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Brennende Leidenschaft im eiskalten Norden ...
Irland im zehnten Jahrhundert: Die Grafentochter Caitlín muss miterleben, wie Wikinger das Kloster überfallen, in dem sie nächtigt. Einer von ihnen bleibt schwer verletzt zurück. Während Caitlín den schönen Krieger pflegt, erwacht ihre Zuneigung zu ihm - und Njal erwidert ihre Gefühle. Als Caitlíns verhasster Verlobter plötzlich im Kloster auftaucht, will sie mit Njal durchbrennen. Sie flieht mit ihm an die Küste Norwegens - doch erwartet sie bei einem fremden Volk wirklich ein besseres Leben?
Weitere historische Liebesromane von Shirley Waters bei beHEARTBEAT: "Wikingerfeuer" und "Der Fluch des Wikingers".
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Zitat
I. - SEEKRIEGER
1.
2.
3.
4.
5.
II. - LÄRMHEIM
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
III. - SKLAVENSCHULTERN
14.
15.
16.
17.
18.
19.
IV. - SCHWÜRE
20.
21.
22.
23.
Epilog
Wikingerfeuer
Der Fluch des Wikingers
Brennende Leidenschaft im eiskalten Norden …
Irland im zehnten Jahrhundert: Die Grafentochter Caitlín muss miterleben, wie Wikinger das Kloster überfallen, in dem sie nächtigt. Einer von ihnen bleibt schwer verletzt zurück. Während Caitlín den schönen Krieger pflegt, erwacht ihre Zuneigung zu ihm – und Njal erwidert ihre Gefühle. Als Caitlíns verhasster Verlobter plötzlich im Kloster auftaucht, will sie mit Njal durchbrennen. Sie flieht mit ihm an die Küste Norwegens – doch erwartet sie bei einem fremden Volk wirklich ein besseres Leben?
Shirley Waters (1965-2017) hat unter anderem Namen diverse Bücher veröffentlicht, ihre wahre Liebe galt aber dem historischen Liebesroman. Bei beHEARTBEAT sind ihre drei leidenschaftlichen Wikinger-Romane »Der schwarze Wikinger«, »Wikingerfeuer« und »Der Fluch des Wikingers« erschienen.
Shirley Waters
DERSCHWARZEWIKINGER
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Susanne Bartel, Nürnberg
Covergestaltung: Thomas Krämer nach einem Entwurf von Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung von Motiven © York Judy via Agentur Schlück; © shutterstock: Paul B. Moore
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7093-5
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www.lesejury.de
Lärmheim heißt der Ort.Dort leben Männer,Gefährlich und laut.Sie saufen und raufenUnd prassen und töten.Sie scheuchen ihre SklavenUnd lieben ihre Frauen.Wer sie beleidigt,Muss um sein Leben bangen.
Kämpfer wachsen heran,Ziehen hinaus in die WeltUnd verbreiten Furcht.Weh dem, der hierher gelangt.Es ist gefährlich und laut.An diesem Ort,Der Lärmheim heißt.
Patrick der BardeAD 996
Caitlín sah nicht die Hand vor Augen. Undurchdringliche Schwärze umschloss sie. Umso klarer nahm sie jedes Geräusch wahr: das unterdrückte Atmen der sechs, sieben Frauen, die mit ihr in dem dunklen Kellerloch ausharrten. Gehauchte Gebete. Das Rascheln eines Habits, wenn eine der Nonnen es wagte, ihr Gewicht zu verlagern. Die Füße einer Maus, die über den kalten Steinboden rannte.
Irgendwo weiter oben krachten Türen, zerschellten Gegenstände, stampften Schritte der Plünderer über den Boden.
Wikinger – Seekrieger! Der schrille Ruf der Nonnen, der Caitlín in der Morgendämmerung im Gästehaus geweckt hatte, hallte noch immer in ihren Ohren. Nie hatte sie damit gerechnet, während der Reise zum Landgut ihres Verlobten überfallen zu werden. Sie war sofort hellwach gewesen, war mit nichts als ihrem Untergewand bekleidet ins Haupthaus und in die kleine Klosterküche gestürzt. Wo, wenn nicht hier, gab es etwas, womit man sich verteidigen konnte? Sie hatte sich ein Gemüsemesser geschnappt. Eher wollte sie sterben als sich von barbarischen Nordmännern rauben und schänden zulassen. Dann hatte eine der Benediktinerinnen hektisch die Bodenklappe im Vorratsraum geöffnet und die kleine Schar die Stiege hinabgescheucht.
Bitte, lieber Gott, lass mich das Messer nicht gebrauchen müssen. Caitlíns Hand schmerzte, weil sie es so fest umklammerte. Mach, dass sie verschwinden.
Sie erinnerte sich an alte Geschichten, mit denen man sie als Kind erschreckt hatte, wenn sie aufmüpfig gewesen war. In ihnen flogen die Drachenschiffe der Seekrieger wie das Ungeheuer Leviathan über das Meer, weder Wind noch Kälte konnten sie aufhalten. Muskelbepackte Riesen, die Silberperlen in den Bärten und heidnische Amulette an den Hälsen trugen, schlugen mit ihren Streitäxten alles kurz und klein – Hütten, Häuser, Menschen. Und was sie nicht zerstörten, nahmen sie mit: Frauen und Silber.
So war es früher gewesen, anderswo. Doch diesen irischen Küstenabschnitt hatten Nordmänner bisher nur aufgesucht, um zu siedeln. Nie in ihrem achtzehnjährigen Leben hatte Caitlín gehört, dass eine Wikingfahrt hierher stattgefunden hatte. Die Dörfer der irischen Nordostküste waren in Sorglosigkeit verfallen. Die Klöster ohnehin, denn die wehrlosen Gottesdiener schützte ein Versprechen des norwegischen Königs Olaf Tryggvasson, der den neuen Glauben angenommen hatte. Man hatte geglaubt, die nordischen Heiden hielten sich daran.
Heute war der Tag, an dem sich dies als grausamer Irrtum herausstellte.
Schritte näherten sich. Neben Caitlín schnappte die junge Schwester Órla nach Luft; ihr gehaspeltes lateinisches Flehen wurde lauter.
»Still!«
Caitlín tastete nach ihr und drückte sie an sich. Ihre offen fallenden Locken dämpften die Worte der Nonne. Eine andere klapperte mit den Zähnen, schaffte es aber, die Kiefer zusammenzupressen. Da flog die Tür zum Vorratsraum auf, so heftig, dass sie gegen die Wand knallte. Caitlín zuckte zusammen. Der Boden aus nicht allzu dicken Leisten über ihr bebte, als zwei Männer darüberschritten. Immerhin hatte sie beim Hinabsteigen gesehen, dass die aus grob aneinandergereihten Latten gefertigte Falltür unauffällig war. Fackelschein leuchtete durch die Ritzen, als einer der Seekrieger dicht an der Falltür vorbeistapfte. Das Licht ließ seine hellblonden Haare aufleuchten, die ihm wild bis auf die Schultern fielen. Nicht minder wild war sein Bart, in denen Blutspritzer klebten. Er war gewaltig.
Dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, und sie hörte ihn vor eines der Vorratsregale treten. Ein Korb flog auf die Falltür, und Äpfel rollten auf den Boden. Caitlín erzitterte. Wenn er einen der Weinkrüge umstößt und der Wein durch die Ritzen fließt, wird er uns entdecken.
Aber der blonde Hüne zog es vor, den Wein zu trinken. Den Geräuschen nach prüfte er, was das Regal noch an Vorräten hergab. Natürlich, mit Frauen und Silber allein ließ sich der Hunger während einer Raubfahrt nicht stillen.
»Kom, brodir!« Er winkte hinter sich.
Der zweite Mann schritt über den federnden Boden und bekam die Fackel in die Hand gedrückt, die er zögerlich in die Höhe hielt. Caitlín glaubte zu erkennen, wie sich die beiden Männer anstarrten. Der andere war ebenso hoch gewachsen, aber schlanker. Zu ihrer Überraschung waren seine Haare, die er im Nacken mit einem Band zusammengefasst trug, schwarz wie die Nacht. Der dicke Strang fiel ihm zwischen die Schulterblätter. Einen Nordmann mit so tiefschwarzem Haar hatte Caitlín noch nie gesehen.
In ihrer Sprache wechselten die Männer Worte, die alles andere als freundlich klangen. Dann warf der Blonde dem anderen einen letzten finsteren Blick zu, machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und stapfte hinaus, Befehle ausstoßend. Zwei weitere Männer stürmten herein, ließen die Falltür fast bersten und begannen Würste, Käse, Getreidesäcke und Weinkrüge fortzuschleppen.
Ja, nehmt nur alles mit, dachte Caitlín. In ihren Armen zitterte Schwester Órla, und in ihrem Rücken spürte sie, wie eine ältere Nonne sich vor und zurück wiegte. Wenn ihr dann nur verschwindet.
Órla japste in ihrer Furcht laut nach Luft. Caitlín suchte ihren Mund, um ihn mit ihrer Hand zu verschließen. Hatte er dort oben es gehört? Die Männer waren laut, unterhielten sich und lachten. Nur der Schwarze schien in sich gekehrt, so als lausche er.
Was war das? Ein Licht huschte über seine Unterschenkel. Entsetzt erkannte Caitlín, dass es das Fackellicht war, das sich in ihrer Messerklinge spiegelte. Schnell verbarg sie das Messer hinter Órlas Rücken, doch es war zu spät. Er senkte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich – Caitlín war sich sicher, dass er sie sah. Aber war das nicht unmöglich? Hier unten war es nach wie vor stockdunkel. Oder ließ das Licht ihre kupferfarbenen Haare glänzen?
Seine Augen schienen der tosenden See zu entstammen. Leuchtendes Blau, dunkler als das Eisblau oder Grau, das bei den Männern des Nordens üblich war. Darüber wölbten sich schwarze Brauen. Einen Bart trug er nicht – taten das nicht alle Nordmänner? Nichts bedeckte das Kinn und die schön geschwungenen Lippen. Auch sein Stirnrunzeln, seine nachdenklich mahlenden Kiefer, sein finsterer Gesamteindruck konnten nichts an dem Gedanken ändern, der Caitlín durch den Kopf schoss: Habe ich je ein vollkommeneres Gesicht gesehen?
Unschlüssig drehte er sich um. Das Band, das sein Haar zusammenhielt, war aus kleinen silbernen Gliedern gefertigt, in denen sich das Licht der Fackel spiegelte. Sogar die schwarz eingeritzten Muster konnte Caitlín erkennen. Ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Der Griff des Messers war feucht von ihrem Schweiß. Sie war sich sicher: Gleich würde er mit dem Stiefel die Latten durchtreten und mit triumphalem Lachen zu ihnen herabdeuten.
Worauf wartete er? Es war vorbei. Vorbei!
Als jemand rief, flog sein Kopf hoch. »Prífísk«, zischte er in sich hinein. Ein Fluch – Caitlín kannte die Sprache der Nordleute seit der Kindheit, in der sie staunend und ängstlich an der Seite des Vaters ihre Dörfer an der Küste besucht hatte. Der Barbar eilte aus der Kammer.
»Er wird jetzt die anderen holen«, schluchzte Órla auf. Und als gäbe es keine Notwendigkeit mehr, sich zu verbergen, begannen alle sich zu bewegen und zu weinen.
»Bitte, bitte, seid leise«, flehte Caitlín, obwohl sie selbst zitterte und die Tränen nicht zurückhalten konnte. Aber würde das jetzt noch etwas ändern? Gleich würde er zurückkehren, er und die anderen. Gleich …
Aber er kam nicht. Sie lauschte, ob die Nonnen, die ihr Heil im Ziegenstall gesucht hatten, entdeckt worden waren, konnte aber keine weibliche Stimme hören. Das Gepolter über ihnen in den Winkeln der Abtei verebbte. Was blieb, war Stille.
»Sie sind verschwunden«, murmelte Caitlín. Ihrem Gefühl nach mochte eine Stunde vergangen sein. Nein, so viel sicherlich nicht, sie hatte nur jegliches Zeitgefühl verloren.
Eine Nonne schluchzte. »Sie warten nur, dass wir herauskommen.«
»Warum sollten sie das tun?« Caitlín löste Órlas Hände von ihren Schultern und erhob sich. Die Kälte fuhr ihr in die Glieder. Das Unterkleid schützte kaum, und ihre nackten Füße fühlten sich an, als wären sie aus Eis. Sie musste hier heraus, länger ertrug sie es nicht mehr.
»Herrin Caitlín, tut das nicht!«
Sie ließ sich nicht beirren. Vorsichtig und lautlos stieg sie die Leiter hinauf und schob den Riegel zurück. Die Falltür hochzudrücken kostete Kraft, aber es gelang ihr schließlich. Die Latten knarrten, als sie daraufkroch. Sie erhob sich, tastete sich zur geschlossenen Tür vor. Der Gang, dessen Fenster auf den Kreuzgang hinausgingen, war in dämmriges Morgenlicht gehüllt.
Ein schriller Schrei zerriss die Ruhe.
Caitlín raffte das Unterkleid und hastete in Richtung der Kapelle. In deren Eingang stand Schwester Rianna, über und über mit stinkendem Mist verschmiert. Die alte Benediktinerin deutete mit knorrigem Finger ins Innere. Zwei weitere Schwestern wankten aus ihrem Stallversteck. Sie sahen nicht besser aus.
»Herr Jesus, schütze uns!«, rief eine andere Nonne mit schreckensbleichem Gesicht. »Eines der Ungeheuer ist noch da!«
Mutter Laurentia, die hagere, groß gewachsene Äbtissin, stellte sich Caitlín in den Weg. »Ihr wollt doch nicht etwa da hinein? Als unser Gast genießt Ihr unsere besondere Fürsorge, und auch Euer Verlobter, der edle Herr Éamonn von Carndonagh, würde es gewiss gutheißen, wenn Ihr Euch jetzt zurück in Euer Schlafgemach begebt. Ihr tragt ja kaum etwas am Leib!«
Die Würde der Mutter Oberin hatte durch den übel riechenden Schweinemist, der ihr am Habit und auf den Wangen klebte, in Caitlíns Augen ein wenig gelitten, doch es war die Erwähnung Éamonns, bei der sich ihr Widerstand regte. Wenn sie in ein paar Tagen bei ihrem Verlobten Einzug hielt und mit ihm Hochzeit feierte, ja, dann wollte sie sich ihm fügen. Keinen Tag vorher!
Ein zweiter Schrei lenkte Mutter Laurentia ab, und Caitlín nutzte die Gelegenheit, um sich an ihr vorbeizuschieben. Noch immer hielt sie das Messer in der erhobenen Hand. Mit vereinten Kräften würden sie gegen einen einzelnen Mann bestehen. »Holt aus dem Stall …«, begann sie und stockte. Heugabeln, irgendeine Waffe, hatte sie sagen wollen, aber es verschlug ihr die Sprache. Es war keiner der blonden Bärtigen, der inmitten der kleinen Kapelle in die Knie ging, da er aus irgendeinem Grund nicht mehr stehen konnte. In der Rechten hielt er den Schwertgriff; die Klingenspitze bohrte sich in den Lehmboden, als müsse er sich auf seine Waffe stützen.
Das durch das Kirchenfenster einfallende Licht ließ sein Haar wie Rabenfedern glänzen. Ebenso schwarz war das aus dicken Lederstreifen geflochtene Wams, das sich eng an seinen Oberkörper schmiegte. Darunter trug er eine knielange Tunika aus weißem Leinen und mit langen Ärmeln, dazu eine Hose aus dunkelgrauem Leder und ebensolche Stiefel, deren Schnüre sich um seine Waden wanden. Indem er eine Stiefelsohle in den Boden stemmte, versuchte er sich wieder aufzurichten. Seine Haare, die halb aus dem Silberband im Nacken gerutscht waren, schwangen, als er den Kopf in den Nacken warf, die Luft durch die Zähne herauspresste und mit einem heiseren Schrei wieder auf die Füße kam.
Großer Gott, er war riesig.
Die Benediktinerinnen flüsterten Gebete, und Caitlín sah sie aus den Augenwinkeln fahrige Kreuzzeichen machen. Der Blick des Schwarzen streifte sie. Erkannte er sie wieder? Er machte einen Schritt auf sie zu, wirkte aber, als würde er nicht mehr wissen, wo genau er sich befand. Er wankte zurück. Das Schwert blitzte auf, als er es über dem Altar schwang. Was die Räuber liegen gelassen hatten – zwei Tonbecher und das Altartuch –, fegte er mit der Klinge herunter.
»Kommt alle heraus, und schließt die Tür!«, rief die Äbtissin mit zittriger Stimme. »Gott züchtigt ihn für seine Untaten. Wir können nichts anderes tun, als abzuwarten.«
Untaten, wirklich?, dachte Caitlín. Immerhin hat er uns verschont. Aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Keine der Frauen würde ihr jetzt zustimmen. Sie konnte ja selbst kaum glauben, dass dieser wütende Mann derselbe sein sollte, der so nachdenklich über ihrem Versteck gestanden hatte.
Er funkelte sie an und zischte etwas in seiner Sprache. Dann: »Zieht mir das Ding aus dem Rücken! Zieht es heraus!«
So überrascht war Caitlín, irische Worte aus seinem Mund zu vernehmen, dass sie erschrocken zurückwich und gegen einen weichen Frauenkörper stieß. Es war die kleine Órla, die sofort die Arme um sie legte.
»Bitte, Herrin, wahrt Abstand«, wisperte sie. »Er wird uns alle töten.«
Der Hüne griff über seine Schulter hinter sich. Aber wonach auch immer er suchte, er fand es nicht. Mit den Knien stieß er gegen eine seitlich stehende Sitzbank, sackte erneut nieder und stützte sich mit dem Unterarm auf die Sitzfläche. Nun konnte Caitlín sehen, was ihm solche Schmerzen verursachte: Aus seinem Rücken ragte der Griff eines Dolches.
Ihre Gedanken waren den Bewegungen ihres Körpers voraus. Sie glaubte, über den Lehmboden zu schweben, während sie sich selbst betrachtete, wie sie es wagte, sich dem Nordmann zu nähern. Sämtliche Furcht war verschwunden, zumindest für diesen Augenblick. Dann stand sie vor ihm. Mit glasigen Augen, aus denen Verwunderung sprach, blickte er zu ihr hoch. Sie beugte sich über ihn und umschloss den Dolchgriff. Das Heft hatte sich in seinem Wams verhakt, deshalb hatte er ihn nicht selbst ziehen können. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Den Dolch zu entfernen kostete sie große Überwindung. Es war alles andere als unwahrscheinlich, dass der Schmerz, wenn sie die Waffe entfernte, den Mann veranlassen würde, sie anzuspringen und mit dem Schwert zu erschlagen.
Gott steh mir bei! Sie kniff die Augen zusammen und riss die Klinge mit einem Ruck heraus.
Sein Leib krampfte sich zusammen, aber sein Schrei war verhalten. »Thorir, prífísk pú aldri!«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als verfluche er, wer immer ihm das angetan hatte. Schweiß rann in Bächen seine Schläfen hinab, doch seine tiefblauen Augen klärten sich. Plötzlich lag seine Hand heiß auf ihrer Wade.
»Meyja – Mädchen. Danke.«
Er sah sie lange an. Dann an ihr vorbei, als überlege er, ob er es wagen konnte, jetzt einzuschlafen. Vielleicht entschied er sich dafür, vielleicht übermannte ihn nur die Ohnmacht. Er bettete den Kopf auf seinen Unterarm und schloss die Augen.
Die Äbtissin fasste sich als Erste. »Nun gut.« Sie hob ihr Kreuz, küsste es und schlug mehrmals ein Kreuzzeichen. »Der Herr hat in seiner Güte beschlossen, uns zu verschonen. Lasst uns nach den Klosterknechten sehen.«
»Die sind bestimmt alle tot«, wisperte Órla. Sie war so bleich wie die anderen zwanzig Nonnen und Novizinnen, die sich vor der Kapelle versammelt hatten. Auch Caitlín befürchtete, dass die Klosterknechte im Kampf gefallen waren, denn andernfalls wären sie längst bei ihnen gewesen. Und ihre eigene Leibwache! Vier tapfere Männer! Erst jetzt wurde sie gewahr, in welchem Ausmaß dieser entsetzliche Angriff sie heimgesucht hatte. Wo war der Mut, der sie noch vor Kurzem aus dem Vorratskeller herausgelockt hatte? Der sie den Dolch aus dem Rücken des Barbaren hatte ziehen lassen? Caitlín wankte und suchte an Órlas Schulter Halt. Mit der anderen Hand fuhr sie sich über das tränenfeuchte Gesicht.
»Wir müssen nach ihnen suchen«, murmelte sie. »Vielleicht hat ja einer überlebt.«
»Geht in Eure Kammer, Herrin, bitte.« Mutter Laurentia straffte die Schultern und gab ihrer besudelten Gestalt wieder ein wenig Würde zurück. »Wir anderen werden die Verletzten finden und uns um sie kümmern, falls es denn Verletzte gibt. Die Toten werden wir unter die Erde bringen.«
»Und wenn die … die Mörder wiederkommen?«, rief eine Novizin mit piepsiger Stimme. Sie hatte die Arme um sich geschlungen und zitterte am ganzen Leib – wie fast alle.
»Das glaube ich nicht. Und wenn doch, liegt alles in Gottes Hand. Dann werden wir uns ihnen als standhafte Christenfrauen gegenüberstellen und mit ausgebreiteten Armen sterben, wenn es denn sein muss! Und nun kommt.«
Caitlín lag die Frage auf der Zunge, weshalb die Äbtissin zuvor ins Stroh des Schweinestalls geflüchtet war. »Ehrwürdige Mutter Oberin«, sagte sie stattdessen und deutete auf den Wikinger. »Was ist mit ihm?«
Grimmig verzog Mutter Laurentia das Gesicht, als wolle sie den Mann bespucken. »Auch sein Leben liegt in Gottes Hand – das er allerdings fast schon ausgehaucht hat, wie mir scheint. Trotzdem sollten wir ihn nicht in der Kapelle liegen lassen. Also kommt, fasst mit an.«
Vier Benediktinerinnen waren nötig, um den riesenhaften Wikinger ins Freie zu zerren. Neben dem Eingang ließen sie ihn bäuchlings liegen. Die Äbtissin wandte sich von ihm ab, kehrte jedoch noch einmal zurück, löste das Seil, das ihr als Gürtel diente, und fesselte seine Hände im Rücken. Als sie sich erhob, wischte sie angewidert die Handflächen an ihrem Habit ab, was sie jedoch kaum sauberer machte.
Caitlín wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Ein Christ sollte doch jedem helfen, der Hilfe bedurfte, auch wenn es der Feind war, oder etwa nicht? So hatte es sie der Beichtvater auf der heimischen Burg gelehrt. Andererseits: Wie sollte man diesen Riesen nicht fürchten? Sogar leblos, an der Schwelle des Todes, machte er einen gefährlichen Eindruck, sodass Caitlín insgeheim froh um die Fessel war.
»Herrin Caitlín, geht jetzt in Eure Gästekammer.« Mutter Laurentia wandte sich ab. Auch einige der Schwestern blickten nachdenklich, doch ihr Gehorsam gegenüber der Äbtissin wog schwerer, daher verwunderte es Caitlín nicht, dass sie ihr folgten wie Entenküken der Mutter.
Nur Schwester Órla blieb zurück. Ihr Lächeln wirkte hilflos. »Bitte tut, was Mutter Laurentia Euch rät, Herrin«, sagte sie leise. »Ihr erkältet Euch sonst. Ich brühe derweil einen heißen Sud auf, der Euch guttun wird. Bitte. Herr Éamonn von Carndonagh würde es so wollen.«
Caitlín seufzte. Dass Éamonn es so wollen würde – diesen Satz hatte sie fast täglich gehört, seit sie ihm als junges Mädchen versprochen worden war. Ihre Mutter hatte ihn vorgebetet, ihr Vater, ihre Brüder … Die Hoffnung, wenigstens während der Reise zu ihm davor verschont zu bleiben, hatte sich nicht erfüllt. Der Gedanke, dass es auch in Éamonns Haushalt so weitergehen würde, ließ sie erschöpft die Augen schließen.
Was beklage ich mich?, versuchte sie sich zur Vernunft zu rufen. So ergeht es schließlich jeder Frau.
Unsinniger Zorn, dass sie nicht wie jede andere Frau erzogen worden war, wallte in ihr auf. Ansonsten würde sie sich vermutlich leichter mit ihrer Rolle abfinden können. Aber als einziges Mädchen unter fünf Brüdern war sie verhältnismäßig frei aufgewachsen. Sie hatte mit ihnen auf dem Burghof herumgetollt und gegen sie mit einem kleinen Holzschwert gekämpft, das ihr Vater eigens für sie aus einem Ast geschnitzt hatte. Hinter den Brüdern hatte sie auf einem Pferd sitzen dürfen und sich bei all der Toberei die Kleider zerrissen. Den Tadel der Mutter hatte der Vater mit einem Lachen entschärft.
Doch kaum hatten ihre Blutungen eingesetzt, war ihre Welt eine andere geworden. Fortan war sie selbst bei schönem Wetter im Wohnturm geblieben, hatte gesponnen und gestickt, den ewig gleichen Heiligengeschichten und langweiligem Klatsch zuhören müssen. Und dabei den Geräuschen aus dem Hof gelauscht.
Wie auch jetzt.
Sie saß in der Gästekammer, einem kleinen Raum mit mehreren strohsackbedeckten Pritschen an den Wänden. Im Kamin prasselte ein Feuer, das sie und Órla gemeinsam in Gang gebracht hatten. Die Nonnen waren offenbar von ihrem Erkundungsgang zurückgekehrt; Caitlín konnte sie vor ihrem Zimmer leise klagen und beten hören.
»Wir hätten fortlaufen sollen, Herrin Caitlín«, flüsterte ihre Zofe. Hyld hatte sich auf ihre Bettstatt gehockt, die Beine fest an ihren Körper gezogen und die Arme darum geschlungen. Ihre Schultern bebten – noch vor Entsetzen oder vor Kälte.
Caitlín holte Hylds Umhang, setzte sich neben sie und legte ihn ihr um die Schultern. Mit einem dankbaren, wenn auch gequälten Lächeln zog Hyld den dicken Wollstoff um sich. »Es gibt noch das Mönchskloster, von dem der Pater kam, um die Sonntagsmesse zu lesen. Da sollten wir hin.«
»Besser nicht.« Caitlín schüttelte ihre ungebändigten Locken. »Zu Fuß ist es zu weit entfernt. Wir würden nur zusätzliche Gefahr laufen, von den Plünderern aufgegriffen zu werden.«
Hyld schluchzte auf. »Fionnbarr … ach, Fionnbarr …«
»Fionnbarr? Von wem redest du?«
»Von …«, die Zofe hob den Saum ihres Kleides und wischte sich übers Gesicht. »Von dem mit den dunklen Locken, erinnert Ihr Euch nicht? Der auf einem Schecken geritten ist. Wenn er lächelte, entblößte er eine so hübsche Zahnlücke.«
Caitlín versuchte sich an die Eskorte Éamonns von Carndonagh zu erinnern. Sechs Männer hatte ihr zukünftiger Gemahl geschickt, um sie abzuholen. Mit beiden Eskorten waren sie in der Abtei eingetroffen, um die Nacht über hier zu rasten. Doch anscheinend war sie viel zu sehr mit sich und ihrer Verzweiflung beschäftigt gewesen, das Elternhaus für immer verlassen und gegen einen ihr fremden und unheimlichen Mann eintauschen zu müssen. In Éamonns Männern hatte sie nur düstere Bewacher gesehen, die sie ihrem Unglück zuführen sollten. Und nun sollte einer von ihnen ein nettes zahnlückiges Lächeln gehabt haben?
»Ich kann mich wirklich nicht mehr an ihn erinnern. Es tut mir leid. Aber vielleicht ist er ja entkommen?«
Hilflos strich sie über Hylds zitternden Rücken. Auch diese Männer waren Menschen gewesen, tapfere Recken; der eine mochte eine junge Frau gehabt, der andere sich um seine alten Eltern gesorgt haben, und ein weiterer hatte vielleicht vom Ruhm auf dem Schlachtfeld geträumt. Und jetzt hatten sie alle ihretwegen ihr Leben lassen müssen.
»Komm, lass uns die Pritschen näher ans Feuer schieben«, sagte sie betont munter, wenngleich auch ihr danach war, auf das Stroh zu sinken und ins Kissen zu heulen. »Diese Steinwände strahlen eine Kälte aus, als ob sie aus Eis sind.«
Hyld schniefte noch einmal heftig, erhob sich dann aber und half ihr. »Auch das noch!«, rief sie aus, und ihre Zähne begannen sofort wieder aufeinanderzuschlagen.
Durch das Fenster wehte Schnee herein. Caitlín hastete an die Öffnung und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dicke Flocken wirbelten durch die Nacht, hoffentlich der letzte Schnee der ausgehenden kalten Jahreszeit. Wenn doch ein später Wintersturm das Drachenschiff mitsamt den Räubern versenkte! Doch sie konnte sich nur allzu lebhaft vorstellen, wie die Nordmänner an ihren Rudern saßen, grölten, lachten und sich weder um Gischt noch um den Schnee scherten, der in den Spitzen ihrer Bärte zu Eiszapfen gefror.
Ein anderes Bild schob sich vor ihr inneres Auge: das eines großen Mannes, der gefesselt auf dem kalten Boden lag. Der fallende Schnee begann ihn unter sich zu begraben …
»Ich habe heißen Sud für Euch, Herrin!« Schwester Órla stapfte in die Kammer, ein hölzernes Tablett vor der wogenden Brust. Aus dem dampfenden Krug duftete es nach Fenchel und Salbei. »Ein Schuss Wein ist auch darin«, fügte sie mit verschwörerisch gesenkter Stimme hinzu. »Ich glaube nicht, dass heute der Tag ist, sich über Essensregeln allzu große Gedanken zu machen. Trinkt, er wird Euch guttun.«
Sie stellte das Tablett auf einem Hocker ab und füllte zwei Becher. In unziemlicher Hast stürzte Hyld ihren Anteil hinunter, noch bevor Caitlín den Becher an den Mund gehoben hatte. In der Tat: Die Ereignisse hatten ordentliche Sitten bedeutungslos gemacht. Morgen würde sie womöglich Seite an Seite mit den Nonnen die Gräber ausheben.
Ihr schauderte es.
»Trinkt schon, dann friert Ihr nicht mehr.« Órla, bereit zum Nachschenken, hielt ihr den Krug vor die Nase. »Warum schaut Ihr mich so an, Herrin?«
Caitlín nippte. »Weil mir soeben ein Gedanke gekommen ist, den du ungeheuerlich finden wirst. Genau wie du, Hyld, und trotzdem wirst du nicht jammern und mir gehorchen, das erwarte ich von dir.«
»Großer Gott, Herrin.« Hyld wappnete sich mit einem kräftigen Schluck des Suds. »Aber das tu ich doch immer.«
»Herrin Caitlín?«, krächzte Órla.
Caitlín blickte einer nach der anderen fest in die misstrauisch aufgerissenen Augen. »Wir müssen dem Wikinger helfen«, erklärte sie.
Die beiden schlugen fast gleichzeitig ein Kreuz. »Aber es … es ist Gottes Wille, dass er erfriert«, stotterte Schwester Órla.
»Wäre er einer von den Angreifern, die uns aufstöbern wollten, so würde ich dir beipflichten. Aber ihm haben wir zu verdanken, dass wir uns noch hier befinden und nicht draußen auf der See auf einem grässlichen Drachenschiff. Er hat uns im Vorratskeller entdeckt, aber nicht verraten.«
»Aber warum hätte er so handeln sollen?«, rief Órla. »Ihr müsst Euch irren, ganz bestimmt.«
»Ich irre mich nicht.«
»Und die ehrwürdige Mutter Oberin? Sie wird das niemals erlauben.«
»Sie wird vorerst nichts davon erfahren. Und wenn dann ein wacher, lebender Mensch vor ihr steht, wird sie es sich noch einmal überlegen, ob sie ihn der Kälte überlassen will.«
»Aber sie hat doch recht, wenn sie sagt, dass Gott ihn retten wird, falls es sein Wille ist.«
Caitlín ballte die Fäuste. Ihr lag auf der Zunge, dass es den Benediktinerinnen anscheinend sehr gelegen kam, Entscheidungen auf den Herrgott abzuwälzen. Beinahe wünschte sie sich, nicht diesen alles entscheidenden Blick mit dem Fremden gewechselt zu haben. Den Blick, der sie nun zwang, ihrem Gewissen zu folgen. »Also gut.« Entschlossen reckte sie ihr Kinn. »Holen wir ihn herein. Gelingt es uns und er überlebt, so hat Gott ihn gerettet. Andernfalls würde er dies zu verhindern wissen, nicht wahr?«
»Aber Herrin Caitlín«, wandte Hyld zögerlich ein, »man könnte ja meinen, Ihr würdet irgendetwas für diesen schrecklichen Kerl empfinden.«
»Was für ein absurder Gedanke!« Caitlín dachte an sein zorniges Gesicht, sein Wesen, das ungebändigte, barbarische Kraft ausstrahlte. Er ist ein Wikinger, und ich verabscheue ihn dafür, dachte sie inbrünstig. Allein vor seinem Blick konnte man sich fürchten. »Und jetzt kommt, ihr zwei.«
Oh ja, sie fürchtete sich tatsächlich. Da lag er, hatte sich offenbar nicht bewegt, und doch musste sie sich überwinden, sich niederzuknien und die Hand nach ihm auszustrecken. Caitlín sehnte sich nach dem berauschenden Gefühl zurück, wie in einem Traum zu wandeln, als sie auf ihn zugegangen war und den Dolch aus seinem Rücken gezogen hatte. Diesmal zitterten ihre Finger, obwohl sie nichts weiter tat, als den Schnee von seinen Schultern zu wischen.
Sie berührte seinen Hals. Kalt, aber sie konnte das Pochen einer Ader spüren. Langsam und schwach.
»Er lebt. Aber er muss schleunigst ins Warme gebracht werden.«
Sie hob den Kopf. Órla presste fest die Lippen aufeinander, als versuche sie zu verhindern, dass ihre Zähne vor Kälte oder Furcht klapperten. Hyld hingegen schien mit ihrem wärmenden Umhang verwachsen zu wollen, während sie lauschte. Aus dem Refektorium erklang das Klappern von Geschirr; es war Vesperzeit. Der Kreuzgang war verlassen, ebenso die Kapelle. Von irgendwoher drang ein gemurmeltes Gebet an Caitlíns Ohr. Doch alles wirkte seltsam leise. Dicke Schneeflocken hatten in Windeseile eine knöchelhohe weiße Schicht gebildet.
»Wir können ihn nicht tragen«, erklärte Hyld. »Er ist viel zu schwer für uns.«
»Auf dem Friedhof hinter der Kapelle, sind dort die Toten aufgebahrt?«
Schwester Órla nickte und blies in ihre Hände. Caitlín machte sich auf den Weg. Glücklicherweise war es bereits so dunkel, dass sie die Toten unter dem Schnee kaum sehen konnte. Trotzdem hielt sie den Blick fest auf eine an die Hofmauer gelehnte Trage geheftet. Sie schüttelte den Schnee ab und kehrte mit der Trage zur Kapelle zurück.
»Wollt Ihr das wirklich tun?«, flüsterte Hyld.
»Helft mir!«, forderte Caitlín, statt ihr zu antworten.
Sie wollte! Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass auch aus diesem Körper das Leben entwich. Niemand durfte mehr sterben. Niemand – und da war es gleich, ob der Mann ein Feind war. Entschlossen rollte sie ihn auf die Trage, sodass er rücklings zu liegen kam. Doch als sie den hölzernen Griff packte, erkannte sie, dass er selbst für drei Frauen zu schwer war. Stattdessen würden sie ihn hinter sich herschleifen müssen. Hyld murrte, und Órla schlug fünf Kreuzzeichen, bevor sie zuzupacken wagte. Dann aber gelangten sie mit ihrer Last ins Innere der Abtei. Caitlín war froh, dass keine andere Benediktinerin ihren Weg kreuzte. In der Gästekammer wuchteten sie in einem letzten Kraftakt den Wikinger auf die Bettstatt, die dem Feuer am nächsten war.
»Und jetzt?«, schnaufte Hyld.
Zu dritt standen sie mehrere Schritte von ihm entfernt – ängstlich und beinahe ehrfürchtig, als sei er ein vor Jahrhunderten verstorbener Heiliger, der durch ein Wunder Gottes wie lebendig wirkte. Da er auf seinen gebundenen Händen lag, wirkte sein Brustkorb, der sich deutlich hob und senkte, noch mächtiger.
»Wir müssen ihn der nassen Sachen entledigen«, sprach Caitlín die Ungeheuerlichkeit aus, die wohl ihnen allen durch den Kopf ging.
»Allmächtiger.« Órla umklammerte ihr Kreuz.
Caitlín überlegte, dass es genügen würde, ihm die Stiefel auszuziehen und seinen Oberkörper freizulegen, um nach der Wunde zu sehen. Sie zog an den Schnüren, die sein Wams vorne verschlossen. Als es aufsprang, kam ein dicht gewebtes Hemd zum Vorschein. Wie sollte sie diese Sachen entfernen, wenn seine Hände gefesselt waren?
Der Dolch, der ihn verwundet hatte, lag noch auf dem Tisch. Sie hatte ganz vergessen, ihn mitgenommen zu haben.
»Nein, Herrin!«, rief Hyld, doch Caitlín hatte die Waffe schon umschlossen und kniete an der Seite der Bettstatt. Mit der linken Hand drückte sie seine Schulter ein wenig zur Seite, sodass sie die Fessel durchschneiden konnte.
»Nur damit wir ihn ausziehen können«, erklärte sie. »Danach werden wir ihn wieder binden.«
Als er mit einem lauten Aufstöhnen die Hände nach vorn zog, wich Caitlín erschrocken zurück. Er wälzte sich auf den Bauch und blieb wieder still liegen, so als habe er nur den Schmerz in seinem Rücken mildern wollen. War er wirklich nicht erwacht? Plötzlich wünschte sie sich, die Fesseln nicht durchtrennt zu haben. Überhaupt nichts von alldem getan zu haben. Unsinn, schalt sie sich. Er ist hilflos.
»Schwester Órla, kannst du ein neues Seil besorgen?«, flüsterte sie. »Und etwas für seine Wunde? Eine Heilsalbe?«
»Ja.« Órla wandte sich schnell ab und wurde von einem sehnsüchtigen Blick Hylds verfolgt. »Ich beeile mich.«
Es war nicht leicht, ihm das Wams von den Schultern zu ziehen. Caitlín wappnete sich gegen ein erneutes Aufbäumen, doch er rührte sich nicht mehr. Der einstmals weiße Stoff war um die Wunde herum blutrot. Würde er toben, wenn er feststellte, dass sein zweifellos teures Hemd zerschnitten worden war? Caitlín beschloss, nicht darüber nachzudenken, und setzte den Dolch an.
»Da!«, wisperte Hyld. »Er hat kurz die Augen geöffnet. O Gott.«
Caitlín hielt inne. Wartete. Er atmete gleichmäßig. Schnell öffnete sie das Hemd um zwei Handbreiten, sodass die Wunde sichtbar wurde. Órla war rasch zurückgekehrt, und als Caitlín aus der mitgebrachten Wasserschüssel ein Tuch zog und damit seine Brust säuberte, erzitterte er unter ihr. Sie hielt inne. Doch nichts geschah.
»Ich fürchte mich wirklich vor dem Augenblick, wenn er aufwacht«, murmelte sie. Órla und Hyld seufzten beipflichtend.
»Das hier ist eine Mischung aus Hühnerdreck, Fett und schimmligem Brot«, erklärte Schwester Órla, während sie einen Tiegel öffnete. »Es stinkt übel, hilft aber bei Fleischwunden. Jedenfalls steht es so in einem alten Buch geschrieben, und in der Küche hält man stets einen Tiegel bereit.«
»Puh«, Caitlín rümpfte die Nase. Sie bedauerte es, nicht viel von Heilkunde zu verstehen. Die meisten Kräuterfrauen hielten ihr Wissen geheim, und auch die Krieger auf dem Hof des Vaters hatten sich immer geheimnistuerisch gegeben, wenn es um das Behandeln ihrer Wunden gegangen war. Als sie zum ersten Mal geblutet hatte, hatte ihre Mutter ihr einen Hühnerfuß auf den Bauch gebunden. Und tatsächlich war die zweite Blutung nicht mehr so schmerzhaft gewesen. Vielleicht also war ihr Widerwille gegen diese Salbe nicht angebracht. Caitlín hielt den Atem an, tauchte zwei Finger hinein und rieb die schwarze Paste in die Wunde. Wieder bewegte sich der Wikinger. Bestimmt würde er jeden Augenblick hochschnellen, brüllen und ihnen schreckliche Dinge antun.
Sie sprang zurück.
»Was ist, Herrin?«, fragte Hyld.
Caitlín räusperte sich. »Nichts, aber mir ist wirklich wohler, wenn er wieder gefesselt ist.«
Órla reichte ihr das Seil. Sowie Caitlín seine Hände erneut über dem Rücken gebunden hatte, atmete sie auf. Was hatte sie nur getan? Und würde ihr Handeln Folgen haben? Ermattet sank sie auf ihre Schlafpritsche.
Obwohl sie überzeugt war, kein Auge zutun zu können, plagten sie rasch unruhige Träume. Wilde Nordmänner zerrten sie aus ihrem Kellerversteck, verschleppten sie auf ihr Drachenschiff. Schnee, Regen, starke Winde beutelten sie. Die Männer lachten, kräftige Zähne blitzten in ihren breiten Mündern auf. Die blonden Bärte reichten ihnen weit auf die Brust, und ihre Fäuste waren groß wie Brotlaibe. Sie betasteten Caitlín, hoben ihre Röcke, wollten unter ihren Umhang greifen, den sie verzweifelt fest um sich schlang. Auf den Sklavenmärkten von Haithabu bringst du einen Sack voller gehacktem Silber, grölten sie. Aber vorher werden wir noch unseren Spaß mit dir haben.
Caitlín wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich legte sich eine Hand von hinten auf ihre Schulter. Ein Mann trat an ihre Seite. Der Tumult legte sich. Sogar die Winde nahmen ab. Ich habe sie zuerst entdeckt. Sie gehört mir. Mir ganz allein … Es war der Schwarzhaarige, der die Stille brach. Caitlín wusste nicht, ob sie seinen Besitzanspruch begrüßen oder noch mehr Furcht empfinden sollte. Die anderen Männer zogen ihre Dolche aus den Gürteln und stapften auf sie zu …
Caitlín riss die Augen auf und hörte erleichtert das Holz im fast heruntergebrannten Feuer knacken. Hyld schnarchte leise, also konnte die Lage nicht so gefährlich sein. Leise setzte sich Caitlín auf. Der Wikinger – wüsste sie seinen Namen, dann wäre er weniger bedrohlich – lag unverändert am Feuer. Den Kopf hatte er gedreht, sodass sie sein Gesicht sah. Selbst im Schlaf wirkten seine Züge angespannt. Er zitterte. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Silberband hatte sich gelöst, Strähnen hingen ihm ins Gesicht.
Die Bettstatt knarrte leise, als Caitlín sich erhob. Sie legte ihm zwei Decken über den Leib, tauchte den Lappen in das nicht mehr ganz saubere Wasser, schob behutsam seine Haare zurück und kühlte seine Stirn. Er murmelte etwas Unverständliches und rollte sich schwerfällig auf die Seite.
Er sah sie an! Sie schloss die Augen und wünschte, sich mit dem féth-fíada-Zauber alter irischer Helden unsichtbar machen zu können. Als sie wieder die Lider hob, schlief er. Sie musste sich getäuscht haben.
Aber was war das?
Aus dem Ausschnitt seines Hemdes war ein Anhänger gerutscht. So unscheinbar die Lederschnur war, an der es hing, so kostbar glänzte es im Feuerschein. Ein goldenes Kreuz. War er etwa … ein Christ? Caitlín konnte nicht anders, sie musste das Schmuckstück berühren und bewundern. Es war von fremdartiger Machart. Nein, dieser Mann war ganz sicher kein Christ. So wenig, wie es manche Nordleute waren, denen ihr König Tryggvasson den neuen Glauben aufzwang, die aber nach wie vor ihre heidnischen Götter anbeteten und ihnen Tiere opferten. So erzählte man sich.
Der Anhänger war gewiss nur ein Beutestück.
»Herrin, was macht Ihr da?«, wisperte Hyld hinter ihr.
Caitlín steckte das Kreuz wieder unter sein Hemd und legte das Tuch zurück in die Schüssel. An der Tür klopfte es leise. Rasch schob sie den Riegel zurück und öffnete.
Es war die kleine Órla. »Gleich beginnen die Laudes, und dann folgt das Morgenmahl. Bitte erscheint, denn Mutter Laurentia hat etwas zu verkünden.«
Caitlín und Hyld beeilten sich, wenigstens ihre vom Schlaf zerzausten Haare zu richten und sich in ihre Umhänge zu hüllen. Den Frühgottesdienst nahm Caitlín nur am Rande wahr, während ihre Gedanken beständig um den Nordmann kreisten. Sie fühlte sich eigenartig belebt. Es war, als ließen die Schwierigkeiten sie wachsen. Hier und jetzt war sie nicht mehr das bockige Mädchen, das sich in die Arme eines ihm fremden Bräutigams schieben lassen musste. Sie war allein, ohne Schutz und ohne zu wissen, wie sie an ihr Ziel gelangen sollte. Das Schicksal hatte ihr einen Fremden geschickt. Und nicht ihres lag in seiner Hand, sondern sein Schicksal, sein Leben in ihrer.
Nachdem der Tagessegen gesprochen war, begaben sich die Nonnen ins Refektorium. Auf dem langen Esstisch wurden Talgkerzen entzündet, und einige der Frauen mussten kämpfen, ihr Gähnen zu verbergen. Hölzerne Schüsseln mit dem Morgenmus, eine Mischung aus Getreidebrei und Äpfeln, wurden aufgetragen, die Becher mit Wasser gefüllt. Als hoher Gast erhielt Caitlín zusätzlich eine Scheibe Brot und ein Töpfchen mit Honig. Ihr Wasser wurde mit Wein vermischt.
Die Äbtissin strahlte wieder Erhabenheit und Würde aus. Den Nonnen sah man die Schrecknisse des gestrigen Tages an, ihr jedoch nicht. Caitlín fragte sich, ob sie bisher auch nur ein einziges Lächeln auf diesem strengen Gesicht gesehen hatte. Ja, bei ihrer Begrüßung vor zwei Tagen, und zwar ein ziemlich frostiges. Mutter Laurentia wartete, bis alle still saßen, bevor sie einer jeden in die Augen blickte. Caitlín spürte, wie sie errötete, und hoffte, dass das, was sie getan hatte, nicht von ihrem Gesicht abzulesen war.
»Liebe Töchter«, begann die Äbtissin, »was geschehen ist, war schlimm, und unsere Lage ist es noch immer. Über Nacht gab es noch einmal einen Wintereinbruch, der Schnee liegt drei Handbreiten hoch. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand auf den Weg zu uns begibt, solange die Witterung so schlecht ist, zumal die räuberische Wikingerhorde auch andere Küstenabschnitte unsicher machen wird. Unter diesen Umständen wird sich jeder Bewohner erst einmal in seine Kate verkriechen. Wir müssen also allein zurechtkommen. Heute werden wir die Toten begraben und für sie beten. Und dafür, dass wir unbehelligt bleiben. Dann überprüfen wir unsere Vorräte und kehren zum Alltag zurück. Gott der Herr hat uns eine schwere Bürde auferlegt, aber in seiner Güte auch beschützt. Keine von uns ist verwundet oder«, sie hob eine Hand an den Mund und räusperte sich, »geschändet worden.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander. »Und Gott der Herr hat noch anderes getan«, fügte sie auf eine geheimnisvolle Art hinzu, die jede Nonne neugierig den Kopf heben ließ. »Er hat den Wikinger hinweggetragen. Er ist fort.«
Hyld schlug die Hände vors Gesicht und rang nach Luft. Bestürzt sahen die Frauen sie an. Es war nicht zu erkennen, ob sie weinte, lachte oder einfach nur schon vom Brei genascht und sich heftig verschluckt hatte. Caitlín erstarrte. Erst als ihre Zofe sich wieder beruhigt und gottlob zum Schweigen entschlossen hatte, wagte sie, zaghaft zu fragen: »Hinweggetragen? Wie meint Ihr das?«
»Er ist fort«, sagte Mutter Laurentia.
»Vielleicht ist er ja weggelaufen«, murmelte Órla. Ihr Gesicht war hochrot.
»Dazu war er zu schwer verletzt. Das Tor haben wir verschlossen, nachdem die Räuber fort waren, und wie hätte er in seinem Zustand die Mauer überwinden sollen? Es gibt keinen Zweifel: Er ist fort!«
Der Schnee. Als Caitlín den Mann in ihr Zimmer gebracht hatte, hatte sie nur flüchtig an die Schleifspuren gedacht, die die schwere Trage im schlammigen Boden hinterlassen haben musste. Und sie dann vergessen.
»Ich glaube das einfach nicht«, sagte sie vorsichtig.
»Oh, Gott wirkt erstaunliche Wunder!« Die Äbtissin warf die Arme hoch. Sie schien von dem Gedanken, der Mann – vielmehr das Problem – habe sich in Luft aufgelöst, geradezu besessen zu sein. »Sind nicht die Engel dem heiligen Patrick erschienen, sodass er aus der Knechtschaft flüchten konnte? War es nicht ein Engel, der den heiligen Brendan neun Jahre lang zur See geschickt hat? Wenn die Himmelsgeschöpfe zu so etwas fähig sind, können sie auch einen Heiden hinforttragen, um uns zu schützen.«
Verstohlen musterte Caitlín die Mienen der andächtig lauschenden Nonnen, bevor sie schließlich den Kopf hob. »Ehrwürdige Mutter Oberin, wären hier Engel im Spiel, so würde sich mir die Frage stellen, warum sie nicht schon früher erschienen sind, um den Überfall zu verhindern.«
Kühl erwiderte die Äbtissin ihren Blick. »Es steht uns nicht zu, so etwas zu fragen. Gott hat den Wikinger für seine Taten bestraft und uns den Anblick seines Sterbens erspart. Und jetzt lasst uns essen. Schwester Johanna, sprich das Tischgebet.«
Eine der Nonnen erhob sich, doch auch Caitlín stand auf. »Ich glaube nicht, dass er den Tod verdient hat. Er hat uns in unserem Versteck entdeckt und nicht verraten. Ja, wir verdanken Gott unsere Rettung, aber auch ihm!«
»Herrin Caitlín, ich glaube, Ihr solltet …«
»Und wenn er doch lebt, so hat er unsere Hilfe verdient. Und nicht, dass wir ihn im Schnee liegen lassen!«
»Herrin Caitlín! Er ist tot, begreift das endlich.«
»Aber das könnt Ihr nicht wissen, ehrwürdige Mutter Oberin. Was, wenn er nun doch lebt?«
Tief seufzte Mutter Laurentia auf. Sie schob die Hände in die Ärmel ihres Habits und schien sich zu fragen, wie sie diesen aufmüpfigen Gast zum Schweigen bringen konnte. »Nun gut«, erwiderte sie langsam. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, erreichte aber nicht ihre Augen. »Ich schwöre bei Gott und seiner Heiligen Schrift, dass ich dem Wikinger helfen werde, sollte er noch einmal lebend vor mir erscheinen.«
Sie hörte sich nicht so an, als würde sie sich an diesen Schwur gebunden fühlen, wenn sie den Mann bewusstlos daliegend fand. Caitlín suchte nach weiteren Worten, aber ihr wollten keine mehr einfallen.
Er sah die gefallenen Helden in Walhall einziehen. Seite an Seite schritten sie durch die gewaltigen Tore, die sich in den Wolken verloren. Von drinnen hörte er die anderen, längst verstorbenen Krieger zechen und lachen. Sie feierten sich und die Götter, denen sie in den letzten Kampf, ragnarök, folgen würden, am Ende der Zeit. Nur dem, der mit der Waffe in der Hand gestorben war, wurde die Ehre zuteil, durch diese Tore treten zu dürfen. Doch Njal hielt kein Schwert in der Hand. Er hatte es in einer Kapelle des Christengottes verloren. Er war nicht im Kampf gefallen – jemand hatte ihm einen Dolch in den Rücken gestoßen. Ein solcher Tod war ehrlos, und so wies der Wächter der Tore ihn ab, deutete hinab in die Tiefen von Niflheimr, wo ihn Finsternis, Kälte und ewige Stille erwarteten.
Schrecken erfüllte ihn, als er feststellte, dass er gefesselt war. Bäuchlings lag er auf einer harten Pritsche. Kalt war es nicht, auch nicht dunkel. Ein Feuer erhellte einen steinernen Raum.
Er lebte.
Ganz sicher war er sich noch nicht. Sein Körper fühlte sich steif an. Bei jedem Atemzug zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Rücken. Womöglich musste er sich im jenseitigen Leben auf diese Weise an die Art seines Todes erinnern? Er wollte sich aufbäumen, aber der Schmerz ließ ihn die Zähne zusammenbeißen und zurücksinken. Bevor er die Fesseln nicht losgeworden war, würde er nicht klar denken können. Er zerrte daran – und stellte überrascht fest, dass sie locker saßen. Wer hatte so nachlässig gearbeitet? Njal spannte seine Armmuskeln an, drehte und wand die Hände – und war frei. Das Stechen im Rücken missachtend, setzte er sich auf.
Er befand sich in einem Schlafraum: vier, nein, fünf Pritschen standen an den Wänden nah am Kamin. Dazu ein Tischchen, ein paar Hocker. Alles grob und schmucklos gezimmert. Die Schlichtheit des Raumes rührte an seiner Erinnerung. Wo lebte man so?
Sein Blick fiel auf ein Holzkreuz an einer Schnur, die an einem Bettpfosten hing.
Natürlich. Jemand hatte ihn in einem Christenkloster niedergestochen. Wahrscheinlich ein irischer Krieger; er hatte drei davon gesehen und gegen einen von ihnen gekämpft. Einer der anderen beiden musste den Dolch in seinen Rücken gestoßen haben. Bedeutete dies, dass der Überfall misslungen war? Dass die Mannschaft des Drachenschiffes, der Sleipnir, aufs Meer zurückgetrieben worden war? Oder waren sie alle gefallen? Nein, undenkbar. Ihre Gegner waren nur ein knappes Dutzend Männer gewesen, die in diesem Kloster genächtigt hatten. Dann noch eine Hand voll Mönche, Knechte und Bauern aus der Umgebung – deren Kampfkraft zählte so viel wie die eines fünfjährigen Kindes.
Lächerlich. Die Mannschaft konnte nicht verloren haben. Vermutlich war sie mit Beute beladen davongefahren. Und hatte ihn tot geglaubt …
Aber was war danach geschehen?
Er fuhr sich durch die Haare, deren Nachtfarbe ihm so verhasst war. Sie waren strähnig und stanken. Er sehnte sich nach einem Bad. Ein reichlich alberner Gedanke, wenn man dem Tod entronnen war und sich wahrscheinlich – nein, ganz sicher sogar – noch in Gefahr befand.
Er wusste von Überlebenden, die sich an den Hieb, der sie fast das Leben gekostet hatte, nicht mehr erinnern konnten. Bei ihm war das anders. Noch jetzt konnte er spüren, wie die Klinge in ihn gedrungen war. Er wusste noch, dass er auf die Knie gesackt war. Dass ihn Übelkeit und ohnmächtiger Zorn erfasst hatten. Und Furcht, da er ohne sein Schwert in der Hand an den Toren Walhalls abgewiesen werden würde. Doch dann? Wie war er in diesen Raum gekommen?
Njal stellte die Füße auf den Boden, stemmte sich hoch und machte behutsam zwei, drei Schritte. In seinem Rücken fühlte es sich an, als würde er durch den Raum springen. Sofort kehrte die Übelkeit zurück. Ihm war heiß, sein Hemd in Schweiß getränkt. Mit langsamen Bewegungen zog er es über den Kopf. Irgendetwas stimmte mit seinem rechten Arm nicht. Er konnte ihn bewegen, aber er fühlte sich kraftlos an. Jemand hatte das Hemd am Rücken aufgeschnitten. Er erinnerte sich auch, sein Wams getragen zu haben, und blickte sich um. Es lag ordentlich auf einem Hocker. Darunter standen seine Stiefel.
Er blickte an sich hinunter. Seine ledernen Beinkleider hatte man ihm gnädigerweise gelassen. Sogar das goldene Christenkreuz ruhte noch auf seiner Brust wie schon seit seinen Kindheitstagen. Wahrscheinlich hatte man es nur übersehen.
Jetzt die Stiefel anzuziehen wäre mit seiner Verletzung eine üble Anstrengung, also versuchte er es erst gar nicht. Wichtiger war, schnellstmöglich zu flüchten. Aber wohin? Und womit? Das Pfeifen im Kamin verriet ihm, dass draußen ein Wetter herrschte, in das man sich besser nicht halb nackt begab. Auch wenn das Nordmannblut in ihm zum Losstürmen drängte, durfte er nicht planlos vorgehen. Zunächst musste er etwas trinken und essen. Musste herausbekommen, wie schlimm es um ihn stand. Gerne hätte er die Wunde betastet, doch diese Bewegung vermochte er nicht auszuführen.
Zuallererst jedoch brauchte er eine Waffe …
Sein Schwert lehnte in einer Ecke. »Odin und alle Götter!«, entfuhr es ihm verblüfft. Unter was für Leute war er hier geraten, dass sie ihn nicht anständig fesselten und ihm auch noch seine Waffe griffbereit zurechtstellten? Als er das Schwert packte, kam es ihm erstaunlich schwer vor. Obwohl er seine ganze Willenskraft aufbot, konnte er die Finger nicht fest genug um den Griff legen. Das ist schlecht. Sehr schlecht. Konnte ein Krieger nicht mehr kämpfen, so wäre er besser wie ein ehrloser Neiding im kalten Meer ertrunken.
Njal schnallte sich den Schwertgurt um und nahm die Waffe, so gut es ging, in die Linke. Die Tür war unverschlossen. Selbst als er einen düsteren Gang betrat, fror er nicht. Stattdessen begann sein Kopf zu pochen. Sollte er auf fremde Krieger stoßen, wäre er verloren. Aber gäbe es solche noch hier, so hätten sie mit Sicherheit dafür gesorgt, dass er nicht so einfach dieser Kammer entkam. Im Gegenteil, sie hätten ihn erst gar nicht am Leben gelassen. Hatten vielleicht noch ein paar Mönche überlebt, die mit ihren Messern nichts anderes taten, als Brot zu schneiden?
Er hörte Stimmen und das Klappern von Geschirr. Es war ein gutes Zeichen, dass sein Magen trotz des Fiebers zu knurren begann. Nach den langen Tagen auf dem Schiff wäre selbst ein Stück hartes Brot eine Wonne. Licht, das unter einer Tür durchfloss, leitete seine Schritte. Er lauschte, wartete auf Männerstimmen, um sie zu zählen.
Offenbar befanden sich nur Frauen jenseits der Tür.
»Und wenn er nun doch lebt?«
»Nun gut. Ich schwöre bei Gott und seiner Heiligen Schrift, dass ich dem Wikinger helfen werde, sollte er noch einmal lebend vor mir erscheinen.«
Njal stieß die Tür auf.
Sie war es. Er erkannte sie mühelos wieder, obwohl er nur ihre grünen Edelsteinaugen gesehen hatte, vor Furcht weit aufgerissen. Sie hatte sich vor ihm verborgen gehalten, in einem Versteck im Keller. Wieder kehrte ein Stück seiner Erinnerung an seinen Platz zurück, wie ein altes römisches Mosaik. Doch das ganze Bild wollte noch längst nicht entstehen. Wer waren all diese Frauen? Weibliche Mönche? Seine Leute hatten ein Nonnenkloster überfallen? Aber an etwas so Unehrenhaftem hätte ich mich doch niemals beteiligt, dachte er verwirrt.
Etwa zwei Dutzend in schwarze Kutten gehüllte Frauen starrten ihn an, Münder und Augen weit aufgerissen. Sie saßen an einem langen Tisch, dessen Ende nur zwei Schritte von ihm entfernt war. Drei standen jedoch, und eine von diesen schloss stöhnend die Augen und sackte auf die Bank. Die zweite Nonne tat es ihr nach, eine Frau mittleren Alters mit harten Zügen um die Mundwinkel. Sie blieb jedoch hellwach und starrte ihn weiterhin voller Feindseligkeit an.
Allein die Frau mit den grünen Augen und dem Kupferhaar blieb stehen.
Eine feine Röte legte sich auf ihr helles, sommersprossiges Gesicht. Sie senkte die Lider, sah die Nonne an, mit der sie offenbar zuvor gesprochen hatte. Dann ihn. Ihre Lippen bebten, ob vor Schreck oder weil sie nach weiteren Worten suchte, vermochte er nicht zu sagen. Ihre Hand fuhr an ihre Schulter, um den Umhang fester um sich zu ziehen. Sie schien nicht zu ahnen, dass sie ihre schlanke Gestalt damit nur mehr betonte.
Unwillkürlich fragte er sich, ob es wirklich richtig gewesen war, sie nicht aus dem Kellerloch gezerrt zu haben. Rechtfertigte eine solche Beute nicht jeden Überfall?