der da, Söhnchen, kennst du den in dem Tragstuhl, den mit den beiden Mohren? Navarro ist das. Der Sekretär des Kardinals.«

»Welches Kardinals?« Die Frage war spöttisch gemeint, denn die Antwort war ihm nur zu gut bekannt.

Aber Pandolfo war völlig unempfänglich für solche Finessen.

»Santerra selbstverständlich! Weißt du nicht, wer mein Dienstherr ist? Deshalb bin ich doch so gut im Bilde.«

Er war auch einmal meiner, dachte Vanga. Das scheint Ihr nicht zu wissen. Aber er murmelte: »Gewiss, gewiss. Übrigens: Ich bin nicht Euer Sohn.«

»Hihi. Könntest es aber leicht sein! Man sieht ihn selten in der Öffentlichkeit, Navarro, mein ich!«

Ein kluger Kopf. Scharfes Profil. Zwei schwarze Träger und ein hünenhafter Diener neben ihm.

»Weiß die Karten zu zinken! Auch wenn er ein Krüppel ist!«

Dazu hätte Vanga nun doch Fragen gehabt, aber Pandolfo schüttelte abweisend den Kopf.

»Jetzt gib Acht, Söhnchen. Red nicht so viel, verdammt noch mal!«

Plötzlich ging Unruhe durch die Menge. Eine große, dicht gedrängte Gruppe von Männern in Kutten war an der Richtstätte erschienen, die Confraternità von San Giovanni decollato, die Bruderschaft, der traditionsgemäß die Betreuung der zum Tode Verurteilten oblag. Und da, in ihrer Mitte, war der Delinquent. Ein mittelgroßer, magerer Mann, der mit langsamen Schritten vorwärtstappte. Er wirkte blass und erschöpft, hielt sich aber straff und trug den Kopf krampfhaft erhoben. Er war in ein Gewand aus grobem Leinen gekleidet, und seine Hände schienen gefesselt zu sein. In kurzem Abstand war ein Kordon von Wachen aufmarschiert.

»Da ist er ja …«, flüsterte der Bibliothekar. »Ecco! Schau ihn dir an!«. Er schielte argwöhnisch über die Schulter und wirkte plötzlich, als hätte er Sorge, man könne ihn belauschen.

Vanga achtete nicht weiter auf ihn. Er beobachtete, was auf dem Podium geschah. Vor allem galt seine Aufmerksamkeit dem Verurteilten.

Der wirkte seltsam unbeteiligt. Sein Blick ging über die Köpfe der Menschen hinweg, ohne erkennbar innezuhalten. Vanga kannte diesen Gesichtsausdruck.

Schon jetzt getrennt von aller Welt, dachte er.

Der Bibliothekar beugte sich zu ihm, so dass er dessen Knoblauchatem zu spüren bekam. »Ob sie ihm ein Mittelchen gegeben haben? Du weißt schon …«

Ja, Vanga wusste, was gemeint war. Aber er war sich nicht sicher. Da war trotz allem so viel Willen in dieser Gestalt.

»Man hat natürlich keine Lust, einen Helden aus ihm zu machen«, wisperte es neben ihm. »Auch kein erbärmliches Opferlamm, das jeden zu Mitleid bewegt. Bewahre, hihi! Genehm wär ein reuiger Sünder. Exemplum poenitentiae. Aber wenn er der Mann ist, für den ich ihn halte …«

Vanga fühlte sich jählings angewidert von dem geschwätzigen Kerl. Das senile Kichern war ekelhaft, und diese vielsagende Art, einen Satz abzubrechen, hatte noch nie so penetrant auf ihn gewirkt.

»Schweigt endlich still!«, raunte er.

Doch der andere gab keine Ruhe. »Jetzt singen sie wieder. Hör nur! Sind eifrige Leute und geben sich Mühe. Sollen nur Acht geben, dass sie nicht, na ja, unversehens einen Märtyrer … Hihi! Wenn du verstehst, was ich meine …«

Vanga hätte gern Pandolfos Gurgel in den Griff genommen.

Pandolfo sog die Luft durch seine lückenhaften Zähne ein. »Ein langer, langer Prozess«, raunte er dann. »Und er hat nicht bereut! Ein halsstarriger Mensch!« Diese Worte klangen beinahe respektvoll. »Sie wollten, dass er widerruft! Natürlich! Seine Ketzereien machen Furore in aller Herren Länder, und seine Schmähverse werden in den Gassen gesungen. Du kennst sie, nicht wahr?«

Vanga nickte abgelenkt. Wenn der Alte nur nicht auch noch darauf verfiel, diese Verse zu zitieren!

Man führte Giordano Bruno zum Schandpfahl. Er setzte wie mechanisch einen blanken Fuß vor den andern. Die Bretter waren rau, und gewiss stachen Splitter in die Sohlen. Er schien nichts davon zu spüren. Er stolperte. Grobe Fäuste packten zu; halb stützten sie ihn, halb schoben sie ihn vorwärts. Die Henkersknechte waren offenbar unruhiger als der Delinquent. Die kurzen, harten Worte, die zwischen ihnen gewechselt wurden, verrieten ihre Anspannung. Häufig blickte einer rasch in Richtung der Menschenmenge, die fast reglos und wie gebannt den Kordon der Wachtposten umdrängte und den Platz bis in die entferntesten Winkel füllte. Unmissverständlich lag etwas Drohendes in dieser Stille.

Pandolfo reckte den Hals wie ein dürres Huhn. »Sie haben sich redlich Mühe gegeben drüben, im Gefängnis Torre di Nona.«

»Hat man ihm etwa die Zunge …?«

»Nein. Meines Wissens nicht. Aber geknebelt ist er, siehst du? Respekt. Unauffällig gemacht.«

Welche Erinnerungen! Vanga brach der Schweiß aus.

»Wollt Ihr nicht endlich schweigen!«, knurrte er.

»Du hast mich doch gefragt!«

Dem Todgeweihten wurde das Gewand von den Schultern genommen. Aber er war so von den Kuttenträgern umdrängt, dass man nicht viel erkennen konnte. Da hatten sie ihn schon auf dem Scheiterhaufen festgebunden. Die Stricke schnitten ins Fleisch, und sein Gesicht verzerrte sich. Blut floss an der Schulter. Die Beine gaben unter ihm nach. Alles ging nun sehr schnell.

Die Menge war noch unruhiger als zuvor. Aber sie verharrte in unbehaglichem Schweigen. Nur hier und da hörte Vanga ein heimliches Murren oder Schluchzen.

Der Bibliothekar räusperte sich und wollte wieder etwas sagen. Doch Vanga bedachte ihn mit einem Blick, der ihn verstummen ließ. Er tat nun beleidigt. Statt zu reden, rieb er sich den faltigen Hals und bewegte lautlos die Lippen. Vanga glaubte das Wort »unbußfertig« zu vernehmen.

Die Phalanx der Kutten öffnete sich für einen Augenblick. Der Verurteilte schwankte, hielt sich jedoch aufrecht. Oder vielmehr taten es die Stricke. Ein Priester, blass auch er, sprach auf den Todgeweihten ein. Ob der Delinquent ihn überhaupt hörte?

Die Offiziere der Garde und die kirchlichen Würdenträger präsentierten sich selbstgewiss, und dennoch schienen sie sich unbehaglich zu fühlen. Vanga konnte Kardinal Mandruzzi erkennen. Seine Eminenz blickte von Zeit zu Zeit auf die Menge und zwinkerte mit den Augen.

Also doch!, dachte Vanga. Wenigstens eine Regung.

Kardinal Santerra hingegen zeigte die hochfahrende Miene, die seine Umwelt von ihm gewöhnt war. Er zog sich die roten Handschuhe glatt und streichelte einen goldenen Siegelring, den er über der Seide trug.

Den Sekretär, der in seinem Tragestuhl kauerte, konnte Vanga nur zeitweilig sehen, wenn die Federbüsche der Wachsoldaten zur Seite wehten. Sein Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase wirkte völlig ungerührt. Nur Kardinal Crispiani war Schwäche anzumerken. Er blickte angewidert zur Seite und hielt sich dezent ein weißes Schnupftuch vor Nase und Mund.

Nicht jeder kann der Wahrheit ins Auge blicken – und den Dingen, für die er Verantwortung trägt. Vanga dachte es mit Bitterkeit.

Da kam das erwartete Zeichen!

Gleich mehrere Henkersknechte traten vor, und jeder stieß eine Pechfackel in die mit Stroh und trockenem Reisig gefüllten Hohlräume des Holzstoßes. Im Nu war dieses Zeug in Brand gesetzt. Gewiss hatte man auch Öl darüber gegossen. Die Flammen fauchten. Schnell loderten sie empor, und trotz des leichten Windes war die Gestalt des Opfers bald in dicken Rauch gehüllt. Von Zeit zu Zeit aber öffnete sich dieser Vorhang und gab den Blick auf den schlaffen Körper frei, der sich noch einmal anspannte und qualvoll aufbäumte. Die wabernde Lohe schlug an den Gliedern empor. Das Ende war nahe.

Was geschieht jetzt?

Ein silbernes Kreuz wurde auf die Spitze einer eisernen Stange gesteckt und dem Sterbenden vors Gesicht gehalten, damit er es küsste. Giordano Bruno jedoch, vom Todeskampf geschüttelt, drehte den Kopf zur Seite – in einer Geste unendlicher Müdigkeit und Verzweiflung. Kurz darauf verzerrten sich die Züge noch einmal, und grässlich wand sich der Körper in der Ekstase des Schmerzes.

»Habt Ihr das gesehen?«, wisperte der Bibliothekar schaudernd. »Das Kreuz zurückgewiesen! Dabei ist er durchaus kein Gottesleugner – äh – nach allem, was ich gehört habe …«

Ringsum brach Unruhe aus. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Wachen rückten dichter zusammen.

Pandolfo bekreuzigte sich und murmelte etwas, das so klang wie: »Geh in Frieden, Pippo.«

»Was war das?«, fragte Vanga. »Wie nennt Ihr ihn?«

»Filippo, sein Taufname. Wusstest du das nicht? Wir stammen beide aus Nola …«

»Dann habt Ihr ihn also näher gekannt?«

Keine Antwort.

Der Wind trieb den Rauch in dicken Schwaden über den Platz. Die Menge wich zurück. Viele Gesichter verrieten Ekel und Betroffenheit.

Auch Abwehr? Empörung? Oder stillen Zorn?

Jemand rief etwas. Es klang wie: »Mörder!«

Keiner schien zu wissen, woher der Ruf gekommen war. Die Wachen spähten ratlos umher. Spannung und Trotz drückten sich in ihrer Haltung aus, vielleicht sogar Angst. Sie taten wohl eher nur ihre Pflicht, als dass sie mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen wären. Nur wenige Menschen in Rom waren von der Notwendigkeit dieses Brandopfers wirklich überzeugt. Hatte es nicht sogar bei der Geistlichkeit kritische Stimmen gegeben? Die Würdenträger harrten auf ihren Plätzen aus, bemüht, jedes Zeichen von Gemütsbewegung zu unterdrücken. Aber viele waren bleich geworden, und einige verbargen die Gesichter gänzlich hinter ihren

Schnupftüchern.

Gott steh uns bei!

Über die Menge war eine bleierne Lähmung gefallen, und der Qualm verfinsterte den Himmel.

Warum um alles in der Welt bin ich hier? Vanga wandte sich ab. Hätte er nicht wissen müssen, dass es seine Kraft übersteigen würde?

Oder war es womöglich gerade das, was er hatte prüfen wollen?

Die Vergangenheit ist nicht tot, dachte er. Dafür hatte er jetzt den Beweis.

Er ließ Pandolfo stehen. Es war eine Flucht. Er stieß sich den Weg frei. Die meisten, die er anrempelte, schienen es kaum zu bemerken.

Dann hatte er eine Gasse erreicht, die zum Tiber führte. Und da war das Mädchen. Die Kleine, die bei Olimpia gestanden hatte. Die Schwester.

Auch sie hatte dem Schauspiel den Rücken gekehrt. Sie kauerte auf dem Boden und lehnte den Kopf an die Mauer. Grau wie Feuerstein. Als Vanga näher kam, zog sie ihr Schultertuch um sich. Sie zitterte.

»Was ist mit dir?«, fragte er. Seine Stimme war rau. »Kann ich dir helfen?«

Sie blickte auf und schüttelte den Kopf, die Augen voller Tränen.

Vanga zögerte. Dann wandte er sich ab. Schroffer, als er beabsichtigt hatte.

Sie ist der Schwester sehr ähnlich, dachte er. Sie ist hübsch. Selbst in diesem Augenblick.

Aber was kümmert es mich?

Langsam ging er davon, ohne ein Ziel zu haben. Der Tumult in seinem Kopf wich nach und nach einer dumpfen Betäubung. Konträre Dinge kamen ihm in den Sinn. Eine sinnlose Folge unverbundener Gedanken. Was hatte dieses Mädchen bloß darin zu suchen?

Der Schmerz in ihren Augen, der hatte ihn verwirrt.

Aber auch der ging ihn nichts an.

Mach dir nichts vor!, dachte er. Die ist nichts für dich. Sie hat dich so gesehen, wie du bist: ein Kerl, der nach nichts aussieht, alt genug, dass über der Stirn die Haare schütter werden, und mit einer Nase, die so geknickt ist, dass fragende Blicke daran hängen bleiben.

Wütend spuckte er aus und trat nach einem Stein, der in seinem Weg lag.

Heute Abend würde er sich betrinken. Nach allen Regeln der Kunst.

Gina fröstelte im beißenden Wind. Krampfhaft schlug sie das Schultertuch um sich und zog einen Zipfel vors Gesicht, um den Staub nicht einatmen zu müssen, der vom Pflaster aufwirbelte. Der Schrecken saß ihr immer noch im Leib. Wie ein fester Knoten fühlte sich ihr Magen an. Wie ein Stein. Oder ein Klumpen Eis, der sich nicht auflösen wollte. Das Erbrechen hatte ihr keine Linderung verschafft. Die Übelkeit dauerte an. Nur der Schwindel im Kopf wurde mit der Bewegung des Gehens langsam erträglicher.

Die Szene auf dem Richtplatz wollte ihr nicht aus dem Sinn. Diese einsame Gestalt, zerstört und doch nicht völlig gebrochen.

Warum hatte er nicht gestanden? Einfach zugeben. Abschwö-

ren! Sie hätte alles gesagt und alles getan, nur um diesen Weg nicht gehen zu müssen. Und jeder, den sie kannte, dachte genauso.

Was für ein Dämon hatte den armseligen Kerl beherrscht? Welcher Teufel der Verstocktheit? Ein Geist mutwilliger Zerstörung. Oder war es nur um ganz persönlichen Eigensinn gegangen? Widerspruchsgeist? Trotz? Madonna!

Der Druck in ihrer Brust war so stark, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie wollte alles vergessen. Und warum musste jeder um sie herum davon reden und von nichts anderem? Die Leute, die vom Richtplatz zurückkamen, auch wenn sie nur einen Blick aus der Ferne gewagt hatten, und selbst solche, die gar nicht da gewesen waren. Sie alle drängten sich an den Kirchenstufen oder in den Arkadengängen, in Nebengassen und Höfen. Ihre Stimmen erzeugten ein stetiges Murmeln und ein aufgeregtes Schwirren wie von einem Vogelschwarm, der blindlings umherflattert.

»Sie sagen, man spürt es gar nicht. Das Feuer betäubt alle Sinne, so dass sie nichts mehr wahrnehmen.«

»Habt ihr gesehen, wie sie ihn gepeinigt hatten? Die Arme waren so gebrochen, dass die Knochensplitter sich durch die Haut gespießt haben!«

»Habt Ihr das wirklich gesehen?«

»Selbstverständlich!«

»Ich nicht.«

»Das Sacrum Officium, die Inquisition. Die foltert. Weiß doch jeder. Für die ist das eine Kunst wie andere Künste!«

»Ach was, der Ketzer hat nur bekommen, was er verdien-

te.«

»Überhebliches Schwein! Hol ihn der und jener!«

»Und warum hat er nicht widerrufen?«

»Immerhin: Mut hat er gehabt!«

»Zu Christus hat er gebetet, als sie ihn vorbeiführten. Ich hab’s mit eigenen Ohren gehört.«

»Unsinn! Den Kopf hat er weggedreht vorm Kruzifix – weggedreht! –, als sie’s ihm hingehalten haben.«

»Wie schrecklich! Das bedeutet ewige Verdammnis.«

»Ein Teufelsbraten, hehe!«

An der Brücke nach Trastevere hinüber wurde der Menschenandrang so dicht, dass Gina nur langsam vorwärtskam. Nach und nach fiel ihr auf, dass in den Stimmen der Menschen nicht nur Sensationsgier und Unruhe zu spüren waren, sondern auch Empörung – und Angst.

»Wie konnten sie das wagen im Heiligen Jahr! Was hat er denn getan? Es heißt, mit keinem Wort hat er Gott geleugnet!«

»Aber die frevelhaften Ideen …«

»Ach was! Du weißt es doch so gut wie ich: Er hat die Kirche kritisiert. Nicht zu knapp – da liegt es! Und er hat – hör zu! –, er hat sogar über den …«

»Sssst! Sag es nicht. Du weißt doch selbst …«

»Unsinn! Wer soll’s denn hören?«

»Was redet sie da, die alte Hexe? Nehmt euch in Acht vor dem Verderber!«

»Nichts sag ich, gar nichts! Was wollt Ihr von mir?«

Gina stand vor einem glatzköpfigen Mann, der etwas erklärte, ohne zu merken, dass sein Gegenüber sich von ihm abgewandt hatte und in der Menge verschwunden war, so dass er ins Leere redete.

»Wenn das Feuer brennt«, dröhnte er, »wenn es richtig brennt und der Kopf im Feuer liegt, dann – weißt du was? –,

dann platzt der Schädel wie eine Eierschale und das Hirn kommt wie Brei …«

Entsetzt versuchte Gina diesen Worten zu entrinnen, aber es war schon zu spät. Ein Sturzbach schoss ihr aus dem Magen herauf, bittere Galle. Sie kauerte sich in den Rinnstein, bis die Krämpfe nachließen. Der Kopf dröhnte wie eine Trommel. Dass dies Gerede um sie her nicht aufhörte! Sie raffte sich auf, rannte blindlings davon und hielt sich die Ohren zu. Erst ein paar Gassen weiter verharrte sie, weil ihr Herz zum Zerspringen klopfte.

Ich bin in Trastevere, gewahrte sie und atmete auf. Hier war sie zu Hause und fühlte sich geborgen. Aber auch hier konnte sie dem Redeschwall der aufgebrachten Menschen nicht entgehen.

»Der Satan persönlich!«, schallte die Stimme einer alten Vettel, die selbst aussah wie eine Hexe. »Was für Zeiten!«

Ging es schon wieder um die Hinrichtung?

»Den Kopf ab!«, zeterte die Alte. »Das ist gar nicht so leicht, sag ich dir. Und mit einem Schlag!«

Gina stutzte. Da war nicht von Giordano Bruno die Rede, sondern von etwas anderem. Oh! Sie ahnte, was es sein musste, und davon wollte sie erst recht nichts hören. Aber gleichzeitig konnte sie nicht widerstehen. Gab es etwas Neues über jene grässlichen Untaten, die seit Wochen die Gemüter bewegten? Über den Hurenmörder, das Ungeheuer, das sie Satans Schwarzen Engel nannten …

»Die Behörden schweigen alles tot«, konstatierte die schrumpelige Frau mit ihrem durchdringenden Organ. Das mochte stimmen, aber umso mehr zerriss sich alle Welt das Maul.

»Der Satan ist versessen auf Blut!«, gellte es von einem Fenster herab.

Und die dröhnende Stimme eines Lastträgers setzte dagegen: »Am Corso gehen die Mädchen nicht mehr alleine auf die Straße. Wenn du eins willst, musst du mindestens zwei nehmen.«

Sein Nachbar stieß ihn mit dem Ellenbogen und erklärte: »Wenn’s für den Preis von einer ist, soll’s doch recht sein!«

Die beiden Männer prusteten vor Lachen, und die Frauen, die sie beiseitegedrängt hatten, erhoben ein empörtes Protestgeschrei.

Gina fürchtete, auf der Stelle zusammenzubrechen; alles drehte sich vor ihren Augen. Was für ein schrecklicher Tag! Mit wankenden Knien taumelte sie davon, eine Hand an die Mauer gestützt.

Kalter Regen stäubte jetzt nieder. Die Straßen leerten sich rasch. Gina näherte sich mit unsicheren Schritten der heimatlichen Gasse bei Santa Cecilia. Da waren schon die wohlbekannten Werkstätten der Schuster und Schneider. Viele zugesperrt, vermutlich weil der Inhaber zum Richtplatz gepilgert war und anschließend die Gelegenheit nutzte, sich haltlos zu betrinken.

»Er ist in den Reben des Herrn«, pflegte man im Viertel zu sagen. Gina war froh, dass hier kaum noch Leute um sie waren, und die Stille erleichterte es ihr, die furchtbaren Bilder und die scheußlichen Gedanken loszuwerden.

Da waren die Bäckerläden, wo es aus Mangel an Mehl kaum noch etwas zu kaufen gab, und wenn überhaupt, dann zu maßlos überhöhten Preisen. Gewiss, Korn war alle Jahre knapp in Rom, besonders gegen Ende des Winters, aber diesmal zeichnete sich eine echte Katastrophe ab. Wer konnte sich das wenige, was es an Brot gab, noch leisten? Es war abzusehen, dass die Stadt bald Hunger leiden würde. Und was dann? Auch dies war eine düstere Perspektive, aber Gina dachte lieber an die Getreidenot als an jene anderen Schrecken … Es war besser, Wut zu empfinden als Furcht und Grauen. Und zur Wut bestand Anlass! In den Straßen munkelte man, der Papst in seinem Palast wisse nichts von dieser Bedrängnis. Die Günstlinge und Nepoten seien raffiniert genug, seiner Heiligkeit die Missstände zu verheimlichen. Wenn nicht sogar sie diejenigen waren, die Vorräte aufgekauft hatten und zurückhielten, damit die Preise stiegen. Oder in deren Taschen die Hilfsgelder verschwanden, die das Elend der Ärmsten lindern sollten.

»Es müsste mal jemand dem Heiligen Vater die Wahrheit sagen«, hörte man hier und da. Vor wenigen Tagen hatte Gina geträumt, sie sei es, die sich ein Herz fasste, eben dies zu tun. Aber sie wusste nur zu gut, dass sie dergleichen niemals wagen würde; und selbst wenn sie den Mut aufbrächte – wie die Bauernmagd im Märchen –, würde man jemals eine wie sie zur Pforte hereinlassen, so dass sie bis an den Thron des Heiligen Petrus gelangte?

Sie blieb stehen und lehnte sich an eine Hausecke, weil ihr die Knie immer noch zitterten. In einer Nische brannte eine Kerze vor einer kleinen Marienfigur, deren Farbe abblätterte. Eine Spinne hatte ihr Netz am Mantelzipfel der Gottesmutter befestigt. Wenn abends das Licht die Fliegen anlockte, machte sie zweifellos reiche Beute.

Madonna!, dachte das Mädchen.

Gerade gegenüber stand das Portal von Santa Maria offen. Gina seufzte erleichtert und schlüpfte hinein.

Der Duft von Weihrauch und Kerzenwachs!

Dämmerung lag zwischen den schartigen uralten Säulen, und vom Chor her glänzten kostbare Mosaike. Aber Gina hatte ein anderes Ziel. Es gab da ein Madonnenköpfchen in einer Seitennische, halb verborgen hinter einer Säule, ein Bildwerk, das ihr besonders lieb war. Diese Andeutung eines sanften Lächelns, die zarte Geste der Mutter, die das Kind umfing –

es mochte berühmtere und prächtigere Madonnen geben, aber vor dieser Nische fühlte das Mädchen sich zu Hause. Ruhe senkte sich jedes Mal über Ginas aufgeregtes Gemüt, sobald sie die vertrauten Züge vor sich hatte. Sie kniete nieder und wurde ganz still. Langsam schwand der Aufruhr der Gefühle, und die qualvolle Spannung des Körpers besänftigte sich. Gina wollte beten, aber ihr fielen keine passenden Worte ein, um das Verheerende ihrer Bedrängnis auszudrücken. So murmelte sie das gewohnte »Ave Maria gratia plena … Dominus tecum …«, und mit jeder Wiederholung der tausendfach eingeübten Litanei lichtete sich die Finsternis ihrer Seele.

»Et benedictus fructus ventris tui Jesus.«

Gina hob die Augen, die sich nun an das gedämpfte Licht der Kerzen gewöhnt hatten, und suchte den Blick der Gottesmutter.

War da nicht ein Hauch lebendiger Anteilnahme, ein besonderer Schimmer, ein Glitzern wie von einer Träne?

Gina holte tief Luft und schwieg. Es war nicht das erste Mal, dass es ihr vorkam, als empfange sie eine Antwort. War es vielleicht nur die Feuchtigkeit unter ihren eigenen Lidern, die ihr diesen Glanz vorgaukelte?

Nein, entschied sie. Die Madonna weint. Wer weiß, um wen. Vielleicht um mich …

Sie würde zu niemandem darüber sprechen. So wie sie keinem sagte, weshalb gerade diese Maria ihrem Herzen so nahe war. Denn sie glaubte den Grund genau zu kennen. Sie war überzeugt, das Bildnis gleiche ihrer Mutter. Obwohl – die war bei ihrer Geburt gestorben. Sie konnte gar keine Erinnerung an sie haben. Und Jungfrau war sie natürlich auch nicht gewesen.

Mamma!

Wieso eigentlich nicht? Gina hatte sich alles passend zurechtgelegt. Vielleicht hatte der Künstler ihre Mutter als junge Frau auf der Gasse gesehen und hatte sie gefragt, ob sie ihm als Modell dienen wolle. Und dann …

Zweifellos war ihre Mutter schön gewesen. Aber es schien doch recht unwahrscheinlich und widersprach allem, was man ihr erzählt hatte, dass sie blond war … Gleichviel! Nahmen sich die Maler in ihrer Kunst nicht oftmals die größten Freiheiten heraus? Und übrigens auch sonst! Wie nun, wenn dieser Maler und Mutter …

Hör auf herumzuphantasieren!, dachte Gina. Wenn dich jemand hören könnte! Jemand von zu Hause. Wenn deine Schwester es auch nur ahnen würde …

Ganz egal! Wichtig ist nur, dass du die Mutter im Herzen trägst …

Ginas Herz war leicht, als sie die Kirche verließ.

Die Wolken hatten sich aufgelöst. Es lag Sonne über den Dächern von Trastevere.

Seltsam, dass ihr gerade jetzt der Mann mit der gebrochenen Nase in den Sinn kommen musste, der Mann von vorhin, der mit ihrer Schwester so rätselhafte Worte und Blicke getauscht hatte. Vertraut und feindselig zugleich. Was für ein Bursche war das? Immerhin war er hilfsbereit. Immerhin.

Aber diese Nase! Zweifellos die geeignete Mitte für ein rechtes Schafsgesicht. Dennoch: Aus irgendeinem Grund konnte Gina sich trotzdem nicht dazu durchringen, den Mann abstoßend zu finden. Dabei war er zweifellos ruppig und grob. Wie er ihre Schwester behandelt hatte! Obwohl – eigentlich war es ja Olimpia gewesen, die mit den Unfreundlichkeiten angefangen hatte. Er hatte ihr nur mit derselben Münze herausgegeben, oder? Genau genommen hatte er überhaupt nicht viel gesagt.

Firlefanz, wie ihre Großmutter, die Nonna, gesagt hätte, bei der sie aufgewachsen war. Was zerbreche ich mir den Kopf! Schließlich ist das bereits alles gewesen. Und vorbei. Ein abgehalfterter Verehrer meiner Schwester. Ich werde ihn nicht wiedersehen.

Im Leben nicht!

Dabei – er hat mehr von einem Mann an sich als die meisten Burschen um mich herum.

He, vielleicht denkt Olimpia dasselbe.

War sie deshalb so grob zu ihm?

Gleichgültig ist er dir keineswegs. So weit kenne ich dich, meine Liebe. Gina ging auf das schäbige Haus zu, in dem sie mit der Nonna wohnte. Das Grübeln hatte noch immer kein Ende …

Vermutlich waren es seine Augen gewesen. Mit diesem schwer zu beschreibenden traurigen Ausdruck. Nichts von dem Hass, der Selbstüberhebung, der Grausamkeit auf all den anderen Gesichtern am Richtplatz. Auch nicht Gleichgültigkeit oder zudringliche Neugier. Er hatte angeboten, ihr zu helfen, und das war zweifellos ehrlich gemeint – ohne Hintergedanken, soweit sie das beurteilen konnte.

Fast schämte sie sich wegen ihrer schroffen Zurückweisung.

Madonna, welch ein Unfug! Worüber zerbreche ich mir eigentlich den Kopf?

Außerdem: Der Kerl ist viel zu alt.

Der Mann, den sie »Satans Schwarzen Engel« nannten, zwängte sich durch die enge Tür und verharrte reglos. Er lauschte auf das Echo seiner Schritte, das unter den hohen Gewölben eines kühlen Raumes nach und nach verstummte. Dann schloss er hinter sich die Verriegelung und blies die Kerze aus, die ihm bis hierher geleuchtet hatte. Jetzt war es fast völlig dunkel. Langsam entspannte er sich. Er genoss die Dunkelheit, genoss die Stille. Aber es war immer noch genügend Licht im Raum, um sich zurechtzufinden. Ein bleicher Schimmer sickerte durch eine schmale Scharte herein, die in die gegenüberliegende Stirnwand, dicht unter dem Gewölbeansatz, eingeschnitten war. Die einzige Verbindung zur Außenwelt – beinahe wie eine Wunde.

Als ob er dieses Licht gebraucht hätte! Selbst mit geschlossenen Augen konnte er sich orientieren, so vertraut war ihm jeder Fußbreit des Bodens, die gesamte komplizierte Ausstattung und jeder einzelne Gegenstand. Die frische Luft, die spärlich eindrang, bereitete ihm eher Unbehagen, fast sogar Pein. Sie störte die dumpfe Atmosphäre dieses Kellers, die von vertrauten Gerüchen und Ahnungen erfüllt war.

Wie ein Grab?

Nun ja, das mochte wohl sein …

Langsam schritt er ein paar ausgetretene Stufen hinab und näherte sich, ein Schatten unter Schatten, der düsteren, fast drohend aufragenden Front schwarzer Regale. Seine Finger glitten über das raue Holz, berührten ledernes Riemenwerk mit eisernen Beschlägen und scharfkantigen Schnallen, dann eine Reihe gerundeter und glatter Formen, die weder aus Holz noch aus Stein, noch aus Metall bestanden und ein unauslotbares Gefühl intensiven Erschauerns vermittelten. Der Atem des Mannes ging flach und stoßweise.

Da sind die Klingen, dachte er. Bereit! Da sind die Schlaufen und Futterale.

Ein schaler Geruch. Blut, dachte er. Blut zu Blut …

Der Blick des Mannes ging zur Lichtscharte empor.

Noch so viel Zeit musste vergehen, bis es draußen Nacht wurde!

Es dauerte lange an diesem Abend, bis Vanga die Wirkung des Weins spürte. Und selbst dann gelang es ihm nicht, den rechten Genuss zu finden. Er saß unter dem Gewölbe des Gatto Nero, in seiner bevorzugten Osteria. Die Gespräche im Dämmerlicht, die um ihn her im Gange waren, glitten zunehmend in ein besoffenes Lallen hinüber, und immer wieder drehte es sich um die Hinrichtung am Morgen.

»Natürlich war er ein Lutheraner«, behauptete einer der Kumpane. »Alle diese Ketzer sind Lutheraner, verdammt noch mal.«

»Das is’ nich’ wahr«, konterte sein Nachbar. »Die Höllenhunde gibt’s in allen Farben.«

»Aber dieser Tizio, dieser hergelaufene Kerl aus Deutschland ist doch … doch die dickste Sau im Koben!«

»Hä! Genau d-das sacht d-der über seine Heiligkeit!«

»Psst! Red nicht so! Außerdem kommt er nicht aus Deutschland. Aus Nola ist er …«

»Na un’? Is’ der T-Teufelssohn eben aus N-Nola. Sowieso alles Halsabschn-neider da –«

»Nicht so laut!«

»Is’ doch wahr! Alles gar nichts geg’n das, was der von –«

Ein Dritter, der schon die Reise auf den Fußboden angetreten hatte und sich dort unten in den Sägespänen herumwälzte, johlte dazwischen: »O Santa Eresia, Mutter des Unglaubens, bitte für uns!«

»– was der über das Pfaffenpack …«, fuhr der eine der beiden Disputanten fort, genau an der Stelle, wo er unterbrochen worden war, und ohne sich irritieren zu lassen, »also, was er geschrieb’n hat.«

»Pippo malo«, krähte sein Gegenüber, indem er sich gewitzt auf den Spitznamen jenes anderen Filippo bezog, des Filippo Neri, der als Pippo buono in ganz Rom bekannt war und von vielen wie ein Heiliger verehrt wurde.

Seltsam, dachte Vanga – gänzlich klar, obwohl sein Kopf sich langsam immer mehr vernebelte. Der Böse, der Gute. Ist es so einfach?

Seltsam war auch, wie alle vermieden, den Namen Giordano Bruno auszusprechen, und vor allem, dass der Taufname des Hingerichteten nun schon in den Kaschemmen die Runde machte. Dabei hatte er selbst erst heute zum ersten Mal gehört, dass ihn jemand Filippo nannte. Pandolfos Abschiedsgruß an seinen Landsmann aus dem Süden.

Vanga kam nicht zu weiterem Grübeln.

Der Saufkopf, der endlich sein Zitat aus den Schriften des Nolanus loswerden wollte, plärrte gefühlvoll und im Ton eines Spottlieds:

»Eselsohren in der Tiara, und gold’nes Geschmeide an den Hufen …«

Ein brüllendes Gelächter gab ihm Antwort.

»Und um den Dickbauch der rote Talar!«

Plötzlich verstummten alle, und nur der Sänger mimte einen lärmenden Hustenanfall, ganz so, als wäre er dem Ersticken nahe.

Vanga blickte auf und fluchte im Stillen über sich selbst, weil er eine seiner eigenen Grundregeln missachtet und die Eingangstür aus den Augen gelassen hatte. Gib niemandem Gelegenheit, dich zu übertölpeln! Zu keiner Zeit. Das war ein eisernes Gesetz, und es gab keine Entschuldigung, wenn man sich gehen ließ.

Im Raum stand niemand anders als sein Vetter Cecco. Er hatte zwei seiner unvermeidlichen Schergen hinter sich und zweifellos weitere in Bereitschaft draußen vor der Tür. Für den Fall, dass es dem Drecksack glückte, hier drinnen einen Grund zum Losschlagen zu finden.

Er drehte sich auf seine gespreizte Art zur einen und zur andern Seite, ein verächtliches Lächeln kräuselte seine Lippen, zog einen seiner Handschuhe aus und rümpfte ausdrucksvoll die Nase über den Gestank, der ihm entgegenschwallte.

»Das Volk ist vergnügt«, murmelte er spöttisch, und man hätte eine Nadel fallen gehört. Selbst der unvorsichtige Sänger hatte nun das Husten unterdrückt, wodurch ihm die Augen tränten und das Gesicht rot anlief. Der Wachoffizier tat einen staksigen Schritt weiter in den Raum hinein und fächelte sich in einer lässigen Geste mit dem Handschuh Luft zu.

Reines Theater, dachte Vanga. Als gäbe es hier irgendwo einen Rest frischer Luft!

Rasch zeigte sich jedoch, welchen Sinn diese Geste erfüllte. Demonstrativ streifte Cecco den Handschuh wieder über die Finger, um erst dann, also nicht etwa mit der ungeschützten Hand, das Ohr des Sängers zu fassen – ganz als greife er widerwillig in einen Spucknapf, um etwas Ekliges herauszufischen. Langsam zwang er mit diesem Griff den Kopf des Unglücklichen zum Licht einer Kerze. Mit Interesse musterte er das schmerzverzerrte Gesicht seines Opfers, das immer mehr dem eines Erstickenden glich. Der Mann hielt still. Keiner, dem dergleichen geschah, riskierte es, sich zu wehren.

»Für alle Fälle werde ich mir deine Fratze merken«, säuselte der Ordnungshüter. »Das heißt: obwohl ich es eigentlich dieser Mühe nicht für wert erachte …«

Dabei war er mit seinen Gedanken offenbar schon bei etwas anderem.

Vanga wusste genau, dass Cecco ihn gesehen hatte, auch wenn er sich davon nichts anmerken ließ. Der Bastard spielte gern Komödie, und eine solche Szene war so recht nach seinem Herzen. Im Stechzirkelschritt wanderte er im Raum umher, den Sänger am Ohr hinter sich her zerrend wie einen Bären am Nasenring. Dann, ganz beiläufig, ließ er ihn los. Der bedauernswerte Kerl stöhnte erleichtert und verstummte. Cecco war bei Vanga angelangt und blickte auf ihn herunter.

»Und du bist natürlich mitten dazwischen, wenn schmutzige Lieder gesungen werden und solch ein Schwachkopf sich erdreistet, die Obrigkeit zu verspotten.«

Vanga schaute auf, und ihre Blicke begegneten sich.

»Es wäre Grund genug, um dich mitzunehmen«, sagte Cecco nachdenklich. »Aber du bist zu unwichtig«, fügte er dann hinzu, plötzlich gut gelaunt, denn der Wirt war beflissen hinter seinen Weinfässern hervorgekrochen und zu seinem ungeliebten Gast geeilt, um ihm eine Münze oder auch mehrere in die Hand zu spielen.

Cecco verbarg diesen Vorgang nicht im Geringsten. Er schob den Obolus in seinen Handschuh, ohne das Geld oder den Wirt eines Blickes zu würdigen.

Man nimmt auch Kleinigkeiten, drückte seine Haltung aus, während er sich dem Ausgang zuwandte, begleitet von einem heimlichen Aufatmen der Gäste. Die beiden Wachleute ließen ihren Kommandeur respektvoll passieren und folgten ihm dann, nicht ohne vorher noch einen drohenden Blick in die Runde zu werfen.

Die Tür klappte zu, und einen Augenblick lang herrschte Stille unter dem Ziegelgewölbe. Dann, ehe ein anderer dazu kam, sich zu rühren, löste sich eine wuchtige Gestalt aus dem tiefen Schatten einer Nische, wo sie sich während der ganzen Szene praktisch unsichtbar gemacht hatte. Der Mann trat zu dem Sänger, der noch immer in gebückter Haltung verharrte, und versetzte ihm einen herzhaften Tritt in den Hintern.

»Dieser Versuchung konnte ich nicht widerstehen«, sagte er, und sein Gesicht war ein einziges Grinsen. Der Bugiardone. Wer sonst?

Damit schien der Bann gebrochen, und das lärmende Zechgetümmel nahm seinen Fortgang. Vielleicht sogar besonders übermütig, um den missliebigen Gästen, die draußen wohl noch in Hörweite waren, zu demonstrieren, wie wenig man sich von ihnen einschüchtern ließ.

Vanga hingegen war jetzt noch schweigsamer als zuvor.

Der Bugiardone setzte sich neben ihn und sagte: »Dich lässt es noch nicht los, nicht wahr?«

Vanga neigte den Kopf.

»Wo immer man hinschaut, sieht man dich«, murmelte er.

»Das ist kein Wunder. Ich bin der gute Geist der Stadt.« Das kam mit einem breiten Grinsen. Vanga füllte den leeren Becher des anderen. Er hatte dessen ersten Satz nicht überhört. »Manchmal wird ihnen die Zunge herausgeschnitten«, sagte er.

»Du musst es ja wissen.«

Vanga ging auf diese Anspielung nicht ein. Er sagte: »Aber bei ihm haben sie sich mit einem Knebel begnügt. Weißt du, warum?«

»Weißt du es?«

Vanga zuckte die Schultern. Vielleicht hatte man erst ganz zuletzt die Hoffnung aufgegeben, doch noch einen Widerruf zu erzwingen.

»Einige sagen, sie hätten ihn geblendet«, brummte der Bugiardone. »Willst du mehr hören?«

»Ich weiß genug.«

»Weißt du auch, was er einmal im Verhör gesagt haben soll?«

»Was meinst du? Hat er denn nicht verstockt geschwiegen?«

»Bisweilen hat er doch gesprochen.«

»Nun – und?«

»Er sah seine Richter an und sagte: Vielleicht habt Ihr, die Ihr dies Urteil fällt, mehr Grund zur Angst als ich, der ich es hinnehmen muss.«

Damit beendeten sie das Thema. Vanga goss noch einmal ein.

»Du bist Linkshänder?«, brummte der Bugiardone.

»Hast du das nicht gewusst?«

»Das sagt man auch vom Teufel.«

Vanga zuckte die Achseln. »Kann beim Fechten ein Vorteil sein.«

Als Vanga geraume Zeit später aufstand, nahm keiner in der Gaststube Notiz davon. Schon gar nicht der Bugiardone, denn er war längst gegangen, unauffällig, ohne Gruß, wie es seine Art war. Nicht einmal der Wirt blickte auf, als Vanga den Becher so heftig auf der Tischplatte absetzte, dass er dabei zerbrach. Der Weinpanscher war diesem Gast verpflichtet – durch eine jener kleinen schmutzigen Geschichten, die das Leben sich einfallen lässt, und deshalb ließ er zu, das Vanga auf Treu und Glauben bei ihm trank. Wovon auch hätte ein abgebrannter Kerl wie er die Zeche zahlen sollen?

Die Geschäfte gehen schlecht, pflegte Vanga zu sagen, wenn es wieder einmal so weit war. Aber längst nicht jeder nahm auf Notlagen Rücksicht.

Es fiel Vanga gar nicht leicht, auf die Beine zu kommen. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm. In seinem Kopf brauste ein Wasserfall, und der höhlenartige Raum begann sich um ihn zu drehen. Doch dadurch ließ er sich nicht entmutigen. Auch nicht durch den bohrenden Schmerz im Schädel. Er wusste, dass er jetzt im Stande war, tief und fest zu schlafen. Keine lästigen Gedanken. Keine quälenden Erinnerungen. Keine Bedrängnisse der Gegenwart, keine Schatten der Vergangenheit. Wie er die Gaststube verlassen hatte, darüber würde er später nichts mehr wissen. Aber schließlich tappte er die enge Stiege zu seiner Kammertür empor, denn er wohnte unter demselben Dach, ebenfalls auf Pump. Und da, plötzlich, nach halbem Wege, war sein Kopf wieder völlig klar. Ein warnendes Gefühl bedrängte ihn: Irgendetwas stimmte nicht.