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Ihr Feuer schmilzt das Eis um sein Herz ...
Auf der Nordsee im Jahr 1150: Nach den Grausamkeiten des Kreuzzugs ersehnt der Tempelritter Rouwen nichts mehr als die Rückkehr in seine Heimat England. Auf der Heimreise wird er jedoch von Wikingerkriegern gefangen genommen und an die raue Küste der Shetland-Inseln verschleppt. Sofort beginnt Rouwen, seine Flucht zu planen. Aber je häufiger er auf die stolze Häuptlingstochter Rúna trifft, desto verführerischer wird die Aussicht, etwas länger im wilden Norden zu bleiben ...
Weitere historische Liebesromane von Shirley Waters bei beHEARTBEAT: "Der schwarze Wikinger" und "Der Fluch des Wikingers".
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Veröffentlichungsjahr: 2019
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Zitat
I. GEFANGEN
1.
2.
3.
4.
5.
II. GEBUNDEN
6.
7.
8.
III. GEZWUNGEN
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
VI. GELIEBT
17
18.
19.
20.
21.
Der schwarze Wikinger
Der Fluch des Wikingers
Ihr Feuer schmilzt das Eis um sein Herz …
Auf der Nordsee im Jahr 1150: Nach den Grausamkeiten des Kreuzzugs ersehnt der Tempelritter Rouwen nichts mehr als die Rückkehr in seine Heimat England. Auf der Heimreise wird er jedoch von Wikingerkriegern gefangen genommen und an die raue Küste der Shetland-Inseln verschleppt. Sofort beginnt Rouwen, seine Flucht zu planen. Aber je häufiger er auf die stolze Häuptlingstochter Rúna trifft, desto verführerischer wird die Aussicht, etwas länger im wilden Norden zu bleiben …
Shirley Waters (1965-2017) hat unter anderem Namen diverse Bücher veröffentlicht, ihre wahre Liebe galt aber dem historischen Liebesroman. Bei beHEARTBEAT sind ihre drei leidenschaftlichen Wikinger-Romane »Der schwarze Wikinger«, »Wikingerfeuer« und »Der Fluch des Wikingers« erschienen.
Shirley Waters
WIKINGER-FEUER
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Thomas Krämer nach einem Entwurf von ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung eines Motives © Agentur Schlück/John Ennis
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7094-2
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Vieles erwähnt’ ich,mehr noch weiß ich;Wisst und bewahrt es;wollt ihr noch mehr?
Unbekannt,
Halt durch, Junge! Halte durch!« Rouwen murmelte die Worte immer wieder, während die Wellen mit furchtbarer Gewalt gegen das Schiff brandeten und es erbeben ließen. Das Seil drohte ihm aus den Händen zu gleiten, bevor es ihm endlich gelang, es um seine Mitte zu knüpfen. Dann warf er sich nach vorne. Die Zeit, den Knoten fest anzuziehen, hatte er nicht. Der würde sich straff ziehen, wenn sich das Seil spannte. Wenn nicht, wäre es sein Tod.
Kopfüber schlitterte er das steil aufgerichtete Deck hinunter. Das Seil, das er am Fuß des gebrochenen Mastes festgemacht hatte, hielt ihn mit einem Ruck auf.
»Gib mir deine Hand, Elric!«
»Meister.« Im Tosen eines sturmgepeitschten Meeres war der Junge kaum zu hören. »Ich kann nicht.«
»Du kannst!«, brüllte Rouwen und reckte eine Hand nach seinem fünfzehnjährigen Knappen. Er, Rouwen von Durham, Sohn eines reichen Earls und zugleich Armer Ritter Christi vom Tempel Salomons, würde dafür sorgen, dass sein Schützling auch diese letzte Schlacht, die sie mit dem entfesselten Nordmeer schlugen, überstand. Es konnte nicht sein, dass sie beide nach den Jahren des Kämpfens im Heiligen Land jetzt ein so schmählicher Tod ereilen sollte. Auf ihrer Heimreise! Es durfte nicht sein!
»Du kannst!«, rief er noch einmal, diesmal weniger laut, doch drängender. Er flehte zugleich zu Gott, nicht so grausam zu sein.
Nasse Strähnen bedeckten Elrics hageres Gesicht. Dahinter waren die ohnehin großen Augen vor Todesangst geweitet. Ein Blick lag darin, den Rouwen in der Schlacht schon oft gesehen hatte. Wenn ein Mann erkannte, dass er sich einem Stärkeren ergeben musste.
»Eine Hand nur, Elric …«
Seine eigene schwebte nur Fingerbreiten von Elrics rechter Hand entfernt, die sich an die Kante einer geborstenen Planke klammerte. Das scharfe Holz hatte seine Haut aufgeschlitzt, und das Blut vermischte sich mit dem Seewasser, das beständig darüber schwappte. Die Linke hielt ein Tau, doch das drohte jeden Augenblick zu reißen. Das eiskalte Wasser ließ Elrics Kräfte schwinden. Längst waren seine Lippen blau, das Gesicht kalkweiß. Und die Augen seltsam dunkel, gleich einem Geistwesen.
Wenn sich das verfluchte Schiff doch aufrichten würde! Um sie tobte der Sturm, doch die Martin von Tours lag beinahe ruhig auf der kochenden See. Sie war mit einem heftigen Ruck, der Rouwen hatte glauben lassen, seine eigenen Glieder würden bersten, gegen einen Felsen gerammt und saß nun stark krängend fest. Dass irgendwo hinter ihm – vielmehr über ihm – die Besatzung der Handelskogge ihren eigenen Kampf gegen den Tod ausfocht, nahm er nur am Rande wahr.
Rouwen streckte sich noch ein Stück. Fast konnte er die Fingerspitzen des Jungen berühren. »Elric, du gottverfluchter Dummkopf, in der Hölle sollst du schmoren, wenn du mir nicht deine verdammte Hand entgegenstreckst. Deine Hand, Elric. Jetzt!«
Plötzlich lächelte der Knappe und sein Gesicht nahm den tadelnden Ausdruck an, den Rouwen schon tausend Mal an ihm gesehen hatte. Doch diesmal entsetzte es ihn. »Herr, Kaplan Heward hat doch gesagt, Ihr sollt nicht fluchen, wenn Ihr nicht in die Hölle kommen wollt.«
Die Finger lösten sich, glitten über das Holz. Nicht weil Elric nach Rouwens Hand zu greifen versuchte – die Kräfte verließen ihn.
Und plötzlich war nur noch dichte, weiße Gischt dort, wo eben noch sein Kopf gewesen war.
»Nein!«, schrie Rouwen. »Elric, nein! Nein!«
Die Zeit stand still. Das Meer, obschon es wild kochte, hörte er nicht mehr. Er starrte auf die Stelle, an der er Elric zuletzt gesehen hatte. Wartete, dass er wieder auftauchte. Und begriff langsam, dass das nicht geschehen würde.
Man sagte, die Nähe des Todes brächte Bilder eines vergangenen Lebens, und so ging ihm durch den Kopf, wie Elric vor Jahren in seine Dienste getreten war, als ein fröhlicher, stets zu Streichen aufgelegter Junge, und wie sich Ernsthaftigkeit auf seine schmalen Schultern gelegt hatte, während er seinem Herrn ins Heilige Land gefolgt war. Wie das Lachen immer seltener gekommen war. Stattdessen stumme Verzweiflung und Angst, zuletzt als sie von den Heiden auf den brennenden Feldern von Hattin umzingelt worden waren … Und nichts blieb nun, nicht einmal ein Andenken, das Rouwen den Eltern des Jungen geben konnte.
Verflucht!
Irgendwann hörte Rouwen eine Stimme, die ihn ermahnte, wieder das gekippte Deck hinaufzuklettern, dorthin, wo die aneinandergebundenen Truhen und Fässer des Händlers mitsamt dem gefallenen Rahsegel ein Wirrwarr ergaben, das irgendwie Halt bot. Rouwen erklomm Handbreit um Handbreit das Tau, während seine Gedanken in ihm tosten wie das Meer. Warum strafte Gott den jungen Elric statt ihn? Weil das Weiterleben die größere Strafe war?
Gerard, der franzische Händler, der nach ihm gerufen hatte, hatte die feisten Arme um ein Fass mit gutem Frankenwein geschlungen und betete. Von der restlichen Besatzung sah Rouwen kaum mehr als Schemen in den Wolken der Gischt. Welle um Welle schlug auf den Schiffsrumpf nieder, peitschte in sein Gesicht wie ein Pfeilhagel und riss die Tränen fort. Er ermahnte sich, sich um sich selbst zu kümmern, und band das Tau, das er am Maststumpf festgemacht hatte, noch um eines der Fässer. Jetzt wäre Zeit zum Beten, sagte er sich, doch ihm wollte nichts einfallen. Sein Rosenkranz wäre vielleicht eine Hilfe, hätte er ihn nicht längst verloren. Seine Gedanken trieben dahin, und irgendwann stellte er fest, dass einige Zeit vergangen sein musste, denn der Sturm ließ nach.
»Wusste ich doch, dass es sich eines Tages auszahlen würde, das Schiff nach dem Schutzpatron der Kaufleute zu benennen.« Gerard, immer noch an sein Fass geklammert, lachte, und es klang ein wenig irr. »Fast meine ganze Ware ist weg, ich bin ruiniert. Aber wenigstens leben wir noch.«
Rouwen sah sich nach dem Rest der Mannschaft um. Zwei Schiffsleute klammerten sich an die geborstenen Planken; ein von Gerard angeheuerter Söldner hielt sich an der Takelage des zerstörten Mastes fest, und dann war da noch ein Sergent des Templerordens, der im Heiligen Land unter Rouwen gedient hatte.
Sechs Seelen hatten den Sturm überlebt; zehn waren demnach über Bord gegangen. Rouwen löste das Seil und kletterte zum höchsten Punkt des Decks, um das Meer überblicken zu können. Mit der Linken hielt er sich an der Reling fest; die andere Hand tastete gewohnheitsmäßig nach seinem Messergürtel über der nassen Lederhose. Seine gesamte Ausrüstung lag wahrscheinlich längst auf dem Grund der See. Aber wenigstens ein Brotmesser, eines zur Jagd und eines zum Kämpfen hatte er noch.
Während er den Blick über die weißen Schaumkronen auf den allmählich ruhiger und kleiner werdenden Wellen schweifen ließ, verdrängte er die Gedanken an Elric und die anderen Toten. Auch die Frage, ob es ein Fehler gewesen war, so früh im Jahr nach Hause zu wollen, stellte er zurück – diese Milch war vergossen. Den Winter hatten sie an der franzischen Küste in einem erbärmlichen Nest verbracht; er hatte das Warten nicht mehr ausgehalten …
Jetzt galt es zu überleben. Nur wie? Den Horizont verdeckten Wolken, so tief und grau, dass man glauben mochte, dort oben befände sich ein weiteres Meer. Der Wind ließ sie bedrohlich wirbeln. Weit voraus tanzten schwarze Punkte – herumtollende Möwen. War dort Land? England? Seine Heimat Northumberland? Tage hatte das Unwetter gedauert; das Schiff mochte sonst wo sein. Wie auch immer, dieser Felsen, der sich der Handelskogge erbarmt hatte, war viel zu weit von der Küste entfernt. Rouwen drehte sich um, versuchte in dem Gewirr von geborstenen Kisten, Truhen, Fässern, Tauen und Planken zu erkennen, ob und wie man daraus etwas bauen konnte, das sie übers Wasser brachte. Er entdeckte seine eigene Truhe, und sie war sogar noch verschlossen. Sie steckte zwischen zwei gebrochenen Decksplanken fest. Ein Wunder, dass sie nicht gesunken war, war sie doch voll von schweren Mitbringseln aus dem Heiligen Land. Dabei war es ihm schon wie ein Wunder vorgekommen, dass er sie nach der verlorenen Schlacht bei Hattin überhaupt hatte retten und mit sich nehmen können. Gott wollte anscheinend, dass der kostbare Inhalt nach Durham gelangte.
Und als wollte der Herr ihm ein Zeichen schicken, brach ein matter Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Rouwen bekreuzigte sich.
»Wir werden überleben, Männer«, rief er heiser. Seine Kehle schmerzte; seine Schultern zitterten von der Kälte. »Haltet euch gut fest, bis der Wind gänzlich abgeebbt ist. Dann prüfen wir, was wir noch an Vorräten haben, versuchen auf dem Felsen so etwas wie ein Lager aufzuschlagen und überlegen, wie wir von hier fortkommen können.«
»Heiliger Martin, steh uns bei!«, jammerte Gerard. »Auf diesem Stein werden wir kaum nebeneinander stehen können.«
Eng würde es werden, aber immer noch besser, als auf diesem schrägen Schiffsrumpf festzuhängen. Vorsichtig, eine Hand immer an der Takelage, arbeitete sich Rouwen zu dem Händler vor, um ihm von dem Fass herunterzuhelfen. Der Franzmann flehte zu Martin und mehreren anderen Heiligen, dass sie ihn davor bewahren sollten, ins Wasser zu fallen, während er sich linkisch zur Bordwand kämpfte und dann einen langen Schritt auf den schwarzen Felsen wagte. Dort schlitterte er mit wedelnden Armen auf dem von Algen glitschigem Boden herum.
Mittlerweile war der Sturm kaum mehr als eine böse Erinnerung, doch es hatte zu regnen begonnen. Rouwen überlegte, ob sie versuchen sollten, das Regenwasser aufzufangen. Wie lange würde es dauern, bis der Durst sie alle quälte? Von den Wasserfässern war nichts mehr zu sehen. Eines war aufgebrochen und dümpelte auf der Seite, gehalten von einem Seil. Vielleicht befand sich darin noch etwas brauchbares Wasser.
»Schaff das Fass herauf, wenn du kannst«, wies Rouwen einen der Schiffsmänner an. »Aelwulf, schneide dort einige Seilstricke ab und bring sie mir. Und du, Caedmon, kümmere dich um den Schiffseigner, bevor er über ein Möwennest stolpert und ins Meer fällt.«
Er selbst kletterte zu einer der Truhen, öffnete sie und zerrte die Tuchballen darin heraus. Als er damit über die Bordwand auf die Felseninsel stieg, schrie Gerard auf.
»Bei allen Heiligen, was tut Ihr mit dem kostbaren Rest meiner Ware? Genügt es nicht, dass jetzt die Fische über all die guten fränkischen Küchenmesser hinwegschwimmen, die ich in Newcastle verkaufen wollte? Jetzt beschmutzt Ihr auch noch den teuren flandrischen Brokat. Den Ballen dort hat der Bischof von Durham höchstselbst bestellt!«
Rouwen riss den Stoff ein Stück auf, um ihn am Rest der Kastellwand festknüpfen zu können. Gerard schrillte, als zöge man ihm das Fell über die Ohren. Nur die kräftigen Hände des Sergenten Caedmon hinderten ihn daran, sich auf Rouwen zu stürzen.
»Das wird Euch teuer zu stehen kommen!« Sein Doppelkinn wackelte empört, und er fuchtelte mit einer Faust herum. »Templer! Ich wusste doch, dass es nur Ärger bringt, einen Tempelritter mit an Bord zu nehmen.«
»Wieso das?«, fragte Rouwen, während er in aller Ruhe den Stoff dicht über seinem und des Händlers Kopf spannte, um sie vor dem Regen zu schützen.
Mit dieser Frage ausgerechnet aus dem Mund eines Templers schien Gerard nicht gerechnet zu haben. Er kratzte sich den sorgsam gestutzten Bart, in dem Salzkristalle klebten. »Na, weil es Rittern, die stark wie drei Männer und wahre Meister im Schwertkampf sind, nicht gut bekommt, gleichzeitig sittsame, brave Mönche sein zu müssen. Ihr wisst schon, wie ich’s meine, hm?« Da Rouwen nicht sofort antwortete, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Wer tags stark sein muss, der will es auch nachts im Bett sein dürfen. Aber wer das nicht darf, wird rabiat. Versteht Ihr jetzt?«
Rouwen erwog, einen Streifen von dem Tuch abzureißen und den Mann zu knebeln. »Wer tags stark sein muss, will nachts seine Ruhe. Setzt Euch unter das Tuch, Herr Gerard, und hört auf zu reden! Dann plagt Euch auch nicht ganz so schnell der Durst. Wir haben nämlich kaum noch Wasser.«
Gerard klappte den vorlauten Mund zu. »Gott steh uns bei«, murmelte er und sackte, wo er stand, auf den Hintern nieder. Die wulstigen Hände gefaltet, begann er leise zu beten. Rouwen half dem Seemann, das Fass auf dem Felsen abzustellen, und prüfte den Inhalt. Das spärliche Wasser schmeckte ein wenig salzig; das war zu erwarten gewesen. Dennoch war es genießbar, und so hielt er Gerard die halb gefüllte Kelle, die noch an einem Haken daran gebaumelt hatte, hin.
»Trinkt langsam«, ermahnte er ihn.
Der Händler kostete und verzog angesichts des Geschmacks das Gesicht. Der Durst trieb ihn dazu, die Kelle zu leeren. Als er sie wieder sinken ließ, weiteten sich seine Augen, und er spuckte es aus.
»So übel ist es nun auch wieder nicht, Herr Gerard.«
Doch der Händler ließ die Kelle fallen und deutete mit einem zitternden Finger voraus. »Seht doch, Herr Rouwen, dort, seht!«
Rouwen wandte sich wieder dem Meer zu. Zunächst sah er nichts in diesem schier endlosen Meeresgrau. Dann zeichnete sich ein dunkler Umriss auf einem Wellenkamm ab. Ganz deutlich sah er … Nein, das war nicht möglich.
»Ein Schiff!«, jubelten die überlebenden Männer mit entkräfteten Stimmen. Rouwen beschirmte mit einer Hand seinen Blick.
»Was ist es für ein Schiff?« Der Händler versuchte sich auf die Füße zu rappeln, doch er rutschte auf der glitschigen Felsoberfläche aus und setzte sich wieder. »Kommt es her? Sieht es uns?«
Rouwen sah noch einmal angestrengt hin. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht.
»Herr Rouwen, sagt schon!«
»Es sieht aus wie ein Drachenschiff.«
»Ein Drache?« Gerard bekreuzigte sich. »Ich wusste, dass es im Nordmeer Ungeheuer gibt, ich wusste es immer!«
»Kein Seeungeheuer. Ein Schiff mit einem geschnitzten Drachenkopf auf dem Vordersteven. Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass es nicht sein kann, so würde ich sagen, das ist ein Wikingerschiff.«
»Wikinger? Redet Ihr etwa von diesen Heiden, die früher die Küsten sämtlicher christlicher Länder überfallen haben? Das ist wie viele Generationen her? Sechs, sieben? Heutzutage muss man Sarazenen und Mamelucken fürchten, aber doch nicht diese Barbarenhorden aus alten Geschichten.«
Gewiss nicht. Die Wikinger aus alter Zeit waren sesshaft, friedlich und christlich geworden. Irgendeine Erklärung würde es schon dafür geben, dass dieses Schiff mit seinem Drachenkopf, dem rotweiß gestreiften Rahsegel und den an der Bordwand aufgestellten bunt bemalten Rundschilden existierte. Es glich aufs Genauste den Abbildungen, die Rouwen auf Wandteppichen und in der Angelsächsischen Chronik in der Bibliothek von Durham Castle bewundert hatte.
Zunächst zählte nur, dieses Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Er zog eines seiner Messer und schnitt das teure Tuch wieder los. Dann stieg er auf die Reling, spreizte die Beine, um Halt zu finden, und reckte die Arme. Das Tuch flatterte in der sanft gewordenen Brise.
»Sie kommen«, hörte er einen der Männer hinter sich erregt raunen.
Sie kamen tatsächlich. Und sie kamen schnell. Etwa zwanzig Männer saßen an den Riemen, und weitere zehn oder zwölf liefen auf dem Deck auf und ab. Die Sonne blitzte auf Helmen und Speerspitzen, und Rouwen meinte schon ihre Stimmen zu hören. Er sah, wie sie ihre Waffen zum Himmel erhoben … Ihm stockte der Atem. Er erkannte, wann Männer kämpfen und nicht etwa helfen wollten, selbst auf diese Entfernung hin. Er wusste es viel zu gut … Verdammt, dachte er.
»Betet, Herr Gerard«, sagte er ruhig, obwohl sein Inneres toste wie noch vor Kurzem der Sturm. Was durch seine Adern zu strömen begann, war eine Erregung, von der er nie wusste, ob es die Gier nach dem Kampf oder in Wahrheit doch nur Furcht war. »Und ihr anderen – macht euch bereit, euer Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Diese Männer werden uns nicht retten. Sie werden uns zu töten versuchen.«
Gerard quiekte vor Entsetzen, und Rouwen hätte keinen Shilling auf eine trockene Bruche unter dem Kittel des Händlers gewettet. Caedmon fluchte und fischte von irgendwoher eine Zimmermannsaxt hervor. Sein Jagdmesser warf Rouwen jenem Söldner zu, der einen wehrhafteren Eindruck als die beiden Seeleute machte. Er selbst ließ das Tuch fahren und zog das lange Kampfmesser aus der Scheide.
Einen guten Stand hatte er hier oben nicht. Auf dem Felsen jedoch auch nicht, also blieb er breitbeinig stehen. Er wünschte sich, über der zerschlissenen Tunika seinen Mantel zu tragen, den weißen Mantel mit dem roten Tatzenkreuz, das edelste Kleidungsstück eines Ordensritters der Templer. Dazu seinen Anderthalbhänder mit der teuren, im Frankenland geschmiedeten Klinge. Wenigstens hatte ihm der Sturm nicht das silberne Kreuz entrissen, das er an einer Lederschnur um den Hals trug. Er hob es an die Lippen und küsste es.
Das seltsame Drachenschiff war nun so nah, dass er hören konnte, wie die Männer brüllten, und sah, wie ihre Augen gierig blitzten. Unter ihren Helmen quollen hellblonde Zöpfe und Bärte hervor. Die ersten schnappten sich ihre Schilde von der Bordwand, rissen ihre Schwerter hoch und schlugen sie gegen die eisenbewehrten Ränder – somit verflog der letzte Zweifel, sie könnten friedliche Absichten hegen. Ihr Geschrei war inzwischen so laut, dass es sogar Gerards Schluchzen übertönte.
Rouwen dachte an seine Truhe. Es musste doch Gottes und des Heiligen Cuthbert Wille sein, dass sie an ihren Bestimmungsort gelangte. Aber er dachte auch, dass die Wege des Herrn unergründlich waren und der seine vielleicht tatsächlich in die Tiefe des Meeres führte, dem armen Elric hinterher. Er dachte, dass dieses Wikingerschiff eigentlich nicht existieren durfte und er das Rätsel, weshalb es dennoch drohend vor dem Felsen aufragte, gerne noch gelöst hätte. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
Im nächsten Augenblick wurden sie alle vom Anblick einer Frau vertrieben.
Er blinzelte. Stand dort auf dem Deck wirklich eine hochgewachsene, schlanke Frau, mit goldenem Haar, das ihr bis zu den Ellbogen reichte, in einem Kettenhemd, das sich über zwei Brüste schmiegte, so vollkommen, wie die Bibel sie in Salomons Hohelied beschrieb? Doch als er wieder hinsah, war die Frau fort. Weshalb auch sollte unter dieser Horde wilder Krieger ein weibliches Wesen sein? Seine angespannten Sinne hatten ihn genarrt.
Als der erste Speer neben dem kreischenden Gerard aufschlug und Rouwen einen Satz auf den Felsen machte und danach griff, bevor die Waffe ins Meer polterte, hatte er die Frau vergessen.
Rúna rannte zum Heck, um ihren Bogen und Pfeile zu holen. Sie wusste, dass Yngvarr, der erste Krieger der Yoturer, einen Langbogen für die Waffe fränkischer und englischer Feiglinge hielt. Geringschätzig hatte er das Gesicht verzogen, als sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag von ihrem Vater diesen Bogen bekommen hatte. Er selbst hatte ihr eine Kriegsaxt überreicht. Ihr Gewicht am Gürtel fühlte sich gut an. Gut und wichtig. Trotzdem wollte sie nicht auf ihren Bogen verzichten. Außer Yngvarr achteten sie die Schwertmänner Yoturs ohnehin als schnelle und geschickte Kämpferin, egal mit welcher Waffe sie kämpfte. Und jetzt durfte sie sich endlich auf einer Wikingfahrt beweisen.
Ein Schiff zu erobern, das bereits zerstört war und so tief krängte, dass nur noch dieser nackte Felsen es vorm Sinken bewahrte, war jedoch keine Tat, über die ein Skalde später Lieder dichten würde. Zumal nur eine Handvoll Männer überlebt hatte. Aber einer von ihnen machte einen äußerst wehrhaften Eindruck.
Rúna schlüpfte unter die Ruderplattform, wo Proviant und Beute verstaut wurden und sie und ihr Bruder eine kleine Ecke für sich hatten, um des Nachts nicht wie die Männer an Deck schlafen zu müssen. Sie schnallte sich den Köcher um die Taille und zog einen Pfeil heraus, während sie mit der anderen Hand nach ihrem Bogen griff. Als sie wieder aus dem Hohlraum hervor kam, hatten die Ruderer die Windjägerin bereits dicht an den Felsen gebracht. Soeben sprang Rúnas Vater, Baldvin Baldvinsson, auf die Reling und hob sein Schwert.
»Seid tapfer und kämpft!«, schrie er in der Sprache der Engländer. »Dann gewähren wir euch die Gnade, mit einer Waffe in der Faust zu sterben, damit ihr wie ehrenvolle Krieger in Walhall einziehen könnt!«
Rúna sah, dass der hochgewachsene Fremde mit dem fetten Kerl, der auf dem Felsen hockte wie eine Glucke auf ihrem Ei, einen verständnislosen Blick wechselte. Natürlich, die beiden waren Christen. Die ganze Welt folgte diesem schwächlichen Gott, der sich an ein Kreuz hatte nageln lassen, statt um sein Leben und seine Ehre zu kämpfen. Wer wusste noch von Allvater Odin und den Asen, welche die gefallenen Krieger mit Met empfingen, um mit ihnen an den riesigen Tafeln Walhalls zu feiern, bis sie alle dereinst gemeinsam in den letzten Kampf gegen die Riesen ziehen würden?
»Wir wollen nicht kämpfen«, rief der Mann, seinem Akzent nach tatsächlich ein Engländer.
»Natürlich nicht, sind ja Christen«, brummte Yngvarr in seinen Bart. Er stand dicht neben Rúna, sodass nur sie ihn hörte.
Was immer der Fremde noch sagen wollte, die dicke Glucke kam ihm zuvor. »Wir bezahlen euch, damit ihr uns an Land bringt!«, schrie der Mann mit sich überschlagender Stimme, während er sich aufrappelte. Sein Englisch war eigentümlich gefärbt. Er drohte auszurutschen, und nur dem beherzten Griff des Anderen verdankte er, dass er nicht geradewegs ins Wasser platschte.
»Mund halten, Herr Gerard.«
»Wieso? Was wollt Ihr denen stattdessen vorschlagen, Herr Rouwen? Ich glaube, wir haben nicht viele Möglichkeiten.«
»Stimmt allerdings«, murmelte Yngvarr. Er grinste breit, und auch die anderen Krieger konnten sich das Lachen kaum verbeißen.
Der Mann namens Rouwen schob die Glucke hinter sich und trat einen Schritt vor.
»Du hast von Ehre gesprochen«, wandte er sich an Baldvin mit einer dunklen, kräftigen Stimme, die erahnen ließ, dass er sie ebenso wie seine muskulösen Arme in vielen Schlachten gestählt hatte. »Aber ist es ehrenhaft, Notleidende zu töten? Wir stehen auf einem Wrack, ohne Hilfe würden wir hier elendig sterben. Also appelliere ich an deine Ehre, uns zu helfen.«
Das Lachen erstarb in ungläubigem Staunen.
Baldvin strich sich durch den geflochtenen Bart. »Ihr habt nichts mehr von Wert an Bord?«, fragte er lauernd.
Der Engländer öffnete den Mund und atmete so tief ein, dass sich unter seinem Hemd die mächtige Brust wölbte. Er zögerte mit seiner Antwort.
»Nichts haben wir!«, schrillte Gerard. »Nur noch unser nacktes Leben!«
»Lügner«, knurrte Yngvarr.
Im gleichen Augenblick riss Rúnas Vater sein Schwert hoch. »Tötet sie, Männer! Und holt euch, was immer ihr findet!«
Aus dreißig yoturischen Kehlen kam begeistertes Gebrüll. Die Windjägerin schwankte, als die Krieger über das Deck stürmten. Einige rückten ihre Schilde zurecht, andere sprangen ungeschützt über die Bordwand auf den Felsen. Thorkil Rothaar glitt aus und stürzte auf den feisten Gerard; im Fallen stieß er sein Kurzschwert in den Bauch des Mannes, der staunend Mund und Augen aufriss und blutüberströmt zur Seite sackte. Wie ein Sack rollte er den Felsen herunter und versank in den Fluten.
Rúna keuchte auf, als sie sah, dass es Thorkil nicht besser erging: Der Engländer versenkte seine Messerklinge in dessen Kehle und brüllte dabei zornentbrannt. Seine Augen loderten. Er riss dem Toten das Schwert aus der Hand und parierte einen Hieb Yngvarrs. Wie ein Berserkir schwang er die Klinge und ließ fremdartig klingende Schlachtrufe ertönten. Yngvarr musste hinüber auf das Wrack springen, um den gewaltigen Hieben zu entgehen. Er zog es vor, außer Reichweite des Engländers zu bleiben und stattdessen zwei der Seeleute in den Tod zu schicken.
Drei weitere von Baldvins Mannen setzten hinüber – der Fremde besiegte sie mühelos. Breitbeinig stand er auf dem schlüpfrigen Grund, die Zähne gefletscht wie ein Wolf. Rúna spannte den Bogen und versuchte auf ihn zu zielen. Es war schwierig, denn er bewegte sich trotz der Enge schnell, und die Gefahr, einem der eigenen Männer in den Rücken zu schießen, war zu groß.
Doch nicht nur deshalb ließ sie schließlich den Bogen sinken. Dieser Engländer verdiente es, ehrenhaft zu sterben, nämlich mit einer Schwertklinge in der Brust. Er war wie ein in die Enge getriebenes Raubtier: von wilder Eleganz und Gefährlichkeit. Die kurzen, kastanienbraunen Haare klebten an seiner Stirn, die Augen glühten wie Bernstein im Feuer. Seine ansehnlichen, jetzt von hitzigem Zorn verzerrten Gesichtszüge waren von einem Bartschatten bedeckt. Rúna fühlte sich an Bilder von Männern eines uralten Volkes aus dem Süden erinnert, das vor tausend Jahren die Welt beherrscht hatte. Sie hatte sie in einem von Stígrs Folianten gesehen.
Allerdings würde dieser Rouwen heute nichts erobern, sondern sterben.
Für einen Augenblick bedauerte sie es.
Ein heiserer Schrei zu ihrer Linken ließ sie zusammenfahren. Derbe Flüche ausstoßend, stürzte Arien über das Deck, einen Streitkolben hoch erhoben.
»Tod den Engländern!« Aus seiner geplagten Lunge klang der Schlachtruf eher wie Rabenkrächzen.
Rúna packte ihn an der Schulter. Um die Achse wirbelnd, stieß er mit ihr zusammen. Fast hätte der eisenbewehrte Schlagkopf des Streitkolbens ihr Gesicht getroffen. Sie ließ ihren Bogen fallen und umfasste stattdessen den Schaft des Kolbens, während sie mit der anderen Hand Ariens Kittel im Nacken packte und ihn schüttelte.
»Sag mal, wer hat dir erlaubt, dich in die Schlacht zu stürzen?«
»Ich habe es mir selbst erlaubt.« Ihr schlaksiger Bruder reckte das Kinn. Noch war er einen Kopf kleiner als sie, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis er sie, obschon sie eine große Frau war, überragte.
»Unser Vater hat zu Beginn der Reise ausdrücklich gesagt, dass du unter Deck bleiben sollst, wenn es zum Kampf kommt.« Rasch hob sie den Kopf, um nach Baldvin Ausschau zu halten. Er stand auf dem Handlauf der Bordwand, sein Schwert hoch erhoben. Was sich auf dem Felsen tat, konnte sie nicht mehr sehen, denn der Blick war von einer Reihe von Kriegern versperrt, die jene, die auf dem Felsen kämpften, lautstark anfeuerten.
Zwei Schwertmänner, Hallvardr und Sverri, hatten dem Geschehen den Rücken gekehrt. Ihre Aufgabe war es, auf Rúna und insbesondere auf Arien zu achten. Rúna fand, dass sie keine Aufpasser nötig hatte. Arien dafür umso mehr.
»Sag nicht, du bist schon wieder erkältet«, sagte Rúna, da er wieder hustete. »Du warst erst vor zwei Wochen krank.«
»Mir geht’s gut. Ein Wikinger muss sich abhärten.«
»Mit deinen zwölf Jahren bist du noch lange keiner.«
»Und du mit deinem Frankenbogen wirst nie eine Walküre.«
Sie hob den Bogen auf. Mit der anderen Hand schubste sie Arien in Richtung der Heckplattform. »Mach, dass du da hinunter kommst, Trollkopf!«
»Drachenfrau!«
»Nachtalb!«
»Hässliche … alte … Norne mit … gemüseverklebten Zähnen!«
Was? Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Dann zuckte sie zusammen, als eine Axt über ihren Kopf hinweg flog. »Bei allen Göttern, hinein mit dir, Arien, bevor noch etwas passiert.«
Erst wehrte er sich, doch als ihn ein Hustenanfall schüttelte, konnte sie ihn mühelos ins Dunkel unter die Decksplanken schieben. Damit er nicht gleich wieder entwischte und in Gefahr geriet, hockte sie sich neben ihn, auch wenn sie es bedauerte, den Kampf zu verpassen. Sie mussten die Köpfe einziehen und sich dicht beieinander kauern, denn hier unten waren Taurollen, Decken, Werkzeuge, Wasserfässer und Proviantsäcke aus geöltem Leder und zwei Kisten festgezurrt, welche die Beute aufnehmen sollten. Bisher waren sie leer.
Ein einziges Handelsschiff hatten sie auf der Fahrt gesichtet. Dann war urplötzlich der Sturm gekommen. Nicht dass es der Windjägerin und ihrer Besatzung etwas ausgemacht hätte – Rúna hatte wie alle anderen das Gesicht in den Wind gehalten und das Auf und Ab genossen; lediglich Arien war grün im Gesicht geworden. Doch das Beuteschiff war natürlich schnell außer Sicht gewesen.
Hier, in dem schmalen Zwischenraum unterhalb der erhöhten Ruderplattform, sah man nur die Beine der Kämpfer. Die Decksplanken bebten unter ihren Schritten. Rúna sehnte sich danach, hinauszustürmen und zu kämpfen. Aber ihr Vater hatte sie angewiesen, vorsichtig zu sein. Sie sollte auf ihrer ersten Wikingfahrt zuschauen und lernen und sich als umsichtig erweisen. Sie durfte kämpfen, sollte es sogar. Doch nur, wenn die Lage übersichtlich war. Das war jetzt eindeutig nicht der Fall.
Rúna legte den Bogen beiseite. Als ein Mann der Länge nach hinschlug, griff sie wieder hastig danach. Er wälzte sich herum und hielt sich das blutige Gesicht. Ein zweiter fiel auf ihn. Blut strömte aus seinem Mund, den er zu einem stummen Schrei geöffnet hatte.
Rúna ahnte, wer dafür verantwortlich war.
»Bleib hier«, zischte sie Arien zu und wollte hinaus.
Nun war es Arien, der sie aufhielt. »Bei den Göttern, geh da nicht raus! Der Engländer tötet auch dich!«
Seine dünnen Arme waren wie ein Fischernetz, das er über sie geworfen hatte. Sie griff nach ihm, schimpfte, wand sich, und endlich lag er am Boden. Sie drückte seine Hände nieder. »Mit einem gezielten Schuss kann ich den Engländer vielleicht doch töten«, sagte sie. »Also lass mich gehen.«
Noch zögerte sie allerdings, den Bruder loszulassen. Die Augen hatte er weit aufgerissen, als fürchte er sich. Das war für ihn ungewöhnlich. Oder lauschte er? Auch sie bemerkte, dass es draußen schlagartig ruhig geworden war. Die Schlacht, wenn man diesen einseitigen Kampf so nennen mochte, war vorüber.
Sie ließ Arien los und kroch ins Freie. Die Männer nahmen sich bereits den Gefallenen an; sie warfen Planen über die Körper, wickelten sie rasch darin ein und legten sie an den Bordwänden nieder. Die anderen Kämpfer ließen schwer atmend die Arme mit den Schilden und den Schwertern und Äxten hängen.
Sie starrten auf den Engländer, der mit einem langen Schritt von der Bordwand auf die Planken trat.
Zwei Krieger hielten den Engländer in Schach; ihre Lanzenspitzen berührten seinen Nacken. Aufrecht stand er da, mit leicht gesenktem Kopf. Auf seinem rechten Oberarm klebte Blut – nein, es war eine blutrote Tätowierung, ein seltsames Kreuz mit gespaltenen Enden. Unter den wirren rötlichbraunen Haaren, aus denen Feuchtigkeit tropfte, ließ er den Blick schweifen. Er atmete schwer. Seine Tunika hing nur noch in Fetzen von seinen Hüften, und von der Brust rann der Schweiß. Beide Hände hatte er gespreizt – eine Geste, die besagte, dass er seine Waffen fallen gelassen und sich somit ergeben hatte. Doch er wirkte wie ein Wolf, der sich jederzeit dazu entschließen konnte, mit bloßen Händen anzugreifen.
Kaum merklich zuckte er zusammen, als eine Truhe neben ihm auf das Deck prallte. Yngvarr sprang daneben auf. Er musterte den Fremden von oben bis unten und richtete sich zu voller Größe auf, die den hochgewachsenen Engländer noch um eine halbe Handbreite übertraf. Langsam zog er ein langes Messer aus der Scheide an seinem Gürtel. Rúna hielt den Atem an, als er mit der Messerspitze zwischen die Augen des Engländers zielte. Der hatte den Kopf in Yngvarrs Richtung gedreht, wich jedoch nicht zurück.
»Trollkopf«, hörte sie Arien murmeln.
»Der Engländer?«
»Yngvarr!«
Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an. Erst als Baldvin sich durch die Reihen der Krieger schob, entspannte sich Yngvarr, ließ das Messer einmal in der Luft wirbeln, fing es geschickt am Griff auf und beugte sich über die Truhe. Sie war mit dicken Tauen verschnürt, die er schnell durchgeschnitten hatte. Mit der Klinge hob er den Deckel an.
Alle reckten die Köpfe. Auch Rúna. Sie hielt den Atem an.
»Wie war das noch gleich?«, fragte Yngvarr in der englischen Sprache. Er stemmte eine Faust in die Seite, während die andere Hand mit dem Messer anklagend auf den Fremden zeigte. »Nichts von Wert hattet ihr an Bord, hast du behauptet?«
»Das war der Dicke, Trollkopf«, murmelte Arien.
Der Engländer verzog das Gesicht, er schien dasselbe zu denken. Unwillkürlich fühlte sich Rúna von seinem Stolz beeindruckt.
Yngvarr bückte sich. Er zog einen dicken, mit goldenen Fäden und roten Edelsteinen bestickten Stoff aus der Truhe. »Was ist das?«, fragte er.
»Ein Geschenk«, erwiderte der Engländer.
»Und das?« Yngvarrs Pranke zerknüllte einen weißen, glänzenden Stoff. Das war Seide, wusste Rúna. Sie kam über verschlungene Wege aus dem Osten, aus der Rus. Ihre verstorbene Mutter hatte als Frau des Häuptlings der Yoturer zwei Hausgewänder aus Seide besessen.
»Ebenso.«
»Und für wen waren diese Gaben gedacht?«, fragte Yngvarr, während er weiter in der Truhe wühlte und Gefäße aus Silber und auch aus schlichter Keramik zutage förderte. Dazu gut gearbeitete Messer, teils verziert. Weitere Stoffe. Und Bücher. Der Engländer ballte die Fäuste, als Yngvarr die Eisenschließen eines solchen Buches öffnete, es aufschlug und sich anschickte, mit der Messerspitze die Seiten zu zerschneiden.
Arien hustete, bevor er empört hervorbrachte: »Er macht das wirklich!«
Doch Yngvarr war nicht so dumm, kostbare Beute zu zerstören, nur um den Christen zu ärgern. Er schlug das Buch wieder zu und warf es in die Truhe. »Für wen, Engländer?«
»Was geht’s dich an«, schnaubte dieser.
Arien hustete wieder. »Weiß er nicht, wie wütend er Yngvarr macht?«
Er weiß es, dachte Rúna.
Anerkennend pfiff Yngvarr, als er eine goldene Kette aus der Truhe zog. Das Sonnenlicht brach sich in einem geschliffenen Kristall in einer goldenen Fassung.
Die Knöchel an den Fäusten des Engländers wurden weiß. Auf den Handrücken traten Adern hervor.
Für wen mag dieser Schmuck gedacht gewesen sein?, überlegte Rúna. Angespannt wartete sie, dass Yngvarr diese Frage stellte – und was der Fremde antworten würde.
Doch nun trat Baldvin vor. Er besaß muskulöse Arme und war stämmig, jedoch nicht eben groß, sodass er zwischen den Kriegern wie ein Zwerg aus alten Geschichten wirkte. Ebenso grimmig blickte er um sich. Immer noch hielt er sein blutverschmiertes Schwert in der Hand – mochte er klein und mit seinen fünfundvierzig Jahren nicht mehr der Jüngste sein, so war er doch immer noch ein gefürchteter Schwertmann.
Er hob die Klinge und berührte mit ihrer Spitze die feine Goldkette. Yngvarr ließ los, und so glitt sie hinunter bis zum Heft, wo sie blutbesudelt hängen blieb. Rúna entging nicht, dass der Engländer das Geschehen unter seinen gesenkten Lidern genauestens verfolgte. Er war angespannt wie jemand, der jeden Augenblick losstürmen wollte. Leicht wippte er auf den Fersen seiner Stiefel. Die Lanzenspitzen im Nacken stupsten ihn warnend an, sodass er den Kopf noch tiefer senken musste.
Baldvins wasserblaue Augen musterten ihn von oben bis unten. Er schien zu überlegen, ob er den Lanzenmännern den Befehl geben sollte, ihn zu töten. Seine knorrigen Finger rieben den geflochtenen Bartzopf.
»Du stammst aus einem reichen Stall«, sagte er langsam. »Ich nehme an, dass man dort bereit ist, einiges für deine Freilassung springen zu lassen.«
Erleichtert bohrte Rúna die Finger in Ariens Arm, sodass er leise fluchte und sich von ihr losmachte. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Was scherte sie das Schicksal dieses Mannes namens Rouwen? Er war gefährlich, und es wäre besser, wenn er starb.
»Ein Christenstall«, warf Yngvarr ein. Er deutete auf das blutrote Kreuz an Rouwens Arm. »Ihr Gott wurde an hölzerne Balken genagelt, ohne dass er sich wehrte, und dafür beten sie ihn an. Ihre Priester sagen, ein Christ solle den Kopf hinhalten, wenn ihn einer schlägt.«
»Dann ist der da wohl kein guter Christ«, flüsterte Arien.
Stimmt, dachte Rúna. Der Engländer hatte schließlich mit all der Kraft seiner Arme zurückgeschlagen.
Yngvarr stapfte auf ihn zu und schlug ihm unvermittelt auf die Wange, sodass sein Kopf nach hinten flog. Nur die schnelle Reaktion der Lanzenträger verhinderte, dass er sich ernsthaft verletzte. Bedächtig drehte der Engländer den Kopf in Yngvarrs Richtung. Sein Blick schien aus purem Eisen zu bestehen. Doch er schlug nicht zurück. »Ein Leichtes, Geld aus seiner Familie zu pressen, vermute ich«, sagte Yngvarr an Baldvin gewandt. Der hatte die blonden Brauen, dicht wie Büsche, gerunzelt.
»Fesselt ihn an den Mast«, wies er die Männer an. »Rúna! Komm her! Wo ist mein aufmüpfiges Töchterlein?«
Ihr gefiel es nicht, unter die Augen des Fremden zu treten. Doch sie gehorchte, straffte sich und marschierte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Vater?«
»Hier, mein Wirbelwind.« Baldvin, der die Kette von der Klinge gezogen und notdürftig das Blut mit den Fingern abgewischt hatte, hielt sie ihr hin. Er entblößte seine gelben Zähne zu einem entschuldigenden Grinsen. Rúna wollte diesen Schmuck nicht, doch ihre Hand schien ein Eigenleben zu führen, und schon lag der Kristall auf ihrer Handfläche.
An der Schulter drehte Baldvin sie dem Engländer zu. »Das ist Rúna, meine einzige Tochter, mein Wirbelwind. Die schönste Frau, die die Götter je erschaffen haben. Und eine Kämpferin dazu. Du kannst dich nicht darüber beschweren, dass sie es sein wird, die diese Kette tragen wird, nicht wahr?«
Yngvarr hatte es sich nicht nehmen lassen, die Hände des Gefangenen in dessen Rücken zu fesseln, was dieser stoisch über sich ergehen ließ. Nun stieß er ihn an Rúna vorbei in Richtung Mast. Rouwen, endlich von den lästigen Lanzenspitzen befreit, hob stolz den Kopf. Er murmelte etwas, das vielleicht ein Gebet war. Sein flüchtiger Blick, der ihren nur streifte, ging ihr durch Mark und Bein. Seine Bernstein-Augen schienen von innen zu glühen – so kam es ihr zumindest vor. Sie ballte die Faust um die Kette, unfähig zu entscheiden, ob sie sich über das Geschenk freuen oder es ins Meer werfen sollte – wo es der Fremde zweifellos lieber sähe als in ihrer Hand.
Herr im Himmel, steh mir bei. Jesus, sei bei mir, sprach Rouwen in Gedanken und überlegte, wie er es schaffen könnte, sich aus seinen Fesseln zu befreien, ein Schwert an sich zu reißen und all diese merkwürdigen Gestalten in die Hölle zu schicken.