DER SCHWARZE OKTOPUS - Hanna von Feilitzsch - E-Book

DER SCHWARZE OKTOPUS E-Book

Hanna von Feilitzsch

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Beschreibung

MORD AM SEHNSUCHTSORT ZWEI TOTE, EIN MYSTERIÖSER OKTOPUS UND EIN DUNKLES GEHEIMNIS Spätsommer auf Paros. Die Touristenströme nehmen ab, Ruhe kehrt auf der Urlaubsinsel ein. Police Officer Christína Strátou freut sich auf entspannte Tage mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Doch die friedliche Atmosphäre ist trügerisch. Der neue Besitzer einer Apartmentanlage wird tot an einem abgelegenen Strand gefunden. Die Ermittlungen laufen in alle Richtungen, schließlich ist der Tote kein Unbekannter auf der Insel. Eifersucht, Neid, Rache, alles ist denkbar. Die Indizien sind eindeutig, bald ist ein Schuldiger gefunden und der Fall scheint gelöst. Doch da geschieht etwas vollkommen Unerwartetes, was Christína ahnen lässt, dass dem gesamten Land große Gefahr droht, die weit über Páros hinausreicht. Während ihre Familie die Insel erkundet, wird Christína immer tiefer in einen Strudel aus Lügen, Gewalt und dunklen Machenschaften gezogen. Bald muss sie feststellen, dass ein Wettlauf mit der Zeit begonnen hat, den sie auf keinen Fall verlieren darf.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hanna von Feilitzsch

Der Schwarze Oktopus

Hanna von Feilitzsch lebt mit ihrer Familie in Oberfranken und am Tegernsee. Die Autorin hat bisher zahlreiche Drehbücher für das Fernsehen geschrieben und mehrere Bücher veröffentlicht. »Der schwarze Oktopus« ist nach »Der letzte Ouzo« ihr zweiter Griechenlandkrimi.

Hanna von Feilitzsch

DER SCHWARZE OKTOPUS

Griechenlandkrimi

Feilitzsch Verlag

1.Auflage 2025

© Feilitzsch Verlag

Hanna von Feilitzsch, Überfahrtstraße 2, 83700 Rottach-Egern

Coverdesign: PPB – Perry Pane

Illustration: © Nathalie Waldschmidt

© Sven Hansche – Shutterstock

Absatztrenner: Sophia von Feilitzsch Thiele

Satz: Natalie Gille, www.nataliegille.de

ISBN 9783930931125

www.Feilitzsch-Verlag.com

Instagram: @hannafeilitzsch

Facebook: Hanna Feilitzsch

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der:s Autor:in unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Páros, Sehnsuchtsort

Rote Blüte der Ägäis

Raue Winde, weite Buchten

Kapellen, Klöster, Freudenfeuer

Ein wunderschöner Fleck Erde

»Er muss sterben«, murmelte er immer wieder vor sich hin. Seit Stunden saß er im Auto, einem gut gewarteten, älteren BMW der 5er Reihe. Farblich unauffällig fügte sich der dunkle Wagen in die Umgebung ein. Autos wie dieses gab es hier viele, am Ortsende von Paríkia. Niemand würde sich an das Fahrzeug erinnern. Den Blick auf das Haus gerichtet, das Käppi tief ins Gesicht gezogen, wartete er ungeduldig auf Tínos. Die Hände waren feucht in den dünnen Handschuhen, und in seinem Magen baute sich ein stärker werdendes Gefühl von Nervosität auf. Nur mit Mühe konnte er ruhig sitzen bleiben. Wiederholt fuhr er sich mit der Hand über seinen Bart. Am liebsten hätte er das Vorhaben abgebrochen, wäre unverrichteter Dinge nach Hause gefahren. Aber das ging nicht, er hatte einen Auftrag. Auch war es wichtig, dass er die Tat heute ausführte. Das war ihm eingeschärft worden. Zum wiederholten Male öffnete er das Handschuhfach, obwohl er wusste, was darin war. Dort lag die Waffe, eine Pistole mit Schalldämpfer. Das Magazin mit Patronen gefüllt. Er presste die Lippen zusammen, atmete tief ein. Er war kein Mörder. Nein, wirklich nicht. Aber was sollte er tun? Tínos hatte sich von ihnen abgewandt. Machte sein eigenes Ding. Das konnten sie nicht zulassen.

Die Tür des Häuschens ging auf. Tínos trat heraus. Na endlich! Er schien bestens gelaunt zu sein, hatte die Lippen gespitzt, als ob er pfeifen würde. Er trug einen guten Anzug, das sah er genau. Mittelblau. Feiner Stoff. Etwas Besonderes. Dazu ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe lässig geöffnet waren. Über Tínos’ Arm hing ein Weidenkorb. Von seinem Beobachtungspunkt aus konnte er erkennen, dass er mit einer Flasche und Gläsern gefüllt war. Der Form nach musste das eine Weinflasche sein. Dazu Tupperdosen. Auch ein Baguette. Das sah nach einem Picknick aus. Der junge Mann ging durch den schmalen Vorgarten, geradewegs zu seinem Auto, einem nagelneuen Porsche Cayenne, der hier, in diesem Vorort, in dem die Häuser klein und nicht besonders ansehnlich waren, wie ein Fremdkörper wirkte. Es war kein Geheimnis, dass Tínos Statussymbole liebte, stets auf Außenwirkung bedacht war. Sie hatten sich damals für ihn entschieden, weil er eitel war.

Tínos wandte sich um, ging zurück zum Haus. Mit drei Schritten durchmaß er den Vorgarten. Er überlegte, was er machen sollte, wenn Tínos noch ein paar Stunden bleiben würde. Er konnte doch nicht einfach aussteigen, in sein Haus eindringen, hier, in der Inselhauptstadt. Seine Eltern waren nicht zu Hause, wie er gesehen hatte, aber die Gefahr, beobachtet zu werden, war viel zu groß. Trotz des geöffneten Autofensters hielt er es kaum noch aus, war zu warm angezogen mit der langen Hose, dem dunklen Hemd. Mittlerweile war er längst schweißgebadet. Auch von der Oberlippe tropfte Schweiß hinab in seinen vollen Bart. Obwohl es früher Abend war, hatte es fast dreißig Grad, jetzt, Mitte September.

Erleichtert sah er, wie der junge Mann Sekunden später mit einem großen Karton in der Hand heraustrat. Tínos sah sich um, ließ den Blick bis auf die Straße schweifen. Er beobachtete ihn genau und bewegte sich keinen Millimeter. Schließlich wollte er nicht entdeckt werden. Seine dunkle Kleidung, die Schatten im Fahrzeug würden ihn verbergen, hoffte er. Das menschliche Auge wurde von Bewegungen angezogen, das wusste er noch aus seiner Zeit beim Militär. Er überlegte, ob Tínos etwas ahnte, womöglich Angst hatte. Schließlich war vor nicht allzu langer Zeit jemand von ihnen in seine Wohnräume eingestiegen, hatte die Spiegel zerschlagen. Als Warnschuss sozusagen. Tínos schien verstanden zu haben, denn er hatte daraufhin den Wohnort gewechselt, war ins Haus der Eltern gezogen, wo er ihn während der vergangenen Tage beobachtet hatte. Sonst hatte Tínos gar nichts gemacht, als ob damit alles geregelt, der Focus von ihm genommen worden wäre.

Nun beobachtete er, wie der junge Mann sich wieder in Bewegung setzte, und am Porsche Cayenne angelangt, den Karton neben dem Korb im Kofferraum verstaute. Noch einmal kehrte er zurück zum Haus, verschwand erneut im Inneren. Er wartete weiterhin, den Blick auf die Eingangstür gerichtet. Dieses Mal vergingen nur wenige Minuten, bis Tínos wieder im Vorgarten stand. Jetzt hatte er ein Messer in der Hand. Er drehte sich zu einem Blütenstrauch, der sich üppig blühend neben der Tür die Hauswand emporrankte, und schnitt einige Hibiskusblüten ab. Mit den Blumen im Arm kehrte er zurück zum Auto, öffnete die Beifahrertür und legte die Blüten in den Innenraum des Fahrzeugs. Der Beobachtete schlug die Tür zu, ging zum Haus zurück, das Messer noch immer in der Hand. Er wusste, wie ordentlich Tínos war. Das Messer musste zurück an seinen Platz, dann würde er die Fahrt antreten. Seine letzte Fahrt. Und wirklich, wenige Minuten später hatte er die Haustür hinter sich geschlossen, sprang geradezu durch den Vorgarten, stieg in sein Auto und fuhr davon.

Auch er startete den Motor, rollte langsam an. Dachte dabei an den Abend zurück, den Sirtáki am Strand, die Hochzeitsfeier. Tínos war fröhlich gewesen. Keine Frage. Der Alkohol hatte ein Übriges dazu getan. »Ich steig aus«, hatte Tínos gesagt und dabei gelacht. Zuerst hatte er nicht verstanden, was er meinte. Auch er hatte schon eine Menge getrunken. Aber der Gefährte hatte geredet, von seinen Plänen gesprochen. Irgendwann hatte er gefragt, ob er keine Angst vor Konsequenzen hätte, dass ihm womöglich etwas zustoßen könne. Tínos Lachen war gespenstisch gewesen. »Mir kann keiner was. Ich weiß zu viel.« Das war eindeutig eine Drohung gewesen.

Er atmete tief durch. Spürte sein Herz bis zum Hals klopfen. Ein Engegefühl in der Brust. Es gab kein Zurück mehr. Er drückte aufs Gas, schloss näher zu Tínos auf. Der Porsche Cayenne stand an der Abzweigung zur Hauptstraße, bog ab. Er fuhr hinterher, in Richtung Süden. Mit ein wenig Abstand. Immer wieder schluckte er, fühlte, wie Schweißperlen seinen Nacken hinunterliefen. Trotz des Fahrtwinds, der durch das geöffnete Fenster drang, klebte das Hemd noch immer am Körper. Nervös griff er nach der Wasserflasche im Flaschenhalter, die schon fast leer war, nahm einen Schluck. Wieder öffnete er das Handschuhfach, sah auf die Pistole. Es war nicht einfach gewesen, sie zu besorgen. Der Schalldämpfer war das Problem gewesen. Überhaupt hatte er gehofft, dass im letzten Moment jemand anderer mit der Aufgabe betraut werden würde. Dass dieser Kelch an ihm vorübergehen würde. Aber was sollte er machen? Er musste seine Loyalität unter Beweis stellen.

Nach etwas mehr als zwanzig Minuten sah er, wie Tínos in Richtung Meer abbog. Er fuhr rechts ran, wartete mit laufendem Motor. Schließlich wusste er, wo der junge Mann hinfuhr. Er kannte den Platz mittlerweile, hatte Tínos hier wiederholt beobachtet. Das war eine fast fertige Apartmentanlage, direkt am Meer, allein gelegen. Tínos hatte diese Anlage vor wenigen Monaten erworben. Möglicherweise war dieses Projekt der Anfang von seinem Untergang gewesen. Er wusste, dass er hier keine Angst vor unerwünschten Besuchern haben musste. Nicht um diese Uhrzeit. Die Arbeiter hatten bereits Dienstschluss. Anscheinend hatte Tínos diesen Ort für das Picknick geplant. Vielleicht mit Vassilikí, seiner langjährigen Freundin? Er wusste es nicht. Es war merkwürdig, dass nach dem Auszug aus dem gemeinsamen Haus das Paar nicht mehr zusammenwohnte, sie nicht mit zu Tínos’ Familie gezogen war. Er hatte gehört, dass sie sich getrennt hatten, wusste aber nicht, ob das stimmte. Es konnte also auch sein, dass er sich mit Freunden traf. Aber das spielte alles keine Rolle. Er musste nur schnell handeln, solange Tínos noch allein war.

Die Dämmerung hatte mittlerweile eingesetzt. Er schaute nach rechts, wo in einiger Entfernung das Meer lag. Sein Blick fiel auf Büsche und ein paar Zypressen. Über ihren Spitzen entdeckte er den Mond, der hell am Firmament leuchtete. Vollmond. Das würde alles erleichtern, Tínos besser zu sehen sein, hier draußen, in der Einsamkeit. Er fühlte Übelkeit aufsteigen, schluckte, versuchte, die Gedanken an das, was vor ihm lag, wegzuwischen. Erneut öffnete er das Handschuhfach. Bemerkte, dass seine Hand ein wenig zitterte. Vorsichtig nahm er die Pistole heraus, zog den Verschlussschlitten zurück. Jetzt war die Waffe schussbereit. Er legte sie auf der Mittelkonsole ab. Nach ein paar Minuten fuhr er an, bog ab, erreichte die Einbuchtung auf dem Schotterweg, wo er den Wagen hinter Büschen verstecken konnte. Er machte den Motor aus, wartete. Von hier aus hatte er gute Sicht auf den Porsche Cayenne, der vor der Anlage parkte. Die Kofferraumbeleuchtung spendete ein wenig zusätzliches Licht. Er sah, wie Tínos den Karton aus dem Auto hob, zum Strand brachte, und sich daran zu schaffen machte. Das waren Kerzen. Windlichter. Tínos stellte sie in den Sand. Ganz akkurat. Eine nach der anderen.

Wieder atmete er tief durch, fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Raste. Sein Herz hämmerte. Was sollte er tun? Er musste sich beeilen. Gleich würde es dunkel werden und Vassilikí oder jemand anderer hier auftauchen. Es konnte womöglich auch ein Geschäftspartner sein. Er griff nach der Waffe. Sie fühlte sich durch die Handschuhe fremd an. Noch einmal atmete er tief ein, hielt die Luft an, kniff die Lippen zusammen. Es war so weit! Wie ferngesteuert stieg er aus, merkte, dass das Adrenalin in seine Adern schoss, er nicht mehr frei denken konnte. Irgendwie im Tunnel war. Mechanisch ging er weiter, im Sichtschatten der halbhohen Büsche, den Blick auf Tínos gerichtet, der sich gebückt hatte, sich weiterhin an den Windlichtern zu schaffen machte.

Nun war er nur noch zwanzig Meter entfernt. Sein Atem ging schnell. Er spürte, wie sein Blut in den Ohren rauschte. Die Pistole wog schwer in seiner Hand. Sollte er das wirklich machen? Ihn umbringen? Von hinten erschießen? Nein! Das ging gar nicht. So etwas konnte er nicht tun. Das war feige. Er machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Am liebsten hätte er alles auf Anfang zurückgedreht, Tínos überzeugt, bei ihnen zu bleiben. Aber es war zu spät. Alles kaputt. Tínos’ Leben und vielleicht auch seines. Der Blutstrom schien schneller zu fließen, machte jetzt fast unmenschlichen Krach im Kopf. Vielleicht gab es doch eine andere Lösung? Tínos kam hoch, staubte mit der Hand den Anzug ab. Wohl, um für seine Verabredung gut auszusehen. Die würde nicht mehr stattfinden. Nur nicht denken. Nein. Nicht ablenken lassen! Er heftete den Blick auf Tínos’ Rücken; wollte bis auf vier Meter an ihn herankommen, nah genug, um ihn sicher zu treffen.

Einen Schritt vor den anderen setzte er, möglichst leise und unauffällig. Bis auf zehn Meter war er an sein Ziel herangekommen. Die Waffe hinter dem Oberschenkel verborgen. Ein paar Schritte und es waren nur mehr sechs Meter. In dem Moment wandte Tínos sich zum Auto um. Es war offensichtlich, dass er dort hingehen wollte. Der Korb mit der Weinflasche und den Gläsern stand noch im Auto, im Kofferraum, das wusste er genau. Ebenso die Hibiskusblüten. Vielleicht hätte er ihn am Auto abpassen sollen. Das konnte er wirklich nicht gebrauchen, dass Tínos sich von ihm wegbewegte. Bevor er einen Alternativplan hatte, sah er, dass der Beobachtete in der Bewegung stockte. Ihn anscheinend bemerkt hatte, sich mit erstaunter Miene zu ihm drehte. Er machte zwei Schritte auf Tínos zu und riss die Waffe hoch. Zielte auf die Brust. Der junge Mann, den er seit mehr als einem Vierteljahrhundert kannte, hob instinktiv abwehrend die Hände, das Gesicht ein einziges Fragezeichen. Es war offensichtlich, dass er die Pistole in seiner Hand gesehen hatte. Sein Blick flackerte, Todesangst pur in seinen Augen. Tínos öffnete den Mund zu einem Schrei.

Er wusste, dass er auf der Stelle handeln musste. Es gab endgültig kein Zurück mehr. Er nahm nichts anderes mehr wahr als Tínos. Auch die Geräusche der Autos, die auf der nahen Straße fuhren, waren verblasst. Ebenso das Plätschern der Wellen, die am vor ihm liegenden Strand aufschlugen. Absolute Stille. Nur noch Atem. Seiner und auch Tínos’. Er sah auf die Waffe. Sein Finger fühlte sich an, als wäre er aus Blei. Dann drückte er ab. Es schien ihm, als ob alles, was danach passierte, in Zeitlupe geschah. In einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum. Der Rückstoß der Waffe. Das Einschussloch in Tínos’ weißem Hemd. Der ungläubige Blick. Ein Aufschrei, der verzerrt an sein Ohr drang. Die Bewegung, mit der der Freund zusammenklappte, sich dabei mit beiden Händen die Brust hielt. Er hörte, wie Tínos laut aufstöhnte, sah den entsetzten Blick. Er hob die Waffe wieder an. Musste noch einen Schuss nachsetzen, das wusste er jetzt. Dieses Mal musste es vorbei sein. Er griff mit der zweiten Hand an die Waffe, um mehr Stabilität zu haben, zielte auf den Kopf. Schoss. Die Waffe wurde erneut durch den Rückstoß aus der Bahn gehoben. Der Schuss, schallgedämpft, erschien ihm wie ein mittellautes Geräusch. Als er den Blick ein weiteres Mal auf Tínos richtete, sah er den jungen Mann mit blutigem Einschussloch in der Stirn regungslos am Boden, die Augen starr. Die Arme lagen schlaff neben ihm, das Hemd über dem Herzen blutig.

Für einen Moment schien es ihm, als ob er das Gleichgewicht verlieren würde. Obwohl er keinen Laut aus der Umgebung aufnahm, sirrte es in seinen Ohren. Ein anhaltendes Summen. Kurz verharrte er. Das konnte doch nicht sein, dass er einem Leben ein Ende gesetzt hatte. Er blickte auf die Pistole, die jetzt wie ein Fremdkörper in seiner Hand hing. Entgegen seiner Vorstellung rauchte sie nicht. Langsam machte er einen Schritt auf Tínos zu, um sich zu vergewissern, dass er wirklich tot war.

Tínos lag seitlich auf dem Sand, die Haare klebten seltsam an seinem Kopf. So, als ob er in der Minute seines Todes einen Schweißausbruch gehabt hätte. Das konnte er im Licht des Vollmonds sehen. Er überlegte, ob er Tínos’ Körper anheben, sich die Schusswunde genauer besehen sollte, verwarf den Gedanken. Schließlich wollte er nicht unnötig Spuren hinterlassen. Darüber hinaus war es nicht nötig. Ohne Frage war er tot. Der Schuss in die Brust, das Einschussloch auf der Stirn. Er schauderte. Sein Blick verlor sich auf der Leiche, auf der sich die Schatten der flackernden Windlichter abzeichneten. Er wusste, dass es keine andere Lösung gegeben hätte. Zu viel stand auf dem Spiel.

Plötzlich hörte er das Geräusch einer zufallenden Tür. Was war das? Er fuhr herum. Da stand ein Auto. Bestimmt dreißig Meter entfernt. In der Windschutzscheibe blitzte etwas hell auf, blendete ihn. Ein Schreck durchfuhr ihn. Wie lange stand der Wagen schon dort? Hatte der Fahrer den Mord beobachten können? Noch bevor er Klarheit erlangen konnte, fuhr das Fahrzeug mit quietschenden Reifen rückwärts. Er wollte dem Wagen nachlaufen, aber seine Beine fühlten sich an, als wären sie von unsichtbaren Gewichten beschwert. Nun sah er, wie das Auto wendete, dabei einen Baum touchierte, vernahm einen Knall. Er fing zu laufen an, bewegte sich auf das Fahrzeug zu, konnte aber nicht erkennen, wer in dem Wagen saß. Noch bevor er seinen BMW erreicht hatte, war der Eindringling auf der Hauptstraße und fuhr davon. Wer war das? Was hatte der Fahrer gesehen? War das Vassilikí, die zu ihrem Date gekommen war? Nein, das glaubte er nicht. Er kannte ihren weißen Fiat Cinquecento mit den Streifen, die den Wagen sofort als Sonderausstattung von Gucci zu erkennen gaben. Das war etwas Größeres gewesen. Und nicht weiß. Das hatte er gesehen er. Welche Farbe hatte dieses Fahrzeug gehabt? Es war verflixt, er wusste es nicht. Sein Gehirn arbeitete nicht. Es war im Ausnahmezustand. Er machte ein paar Schritte auf den Baum zu, als ob er damit seine Erinnerung schärfen würde, aber es gelang ihm nicht.

Jetzt steckte er die Pistole in den Hosenbund, ging noch einmal zur Leiche zurück. Suchte die Patronenhülsen. Das war ihm eingeschärft worden. Obwohl er den gesamten Umkreis mit den Augen abscannte, fand er sie nicht. Im Sand hätte er sie sehen müssen, trotz der nur schwachen Lichtquelle, messingfarben wie sie waren. Er schritt den Platz noch einmal großräumig ab. Da leuchtete nichts auf. Weder die Patronenhülsen noch die Projektile. Bestimmt waren die beiden Projektile in Tínos’ Körper stecken geblieben. Er seufzte. Es wurde ihm heiß und kalt. Was hatte er getan? Konnte das alles nicht begreifen. Er atmete ein, sog die Meeresluft tief in die Lungen. Sein Kopf sirrte. Er wusste, dass er jetzt keine Fehler machen durfte. Wieder sah er auf Tínos, der leblos auf dem Boden lag, inmitten der Windlichter, die in der Dunkelheit flackerten. Da bemerkte er die unzähligen Fußabtritte, die er auf dem sandigen Boden hinterlassen hatte. Hastig ging er zu einem Busch, brach einen Zweig ab. Mit fahrigen Bewegungen versuchte er, die Fußspuren zu verwischen. Er war erneut am ganzen Körper schweißgebadet, so sehr strengten ihn die Bewegungen an. Überhaupt war er am Ende seiner Kräfte, die Tat hatte ihm viel abverlangt. Nachdem er alle Spuren beseitigt hatte, schaute er noch einmal auf Tínos’ leblosen Körper. Nie würde er diesen Anblick vergessen. Dann ging er rückwärts über den Schotterweg zu seinem Auto zurück, vorsichtig darauf bedacht, auch jetzt jeden Tritt zu verwischen. Er stieg in den BMW, bemerkte, dass er den Zweig noch immer in der Hand hielt und warf ihn in hohem Bogen aus dem Wagen, neben den Weg. Er schloss die Autotür, legte beide Hände ans Lenkrad und ließ den Kopf darauf sinken. Nur ein paar Mal durchatmen, dachte er bei sich. Dann würde er zu seinem eigenen Auto fahren, welches er auf einem Parkplatz in Driós abgestellt hatte, und einfach davonfahren. Hinaus aus diesem Horrorfilm, hinein in sein schönes Leben.

Sein Herz klopfte noch immer bis zum Hals, als er nach wenigen Minuten losfuhr, pumpte das Blut durch den Körper. In seinem Kopf rauschte es. Alle Bewegungen waren automatisch, das Halten des Lenkrads, das Betätigen des Fußpedals. Das Auto unter dem Baum, hämmerte es hinter seinen Schläfen, vielleicht dreißig Meter vom Tatort entfernt. Eine Person daneben, das hatte sich bei ihm eingebrannt. Er hatte nicht ausmachen können, ob Mann oder Frau, wusste nur, dass er gesehen worden war. Auch, dass der Zeuge wusste, dass er ihn bemerkt hatte, denn das Auto war davongebraust, als er ein paar Schritte in Richtung es Wagens gemacht hatte. So schnell war der Fahrer oder die Fahrerin ins Auto gesprungen, hatte gewendet und dabei den Baum touchiert, war vor ihm geflüchtet. Was würde passieren? Was, wenn sie bei der Polizei vorsprechen würde? Er hatte keine Ahnung, ob er erkannt worden war. Er fuhr sich mit der Hand über den Bart, rubbelte. Sein Atem ging jetzt noch schneller, sein Herz galoppierte.

Der Parkplatz in Driós lag unmittelbar vor ihm. Niemand war weit und breit zu sehen. Am hinteren Ende entdeckte er seinen Jeep, an der Stelle, wo er ihn vor Stunden abgestellt hatte. Er reduzierte die Geschwindigkeit, versuchte, sich zu beruhigen. Nun fuhr er sich ein letztes Mal über das Gesicht, atmete regelmäßig. Bemühte sich, nicht mehr an Tínos und das Auto unter dem Baum zu denken. Er musste mit dem Boss sprechen, berichten, dass er die Tat erfolgreich ausgeführt hatte. Dann würde er ihm erzählen, dass er beobachtet worden war.

Er fuhr ein paar Meter weiter, so, wie sie es abgesprochen hatten, ließ den BMW ausrollen, machte den Motor aus. Anschließend zog er den Schlüssel ab, steckt ihn unter die Fußmatte. Er nahm die Waffe, die er auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte, steckte sie in den Hosenbund. Sie wog schwer, mit dem Schalldämpfer. Dann griff er nach der Wasserflasche, stieg aus und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Obwohl niemand zu sehen war, ging er gebückt, schlich zu seinem Auto. Er drückte auf den Schlüssel, der in seiner Hosentasche steckte, und mit einem leisen Geräusch entriegelte sich das Schloss. Schnell stieg er ein, setzte sich. Nahm die Waffe aus dem Hosenbund, verstaute sie in der Mittelkonsole. Er zog sich die Handschuhe aus, nahm das Prepaid Handy, welches er in der Seitentür versteckt hatte.

»Hallo.« Die Stimme des Bosses klang heiser, als ob er gerade ein paar Whiskey getrunken und dazu eine dicke Havanna geraucht hätte.

»Erledigt.« Er bemerkte, dass er das Wort nicht klar aussprechen, die Nervosität nicht verbergen konnte. Hörte, wie der Boss den Atem ausstieß.

»War es so schwer?«

Was sollte er jetzt sagen? Er wusste, dass er ausgewählt worden war, um seine Loyalität unter Beweis zu stellen, um zu zeigen, dass er bis zum Letzten gehen, alles für die Idee riskieren würde. Eine Voraussetzung, um in der Organisation aufzusteigen. Natürlich war es nicht leicht gewesen. Tínos kannte er seit Langem. Und darüber hinaus bezweifelte er, dass Tínos wirklich eine Gefahr gewesen war. Aber seine Meinung spielte keine Rolle.

Der Boss schien bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte.

»Ist alles gut?«

»Ich habe es getan. Zwei Schuss. Aber …« Er verstummte, war verunsichert.

»Was?«, brummte der Boss.

»Jemand hat mich beobachtet. Ein Auto war da. Ich weiß nicht, wie lange es schon dort gestanden ist.« Er stotterte. »Ich habe es erst bemerkt, als alles vorbei war. Und dann ist es davongefahren. Ich konnte nicht erkennen, wer daringesessen ist.«

Ein Fluchen ertönte. Dann Stille. Zu gerne hätte er gewusst, was der Boss dachte.

»Du fährst nach Hause, verhältst dich unauffällig. Keine Aufregung. Wir werden das Problem lösen. Das Leben geht weiter.«

Er wusste nicht genau, was der Boss damit meinte. Auf jeden Fall bemerkte er, dass er sich beruhigte, der Puls sich verlangsamte. Der Boss wusste immer, was zu tun war.

»In zwei Tagen ist unser Treffen. Wie besprochen.« Der Boss war wieder der Alte, ein geschäftsmäßiger Ton. »Bis dahin wissen wir mehr.«

Er startete den Jeep, atmete noch einmal durch. Dann lenkte er das Auto vom Parkplatz auf die Straße. Nachdem er einige Meter zurückgelegt hatte, zog er sich das Käppi vom Kopf, fuhr sich über die Glatze. Dann strich er sich nachdenklich über den Bart. Das Leben geht weiter, hatte der Boss gesagt.

»Έλα, θα πάμε από εδώ.«

»Éla, tha páme apó edó.« Officer Tákis Marantós machte Christína ein Zeichen. »Komm, wir gehen hier lang.« Die Polizistin nickte dem Kollegen zu, bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Obwohl noch eine halbe Stunde Zeit war, die Kundgebung von Evángelos Papadópoulos war für sieben Uhr abends angemeldet, warteten bereits etwa drei Dutzend Neugierige auf den aus Athen angereisten Politiker. Das war kein Wunder, schließlich war der Name Evángelos Papadópoulos in aller Munde. Heilsbringer, Menschenverführer, Populist und Volksverräter, alles Bezeichnungen, die dem gerade Mal vierzig Jahre alten Griechen während der vergangenen Monate zugeschrieben worden waren. Wobei er sich selbst als Umweltschützer, als Beginner einer Zeitenwende, als Nachhaltigkeitsfanatiker, Tierliebhaber und Schaffer einer zeitgemäßen, gerechteren Weltordnung bezeichnete. Anfang September hatte seine Inseltour begonnen, und Páros war eine der ersten Stationen. Die Versammlung war ordnungsgemäß angemeldet und nach Rücksprache mit der Bürgermeisterin genehmigt worden.

Officer Christína Strátou trug heute die griechische Polizeiuniform. Obwohl sie im Berufsalltag mittlerweile meist Zivilkleidung trug, griff sie in Momenten, in denen sie sich ganz offensichtlich Autorität verschaffen wollte, gerne auf die Uniform zurück. Sie mochte die blaue Kleidung, den Stiftrock und die leicht taillierte Jacke, die ihre schlanke, hochgewachsene Figur betonten. Darüber hinaus sah ihr jeder von Weitem an, dass sie für Recht und Ordnung sorgte. Zur Uniform gehörte der Holster, in welchem ihre Dienstwaffe steckte. An Tagen wie diesen war es besser, auf alles vorbereitet zu sein. Man konnte ja nie wissen.

Nicht nur Christína und der Kollege sicherten den öffentlichen Parkplatz in Parikiá, der nur wenige Meter von der Kirche der Ekatontapilianí entfernt gelegen war. Der Chief Officer Marcéllo Maroúli hatte Polizeipräsenz angeordnet. Die Streifenpolizei war fast vollständig angerückt, und neben Christína und Tákis waren noch Éffi und Chrístos Sirínoglou im Einsatz. Die Beiden riegelten die rückwärtige Zufahrt des Platzes ab, sodass zu gegebener Stunde nur Evángelos Papadópoulos mit seinen Begleitern auf den Platz fahren konnte. Alles war genau geplant, denn vor ein paar Tagen hatte der Politiker einen Auftritt auf einer Nachbarinsel gehabt, wo es zu unschönen Szenen gekommen war. Evángelos Papadópoulos hatte neben all den grünen Parolen auch ganz offensichtlich rechtsgerichtete Ideen von sich gegeben, die das Publikum zum Toben gebracht hatten. Tomaten waren geflogen, einige Eier.

Die Fotos in der Presse hatten einen Großteil der griechischen Bevölkerung zum Staunen und einige auch zum Lachen gebracht. Aber eben nicht alle. Darüber hinaus war eine Schlägerei ausgebrochen. Und genau das sollte heute nicht wieder geschehen. Deshalb würde er nach seiner Kundgebung gemeinsam mit seinen Begleitern zum vorderen Ausgang des Platzes geleitet werden, von wo aus er seinen eigenen, privaten Plänen nachgehen konnte. Christína und Tákis hatten deshalb einige Verkehrsleitkegel auf der unter dem Platz vorbeiführenden Hauptstraße aufgestellt, damit niemand diesen Weg versperren konnte. Auch einen Behindertenparkplatz hatten sie nach einigem Hin und Her abgeriegelt. Jetzt, am Sonntag, musste niemand zwingend irgendwelcher Geschäfte am Hauptplatz von Paríkia nachgehen, wo die Banken und Behörden lagen, und somit war nicht mit einer Beschwerde zu rechnen.

Es war sieben Uhr, der Platz mittlerweile gefüllt, als das Stimmengewirr und Gelächter abebbten, welches über dem Platz lag, wie das Gezwitscher eines fröhlichen Vogelschwarms und ein Raunen durch die Menge ging. Evángelos Papadópoulos war in einer dunklen Limousine auf den Platz gefahren. Sogar die Scheiben waren abgetönt, fiel Christína auf, die unweit des Rednerpults neben Tákis stand. Sie deutete auf das ankommende Auto.

»Schau mal. Als ob er ein Superstar wäre oder ein Staatsgast.«

Tákis schüttelte den Kopf. »Ich kann den ganzen Hype um seine Person nicht verstehen.«

Der Beifahrer trat heraus, ging um den Wagen herum, öffnete dem Politiker die Tür.

»Neulich hat er Sprüche rausgelassen, die in Richtung Verfassungsfeindlichkeit gingen. So etwas kann unser Land wahrlich nicht brauchen«, sagte Tákis ernst.

Jetzt stieg Evángelos Papadópoulos aus, sah blinzelnd in die Menge. Ein Lächeln legte sich über sein ganzes Gesicht, seine Augen strahlten. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Ganz offensichtlich war er zufrieden, denn sein Lächeln wurde noch breiter. Er hob die Hand und winkte.

Aus den hinteren Reihen ertönte lautes Gejohle, Freudenschreie, die sich ansteckend auf die gesamte Menge auswirkten. Es wurde geklatscht, gejubelt. Christína trat ein paar Schritte vor, brachte sich in Position. Das hatte sie nicht erwartet, derartige Sympathiekundgebungen.

Papadópoulos schüttelte auf dem Weg zum Rednerpult einige Hände, wechselte ein paar Worte. Er schien sich wohlzufühlen, den Kontakt mit dem Volk zu genießen. Nun war er am Pult angekommen, faltete die Hände, verharrte ein paar Sekunden. Dann fiel sein Blick auf Christína, die schräg vor ihm stand. Er sah ihr in die Augen, verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Die Augen blieben kalt. Christína erstarrte zur Salzsäule, bekam auf der Stelle Gänsehaut. Sie wusste nicht warum, aber dieser Mensch versetzte sie in höchste Alarmbereitschaft. Als sie das Lächeln des Politikers nicht erwiderte, zog der für den Bruchteil einer Sekunde eine Augenbraue nach oben, wandte sich dann an die Menge, sprach einige Begrüßungsworte. Wieder Gejohle, Klatschen. Der Politiker lachte leutselig, sprach über die Situation im Land, die weltpolitische Lage. Alles ging gemäßigt voran, kein Ausspruch versetzte Christína in zunehmende Habachtstellung. Dafür brachte Evángelos Papadópoulos den einen oder anderen Witz. Nach einer knappen Stunde kam er zum Ende. Fragen aus dem Publikum beantwortete er nicht.

»Leider keine Zeit. Ich habe in Kürze eine wichtige Verabredung. Ein weiterer Párosbesuch steht bald an.«

Christína machte ein paar Schritte in Richtung Rednerpult, ging gemeinsam mit Tákis an der Seite des Politikers zu seinem Fahrzeug. Wieder schüttelte er einige Hände, lobte die interessierten Zuhörer, gab sich souverän und weltgewandt. Einer seiner Begleiter öffnete die linke Tür. Der Politiker winkte ein letztes Mal und stieg in den Fond des Wagens. Der Mitarbeiter warf die Tür zu, stieg selbst ebenfalls ein und die dunkle Limousine rollte los, in Richtung des unteren Ausgangs. Christína ließ das Fahrzeug nicht aus den Augen. Plötzlich bemerkte sie, dass das Auto des Politikers zum Stehen kam. Sie sah Tákis an, der ihren alarmierten Blick erwiderte. Sie liefen los.

Der Fahrer war ausgestiegen, als die Polizisten an der unteren Absperrung angekommen waren. Chrístos Sirínoglou stand jetzt dort, ebenso Éffi. Chrístos hatte sein Telefon am Ohr, redete aufgeregt. Sein Gesicht war ratlos. Mittlerweile waren auch die beiden anderen Begleiter von Evángelos Papadópoulos ausgestiegen, nur er selbst blieb sitzen. Nun erkannte Christína, was geschehen war. Irgendein Auto war auf dem Behindertenparkplatz abgestellt worden. Der Fahrer oder die Fahrerin hatte die Verkehrsleitkegel beiseitegestellt, geparkt. Und nicht nur das, ganz offensichtlich unberechtigterweise, da kein Behindertenausweis im Inneren des Wagens zu sehen war. Vielleicht will jemand den Redner ärgern, fragte sich Christína und musste fast ein wenig lächeln. Vielleicht war das Absicht?

Papadópoulos’ Begleiter waren erbost, die Freundlichkeit, die das Quartett während der vergangenen Stunde ausgestrahlt hatte, wie weggewischt. Nun ging alles ganz schnell. Ein Streifenpolizist tauchte auf, hatte geeignetes Werkzeug in der Tasche, und schraubte die Nummernschilder ab. Fast jeder im Land wusste, dass das unberechtigte Parken auf einem Behindertenparkplatz eine heftige Strafe nach sich zog. Zu einer Geldbuße kam noch ein Fahrverbot von bis zu zwei Monaten.

»Kann denn niemand das Auto wegschieben?«, rief der Fahrer der Limousine. »Wir haben eine Verabredung.«

Der Streifenpolizist legte die Nummernschilder auf den Gehweg. Gemeinsam mit Tákis und Chrístos versuchte er, das Fahrzeug zurückzuschieben. Das gestaltete sich nicht einfach, denn offensichtlich war die Handbremse angezogen. Christína blickte auf den Wagen des Politikers, auf die abgedunkelten Scheiben. Papadópoulos machte noch immer keine Anstalten, das Auto zu verlassen. Wieder stieg ein merkwürdiges Gefühl in Christína auf. Die Zuhörer, die den Platz am oberen Ausgang verlassen hätten sollen, hatten von der Panne mitbekommen und waren neugierig zur unteren Ausfahrt gelaufen. Einige boten über die Absperrung hinweg an, zu helfen. Rufe wurden laut, dass das Auto aus der Parklücke herausgehoben werden sollte.

Eine Frau mittleren Alters humpelte den Gehweg entlang. Ihre Bluse, die sie zur weißen Hose trug, leuchtete in allen Farben. Je näher sie kam, desto deutlicher sah Christína die Beinschiene, die sie über der Hose trug. Auch hatte sie eine Krücke. Es war ganz offensichtlich, dass sie sich verletzt hatte, deshalb nicht richtig gehen konnte. Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Was ist hier los?«, fragte sie die Polizisten, die sich an ihrem Auto zu schaffen machten. Ihr Blick fiel auf die Nummernschilder, die auf dem Gehweg lagen.

»Was soll das?« Sie deutete auf ihr Bein. »Ich habe meinen Fuß mehrfach gebrochen. Vier Wochen ist das her. Ich kann nur schlecht gehen.« Sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht, um ihre Behauptung zu untermalen. »Ich musste hier parken. Alle anderen Plätze sind belegt. Was sollte ich denn sonst machen? Das ist der Behindertenparkplatz.«

Sie ließ den Blick über die Menschentraube schweifen, die hinter der Absperrung auf dem Platz stand, suchte Zustimmung. Sie erhielt keine Reaktion, nur Gelächter, ein paar Pfiffe. Nun bemerkte sie die Limousine mit den verdunkelten Scheiben. Für einen Moment sah sie aus, als ob sie gleich losheulen würde.

Tákis Marantós nahm sie am Arm, schob sie in Richtung der Fahrertür ihres Autos.

»Gute Frau, jetzt fahren Sie erst einmal das Auto ein paar Meter weiter, und dann besprechen wir das alles!«

Nur wenige Minuten später stand sie in zweiter Reihe neben einem anderen geparkten Fahrzeug. Papadópoulos’ Entourage war wieder eingestiegen, der Wagen rollte auf den Gehweg. Jetzt öffnete sich das hintere, linke Fenster und Evángelos Papadópoulos streckte den Kopf heraus. Der Politiker hatte das Jackett ausgezogen, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Christína fiel auf, dass er einige Tätowierungen auf dem Unterarm hatte.

Papadópoulos sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»So etwas habe ich noch nie erlebt. Unfähig.«

Er verstummte, musterte die Polizistin von oben bis unten. »Ich komme wieder.«

Das klang wie eine Drohung, dachte Christína. Die Stimme kalt, vorbei war der loyale, freundliche Ton. Dann schloss Papadópoulos das Fenster und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Die Frau mit der Beinschiene, die unmittelbar neben ihr stand, schaute sie entsetzt an. »Verrückt. Das war böse. «

»Τι τρελή ημέρα.«

»Ti trelí iméra.« Tákis schüttelte den Kopf. »Was für ein verrückter Tag.« Christína konnte ihm nur beipflichten. Sie hatte sich ihren Sonntag anders vorgestellt, mit ihrer Freundin Geórgie einen Spaziergang mit dem Hund geplant. Aber dafür war es nun zu spät. Die Schmuckdesignerin, die sie aus Jugendtagen kannte, und die sie ganz überraschend auf Páros wiedergetroffen hatte, war während der letzten Monate zu einer engen Freundin geworden. Mehrmals die Woche trafen sie sich zum Sport, oder machten ausgedehnte Spaziergänge mit dem Labradormischling, den Geórgie und ihr Mann Peter vor zwei Monaten in einer Mülltonne gefunden hatten. Natürlich hatte das Paar das Tier aufgenommen, und den Hundewelpen, der etwa drei Wochen alt war, mit der Flasche großgezogen. Bald hatte sich Tiffany, so hatte Geórgie das Hundemädchen getauft, gut erholt, und war mittlerweile wohlgenährt und agil.

Christína betrat mit dem Kollegen das Großraumbüro, stellte ihren Rucksack ab und setzte sich für einige Minuten an ihren Platz. Tákis legte die Nummernschilder auf den Tresen, damit sie Montag früh gleich auffindbar wären. Die aufgelöste Frau, Theodóra Perpétoulis, wie sie mittlerweile wussten, sollte auf die Polizeistation kommen. Dann würde eine Anzeige aufgenommen werden. Fest stand, dass ihr Führerschein erst einmal weg war. Nachdem Evángelos Papadópoulos abgefahren war, hatte sie auf die Polizisten eingeredet, sie überzeugen wollen, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Erst freundlich, dann, als sie bemerkte, dass sie auf taube Ohren stieß, zunehmend unmutiger. Sie wäre eine Hotelbesitzerin, und ohne ihr Auto verloren. Schließlich ging die Saison noch eine Weile. Jemand wie der Politiker dürfte mit hundert Sachen die Straße entlangpreschen, für ihn galten andere Regeln als für die einfachen Leute. Christína musste schmunzeln. Ganz so schnell war es nicht gewesen. Sie hatte die Hotelbesitzerin innerlich ein wenig gefeiert, schließlich hatte der Politiker, auch seine Begleiter ihr wahres Gesicht gezeigt, waren von der Gutmenschschiene abgewichen. Sie hatte sich sogar von Papadópoulos unterschwellig bedroht gefühlt.

Während Tákis einen Bericht schrieb, zog Christína ihr Handy hervor. Níkos hatte versucht, sie zu erreichen. Seitdem ihr Mann von der deutschen Firma, bei der er angestellt war, für ein zweijähriges Projekt nach Saudi-Arabien geschickt worden war, telefonierten sie mehrfach täglich. Sie textete, dass sie noch auf dem Revier sei, und sie ihn vor dem Schlafengehen zurückrufen würde. Schließlich wusste sie, dass er Sonntagabend mit den Kollegen eine Jour fix hatte, sie sich in einem Restaurant trafen. Auch Konstantína, ihre Tochter, hatte versucht, sie zu kontaktieren. Sie wollte mit ihr einen Kurztrip nach München besprechen. Ein mehrtägiger Aufenthalt war seit Längerem geplant. Am Wochenende aufs Oktoberfest, am Montag eine Fahrt an den Tegernsee, wo Konstantína gemeinsam mit Freunden auf den Riederstein steigen wollte. Einem Berg, von dessen Spitze herunter sie einen herrlichen Ausblick über das gesamte Alpenvorland haben würden.

Christína dachte an die Zeit in Deutschland zurück, an ihr Haus in einem Vorort von München, die Anstellung, die sie für mehrere Jahre in einer Sicherheitsfirma gehabt hatte, während sie bei der griechischen Polizei beurlaubt gewesen war. Sie hatte ihr Leben geliebt. Es war unaufgeregt und bequem gewesen. Inzwischen erschien ihr das alles so weit weg, obwohl sie erst seit den letzten Apriltagen auf der Insel wohnte. Sie hatte es keine Sekunde bereut, dass sie zurück in ihren alten Job gegangen war, nachdem ihr Níkos unterbreitet hatte, dass er der Karriere wegen nach Riad versetzt werden würde. Unwillkürlich lächelte Christína, als sie an ihren Mann dachte. Die Fernbeziehung hatte ihnen nicht geschadet. Sie schaute auf die Uhr. Es war inzwischen fast neun Uhr. Sie beschloss, sich zu beeilen und die Tochter zurückzurufen, wenn sie zu Hause angekommen war.

Tákis stand auf, hatte den Bericht beendet. Gemeinsam gingen sie in das untere Stockwerk, und Christína sperrte ihre Waffe ins Waffenfach. Der Kollege begleitete sie noch bis zu ihrem Mofa, nicht ohne noch ein paar Bemerkungen über die aufgelöste Hotelbesitzerin zu machen, die Evángelos Papadópoulos und seine Leute eingeparkt und damit aus der Fassung gebracht hatte. Christína verstaute den Rucksack im Korb, zog sich den Helm über und winkte Tákis zum Abschied zu.

»Σε παρακαλώ.«

»Se parakaló.« Konstantínas Stimme klang einschmeichelnd. »Bitte. Lass unser gemeinsames Wochenende nicht platzen. Wir hätten jede Menge Spaß.« Natürlich hatte die Tochter recht. Das Oktoberfest, bei weiß-blauem bayerischen Himmel, ein Ausflug in die Berge. »Papa ist auch dabei. Wir haben doch alles geplant«, drang es an ihr Ohr. Das hörte sich verführerisch an. Sie alle beisammen. Níkos’ Chef hatte signalisiert, dass er sich ein paar Tage freinehmen könne. Als Ausgleich für die vergangenen Wochen, in denen er kaum zum Durchatmen gekommen war. Auch Leftéris, ihr Sohn, war einem Besuch nicht abgeneigt. Er liebte das Oktoberfest. Und von Passau aus, wo er Jura studierte, hatte er es nicht weit. Nur sie hatte es bisher noch nicht geschafft, ihren Chef Marcéllo Maroúi um ein paar Tage Urlaub zu bitten. Er war wegen einem landesweiten Treffen aller Dienststellenleiter nicht auf der Insel gewesen und erst seit dem Wochenende zurück.

Christína hatte die Polizeiuniform gegen bequeme Kleidung getauscht, trug mittlerweile Jeans und T-Shirt. Sie saß gemütlich auf dem Außensofa, ein Glas Zitronenwasser vor sich, daneben ein Stück Feta, Oliven, dazu ein Bauernbrot. Sie trennte mit der Gabel eine Ecke Käse ab, steckte sie gemeinsam mit einer Olive in den Mund.

»Bitte. Papa will morgen seinen Flug buchen«, tönte es durch die Leitung.

Christína nahm den Kern aus dem Mund, legte ihn auf dem Teller ab. Die Verbindung von Riad nach München war nicht schlecht, das wusste sie. Für Níkos machte es kaum einen Unterschied, ob er am Wochenende nach Páros flog oder in die bayerische Landeshauptstadt. Die zusätzlichen Kilometer wurden durch das Umsteigen in Athen wettgemacht. Und kommendes Wochenende würde er voraussichtlich zwei oder drei Extratage erhalten, wie sein Chef angekündigt hatte. Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen. Der Mond war längst aufgegangen, leuchtete hell vom Himmel. Die drei Windmühlen, die wie eine Kette vor ihr in der Ebene standen, waren beleuchtet. In einiger Entfernung dahinter dunkel das Meer, und im Anschluss die Lichter von Náxos Stadt. Die Tochter sprach weiter, machte Pläne. Dazwischen immer wieder eine kurze Pause, scheinbar wartete sie auf eine positive Antwort.

»Ich werde morgen mit dem Chief Officer sprechen. Versprochen.«

Sie hörte ein erleichtertes Aufatmen.

»Du hast doch das Wochenende frei. Da kann doch alles andere kein Problem sein. Nur zwei Tage länger. Dann können wir eine Menge unternehmen.«

Christína musste lachen. Was wusste die Tochter von den komplizierten Personalplänen auf dem Polizeirevier. Sie zog ihren blonden Pferdeschwanz zurecht, strich eine vorwitzige Strähne aus der Stirn. »Ich versuche es«, versprach sie, worauf sie überschwängliche Dankesworte erntete.

Sie spürte, dass Konstantína ein Treffen wichtig war, die Aktivitäten möglicherweise nur ein Aufhänger. Vielleicht hatte sie Probleme, schoss es ihr durch den Kopf. Neulich hatte sie von ihren Studien erzählt, davon, dass sie in manchen Fächern trotz des hohen Arbeitsaufwands keine guten Ergebnisse erzielte, hatte sogar laut darüber nachgedacht, das Studium hinzuschmeißen, eine Konditorlehre zu beginnen. Das war kein gutes Zeichen. Mitten in ihre Überlegungen hinein klopfte es in der Leitung an. Sie schaute auf das Display. Die Nummer des Polizeireviers. Sie legte die Stirn in Falten. Ein Anruf um diese Uhrzeit war ungewöhnlich. Es musste etwas geschehen sein.

»Wie läuft es mit dem Studium?«, änderte sie abrupt das Thema.

»Mama.« Das klang ungehalten.

Christína fühlte, dass sie besser nichts mehr sagte. Wieder das Klopfgeräusch. Es schien dringend zu sein. Sie seufzte. »Konstantína, ich frage den Chief. Ich rufe dich morgen an. Versprochen. Noch bevor du in die Vorlesung gehst.«

Die Tochter gab sich zufrieden und sie verabschiedeten sich.

Christína erhob sich, nahm Teller und Glas, trug das Geschirr zurück in die Küche. Während sie die Essensreste im Kühlschrank verstaute, betätigte sie die Rückruftaste. Pános nahm umgehend ab.

»Endlich. Eine Spaziergängerin hat eine Leiche gefunden. Einen Mann, vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt. In Glýfa. Fánis und Marantós müssten schon am Fundort sein. Der Chief regelt auf dem Revier noch einiges, dann bricht er ebenfalls auf.«

Pános Alexákis arbeitete seit drei Monaten bei der Polizei von Páros. Er war ein erfahrener Polizist, Mitte vierzig, der bisher in einem der Außenbezirke Athens eingesetzt gewesen war. Christína kam sehr gut mit ihm zurecht, obwohl er gelegentlich aufbrausend sein konnte und sich während seiner Zeit in der Hauptstadt, wo er es häufig mit Schwerverbrechern zu tun hatte, einen manchmal rüden Ton angewöhnt hatte. Hinter der rauen Schale verbarg sich ein weicher Kern. Pános war ein Gewinn für das gesamte Team, denn ihm war keine Arbeit zu viel und nichts konnte ihn so leicht aus der Ruhe bringen.

Während sie das Wasserglas austrank und in der Spülmaschine verstaute, gab Pános weitere Informationen. »Der Mann liegt inmitten einiger Windlichter. Scheinbar hatte er ein Essen am Strand geplant. Du sollst nach Glýfa kommen. Maroúli baut auf dich. Ich halte hier die Stellung.«

Christína griff nach dem Rucksack, verstaute ihr Handy.

»Ich schicke dir den Standort. Die Leiche liegt etwas abseits, am Rand des bekannten Strandes«, sagte Pános, legte auf.

Der Chief hatte nach der schrecklichen Nachricht anscheinend das ganze Team zurück aufs Revier gerufen. Pános sollte ihm wohl bei den Formalitäten zur Hand gehen. Die Ärztin anrufen, die Spurensicherung. Sie nahm den Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu.

Kurz überlegte die Polizistin, ob sie das Mofa nehmen sollte, entschied sich dann aber für den Jeep. Es war Nacht und sie wusste nicht, was auf sie zukommen würde. Sie stieg in das Auto, fuhr durch das Tor hinaus auf den Schotterweg. Bei jeder Bodenwelle, jedem Schlagloch drangen die Scheinwerfer durch die vor ihr liegende Dunkelheit. In der Ferne sah sie den erst vor einigen Monaten errichteten Zaun im Mondlicht weiß leuchten, dahinter Büsche, und schemenhaft den Unterstand für den Esel und das Eselfohlen, die um diese Uhrzeit schliefen. Zügig fuhr sie weiter, auf die Hauptstraße, vorbei an Lefkés, wo der Straßenrand von unzähligen Autos zugeparkt war. Schließlich war das Bergdorf mit den idyllischen Gassen zwischen weißen Inselhäuschen, den traditionellen Tavernen und der Kirche der Agía Triáda nicht nur tagsüber ein beliebtes Ausflugsziel.

Nachdem sie Márpissa hinter sich gelassen hatte, nahm sie die Straße parallel zum Meer, in Richtung Driós. Im Scheinwerferlicht entdeckte sie das Hinweisschild mit der Aufschrift »Glýfa Beach«. Sie fuhr an den Straßenrand, hielt an und zog ihr Handy aus dem Rucksack, öffnete den Standort. Sie war nur wenige Meter von der Stichstraße entfernt, die hinunter zu dem kleinen Strandabschnitt führte. Schon aus der Ferne konnte sie im Licht zweier aufgestellter Bodenlampen erkennen, dass der Fundort der Leiche bereits gesichert war.

Fánis und Marantós hatten ganze Arbeit geleistet, den Platz weiträumig mit einem rot-weißen Flatterband gesperrt. Sie kannte den Aufdruck nur zu gut: Police Crime Scene. Do not enter. In dem gesicherten Feld entdeckte sie die Windlichter, von denen Pános am Telefon gesprochen hatte. Sie brannten noch immer. Daneben lag ein Körper im Sand. Ganz eindeutig die Leiche. Sie stellte den Jeep gut hundert Meter entfernt in einer Einbuchtung ab. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, nachdem die Scheinwerfer des Autos erloschen waren. Jetzt nahm sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach, die sie dort vorsorglich verstaut hatte, stieg aus, und leuchtete einmal kurz auf den vor ihr liegenden Weg. Dann ging sie geradewegs auf die abgesperrte, ausgeleuchtete Fläche zu. Den Strandabschnitt hinauf schien alles von der Dunkelheit verschluckt zu sein, nur schemenhaft nahm sie ein Gebäude wahr. Nachdem sie die Kollegen mit einem knappen Kopfnicken begrüßt hatte, bemerkte sie, dass die Windlichter in der Dunkelheit flackerten. Ein gespenstischer Anblick, hier, am zu dieser Uhrzeit einsamen Strand von Glýfa. Die weißen Kerzen in den Windlichtern, der tote Körper. Dahinter das weite Meer, vom Licht des Vollmonds weich beschienen. Sie begrüßte die Kollegen, ließ sich dünne Handschuhe geben.

Fánis, der hinter dem Absperrband stand, war darauf bedacht, sich möglichst wenig zu bewegen, um nicht unnötig Spuren zu vernichten. Jetzt bemerkte sie, dass der Sandboden im Umkreis der Leiche von Fußspuren durchsetzt war, die jedoch fast ausnahmslos mit einem Gegenstand verwischt worden waren. Sie sah, wie der Kollege die Leiche absuchte. Fánis hatte sich ebenfalls durchsichtige Handschuhe über die Finger gezogen. Er klopfte die Kleidung des Toten sorgfältig ab und fand ein Handy in der Innentasche, welches er sicherstellte. Er hielt es ins Licht, besah es von allen Seiten. »Ein neues iPhone«. Er wischte über das Display, drückte wahllos auf einige Tasten. Wie nicht anders zu erwarten, war das Gerät mit einem Code gesichert. »Kein Problem für unsere Techniker.«

Marantós hielt Fánis einen Plastikbeutel hin, in den er vorsichtig das Gerät steckte. Er bückte sich wieder zum leblosen Körper hinunter, suchte die Kleidung weiter ab. Jetzt schien er noch etwas entdeckt zu haben, denn er hielt in der Bewegung inne. Er zog einen Schlüsselbund aus der Seitentasche. Mehrere Schlüssel an einem Ring, daran ein goldener Herzanhänger. Fánis schien einen weiteren Gegenstand gespürt zu haben, griff erneut in die Tasche. Seine dunklen Locken fielen ihm in die Augen, während er sich zur Leiche hinabbückte. Mit einem Ruck kam er wieder hoch. In seiner Linken war ein weiterer Schlüsselanhänger. Dieser hatte ebenfalls ein Herz, das fast identisch gearbeitet war. An diesem Ring hing allerdings nur ein Schlüssel. Fánis sah auf die Exponate, zuckte mit den Schultern. »Sieht nach Partnerlook aus. Beide mit Herz. Kann auch Zufall sein.«

Der Police Officer machte Marantós ein Zeichen und dieser zückte eine weitere Plastiktüte, in die er die Schlüsselanhänger steckte.

Christína ging ein paar Schritte auf das Wasser zu, sah sich um. Der Strand fiel sanft ab in Richtung Meer. Leise und rhythmisch wogten die Wellen. Heute war ein windstiller Tag, eine sternenklare Vollmondnacht. Sie seufzte, drehte sich nochmals zum Toten. Ganz offensichtlich war er während der Aufbauarbeiten für ein Picknick überrascht worden. Wo war der Gast? Oder hätten es mehrere sein sollen? Noch war kein Tisch, keine Stühle aufgebaut gewesen. Oder war das nicht vorgesehen? Vielleicht nur eine Decke im Sand geplant? Fragen über Fragen. Würden sie womöglich eine zweite Leiche finden? Sie verwarf den Gedanken. Der Mörder oder die Mörderin hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Trotzdem blickte sie sich weiter um. Wenige Meter den Strand hinauf sah sie das Gebäude, welches sie bei ihrer Ankunft schemenhaft wahrgenommen hatte. Offensichtlich wurden dort größere Renovierungsarbeiten ausgeführt. Eine Zementtrommel war aufgestellt, daneben Säcke, die allem Anschein nach mit Steinen und Sand gefüllt waren, ein Container und diverse Gerätschaften. Sie meinte sich zu erinnern, dass sie in der »Páros News« von dem Projekt gelesen hatte. Ein Apartmenthotel sollte hier eröffnet werden, adults only. Hinter einem halb geöffneten Tor entdeckte sie große, abgelegte Pflanzen, die Wurzelballen in Stoff eingeschlagen.

Sie wandte den Kopf zu Fánis, der erneut in die Mitte des abgesperrten Feldes getreten war. Das schmale Gesicht unter den dunklen Haaren leuchtete fahl im Mondlicht. Er schien voll in seinem Element zu sein, war eifrig bei der Sache. Als ob er dem Chief Officer möglichst viele Ergebnisse liefern wollte, wenn er hier ankam. Ganz offensichtlich hatte er die Führung übernommen, gab vor, was zu tun war.

Christína beschloss nicht zurück zum Leichenfundort und zu Fánis zu gehen, sondern erst einmal die Apartmentanlage zu inspizieren. Mit der Taschenlampe leuchtete sie den Strand ab, bewegte sich vorsichtig von der Strandseite auf die Baustelle zu, darauf bedacht, keine Spuren zu vernichten. Je näher sie kam, desto mehr Fußspuren entdeckte sie im Schein der Taschenlampe. Da waren auch ein paar Sträucher, Disteln. Sie zückte ihr Handy, machte mit der Kamera schon mal vorab ein paar Fotos. Bei der Anlage angekommen, leuchtete sie das Gebäude halbkreisförmig ab. Erkannte, dass es verlassen war. Nur eine Katze maunzte zwischen Baustoffsäcken und sprang fauchend davon. Von ihrem Standort aus konnte sie nur Mauern, Steine und Arbeitsgeräte sehen. Die Spurensicherung würde sich im Laufe der nächsten Stunden einen Überblick verschaffen.

Wenig später war Christína zurück bei ihrem Team, stand an der Absperrung.

»Hast du etwas Wichtiges ausfindig machen können?«, wollte Fánis wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Die Baustelle wirkt verlassen. Kein Wunder um die Uhrzeit. Nur eine streunende Katze.«

Sie zuckte die Schultern. »Ich habe ein paar Fotos zur Dokumentation gemacht.«

Fánis nickte. »Die Polizeiärztin müsste bald auftauchen. Sie muss den Tod feststellen.«Jetzt schüttelte er den Kopf. Seine Locken, die im Gegenlicht wie ein Helm wirkten, wippten. »Reine Formsache. Bei dem Schuss.«

Das war Usus, es gab keinen Weg an diesem Prozedere vorbei, da konnte der Sachverhalt noch so offensichtlich sein. Christína hatte Jóta Marcharídou während des vergangenen halben Jahrs mehrfach getroffen. Die Mittdreißigerin war eine kompetente Ärztin, arbeitete zügig und effektiv.

Das Geräusch eines ankommenden Autos ließ sie zusammenzucken, riss Christína aus den Gedanken. Der Chief Officer. Ein Streifenpolizist saß am Steuer, parkte. Marcéllo Maroúlis stieg aus. Der Fahrer tat es ihm gleich und ging um den Wagen herum, zum Kofferraum. Jetzt winkte Maroúli Marantós heran, auch Fánis. Christína beobachtete, wie sie gemeinsam Geräte aus dem Kofferraum hoben, Lampen, Stative, eine Batterie, auch einen Trafo. Sie trat zu ihnen, um zu helfen. Wenig später war der Tatort noch besser ausgeleuchtet, auch die daran angrenzenden Flächen.

Fánis informierte den Chief, dass er das Handy des Toten sichergestellt hatte. Auch sprach er von den Schlüsselanhängern. Christína ging halb um das abgesperrte Feld herum, blieb stehen, beobachtete die Szenerie. Sie sah, wie die Kollegen hinter die Absperrung traten. Maroúli scannte den Toten mit den Augen richtiggehend ab, nahm die Einschusswunden unter die Lupe. Anschließend machte er dasselbe mit dem Strandabschnitt. Fánis und Marantós machten währenddessen mit den Handykameras Fotos. Christína wusste, dass Maroúli nach Patronenhülsen und auch Projektilen Ausschau hielt. Sie tat es ihm nach, konnte aber trotz der guten Beleuchtung nichts erkennen. Das war nicht verwunderlich, denn die Hülsen konnten ein ganzes Stück hinter dem Körper ausgeworfen und im Sandboden verschwunden sein. Natürlich gab es auch die Möglichkeit, dass der Täter oder die Täterin sie gefunden und mitgenommen hatte.

Ein weiteres Mal sah sich Christína den Toten an, das fein geschnittene Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geschwungenen Nase. Der Mund war voll, der Amorbogen gut ausgeprägt. Die leicht geschlossenen Augen waren haselnussbraun, im Tod kalt und glasig. Sie konnte sich gut vorstellen, dass diese Augen noch vor wenigen Stunden fröhlich dreingeblickt hatten, weich und warmherzig vielleicht. Glücklich, ein junger Mann, der einen schönen Abend vor sich hatte. Das Haar klebte merkwürdig an dessen Kopf. Fast, als ob es nass gewesen wäre. Pomade, fragte sie sich, schüttelte den Kopf. Das war nicht zeitgemäß. Eher Haarlack. Der Haarschnitt war ungewöhnlich. Die Vorderpartie lang, am Hinterkopf jedoch kurzgehalten, so sah es für sie in dieser Position aus. Sie bemerkte, dass Maroúli ein Stück zur Seite ging, auf einen Busch zu.

»Da«, der Chief Officer zeigte auf das Gewächs.

»Der Mörder hat einen Zweig abgebrochen und damit seine Spuren verwischt.«

Christína blickte wieder zu der Baustelle. Dieses Mal von der anderen Seite. Von ihrem Standort aus konnte sie sehen, dass vor der Anlage ein Auto stand, in dessen Innenraum ein schwaches Licht brannte. Der Kofferraum war weit geöffnet, ebenso die Beifahrertür. Sie mutmaßte, dass das Fahrzeug dem Toten gehörte. Damit war zumindest die Frage geklärt, wie er an den Strand gekommen war. Er schien das Auto entladen zu haben, als er von seinem Mörder überrascht worden war.

Christína deutete mit dem Kinn in Richtung des Fahrzeuges.

»Ich glaub, das ist das Auto des Toten. Das schau ich mir an.«

Maroúli nickte zustimmend, zog sein Handy aus der Tasche und rief den Staatsanwalt an. Die Begrüßung fiel freundlich aus, dann nahm die Stimme des Chiefs einen sorgenvollen Ton an. Eine Leiche, das war keine gute Nachricht.

Das war der Moment, in dem Christína sich abwandte. Die Polizistin ging mit angeschalteter Taschenlampe auf das Apartmentgebäude zu, leuchtete das Haus von dieser Seite ab. Hier war ebenfalls niemand zu sehen, soweit sie das von ihrer Position aus feststellen konnte. Die Spurensicherung würde sich das alles in Kürze genauer ansehen, da war sie sich sicher. Sie drehte sich zum Wagen. Ein Porsche Cayenne, wie Christína erkannte. Schwarz metallic. Ohne Frage ein sehr schickes Auto.

Sie schaute in den Kofferraum. Ein Klapptisch, darauf mehrere Stühle, ebenfalls zusammengeklappt. Diese erinnerten sie an Regiestühle, wie sie es häufig auf Aufnahmen bei Filmsets gesehen hatte. Ihr Stoff schimmerte hell im Licht der Kofferraumbeleuchtung. Daneben stand ein Weidenkorb, aus dem eine Weinflasche, Gläser und ein Baguette ragten. Sie beugte sich über den Korb, hob die Flasche und das Baguette mit ihrer behandschuhten Rechten an. Der Wein stammte vom hiesigen Winzer Moraítis, wie sie sofort erkannte. Dann schob sie eine Tupperdose beiseite. Jetzt entdeckte sie weiße Tischwäsche. Sie nahm an, dass es sich um eine Tischdecke und Stoffservietten handelte. Darunter weitere Tupperdosen, die mit Speisen gefüllt waren.

Nun ging sie ums Auto herum, zur geöffneten Beifahrertür. Im Fußraum sichtete sie ein paar Hibiskusblüten. Die Blumen leuchteten rot und sahen frisch aus, obwohl sie es mittlerweile schon eine Weile im Inneren des Wagens aushalten hatten müssen. Sie seufzte leise. Der Tote hatte den Abend genau vorbereitet. Vielleicht hatte er seine Geliebte erwartet, überlegte Christína. Sie trat einen Schritt zurück, ließ den Blick über den Strand gleiten. Die abgesperrte Fundstelle, wo die Kollegen zugange waren, dahinter der Sandstrand und das weite Meer, das gespenstisch im Mondlicht glänzte. Sie wandte sich um, schaute auf die Baustelle. Es war ganz offensichtlich, dass der Tote damit gerechnet hatte, den Strandabschnitt für sich zu haben. Keine Zeugen für ein möglicherweise romantisches Stelldichein, allerdings auch keine Zeugen für einen Mord. Aber wo war der Gast? Das bei der Leiche gefundene Handy würde mit hoher Wahrscheinlichkeit Aufschluss darüber geben, wen der Tote an diesen abgelegenen Ort bestellt hatte. Wo war diese Person? Mittlerweile müsste sie hier eingetroffen sein. Christína drehte sich in die andere Richtung, schaute auf die Stichstraße, auf der auch sie hierhergefahren war. Da war niemand. Kein Licht deutete auf ein weiteres Fahrzeug hin. Mit einem Mal fröstelte sie.

Sie machte wieder einen Schritt aufs Auto zu, beugte sich hinein, öffnete das Handschuhfach. Ganz offensichtlich war der Halter des Fahrzeugs ein ordentlicher Mensch. Zwei akkurat ausgerichtete Stapel lagen vor ihr. Die Fahrzeugpapiere in einer blauen Plastikmappe, darauf der Versicherungsschein und ein weiteres Mäppchen voll mit Tankquittungen. So aufbewahrt, als ob der Fahrzeugbesitzer sie mit jemandem abrechnen würde. Sie zog den anderen Stapel heraus. Überwiegend Briefe und einige Prospekte. Allesamt an einen Tínos Kourvélis. Eine Adresse in Náoussa. Panórmou 27.

Christína zog den Fahrzeugschein heraus. Das Auto war ebenfalls auf einen Tínos Kourvélis zugelassen. Jetzt fehlte nur noch ein Ausweis mit Lichtbild, dann wüsste sie genau, ob das der Name des Toten war.

Mit dem Fahrzeugschein und einigen Briefen in der Hand ging sie zurück zu den Kollegen. »Höchstwahrscheinlich haben wir den Namen des Toten. Auch die Adresse. Tínos Kourvélis, wohnhaft in Náoussa. Panórmou 27. Das ist in der Nähe des Agía Anagíri Strandes.«

Maroúli nahm den Fahrzeugschein und die Briefe.

»Richtig. Das ist sein Name. Wir haben mittlerweile seinen Ausweis. Das Foto hat den Aufschluss gegeben.«

Jetzt fiel Christína auf, dass Marantós einen schwarzen Geldbeutel in der Hand hielt.

»Der steckte in seiner hinteren Hosentasche. Ein edles Stück.« Er pfiff anerkennend durch die Zähne. »Krokodilleder. Kaum bezahlbar.«

Marantós zog eine Augenbraue nach oben. »Ist das überhaupt erlaubt? Krokodilleder? Ein Faustschlag gegen den Artenschutz.«

Christína wusste es nicht. Auf jeden Fall schien der Tote eine Vorliebe für hochpreisige Dinge zu haben. Sie griff nach der Börse, wendete sie in der Hand.

»Hochwertiges Design. Das nützt ihm jetzt auch nichts mehr.«

Marantós reichte ihr einen Personalausweis.

Ganz eindeutig gehörte der Ausweis dem Toten. Auf dem Foto trug er ein einfaches, schwarzes T-Shirt und eine dicke, silberne Kette um den Hals. Christína war erstaunt.

»Eine ganz andere Erscheinung als heute. Das T-Shirt, die Haare kurz geschoren.«

Wie ein junger Student sah Tínos Kourvélis auf der Aufnahme aus, sagte sie, wenn sie es gutwillig betrachtete. »Sonst könnte man meinen, er hätte Kontakte zur rechten Szene gehabt. Skin Heads oder Ähnliches.«

Maroúli pflichtete ihr bei. Marantós machte sie darauf aufmerksam, dass auf dem Dokument eine Adresse in Athen angegeben war. In Kolonós. Christína wusste, dass es sich bei diesem Viertel nicht um das beste der Stadt handelte. In der Nähe des Bahnhofs gelegen, einfache Häuser, eine Arbeitergegend. Sie kontrollierte das Ausstellungsdatum des Ausweises. Es lag fünf Jahre zurück. Machte mit dem Handy auch ein Foto davon.

»Er hat sich sehr verändert«, murmelte sie.

Die Kollegen nickten einhellig.

Maroúli nahm erneut sein Telefon, wählte. »Officer Alexákis, bitte tun Sie mir einen Gefallen. Der Tote heißt Tínos Kourvélis. Wohnhaft in Náoussa. Panórmou 27. Ich brauche alle Informationen. Auch Namen und Adressen eventueller Angehöriger.«

Christína beobachtete den Chief, wie konzentriert er war. Sie hörte Pános’ Stimme durch die Leitung. Etwas schien auf dem Revier nicht in Ordnung zu sein. Er redete und redete. Der Chief Officer verzog den Mund, zuckte die Schultern.

»Okay«, sagte er geschäftsmäßig.

»Ich werde Officer Strátou bitten, im Revier vorbeizufahren.«

Sie fühlte seinen fragenden Blick auf sich ruhen. Nickte. Natürlich würde sie den Umweg über Paríkia und die Polizeistation machen, wenn das notwendig war. Anschließend würde sie gerne zur Adresse des Toten fahren. Schnell, denn möglicherweise würden sie dort etwas Aufschlussreiches finden, etwas, das sie zu seinem Mörder oder der Mörderin führen würde. Maroúli beendete das Gespräch, steckte das Telefon wieder ein.

»Officer Strátou, bitte fahren Sie aufs Revier. Die Zeugin, die den Toten gefunden hat, ist vor ein paar Minuten eingetroffen. Sie ist total durcheinander. Die Streifenpolizisten, die sie abgeholt haben, konnten sie kaum beruhigen. Sie hat sich so erschrocken, beim Entdecken des Toten, dass sie ein Stück weitergelaufen ist. Dort ist sie einen Abhang hinuntergestürzt. Dabei hat sie sich eine ordentliche Verletzung zugezogen.«

Er sah Christína fast schon ratlos an.

»Das ist nicht so ohne, denn es handelt sich um Lía Salinákis. Die bekannte Ballerina.«

Das hätte Maroúli nicht hinzufügen müssen. Kaum jemand im Land kannte die junge Frau nicht. Sie hatte es zu internationalem Ruhm gebracht und verfügte über eine riesige Fangemeinde.

»Die Kollegen sind erst mal mit ihr in die Notaufnahme des Krankenhauses gegangen. Ich weiß, dass es gerade nicht passt, aber …«, er zuckte mit den Schultern, »… sie möchte nur mit einer Frau sprechen. Sie weigert sich, Officer Pános Alexákis Auskunft zu geben. Vielleicht hat er ja irgendeine Bemerkung gemacht. Lía Salinákis steht im Ruf, kompliziert zu sein. Bis wir Éffi ins Büro holen, kann das ewig dauern.«

Er verzog für einen Moment nachdenklich das Gesicht.

»Kein Problem. Wird erledigt«, sagte Christína. Der Chief war sichtlich erleichtert, wandte sich dann an Fánis.

»Du fährst bitte mit aufs Revier und im Anschluss kommt ihr beide nach Náoussa. Vielleicht könnt Ihr Officer Strátous Auto nehmen. Ich habe hier noch einiges zu regeln und warte auf die Ärztin. Dann treffen wir uns an Tínos Kourvélis’ Haus.«

Christína wusste, dass es eine Weile dauern konnte, bis Jóta Marcharídou hier sein würde. Sie kam von der anderen Seite der Insel. Höchstwahrscheinlich würden Fánis und sie lange vor dem Chief Officer in Náoussa eintreffen. Bis dahin würde sie allein mit Fánis sein. Obwohl sie sich während der vergangenen Monate gut verstanden und gelegentlich zusammengearbeitet hatten, fühlte sie sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Während der Ermittlungen im vorangegangenen Fall hatte er sich nicht von seiner besten Seite gezeigt. Sie ließ sich nichts anmerken, nickte und sah auf die Uhr. Es war mittlerweile fast dreiundzwanzig Uhr.

»Schauen wir mal, wann die Spurensicherung hier ankommt«, hörte sie den Chief zu Marantós sagen. Sie wusste nicht, ob Maroúli ihre Ankunft noch abwarten wollte, um ihnen Anweisungen zu geben, oder ob er das Tákis überlassen würde. Die Nachtfähre würde gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig im Hafen vom Paríkia eintreffen. Nach einer weiteren halben Stunde wären die Beamten am Tatort. Sie ging davon aus, dass Maroúli Streifenpolizisten schicken würde, um sie abzuholen.

»Bis später«, sagte sie, und winkte dem Chief Officer zu, als sie neben Fánis zu ihrem Auto ging.

»Απαίσιο.«

»Apaísio.«