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Der junge Kunststudent Pierre verzweifelt an der Haßliebe zu seiner Mutter und dem unverbindlichen wilden Leben seines Liebhabers. Selbst die aufopfernde Unterstützung seiner besten Freundinn kann den tragischen Verlauf nicht verhindern......
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2013
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René Crevel
Der schwierige Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vakat
Kapitel 1 - Von den Wurzeln
Kapitel 2 – Ratapoilopolis?
Kapitel 3 – Souper mit Diana
Kapitel 4 – Nacht, Kälte, Freiheit, Tod
Kapitel 5 – Noch einmal helfen
Impressum neobooks
"…..dieser Roman ist einer der wichtigsten Bekenntnisbücher der europäischen Jugend nach dem ersten Weltkrieg…."
Madame Dumont-Dufour und Madame Blok unterhalten sich über ihr Mißgeschick, natürlich also über ihre Gatten.
Madame Dumont-Dufour — wäre sie als Mann zur Welt gekommen, sie wäre gewiß Jurist geworden wie ihr verstorbener Vater, der Präsident Dufour — schweift schon vom einzelnen ins allgemeine, von der Aufzählung persönlicher Schandtaten zu weitgehendster Anklage gegen die Gesellschaft und die Gesetze.
Ja ja, die Gesetze! Ist ihr Stumpfsinn nicht allzu groß? Wie toll auch Herr Dumont es getrieben hat, seine arme Frau hat noch heute nicht das Recht zur Scheidung.
In Ermangelung des Himmels schlägt sie die Blicke hilfeflehend zur Zimmerdecke empor und gestikuliert so gewaltig mit den Händen, daß Madame Blok sich im stillen denkt, Madame Dumont-Dufour gehöre doch eigentlich in einen Salon mit fünfundsiebzig Kerzenleuchtern und ebensoviel Konzertflügeln.
Aber was Madame Dumont herauf beschwört, ist mehr als nur ein Salon, ist ein Land, ein ganzer Kontinent, ja größer noch: ist das Reich ihrer Erinnerungen. Ein Meer ist es, durch das eine versunkene Stadt aufschimmert und auf dessen Grund tief unten Madame Dumont-Dufours Träume schlummern.
Und was blieb ihr denn eigentlich? — Klagen. Sonst nichts. Gehörte sie zu den Verblendeten‚ die von Einbildungen leben können, vielleicht würde sie dann den ganzen Tag lang imaginäre Rachepläne schmieden. Sie, die Prunkliebende, die von Visitenkarten mit Wappen und Titeln träumt, von Leichengespannen mit Wallenden Federbüschen und Lilien ohne Blütenstaub, wird sie jemals all ihre hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen erfüllen können? Gäbe es eine irdische Gerechtigkeit, sie dürfte noch auf Erden an ihrem Lebensabend die Honneurs machen in einem Reiche von Erinnerungen, so vornehm wie das Versailles der Maintenon.
Stattdessen muß sie sich ihrer Hinterzimmer schämen und ständig darunter leiden, daß sie nichts besitzt, den Neid der Madame Blok zu erwecken. Das Reich ihrer Erinnerungen! Eine ärmliche Dachkammer ist’s, aus der sie nicht einmal die Trümmer ihrer Ehe forträumen darf, weil ja das Gesetz — ach ja, das Gesetz — ihr die Scheidung untersagt.
Weiß Madame Blok weswegen?
Madame Blok weiß nicht weswegen.
Sie möchte es gern wissen, aber andererseits fürchtet sie auch wieder für indiskret zu gelten.
Indiskret?
Eine königliche Handbewegung beschwichtigt Zweifel.
Indiskret?
Haben sie denn Geheimnisse, die eine vor der andern? Da sie gelitten haben, eine wie die andere, warum in ihren heimlichen Gesprächen die Männer schonen, diese Henkersknechte? Sind sie nicht, wie sie hier beisammensitzen — zwei Frauen in einem Salon in Auteuil —, sind sie nicht Schwestern im Leid?!
Ha, Schwestern im Leid. Dies Wort muß sich einbürgern. Madame Dumont-Dufour schwingt es wie eine Standarte und wird gewiß ähnliche Wirkungen damit erzielen wie Lamartine mit der Trikolore Frankreichs. Wie eine Ägis trägt sie’s, wie ein Feldzeichen. Lamartine am Fenster des Rathauses war nur ein Stümper gegen sie. Besitzt sie doch noch weit seltenere Eigenschaften als Beredsamkeit, und Madame Blok, die ihre französische Geschichte kennt, fühlt sich an Henry IV. erinnert. Zwar sieht man keinen weißen Helmbusch im Winde wehen, aber man weiß doch, daß man dem Führer nur zu folgen braucht. Man bedenke: Schwestern im Leid.
Schweigen. Zwei reglose Körper scheinen ausgehöhlt. Madame Dumont-Dufour selbst spürt das Unendliche durch die Leere, und fast fühlt sie sich, als hätte man ihr die Seele mit einem Vakuumreiniger ausgesogen.
Jetzt benetzen sich die Augenlider der Madame Blok. Aber nicht die traurigen Erinnerungen, auch nicht all die Zärtlichkeit, die man ihr zusammen mit Tee und Toast auftischte, noch auch die verzweifelten Ausblicke, die Madame Dumont-Dufour mit jedem Absatz ihrer Reden panoramaartig zu eröffnen verstand, bedingten diese feuchten Wimpern, diese zitternden Nasenflügel. Nein, diesmal lag die Wahrheit woanders. Madame Blok war einfach hungrig — hungrig nach Wissen.
Madame Blok wohnte mit ihrer einzigen Tochter Diana zusammen. Diana ist immer und überall zu sehen — im Kino, im Theater, bei Freunden und Gott weiß wo sonst noch ein modernes junges Mädchen sich herumtreiben mag —‚ Diana, die viel aufgeklärter ist als ihre Mutter, die tanzt und malt und Cocktails trinkt und nur mit Künstlern verkehrt, Diana spricht nicht. Wenn sie heimkommt, schlingt sie nur eins, zwei, drei ihre Mahlzeiten herunter; ihr Mund öffnet sich überhaupt nur um zu essen. Und daher kommt's, daß ihre arme Mutter gar nichts von der Welt erfährt, von der ihr Unglück sie getrennt hat.
Freilich ist da noch Vetter Bricoulet — Honoré Bricoulet. Regelmäßig erscheint er morgens gegen zehn Uhr, küßt Madame Blok auf beide Wangen und gibt ihr zu verstehen, daß ein Witwer — Madame Bricoulet wurde vor bald zehn Jahren der Zärtlichkeit ihres geliebten Honoré entrissen — und eine Witib — Monsieur Blok hatte sich vor mehr als zwei Lustren selbst den Tod gegeben — ein prächtiges Paar abgeben könnten. Madame Blok wird gerührt. Vetter Bricoulet erkundigt sich nach ihrem Vermögensstand, fragt jedesmal nach neuen Einzelheiten über den Selbstmord des Herrn Blok und entschließt sich erst den Belagerungszustand in dem Augenblick aufzugeben, wo Diana nach Hause kommt und dem Vetter, den sie nicht leiden kann, statt eines Grußes irgendeine Unverschämtheit zuruft.
Kaum ist Bricoulet fort, so faßt sich Madame Blok ein Herz und weist ihre Tochter zurecht.
„Du warst wieder recht unliebenswürdig zu Vetter Honoré.“
„Ach dieser häßliche Enterich.“ (Bricoulet spricht nämlich etwas durch die Nase.)
„Diana, wie ungerecht du bist.“
„Gewiß hat er dir wieder Liebeserklärungen oder einen Heiratsantrag gemacht. Arme Mutter, auf unsere paar Groschen hat er es abgesehen. Ein ganz geriebener Fuchs. Eine Laus würde er noch rupfen.“
Diana trällert vor sich hin:
„Bricoulet, Bricoucou,Eine LausRupftest du.Eine Laus, eine LausNähmest du,Bricoucou,Noch aus.“
Und dann: „Hütet Euch vor Bricoulet, Mutter.“
„Diana, dein Haß macht dich blind.“
„Er interessiert sich gar nicht für dich, sondern nur für dein Unglück. Das Traurige reizt ihn. Einen komischen Geschmack hat dein Honore. Ich hörte, Kalbszunge ist sein Lieblingsgericht. Er hat den gleichen Geschmack wie seine Katze.“
Diana läßt nicht nach. Bricoulet interessiert sie. Und das schlimmste ist, daß Bricoulet diese Feindseligkeiten schon bemerkt hat und seine Konsequenzen daraus zieht. Seine Besuche werden schon seltener. Und das gerade jetzt, wo Madame Blok sich bei ihm nach Madame Dumont-Dufour erkundigen wollte, nach deren unsichtbarem Gatten, der Honorés Schulfreund war, und auch nach ihrem Sohn Pierre Dumont, der, als nächster Freund und Malkollege Dianas, vielleicht sogar als Schwiegersohn in Betracht käme. Bricoulet aber rächte sich an der Mutter für die Feindschaft der Tochter, und so konnte sie nichts über Madame Dumont-Dufour erfahren, bis zu diesem Herbstnachmittag in dem düsteren Salon von Auteuil, an dem sie einander nach den eigenen Worten der Madame Dumont-Dufour als „Schwestern im Leid“ entdeckten.
Da Madame Blok unvorsichtigerweise zugegeben hatte, daß sie sich das ganze Jahr lang von Neujahr bis Silvester gleichmäßig langweile, ohne andere Zerstreuung als das Konzert Colonne einmal wöchentlich Samstag nachmittags, häuft Madame Dumont-Dufour förmlich die Klatschgeschichten, so daß ihrer Schwester im Unglück die Tränen in die Augen steigen, sowie einem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenläuft bei dem Geruch einer köstlichen Speise.
Und Madame Dumont-Dufour, die ihre Leute mit einem Blick durchschauen kann, erkennt diesen Appetit und weiß deshalb, ihn, geschickt abwartend, bis zum Hauptgericht zu steigern. Zunächst also einige kleine Offenheiten als Hors d’œuvres. Madame Blok beißt sich auf die Lippen, während Madame Dumont-Dufour sich kühn über Menschen, Taten und Dinge erhebt.
Nichts kann diesem Aufschwung widerstehen.
Das Wort „Mitleid“ fällt in einem Satz, und gleich entsteht daraus eine Dissertation.
Mitleid, ja, liebe Freundin, Mitleid. Mitleid hin, Mitleid her. Gewiß hat Madame Dumont-Dufour das immer beachtet. Denn ohne Mitleid könnte man ja nicht leben. Aber man weiß ja auch nie, woran man sich eigentlich zu halten hat. Es kommt ja doch so viel hinzu, Unglück, Vererbung, böse Triebe. Arme Madame Dumont-Dufour‚ trotz ihres klaren Verstandes und ihres tugendhaften Herzens ist ihr nichts geglückt. So ist Pierre, ihr Sohn, dessen Amme eine notorische Säuferin war (Unglück! Unglück!), ein geborener Choleriker. Das hat er übrigens von seinem Vater (Vererbung! Vererbung!), der immer gewalttätig war. Aber das wäre alles nicht schlimm, hätte besagter Pierre nicht so seltsame Neigungen (die bösen Triebe!), über die seine Mutter mit Recht entsetzt ist. Zwar ist seine Neigung für Diana nur erfreulich, aber das Äußerste ist zu befürchten aus seinen Freundschaften für hergelaufene Metöken.
Jawohl, Metöken. Frankreich, Paris und, was das schlimmste ist, Pierre Dumont be?nden sich in ihren Händen. Die Jugend ist von Sinnen. Madame Blok mag auf Diana aufpassen können, Madame Dumont-Dufour muß Pierre aber seinen Weg gehen lassen, und es kostet ihr so manche schlaflose Nacht. Die jungen Leute des zwanzigsten Jahrhunderts sind wirklich zu vielen Versuchungen des modernen Babylon ausgesetzt. Als Madame Blok und Madame Dumont-Dufour jung waren, da verliebten sich die jungen Leute in die Damen von Maxim, und die jungen Mädchen träumten allenfalls von Zigeunern mit schönen Schnurrbärten. Heute treten an die Stelle der Damen von Maxim abenteuerliche Individuen aller Länder und Geschlechter, und an die Stelle der schnurrbärtigen Zigeuner im besten Fall saxophonblasende Neger. Man hat sich Laster und tückische Tränke und Rauschgifte ausgedacht, und wohin soll das alles noch führen? Madame Dumont-Dufour weiß ganz genau, weshalb sie das Wort Mitleid gebraucht hat. Ach Gott, was das Leben doch alles für traurige Erfahrungen mit sich bringt —
Madame Blok in ihrem Aubussonsessel neben dem Klavier platzt förmlich vor Ungeduld, während Madame Dumont-Dufour, in die heute wahrlich die Seele eines Gerichtspräsidenten gefahren ist, eine schier ungeahnte Beredsamkeit entwickelt. Ihre Stimme gleitet mit der Majestät eines dunklen Schwanes über das Unglück. Soll sie wohl zwischen diesen Möbeln, die Zeugen ihres ganzen Leidens waren, angesichts einer Besucherin sterben, die ihrem Flug nicht folgen kann? Fast hält sie schon ihre eigene Leichenrede, drückt auf einzelne Silben, zieht sie künstlich in die Länge, wirft sie wie Bälle in die Luft, fängt sie wieder und streichelt sie mit der Zunge, als trügen sie die Verkündigung eines ewig befreienden Schlafes in sich. Einen Augenblick lang will sie Waffen aus ihnen machen, sich gegen Pierres Bosheit zu verteidigen, und schon ist’s, als winde sie Blumen zu Kränzen, und die Kränze werden zu Stoffen und Schleiern‚ in die sie sich einhüllt als Monument ehelichen Unglücks. So stellt sie sich vor Madame Blok dar, die immer ärgerlicher wird und sich bald versucht fühlt, sie ganz ultimativ zu fragen: werden Sie mir nun auf der Stelle erzählen, warum Sie sich nicht scheiden lassen können, oder —?
Madame Blok will ein Ende machen, um jeden Preis. Deshalb sagt sie in fast heiterem Ton: Man muß eben nicht allzu streng sein! „Richtig, richtig, aber auch das hat seine Grenzen“, legt Madame Dumont-Dufour, die Unermüdliche, aufs neue los. Hat nicht Herr Dumont sich so‚ unanständig aufgeführt, daß sie, die schon in den Flitterwochen sich ihm fremd fühlte, von vornherein ihrem ehelichen Namen den so viel wohlklingenderen ihres verstorbenen Vaters, des Präsidenten Dufour, beigefügt hat.
Und so wurde aus Madame Edgar Dumont eine Madame Dumont-Dufour!
Tatsächlich sind die beiden Zwillingsnamen rechts und links vom Bindestrich etwas wie ein Trost für sie, aber andererseits verschmäht sie so leichten Erfolg und will gar nicht zeigen, daß sie stolz darauf ist, in Gegenwart von Madame Blok, die sie für eine Jüdin hält, sich Madame Dumont-Dufour zu nennen.
Solch ein Doppelname in all seiner Schlichtheit und Einfachheit, ist er nicht ein Symbol dafür, was ein Adel der dritten Republik bedeuten könnte? Verstünde man doch noch, den Mittelstand in Frankreich richtig zu ehren! Ein Stand, teuerste Freundin, der der Nation seit je ihre vortrefflichsten Diener stellte.
So ist Madame Dumont-Dufour zum Beispiel die Tochter eines Richters, und ihr Gatte, der Unwürdige, war doch immerhin Oberst.
Pause.
„Nanu, das hat ja aber Vetter Bricoulet der Madame Blok niemals erzählt, daß Herr Dumont Oberst war! Damit erklärt sich ja manches.“ Und Madame Blok füllt den Salon in Auteuil mit einem „Ah!“, dem Ausruf ähnlich, den Christoph Kolumbus ausgestoßen haben mag, als er zum erstenmal die Küste Amerikas sah.
„Aber nein, Verehrteste“ — Madame Dumont-Dufour muß dies Triumphgeschrei unterbrechen —, „glauben Sie ja nicht, daß ich mich scheiden ließe, weil Herr Dumont Oberst ist, o nein! Und auch nicht, daß ich Visitenkarten ohne Vornamen habe. Das ist doch das Allertraurigste, nicht wahr?“
Madame Blok bewegt langsam ihren Kopf von oben nach unten, und dann von rechts nach links.
Die andere aber fährt unermüdlich fort: „Ich bin noch keine vierundvierzig Jahre alt, und kein Mensch ruft mich mehr Louisa, so wie mich einst meine Patentante taufte —“
Nach all dem Unglück auch noch die Patentante!
Nein, alles kann sich Madame Blok denn doch nicht gefallen lassen.
„Ihre Patentante hat ganz recht gehabt, Sie Louisa zu taufen. Kein Grund, sich zu beklagen. Louisa Dufour, wie reizend! Zu schade, daß Ihnen die Scheidung nicht erlaubt ist, daß Sie Ihr Leben nicht neu beginnen können.“
Wie rote Zünglein auf einem Froschteich, so springen die Worte „Scheidung“ und „Leben wieder neu beginnen“ von Madame Bloks Lippen, und Madame Dumont-Dufour wiederholt, auf jeder Silbe ein wenig ausruhend: „Leben wieder neu beginnen!“
Madame Blok aber erneuert ihren heimlichen Schwur, nicht zu ruhen noch zu rasten, bevor sie nicht weiß, weshalb die andere nicht geschieden wurde.
„Und wie ist Ihr Vorname, teuerste Freundin?“ wird dieser Gedankengang unterbrochen.
„Hermine!“
Nun geht es los.
„Hermine, wie süß!“
„Louisa, wie energisch!“
„Hermine, wie unschuldsvoll!“
„Louisa, wie spirituell!“
„Hermine, ein Name für eine Blondine!“ (Madame Blok ist nämlich blond.)
„Louisa‚ ein Name für eine Brünette!“ (Madame Dumont-Dufour ist schwarz wie Tinte.)
„Hermine, der richtige Name für eine liebende Frau!“
„Louisa“ (Madame Blok läßt sich nicht lumpen)‚ „der richtige Name für eine Kaiserin!“
„Wirklich, gefällt Ihnen Louisa?“
„Das will ich meinen!“
Und listig, ohne es sich anmerken zu lassen, kehrt Madame Blok wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
„Louisa Dufour, wie das klingt! Zu schade, daß Sie sich nicht scheiden lassen können!“
„Zu schade, jawohl. Aber Sie glauben nicht, wie mich das freut, daß Sie den Namen Louisa so hübsch finden. Mein Sohn Pierre ärgert mich immer damit. Er behauptet — die Kinder heutzutage haben ja jeden Respekt verloren —, Louisa sei ein Name für ein Soldatenliebchen. Kürzlich wagte er das sogar vor Ihrem Vetter Bricoulet zu sagen. Ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Als ob mein Vater mich wie ein Soldatenliebchen hätte taufen lassen!“
Madame Bloks Stiefelabsätze treten fast den Teppich durch.
„Teuerste Freundin, Sie sagten doch, daß Sie sich nicht scheiden lassen dürfen. Warum denn nicht?“
Das Opfer der Gesetze reißt sich zusammen: „Oberst Dumont ist nämlich — —“
Bei so vertraulichen Mitteilungen pflegt die Stimme am Ende des Satzes zu versagen, und Madame Blok hat nichts verstanden. Sie jammert laut: „Wie? Was ?“
Da — als letzte Steigerung — ruft man aus (und jetzt mit triumphierender Stimme):
„Dumont ist verrückt, verrückt, verrückt!“
Das klingt in Madame Bloks Ohren wie der Gesang von Pan und Phöbe im gestrigen Konzert Colonne.
„Verrückt! Verrückt! Verrückt! Sein Verstand ist verwirrt!“
Nun aber ist es ein Duett zu Ehren eines Obersten der dritten Republik: „Verrückt! Verrückt! Verrückt!“
Madame Dumont-Dufour ist die kurzatmigere von beiden, sie schweigt zuerst. Madame Blok folgt ihrem Beispiel.
Erneute Pause. Madame Blok stellt sich rasch im Geiste den Oberst vor: hoher Militär, gewiß trägt er einen Schnurrbart, der das halbe Gesicht verdeckt nach der Mode von Anno dazumal.
Der Schnurrbart des Obersten! Madame Blok, obschon tugendhaft, trägt schwer an ihrem Witwentum. Diana rät ihr zwar oft, zu heiraten —nur nicht Herrn Bricoulet —, doch im Grunde bleibt Madame Blok aus Furcht vor ihrer Tochter ihrem Dimitri treu. Und diese Tugend wird ihr nicht leicht. Die arme Hermine wird ganz aufgeregt, wenn sie nur an den Schnurrbart des Obersten denkt. Sie reibt sich an den Lehnen ihres Sessels und stellt sich dabei vor, wie der Schnurrbart wohl stechen muß, wenn man küßt. O Gott, wüßte Diana von diesen Gedanken ihrer Mutter! Diana — die Pflicht ! Aber vor der Pflicht war Dimitri da — die Liebe! Und jetzt, da Bricoulet nicht in Betracht kommen soll, ist nichts mehr da! Ach, wäre doch wenigstens der Oberst da!
In ihrer guten Zeit hatte Familie Blok ein Landhaus in La Baule. Da war einer ihrer Nachbarn ein Kommandeur mit goldenen Litzen am Kragen, der ausgezehrt vom gelben Fieber aus Madagaskar heimgekehrt war und immer von sich selbst sagte: „Ich bin dürr wie eine Latte!“ Madame Blok schwärmt für magere Männer, hohlleibig wie die frühen Christusbilder. „Dürr wie eine Latte“ war gewiß auch der Oberst Dumont. Eine Latte! Mein Gott, Madame Blok wird rot, denn sie denkt an den Doppelsinn, den sie einmal aus einer zweideutigen Revue kennenlernte, in die Blok sie wenige Tage nach ihrer Hochzeit führte. Latte. Sie wird purpur-rot, violett. Gott sei Dank ist Madame Dumont-Dufour gerade ganz in die Betrachtung einer Teeserviette vertieft. Ja, ja, der Oberst muß mager gewesen sein. Vielleicht war er in Afrika, und der Tropenkoller hat ihn ausgezehrt. Gewiß hat er auch viel Sport getrieben. Jedenfalls hatte er keinen Bauch gehabt. So sieht sie ihn vor sich. Dürr wie eine — Was? Schon wieder diese sündigen Gedanken. Der Oberst war mager. Punkt. Schluß damit. Und außerdem tragen die Offiziere ja oft Korsetts, wenn sie anfangen ihre Taille zu verlieren. Herr Dumont war ein schöner Mann. Warum, zum Teufel, ist er nur verrückt geworden?
Madame Blok sieht einen Mordskerl in roten Hosen und mit goldenen Tressen vor sich, der tagaus, tagein in einem Anstaltshof hin und her spaziert, die Augen grün im braungebrannten Gesicht, der Schnurrbart endlos. Welch martialische Gestalt. Ein echter Mann. Etwas anders als das Söhnchen, der blonde Pierre, von dem Diana so schwärmt. Freilich hat er auch die grünen Augen. Aber die des Obersten scheinen weiter und heller, weil das Gesicht so braun ist. Die Augen. Vor einem Nichts erschrecken sie und verdunkeln sich. Angstträume ziehen über sie hin und verändern sie wie Wolkenschatten den Spiegel des Sees.
Ein Wahnsinniger.
„Ist der Oberst wirklich ganz richtig verrückt?“
„Und ob“, antwortet seine Frau, „das will ich meinen. Man hat ja nicht einmal das Recht sich von ihm scheiden zu lassen, so verrückt ist er. Eingesperrt, in einer geschlossenen Anstalt.“
Und sie faßt die Besucherin bei den Händen: „Hermine, arme Hermine!“
„Louisa, ärmste Louisa“, echot es in dem Salon von Auteuil. Zwei Sessel rücken zusammen. Ein Kopf lehnt sich an eine Schulter und weint. Ein Pelz gleitet von der Schulter herunter. Ein Klirren. Und Scherben liegen am Boden. Eine der feinen Porzellantässchen, die Madame Blok hatte bewundern müssen, ehe man ihr daraus zu trinken gab. Madame Blok sucht verlegen nach Entschuldigungen.
„Aber, Hermine, machen Sie nur kein Aufhebens davon. Was bedeutet ein zerbrochenes Tässchen — selbst von so teurem Porzellan —, wenn man eine liebe Freundin gefunden hat. Denn das sind Sie doch, nicht wahr, Hermine?“
„Ach ja, Louisa, wir verstehen uns gut, denn wir haben beide gelitten. Ich bin zwar nicht so klug und so taktvoll wie Sie —“
„Klugheit wird auch nicht immer belohnt. Sie sehen, ich bin ganz normal, und trotzdem ist mein Mann verrückt.“ Und wieder, als spräche der Gott der Rache selbst aus ihr: „In einer geschlossenen Anstalt ist er. Ein Opfer seiner Ausschweifungen.“
Und nun beginnt Madame Blok zu erzählen, daß sie aus den Berichten Bricoulets, der mit dem Direktor einer Irrenanstalt befreundet sei, mancherlei über die seltsamen Ursachen des Wahnsinns wüßte. Bricoulet bestreitet seine ganze Konversation mit solchen Geschichten. Bei der Suppe fängt er damit an und hört nicht auf, bis er sich verabschiedet. Die Chronik der Irrenanstalten ist sein Lieblingsthema.
„Aber die Verrücktheiten, von denen Ihr Bricoulet berichtet, sind ein Kinderspiel gegen den Wahnsinn des Obersten.“
„Kinderspiel? Bricoulet weiß von allen Arten des Wahnsinns zu berichten.“
„Kinderspiel sage ich Ihnen. Denken Sie sich zum Beispiel, meine Liebe, seit vier Jahren schreibt der Oberst jeden Morgen denselben Brief. Natürlich nicht an mich —“
Und Madame Dumont-Dufour, die so viel Begabung zur Sphinx hat wie zum Juristen, fängt nun an zu rätseln.
„Raten Sie, Wem der Oberst Dumont diese Briefe schreibt! Denken Sie, jeden Tag genau die gleichen Redensarten, die gleichen Interpunktionen, Kommata, i-Tüpfelchen! Raten Sie. Ich wette zehn gegen eins, hundert gegen eins, tausend gegen eins, zehntausend gegen eins, Sie erraten es nicht.“
Madame Blok will die Wahrheit nicht unterbieten und entschuldigt sich: „Ich habe keine Phantasie.“
Da legt Madame Dumont-Dufour los: „Jeden Morgen schreibt der Oberst Dumont einen Brief an die Marquise von Pompadour!“
„Die Pompadour?“
„Die Pompadour.“
„Die Geliebte Ludwig XV.? Wie seltsam.“
„Mehr als seltsam. Unerhört! Und das allerseltsamste ist, daß die Briefe einer dem andern zum Verwechseln ähnlich sind wie Abdrücke des gleichen Klischees. Momentbilder des Unterbewußten, sagte mir der Arzt.“
Madame Blok hat sich noch nicht wieder gefaßt.
„Momentbilder des Unterbewußten“, wiederholt Madame Dumont-Dufour. „Stolz bin ich nicht gerade darauf. Was ich davon schon habe — von Momentbildern des Unterbewußten. Als ob so eine gelehrte Phrase etwas daran änderte, daß mein armer Pierrot der Sohn eines Wahnsinnigen ist und ich seine Frau.“ Sie weint. „Ein Wahnsinniger.“
„Wahnsinniger“, antwortet das Echo.
„Denken Sie, in zwei Monaten wird der Oberst eintausendfünfhundert Briefe an die Marquise von Pompadour geschrieben haben. Man hat schon einen Vortrag an der Akademie über ihn gehalten. Aber das ist ja auch der bare Unsinn.“
Und dann ist es, als ob sie die Honneurs dieses Wahnsinns machte, so wie sie noch eben in ihrer Wohnung die Honneurs gemacht hat.
„Wünschen Sie einen der Briefe zu sehen? Man bewahrt sie natürlich nicht alle in der Anstalt auf, sonst müßte man ja eigens einen Flügel anbauen mit einem Archiv für die Geistesergüsse des Obersten. Ich habe dort einige in meinem Schreibtisch. Gleich Werde ich Ihnen einen holen — —“
Madame Dumont-Dufour holt zwei der Briefe. „Sehen Sie, meine Teuerste, vergleichen Sie nur. Das Komma auf der dritten Zeile des einen Blattes steht genau an derselben Stelle wie das Komma auf der dritten Zeile des anderen. Sehen Sie sich das nur an.“
Madame Blok greift zur Lorgnette, vergleicht und liest:
An die Marquise von Pompadour
den Abstand von Raum und Zeit überspringend
Madame
Seien Sie gegrüßt!
Glauben Sie nicht, ich schriebe Ihnen aus diesem Hause nur ein einfaches Guten Tag. Ich, ein Leib mit hohlen Augen, dessen Seele ich dennoch sein muß.
Ich bin Gefangener in Ratapoilopolis, gnädige Frau.