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Der Schwur des Spielmanns E-Book

Peter Dempf

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Beschreibung

Augsburg, 1525: Nachdem seine Familie im Bauernkrieg von Söldnern des Schwäbischen Bundes umgebracht wurde, flieht Georg in die Stadt. Dort wird er von einer Schauspielertruppe aufgenommen, die in der mächtigen Reichsstadt Augsburg ein Osterstück aufführen will. Weil ein Mitglied der Truppe an einer unheimlichen Krankheit gestorben ist, soll Georg nun die Rolle des Judas übernehmen. In der belagerten Stadt kommt er bald einer Verschwörung auf die Spur, und setzt – von einem unsichtbaren Gegner verfolgt – alles daran, sich und seine Freunde zu retten.

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Peter Dempf

Der Schwur des Spielmanns

Roman

Dieses Buch ist meinen Kindern gewidmet,die mir das Leben bis an den Schreibtisch herantragen. »Nichts ist stärker als ein Wunsch,der im Herzen brennt.«

1

Die Erde bebte unter den Hufen von Pferden. Georg spürte es im Magen. Ein Gefühl überkam ihn, als verliere er den Boden unter den Füßen. Die Erde vibrierte stärker als unter den Erschütterungen der Schmiedehämmer, die einen regelmäßigen Takt in den Tag schlugen. Sogar das Wasser des Schmiedeteichs, in dem er sich eben noch gewaschen hatte, warf kleine Wellen. Georg war sofort auf den Beinen. »Wenn du ein Geräusch hörst und nicht weißt, was es ist, dann lauf, so schnell du kannst«, hatte ihm Großvater Mattheis einmal geraten. Da war er klein und ängstlich gewesen und mit dem Großvater zusammen im Bärenwald herumgestreunt, in dem es sogar noch Wölfe gab. Bevor er wusste, was geschehen würde, kroch er unter die im Winter vom Schnee niedergedrückten Schilfmatten am Ufer und verharrte dort regungslos. Nicht zu früh.

Fünf Reiter sprengten auf die Wiese vor dem Schmiedbach hinaus. Sie trugen rostige Harnische und ritten auf weiß verschwitzten Pferden.

»Wegelagerer!«, war Georgs erster Gedanke.

Jeden Einzelnen der Gruppe konnte er erkennen – und keiner machte auf Georg den Eindruck, als könne man ihm vertrauen. Die Reiter drehten ihre Pferde auf der Stelle, und er hatte genügend Zeit, sie sich anzusehen. Der Anführer, der auf dem Gaul kleiner wirkte als die Männer um ihn herum, besaß einen scharfen Blick und nach unten gezogene Mundwinkel. Seine Füße steckten in spitzen Schuhen aus rotbraunem Leder, deren Schnürsenkel auf sonderbare Art gebunden waren. Er musterte das Teichufer, als wüsste er, wo Georg sich versteckt hielt. Sein Gesicht war dreieckig, flach und ein wenig nach innen gewölbt. Auf der vorspringenden Unterlippe saß eine dunkle Blutwarze. Dem zweiten Mann fehlte der Zeigefinger der rechten Hand. So nah an der Wurzel war er abgetrennt worden, dass in der Handfläche eine Kerbe entstanden war. Dem dritten Mann lief eine Narbe quer über das Gesicht, als hätte er einen Schwerthieb abbekommen, ebenso wie dem vierten, dem das Kinn gespalten war. Nur der fünfte Kerl war unscheinbar, blass und machte einen eher traurigen Eindruck, als widere ihn das Geschäft an, das er betrieb. Kriegsgesindel war das, von der schlimmsten Sorte. Sie mussten sich offenbar erst orientieren, denn sie ließen die Pferde sich im Kreis drehen und musterten die Umgebung neugierig. Dann erst setzten sie zum Angriff an.

»Dort!«, schrie der Anführer und deutete auf den Abweg neben dem Schlagwerkgebäude der Schmiede. »Hier führt der Weg hinunter zur Kreipe-Schmiede. Rasch, bevor sie sich in den Wald schlagen.«

Georg blickte den Männern aus seinem Schilfversteck nach. Woher kannten sie den Namen der Schmiede, die nach dem Großvater benannt war? Georgs Vater hatte den Hausnamen Kreipe-Schmied nur angenommen, als er die Schmiede von seinem Schwiegervater geerbt hatte. Sie selbst nannten sich Schutter.

Die Schnapphähne trieben ihre Gäule zur Eile an und verschwanden hinter der Schmiede. Sie jagten den Weg den Schmiedbach entlang hinab zur Vorderseite der Werkstatt. Georg horchte auf das Schlagen der Hufe, das urplötzlich verstummte. Dann ertönten Schreie. Die Männer riefen einander Befehle zu. Die Gäule wieherten. Über der Lichtung lag zu allem Überfluss der schwere Duft frisch gebackenen Brotes. Heute war nämlich Mutters Backtag.

Trotz des verheißungsvollen Duftes spürte man in der Luft ein nahendes Unheil wie kurz vor einem schweren Gewitter. Die harten Gräser stachen Georg in die Fußsohlen und kratzten am Rücken. Vom Boden drang eine eisige und feuchte Kälte herauf. Er zitterte am ganzen Körper. Unter den Matten war der Teich im März noch gefroren.

Georg überlegte, ob er zwischen den fahlgelben Schilfhalmen hocken bleiben sollte, bis die Kerle wieder verschwunden waren. Doch ein Schuss, der in den Wald hinein peitschte und vom Echo zurückgeworfen wurde, ließ ihn zusammenzucken.

Rudolf, der Geselle, hielt sich unten an den Hämmern auf. Vater stand sicherlich neben ihm, ebenso wie Hannes, sein älterer Bruder. Aus dem Backhaus, in dem Mutter arbeitete, stieg Rauch in den klaren Märzhimmel. Ein Gedanke zuckte in Georgs Kopf: Hatten Rauch und Geruch die Schnapphähne womöglich angelockt?

Wieder hallte ein Schuss über die Lichtung, der Georg endlich aus seinem Versteck trieb.

Er kroch zu dem kleinen Kahn hinüber, mit dessen Hilfe der Rechen am Zulauf des Wasserrads im Frühjahr und Herbst gesäubert wurde. Er stieg hinein, band ihn vom Ufer los und glitt darin ins offene Wasser hinaus. Bis zum Wehr ließ er sich treiben, das höher lag als die Werkstatt. Von der Werkstatt aus konnte man ihn so nicht sehen, während er einen guten Überblick haben würde. Aufgeregt flatterten wilde Enten über seinem Kopf. Blesshühner liefen über das Wasser und ließen sich erst am Ende des Teiches wieder nieder. Die friedliche Welt der Waldschmiede war von bebender Unruhe ergriffen worden.

Georg spähte über den Rand des Wehrs. Was er sah, ließ ihn aufschluchzen. Er bemerkte, wie sein Unterkiefer zu zittern begann. Seine Mutter lag mit ausgebreiteten Armen reglos vor dem Backhaus. Eine dunkle Lache breitete sich unter ihrem Kleid aus. War sie tot? »Mutter«, flüsterte er für sich, »Mutter!« Von Rudolf sah Georg nur den Kopf und eine Hand, die in unnatürlicher Verrenkung gen Himmel zeigte. Auch er rührte sich nicht. Hannes entdeckte er nirgends. Vater kniete neben einem der geharnischten Schnapphähne, die Hände im Nacken verschränkt. Der Kerl hielt ihm seine Pistole an den Kopf und schrie auf ihn ein. Zuerst verstand Georg nicht, was der Kerl wollte, doch dann drangen Worte wie »Münzen«, »Waffen« und »Mehl« an sein Ohr. Auch »Blei« verstand er und immer wieder »Gold«, »Gold«, »Gold«.

Der Vater blieb ruhig und hielt das Haupt gesenkt. Er schüttelte nur zu jedem der Wörter den Kopf. Georg ahnte, was die Brut von seinem Vater wollten: seine Ersparnisse, sein Metall.

Dann trat der Wegelagerer einen Schritt zurück und richtete mit ausgestrecktem Arm die Waffe gegen Vater. Georg blieb der Atem stehen. Jetzt hätte er eingreifen müssen. Doch wenn er sich zu erkennen gab, dann wussten diese Männer, dass sie einen Bewohner der Schmiede übersehen hatten.

Hunderte Male hatte Vater mit Hannes und ihm besprochen, was zu tun war, wenn ein solcher Fall eintreten sollte: wegrennen. Hinein in die Wälder. Wer solchen Schnapphähnen in die Hände fiel, der hatte kaum eine Möglichkeit zu überleben.

Ein Schrei holte Georg aus seinen Überlegungen. Der Kerl mit der Warze auf der Lippe deutete auf einen Hackstock in der Nähe. Daraus ragte ein gefiederter Pfeil hervor, der Bolzen einer Armbrust. Er hatte den Schnapphahn knapp verfehlt.

Sofort blickte sich Georg um. Das konnte nur sein Bruder Hannes gewesen sein. Doch wo steckte der?

Warzenlippe brüllte Befehle. Sein vor Wut verzerrtes Gesicht scheuchte die Kameraden in die Schmiede hinein. Georg suchte das Haus mit den Augen ab. Warzenlippe lief nervös auf dem gepflasterten Hof auf und ab. Das Klacken seiner Nagelsohlen brannte sich unauslöschlich in Georgs Gedächtnis.

Das Schmiedegebäude war zweistöckig. Direkt unterm Dach hatte er seinen Schlafboden, während unter ihm, im ersten Stock, die Schlaf- und Wohnräume seiner Eltern und des Bruders lagen. Die Werkstatt im Erdgeschoss war etwas vorgebaut und bildete mit seinem Dach eine Art Balkonvorbau für die Wohnräume. Hannes hatte offenbar vom Schlafraum der Eltern aus mit Vaters Armbrust geschossen. Leider hatten sie zu wenig damit geübt, als dass er sie sicher beherrschte.

Jetzt stürmten Warzenlippes Kumpane in die Werkstatt hinein. Erschrocken erkannte Georg, dass auch für ihn Gefahr drohte. Von dort oben konnte man den Weiher überblicken. Dann sah man auch sein Boot und ihn selbst darin. Er musste aus dem Wasser. Mit raschen Paddelschlägen der bloßen Hände ruderte Georg das Boot bis zum Zulauf des oberschlächtigen Wasserrads. Die Rinne war überdacht. Wenn er dort hineinkroch, konnte er sich zum Radhaus vorarbeiten, in dem sich das Mühlrad drehte. Er stieg aus dem Boot und kletterte die Rinne entlang bis zum Wasserrad. Dort hockte er sich in der Dunkelheit auf ein Brett, das sonst als Arbeitsplattform diente. Georg hörte das mächtige Drehen des Rades, das Schlagen der Hämmer, die von ihm angetrieben wurden, und das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers, das direkt vor ihm auf die Schaufeln geleitet wurde. Im Nu war er nass bis auf die Haut. Überall waren die Wände noch vereist, und von den Schaufeln hingen sogar Zapfen. Ganz sicher fühlte er sich nicht, denn unter ihm, direkt vor dem Wasserrad, versteckte Vater seine Gulden. Wenn sie Hannes fingen und ihn folterten, dann würde er ihnen sicherlich das Versteck verraten. Auf der Suche nach der Beute würden die Mordbrenner Georg unweigerlich aufstöbern. Doch vorerst war es der sicherste Ort, den er wusste.

Er sah auf den Balkonvorbau hinaus, auf dem plötzlich Hannes auftauchte, die Armbrust in der einen Hand, seinen Dolch mit der Damaszener-Klinge und dem geschnitzten Griff, den Georg so bewunderte, im Gürtel. Sein Vater hatte beiden Brüdern eine Klinge geschmiedet, doch nur Hannes hatte seinen Griff so kunstvoll verziert. Der ältere Bruder lief das Dach entlang und wollte sich am Wasserrad hinunter auf den Boden gleiten lassen. Sie waren nur zwei Körperlängen voneinander entfernt, als kurz hintereinander zwei Schüsse ertönten. Georg hörte die Kugeln ins Holz klatschen. Splitter spritzten heraus und trafen ihn selbst an Schulter und Wange. Hannes fasste sich an den Kopf, verdeckte das Gesicht und fiel von dem Holzaufbau. Die Wegelagerer hatten ihn offenbar getroffen. Hannes’ Körper klatschte ins Wasser und wurde von der Strömung mitgerissen. Georg sah als Letztes den Messergriff, der einen in sich verschlungenen Drachenkörper darstellte, dann wurde der Bruder unter die Eisdecke gezogen, die dort noch auf dem Schmiedbach lag. Ohne noch einen Ton von sich zu geben, verschwand Hannes in der von den Radschaufeln aufgewühlten Gischt.

»Hannes!«, brüllte Georg ihm nach, doch seine Stimme wurde vom Rauschen des Baches verschluckt. Georg zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte, sondern vor Wut und Angst und der Ohnmacht, nichts unternehmen zu können. Wie ein Kaninchen, das sich vor dem Fuchs verborgen halten muss, hockte er in der Falle. Jetzt hörte er nicht einmal mehr, was gesprochen wurde oder sah, was mit Vater geschah. Er musste hier heraus und versuchen zu helfen.

Der Verschlag, in dem er saß, konnte von der Werkstatt aus betreten werden. Georg kroch einige Fuß zurück und rüttelte an der Tür, die einen drei Bretter schmalen Durchschlupf versperrte. Von innen war ein Riegel vorgeschoben, der unliebsame Besucher abhalten sollte und diesen Zweck sehr gut erfüllte. Da er das Türchen keinen Fingerbreit bewegen konnte, gab er auf und beherzigte Vaters Warnung: Zeige dich nicht, bis sie weg sind.

Also kauerte er sich zusammen, fror und wartete. Die Hammerschläge der großen Schmiedehämmer ließen den Raum erzittern. Er lauschte auf das vertraute Rauschen des Wassers. Er zählte die Umdrehungen des Wasserrads. Dessen Bedächtigkeit übertrug sonst seine Ruhe auf ihn. Heute wühlte es ihn eher auf. Georg dachte immerfort an den Vater und sah vor seinem inneren Auge die am Boden liegende Gestalt der Mutter und die in den Himmel gereckte Hand des Gesellen. Am liebsten hätte er losgeheult und wäre aus seinem dunklen Versteck gekrochen, doch er wagte keinen Schritt nach draußen zu tun. Sie würden ihm das antun, was sie dem Bruder angetan hatten, der jetzt unter der Eisdecke lag und ein kühles Grab gefunden hatte. Und plötzlich wusste er, woran er denken wollte: Warzenlippe mit dem eingedrückten Gesicht stellte er sich vor und die vier anderen Kerle, die beiden Narbengesichter, Fehlfinger und den Traurigen, damit sie ihm immer ins Gedächtnis eingebrannt waren. Niemals wollte er sie vergessen. Sein Herz schlug schneller, als er daran dachte. Er befürchtete schon, das Klopfen könnte ihn verraten.

Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen, so nahe und klar, dass es sogar das Drehen des Wasserrades übertönte. Ein Prasseln und Fauchen, als hätte Vater die Esse angefahren und würde mit den Blasebälgen Kohlen und Schamott zum Glühen bringen. Georg kroch weiter vor zur Öffnung der Rinne und gewahrte einen Schein, der das trübe Märzlicht eigenartig aufhellte. Plötzlich stürzte ein brennendes Büschel Stroh von oben herab – und Georg begriff sofort. Die Kreipe-Schmiede brannte lichterloh. Er musste aus seinem Versteck verschwinden, denn das Dach konnte, wenn es sich zur Seite neigte, auf den Verschlag fallen und den Zulauf zum Wasserrad unter sich begraben. Mit aller Kraft stieß er mit beiden Beinen gegen das Türchen, und tatsächlich gab der Riegel innen nach. Er blickte in die Werkstatt und wünschte sich sofort, niemals die Tür aufgestoßen zu haben. Auf dem Boden der Werkstatt, die er von oben sah, lagen drei leblose Menschen. Flammen schlugen aus ihren Körpern. Die Hofseite des Gebäudes brannte bereits, während das Innere und die Teichseite noch von den Flammen verschont wurden.

Georg überlegte, wie er dem Inferno entkommen könnte und wunderte sich kurz über seine eigene Kaltblütigkeit. Lange hatte er dafür keine Zeit, denn er musste handeln, wollte er nicht von glühenden Trümmern begraben werden.

Die Rückseite der Kreipe-Schmiede führte unter den Hang hinein, der auch den Teich staute. Darin hatte Vater seine fertigen Waren gelagert, Messer, Pflugscharen, Hufeisen. Die Tür stand offen. Die Schnapphähne hatten das Lager vermutlich leergeräumt. Wenn er Glück hatte, dann hatten die Kerle den Eiskeller im Rückraum nicht gefunden. Dort lagerte die Familie im Winter Eisschollen ein, die sie aus dem Teich herausschnitten, um im Sommer Nahrungsmittel kühl aufbewahren zu können. Beschickt wurde der Eiskeller von außen.

Die Hitze in seinem Versteck wurde unerträglich, und das Gebälk des Hauses begann zu ächzen. Lange durfte Georg nicht mehr überlegen. Eine Möglichkeit wäre der Weg, den Hannes unfreiwillig genommen hatte. Der untere Teich besaß weiter hinten eine warme Quelle und damit eine offen Wasserstelle. Doch seinem Bruder wollte er jetzt unterm Eis nicht begegnen. Ein Schauer lief ihm durch den Körper, als er daran dachte. Kurz entschlossen querte er den hinteren Teil der Werkstatt und schlüpfte ins Lager. Es war stockdunkel, nur ein leichter Schein des Feuers hellte das Innere auf. Doch Georg kannte sich aus. Er sah sofort, dass alles Wertvolle herausgeräumt worden war. Nur die massive Holztür in den Vorratsraum hatten die Wegelagerer in ihrer Eile nicht aufgebrochen. Er rannte nach hinten, hob den Balken ab und kroch in den Vorratsraum. Es war eisig darin. Den Durchschlupf nach draußen hatte Vater noch nicht mit Erde zugeschüttet; er tat das immer erst im Sommer, damit auch keine Wärme bis hier herunterdringen konnte. Behände kletterte Georg die Leiter hoch und hob vorsichtig eine der Deckbohlen an. Beinahe direkt über ihm ließen die Räuber ihre Pferde tänzeln und sich drehen. Spitz zulaufende Stiefel mit sonderbar gebundenen Schnürsenkeln staken in Steigbügeln und zeigten zufällig auf ihn. Sie gehörten Warzenlippe, dem er von unten kurz direkt ins Gesicht geblickt hatte. Für einen Moment glaubte er, man hätte ihn entdeckt, doch dafür war es zu dunkel. Georg ließ die Bohle langsam wieder zurücksinken. Er starrte in die Dunkelheit hinein. Wie ein Zeichen des Unheils tauchten die rotbraunen Stiefel mit den Schnürsenkeln vor seinem inneren Auge auf. Niemals würde er sie vergessen. Das Geschrei der Männer über ihm riss ihn aus seinen Träumereien.

»Ein Hoch dem Schwäbischen Bund!«, rief der Anführer, den Georg an der knödelig gepressten Stimme erkannte. »Tod den Bauern und Bauernfreunden!«

Die Gruppe fiel in den Jubel ein und Georg hörte, wie Krüge aneinander schlugen. Sie hatten Vaters Bierfass geplündert, das den Winter über draußen im Lagerschuppen stand, und tranken sich zu.

Eine unbändige Wut stieg in ihm auf und hätte ihn beinahe dazu verleitet, aus der Grube hochzuklettern und die Männer anzubrüllen, ob sie denn niemals in der Bibel gelesen hätten und wüssten, dass Totschlag Sünde sei. Doch in dem Augenblick brach die Schmiede in sich zusammen. Der warme Luftzug schlug die Tür zum Eiskeller zu und ließ die Bohlen über ihm hüpfen und Staub und Erde auf ihn herabrieseln. Georg musste husten. Die Männer über ihm hörten ihn Gott sei Dank nicht, weil sie ihren Erfolg bejubelten.

Dann schmetterten sie die leeren Krüge auf den Boden und preschten davon.

Georg wartete noch eine ganze Zeit, dann hob er eine der Bohlen an und stieg vorsichtig ins Freie. Die Plünderer waren weg. Er wollte den Weg entlang der Schmiede hinabgehen, um den Schnapphähnen nicht zu begegnen, musste es jedoch wegen der Hitze bleiben lassen.

Was er sah, war niederschmetternd. Von dem Gebäude standen nur mehr rauchende Trümmer. Nur das Wasserrad drehte sich weiter wie das Lebensrad, unablässig und ohne sich von den Wirrnissen dieser Welt stören zu lassen.

2

Georg fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Seine Lippen zitterten. Aus dem Gluthaufen, der einmal die Schmiede der Eltern gewesen war, konnte er nichts mehr retten. Einzig einen Beutel mit hundert Goldgulden hatte er aus dem Bach direkt unter dem Wasserrad hervorgezogen. Ihn hatten die Männer nicht entdeckt. Obwohl er klitschnass war, band er ihn sich um den Leib. Es war sein einziges Erbe.

Ein letztes Mal dachte er an die Menschen, die unter dem glühenden Inferno begraben lagen. Was war das nur für eine Zeit, die in wenigen Stunden eine ganze Familie sinnlos auslöschte?

Dann drehte er dem Grauen den Rücken – und lief die Straße hinauf. Wohin er wollte, hatte er sich noch nicht überlegt. Nur fort von hier musste er. In kopfloser Panik rannte er den Weg entlang. Georg hatte die Biegung des Pfades gerade erreicht, als ein Reiter aus dem Waldsaum heraustrat, das Pferd am Zügel.

Es war Warzenlippe.

»Wohin so eilig?«, fragte der und verstellte ihm den Weg. »Der neue Schmied hatte demnach recht, dass noch so ein Lutheranerlümmel herumkrauchen muss. Sie sind geradezu eine Landplage.«

Hinter und neben Georg brachen die vier anderen Kerle aus dem Gebüsch.

»Ihr hattet richtig beobachtet, Hauptmann.« Es war Fehlfinger, der seinem Anführer zustimmte. »Das Boot war vorher festgebunden gewesen. Diese kleine Ratte hat es losgemacht.«

Georg stutzte, weil er nichts von einem neuen Schmied wusste. Eines war ihm jedoch sofort klar, dass er nämlich diesen Kerlen nicht in die Hände fallen wollte.

»Ich bin kein Lutheranerlümmel«, entfuhr es ihm. »Meine Familie und ich sind echte Christenmenschen.«

»Das hör sich einer an«, tat Warzenlippe erstaunt. »Da haben wir die Falschen ins Paradies geschickt. – Aber Bauernfreunde seid ihr. Du und deine Sippe!«

Vorsichtig wich Georg zum Waldsaum hin aus, während die Truppe ihn einzukreisen versuchte.

»Nicht mehr als diejenigen, die Brot essen, weil sie Hunger haben. Das Getreide wird von den Bauern angebaut, nicht von den Fürsten – oder haltet Ihr etwa einen Pflug in der Hand?«

Jetzt musste Warzenlippe lachen, und die anderen stimmten darin ein. Es war ein grausames Lachen, ein unheilvolles Lachen.

»Hört ihn euch an. Du bist ein Siebengescheiter. Man glaubt, einen rechten Buchgelehrten vor sich zu haben. Wie bei den Protestanten, die davon überzeugt sind, dass jeder in der Bibel lesen und daraus seine Lehren ziehen dürfte.«

Georg beschloss zu handeln. Noch bevor sie den Kreis um ihn geschlossen hatten, klatschte er in die Hände und schrie aus Leibeskräften. Sofort bäumten sich zwei der Pferde auf und mussten gehalten werden. Diesen Moment der Ablenkung nutzte Georg für sich. Er schlüpfte durch die Lücke und sprang in den angrenzenden Wald. In der Umgebung der Schmiede war dieser sehr dicht und für Unkundige praktisch undurchdringlich. Doch er kannte sich aus, besser als diese Räuber und Mörder. Georg schlüpfte zuerst durch Matten aus Knöterich und jungen Weiden. Dann stieß er nach wenigen Fuß auf einen Wildschweinpfad, dem er folgte und der ihn einen Hügel hinaufführte. Er hastete atemlos und in geduckter Haltung durch das Dickicht, immer besorgt, die Männer könnten ihn einholen. Hinter ihm knackte und prasselte es im Unterholz. Die Kämpen folgten ihm, doch ihre Lautstärke übertönte sein Huschen durch das Dickicht. So würden sie ihm niemals folgen können.

Er achtete nicht auf die Dornenranken der Brombeeren, stolperte durch kleinere Schneewächten und war froh, dass sich der Winter bereits verabschiedete. Kurz darauf wechselte er auf einen weiteren Wildpfad ein, noch bevor die Männer hinter ihm zur Besinnung kamen und stillhielten. Jetzt kam er schneller vorwärts. Hinter sich hörte er ein Fluchen, Schimpfen und Schreien. Einholen würden sie ihn nicht mehr.

Georg wurde etwas langsamer. Ihm zitterten noch immer die Knie, wenn er an das plötzliche Auftauchen von Warzenlippe und Fehlfinger dachte und an diese merkwürdigen Fragen.

Obwohl ihm der Guldensack schmerzhaft gegen den Oberschenkel schlug, obwohl er aus verschiedenen Rissen an Armen, Oberkörper und Beinen blutete, obwohl ihn fror und er glaubte, die Kraft würde ihn verlassen, sprang er vorwärts. Er wusste, es ging um sein Leben. Denn was die Schnapphähne mit jemandem anstellen würden, der sie bei ihrem schändlichen Tun beobachtet hatte, stand ihm nur allzu deutlich vor Augen.

Erst als er den Hügel hinter sich gelassen, das Höllental durchquert und den folgenden Hügel, der im Volksmund Golgatha hieß, erklommen hatte, legte er sich unter dem Stamm einer Eiche erschöpft nieder. Keinen Schritt wollte er mehr weiter.

Georg sah hinauf in das gewaltige Blätterdach des Baumes. Wie stark und ausladend die Eiche war. Die Äste verzweigten sich über einem kräftigen Stamm. Sofort füllten sich seine Augen mit Tränen und ließen den Blick nach oben verschwimmen. Warum ließ man ihn nicht wachsen und zweigen wie diesen Baum? Warum wurde er herausgerissen aus der fruchtbaren Erde seiner Heimat? Warum wurde er entwurzelt und vertrieben? Die Erinnerung an das, was er erst eine halbe Stunde zuvor noch gesehen hatte, überwältigte ihn. Plötzlich konnte er weinen und das gesamte Elend, das den Tag begonnen hatte, schwappte über ihn weg wie das Wasser des Schmiedteichs, wenn er in ihn eintauchte. Er sah seine Mutter daliegen in ihrem Blut und den Vater flehen und hörte sich selbst hilflos nach ihnen rufen. Er konnte ihnen jedoch nicht beistehen, musste sie gehen lassen. Georg bibberte und fröstelte, weil der März seinen eisigen Atem durch die Wälder blies, doch er scherte sich nicht daran. Er überlegte, ob es wahr war, was der Pfarrer erzählte, dass nämlich die Toten, wenn sie frei von Sünde waren, ins Paradies eingehen durften. Galt das für die armen Toten ebenso wie für die reichen? Oder gab es auch dort ein Oben und Unten, ein Herrschen und Beherrschtwerden wie auf dieser Welt?

Immer wieder kreisten seine Gedanken um diese schrecklichen Bilder. In das Grauen und die Trauer mischten sich Schuldgefühle. Ganz weit in seinem Hinterkopf tauchte ein erhobener Zeigefinger auf, der ihm drohte. Wie oft hatte er dem Vater nicht gehorcht, wie oft hatte er der Mutter Kummer bereitet, weil er sich mit seinem Bruder zankte! Sie hatten gestritten und sich geprügelt, dass die Fetzen geflogen waren, weil er es dem Älteren nie recht machen konnte. Hannes klagte stets darüber, nur der Stiefsohn des Schmieds zu sein. Dabei konnte Georg doch nichts dafür, dass die früh verwitwete Mutter ein zweites Mal geheiratet hatte. Trotz aller Rivalitäten hatte er Hannes doch geliebt. Er war sein großer Bruder, sein Vorbild gewesen. Er bewunderte ihn. Wie in einen Strudel rissen ihn seine Gedanken in die Verzweiflung hinein.

Über diesen Überlegungen musste er eingeschlafen sein, denn er schreckte hoch, als ein Zweig knackte. Georg rührte sich vorerst nicht, sondern lauschte. Was immer es war, das er gehört hatte, es kam nicht näher, sondern blieb in einiger Entfernung von ihm. Ein Schaben und Rascheln begleitete das Knacken. Dann hörte es sich an, als schluchze jemand vor sich hin.

Mit aller Vorsicht, die ihm möglich war, hob Georg den Kopf und spähte umher. Doch er sah nichts. Langsam richtete er sich auf und drehte den Kopf nach den Geräuschen. Sie kamen von der Seite, die hinter seinem Ruheplatz lag.

Georg schlich um den Stamm der Eiche herum, schob einen Vorhang aus Knöterichgirlanden beiseite und blickte in das Gesicht eines Mädchens.

Es war vielleicht so alt wie er selbst, hatte dunkle Haare und noch dunklere Augen. Seine Augenbrauen und Wimpern waren schwarz. Es steckte in einem bunten Kleid, das aus verschiedenfarbigen Stoffflicken zusammengenäht war. Über seine Wangen liefen Tränen, in seinen Augen stand das Wasser. Als Schutz vor der Märzkälte hatte es sich einen Filzumhang übergeworfen, der vorne aufklaffte. Es stand vor einem Hügel aus frischer, grobbrockiger Erde, an dessen Ende ein Holzkreuz aufgerichtet war.

»Zeig dich!«, fuhr das Mädchen Georg an. Es zog einen Dolch unter dem Filz hervor und hielt ihn so, dass keine Zweifel darüber bestanden, dass es ihn zu gebrauchen wusste. »Ich habe dich gesehen. Raus jetzt!«

Der scharfe Befehl ließ Georg keine andere Wahl, als sich durch den Knöterichvorhang zu zwängen. Erst als er auf die kleine Lichtung hinausgetreten war und kurz zurückblickte, erkannte er, dass das Mädchen geschwindelt hatte. Es konnte ihn unmöglich gesehen haben.

»Wer bist du?«, fragte ihn das Mädchen bereits etwas freundlicher.

»Wer bist du?«, gab er die Frage zurück. Er deutete auf den Erdhügel, der jetzt eindeutig als Grab zu erkennen war. »Hast du den … Toten gekannt?« Georg sah, wie sich die Augen des Mädchens erneut mit Tränenwasser füllten und überliefen. »Entschuldige. Ich wollte nicht …«

Was er nicht gewollt hatte, wusste Georg selbst nicht. Doch die Landfahrerin, so schätzte er das Mädchen ein, schien seine Entschuldigung anzunehmen. Es ging in die Hocke und strich mit der Hand über die hart gefrorene Erde. In den Ritzen hatte sich Reif gesammelt und überzog das Grab mit einem rissigen Geflecht aus hellen Fäden.

»Er war mein Vater. Vor drei Tagen ist er verstorben.«

Georg schluckte. Dann, als bildeten sich die Wörter wie von selbst in seinem Mund, sagte er stotternd: »Wie meine Eltern … sie wurden … wurden heute Morgen von … Wegelagerern … von Schnapphähnen umgebracht.«

Überrascht hob das Mädchen den Kopf und schenkte ihm durch den Tränenschleier ihrer dunklen Augen hindurch einen warmen Blick.

»Heute Morgen erst?«

»Mordbrenner. Sie haben die Schmiede meines Vaters angezündet. Mein Bruder, meine Mutter, mein Vater, der Geselle, alle ermordet.« Georg sprach leise, er flüsterte beinahe, da er befürchtete, er könnte ihre Trauer stören. Er kaute auf seiner Unterlippe, bis er hervorbrachte: »Ich konnte sie nicht einmal begraben. Sie sind zu Asche verbrannt.« Dass sein Bruder unter Eis lag, hielt er nicht für erwähnenswert.

»Heute, sagst du? Von wo kommst du her?«

Georg deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Komm mit. Wir müssen zu den anderen.« Das Mädchen streckte seine Hand aus und nahm Georgs Hand wie selbstverständlich in die ihre. Es zog ihn mit den Hügel hinab und hinein in den Wald, einen Pfad entlang, der offensichtlich häufig begangen wurde.

»Ich heiße Sarina«, verkündete die Landfahrerin, über die Schulter hinweg, ohne ihn loszulassen. »Und du? Wie heißt du?«

»Georg«, antwortete er und fügte hinzu: »Wohin gehen wir?«

»Wart’s ab«, sagte sie und blickte ihn aus tiefschwarzen Augen so ernst und unergründlich an, dass Georg schlucken musste.

Sie krochen noch eine ganze Weile durch das eng stehende Strauchwerk und traten dann übergangslos aus dem Saumpfad hinaus auf eine Lichtung.

Vier Karren, ebenso bunt wie Sarinas Kleid unter dem Filz, waren dort zu einer Hufeisenform zusammengestellt. Auf der offenen Seite weideten drei alte Klepper und ein Esel. Alle vier hatten bereits das Schlachtalter weit überschritten. Mitten auf dem Platz brannte ein niedriges Feuer, über dem aus Holzpfählen ein Dreifuß errichtet worden war. Darunter baumelte ein Topf an einer Kette. Davor saß eine Alte, ganz in schwarzes Tuch gekleidet, und rührte um.

Dorthin führte Sarina ihn und ließ seine Hand los. Georg sah sich unsicher um. Mehr Personen als die Alte waren nicht zu sehen, und die schien ihn nicht zu beachten.

Auf Sarinas leisen Doppelpfiff hin tauchten allerdings auf der Lichtung drei weitere Männer und sowie drei Frauen auf. Die Männer hielten Dolche in den Händen wie den, den Georg bei Sarina bereits kennengelernt hatte. Die sechs Menschen hätten unterschiedlicher nicht sein können: groß, klein, rothaarig, blond, schwarzhaarig, dunkelhäutig und beinahe weiß. Sogar ein Mohr befand sich darunter. Hinter ihnen wuselte eine Schar Kinder unter den Karren hervor, die Georg nur schwer zu überblicken vermochte. Sechs, sieben Kinder krochen aus allen möglichen Verstecken. Ein Mädchen, dessen blasse Wangen und spitze Nase ihm auffielen, kam ihm ganz langsam entgegen und sah ihn mit wässrigen Augen an.

»Tuah, komm her!«, rief eine der Frauen hinter ihr, und das Mädchen blieb stehen. Dann drehte es sich um und lief langsam zurück, als drücke jede Bewegung wie die Last des Greisenalters auf ihren noch jungen Körper.

Die Erwachsenen stellten sich im Kreis um ihn auf, die Kinder hielten einen sicheren Abstand ein. Die Männer verschränkten die Arme. Die Frauen stützten die Hände in die Hüften. Er schien nicht sehr willkommen zu sein.

Ein kurzer, hoher Pfiff ließ ihn herumfahren, der Pfiff einer Ratte. Doch hinter ihm stand niemand. Nur ein Wagen stand dort, dessen Plane abgenommen war und einen Bühnenaufbau zeigte.

»Waaas hast duuu denn daaa für einen Vooogel eingefaaangen, Saaarina?«, hörte es Georg von einem der Wagen herab quieken. Zuerst verstand Georg den Sprecher gar nicht recht, bis er begriff, dass nur alles unendlich langsam und zögerlich gesprochen wurde. Georg sah hoch. An einem der Holme hielt sich ein Wesen fest, wie Georg noch niemals eines gesehen hatte: Der Körper war der eines Kindes, mit kurzen Armen und Beinen, doch der Kopf war so groß wie der eines ausgewachsenen Mannes und wirkte wegen der Verkürzung des Leibes unnatürlich vergrößert. Das Gesicht war zerknautscht wie ein Kissen nach einer unruhigen Nacht. Das Wesen starrte ihn an, als wolle es ihn verschlingen, und Georg wusste nicht, ob er lachen oder sich fürchten sollte.

Sarina folgte seinem Blick. »Das ist der Schlepperdinger, unser stummer Zwerg«, sagte sie und wollte sich wegdrehen. Doch Georg hielt sie fest.

»Aber der ist gar nicht stumm. Er redet doch.«

»Wenn er will«, erklärte ihm Sarina geduldig. »Ansonsten bringst du aus ihm kein Wort heraus. Er spricht ungern. Er fürchtet sich vor den Menschen, vor allen Menschen, die größer sind als er. Außerdem hast du ihn ja gehört. Er verschleppt die Dinge beim Sprechen, deshalb nennen wir ihn so. Allerdings rufen ihn alle nur kurz den Schleppert, weil er selbst kurz ist.«

»Der Schleppert hat recht«, unterbrach einer der Landfahrer Sarinas Ausführungen. Er war kräftig und dunkelhäutig und jagte Georg einen gehörigen Schrecken ein. »Warum bringst du ihn hierher?«

»Ich habe meine Gründe, Modo! Die solltest du dir anhören. Der Junge hat mir nämlich etwas Wichtiges verraten.« Sarina drückte Georgs Hand, dann ließ sie diese los und trat einen Schritt vor. Sollte er zuhören wie das Mädchen vom Niederbrennen der väterlichen Schmiede erzählte oder sich das bunte Volk nur ansehen? Beides zugleich vermochte er nicht.

Dazu bot das Lager viel zu viele aufregende Dinge zu sehen: Gleich neben den Pferden war ein Bär angepflockt, der sich zusammengerollt hatte und zu schlafen schien. Er brummte leise vor sich hin. Die Wagen selbst waren mit farbigen Planen aus großflächigen bunten Flicken in Rot, Blau und Grün bespannt. Allerdings waren die Farben zerschlissen und ausgebleicht – die Truppe war offenbar schon sehr lang unterwegs. Zum Wald hin hatte man zwischen zwei Bäumen ein Seil gespannt, das zitterte, als wäre vor Kurzem noch ein Mensch dort oben gelaufen. Eine brennende Fackel steckte im Boden und ein Brett, in dem Messer feststeckten, war an den Stamm eines Baumes gelehnt.

Das für Georg Anziehendste aber war eine kleine Bühne, die von einem Vorhang zur Hälfte verdeckt war. So etwas hatte er bereits einmal gesehen: zu Weihnachten, vor dem Dom zu Augsburg. Dort hatte eine Truppe das Krippenspiel aufgeführt. Auf eben einer solchen Bühne.

Als sein Name fiel und ihn alle erwartungsvoll ansahen, lenkte Georg seine Gedanken wieder auf die Menschen.

Er musste etwas dümmlich aus der Wäsche gesehen haben, denn Sarina stieß ihn an und drängte: »Sie wollen von dir hören, was dir und deiner Familie zugestoßen ist.«

Georg brauchte einen Moment, um sich von den Wunderdingen loszureißen, dann versuchte er sich zu konzentrieren. Er begann zögerlich. Anfangs lähmte ihm der Schrecken über die grauenvollen Ereignisse die Zunge, doch nach einigen gestotterten Sätzen begannen sich seine Gedanken zu ordnen und er erzählte rasch und flüssig, was geschehen und wie er entkommen war.

Der Großgewachsene, der dem Schleppert zugestimmt hatte, sah besorgt in die Runde, als Georg geendet hatte.

»Sie bewegen sich also nach Kaufbeuren hinunter. Dann wenden wir uns in Richtung Augsburg!«, verkündete er entschlossen.

»Woher wissen wir, dass sie nach Süden gehen? Sie können ebenso gut die Schmiede überfallen haben, weil sie auf der Suche nach Waffen waren. Alle Welt verrät einander in diesen verfluchten Zeiten«, sagte ein Dunkelhäutiger, den Georg bislang nicht bemerkt hatte.

»Ich stimme dir zu«, sagte der Großgewachsene. Sein Tonfall ließ erkennen, dass er in der Gruppe das Sagen hatte. »Doch sollten wir uns an die Notwendigkeiten halten. Die Horden des Schwäbischen Bundes tummeln sich hier in der Gegend. Augsburg bietet uns Schutz vor den marodierenden Bauern und vor dem Schwäbischen Bund. Zudem finden wir dort Arbeit, die wir Schausteller gerade in diesen unruhigen Zeiten dringend benötigen.«

Georg verstand zwar nicht, wovon die Männer redeten, horchte jedoch beim Wort Schausteller kurz auf. Schausteller waren sie also. Männer und Frauen, die kleine Schauspiele zum Besten gaben, die Buden aufstellten und Kunststücke vorführten. Als kleiner Bub war er ihnen schon einmal begegnet, in Thannhausen, auf dem Jahrmarkt.

Die Mitglieder der Truppe tuschelten miteinander und besprachen sich, ohne sich weiter um Georg zu kümmern. Sarina berührte ihn an der Schulter und lockte ihn von den Männern weg.

»Hast du Hunger?«, fragte sie und zeigte auf den Kessel.

Georg nickte. »Und wie!« Er folgte ihr. In einer Sprache, die Georg nicht verstand, sprach Sarina die Alte an, und die griff neben sich. Dort standen Holzschüsseln. Eine davon nahm sie an sich, hielt sie über den Kessel, ohne aufzustehen, und schenkte sie voll. Dann hielt sie die Schüssel in die Luft. Erst jetzt sah Georg, dass beide Augen der Alten milchig weiß waren.

»Mutter Jaja ist blind. Aber sie hört noch außerordentlich gut. Vor allem das, was sie nicht hören soll.« Sarina flüsterte die letzten Worte dicht an Georgs Ohr. Der nickte nur.

»Was ist das?«, fragte er, denn das Essen roch vorzüglich. »Zu Hause hat es bei uns nur noch Hirsebrei gegeben und Pökelfleisch. Alles andere war ausgegangen. Der Winter war zu lang.«

Sarina deutete auf einen Holzstamm, der hinter Mutter Jaja am Boden lag und über den ein Fell gelegt worden war. Georg setzt sich darauf und trank die dicke heiße Suppe mit Genuss.

»Wir Schausteller leben im Freien. Wir holen uns, was wir brauchen: Kaninchen, Hunde, Katzen. Was frei herumläuft und in unsere Fallen geht.«

»Kaninchen? Aber das ist verboten. Wenn euch der Fürst erwischt, dann steht darauf die … die Todesstrafe.«

Sarina lachte, und auch Mutter Jaja, die den Kopf zu ihnen hergedreht hatte, lachte mit ihrem zahnlosen Mund.

»Wir haben immer so gelebt. Keinem Fürsten wird es gelingen, uns zu fangen.«

Georg hatte keine Lust weiter nachzubohren. Schließlich war es nicht seine Angelegenheit. Er gehörte nicht zu dieser Schaustellertruppe. Während er in seine Suppe blies, die stark nach Kaninchenfleisch schmeckte, und sie in kleinen Schlucken trank, waren die Männer und Frauen der Gruppe offenbar zu einem Entschluss gekommen. Der Großgewachsene kam auf sie zu.

»Sandor, was habt ihr beschlossen?«, fragte Sarina.

Er ging vor ihnen in die Hocke und blickte Sarina und Georg ernst an.

»Wir haben beschlossen, nach Augsburg zu gehen. Dort haben wir zu Ostern schon lange kein Passionsspiel mehr aufgeführt. Also wird es Zeit, wieder aufzutauchen.« Der Mann machte eine Pause und biss auf seinen Lippen herum. Verlegen sah er zu Boden, als wolle das, was er jetzt zu sagen habe, nur schwer über seine Lippen. »Sarina, für den vierten Wagen brauchen wir einen zweiten Lenker. Lara und Kathrein sind schwanger. Sie werden sich auf keinen Kutschbock setzen und …«

»Ich kann einen Wagen lenken«, fuhr Georg dazwischen und erntete einen dankbaren Blick vom Großgewachsenen.

»Halt, halt, halt«, widersprach Sarina. »Nur weil Vater tot ist, muss ich nicht …«

»Ich will auch nach Augsburg«, sagte Georg, der nicht ganz verstand, warum sich Sarina so gegen seinen Vorschlag wehrte. »Wenn ich darf, begleite ich euch.«

Sandor und Sarina sahen sich lange an, dann nickte Sarina. »Also gut. Bis Augsburg. Weil er uns vor den Banditen gewarnt hat.«

Sandor nickte und stand auf. »Wir bleiben die Nacht noch hier. Morgen in aller Herrgottsfrühe brechen wir auf.«

»Danke«, rief Georg dem Großgewachsenen nach, der mit dem Arm abwinkte. »Danke«, sagte er noch einmal leise zu Sarina. Freude stieg in ihm hoch und griff ihm an die Kehle. »Ich habe ja sonst niemanden mehr.«

»Ich auch nicht«, antwortete Sarina. »Vater war mein letzter Verwandter.«

Stumm saßen sie nebeneinander, zwei Waisen, und starrten ins Feuer.

Das Holz knackte und die Flammen heizten seinen durchgefrorenen Körper auf.

Auch Sarinas Wangen schienen zu glühen und in ihren Augen tanzten rote Flämmchen wie Irrlichter.

»Du musst ihm zeigen, wo er schlafen soll, Kind«, mischte sich jetzt Mutter Jaja ein.

»Ist ja gut«, murrte Sarina, was Georg etwas wunderte. Sie erhob sich und forderte ihn mit einer energischen Geste auf, ihr zu folgen.

Noch ganz von seinem Glück beseelt, fragte er nach: »Wo darf ich denn schlafen?«

Sarina drehte sich schroff zu ihm um. »Bei mir im Wagen. Aber bilde dir ja nichts drauf ein!«

3

Georg half Sarina mit einem Laken den Karren in Längsrichtung zu teilen. So entstanden zwei schmale Zimmerchen, die vor allem aus je einer Pritsche entlang der Karrenwände bestanden. Das Laken reichte nur bis auf die halbe Höhe des Wageninneren, so dass man drübersehen konnte, wenn man sich aufrichtete. Man konnte es an der Stirnseite zurückschieben, so dass sie beide sich sehen konnten, und vorziehen, wenn es nötig wurde.

»Dass du mir ja nicht drüberguckst!«, hatte Sarina ihn angeherrscht, und Georg hatte energisch den Kopf geschüttelt.

Beide saßen sie sich jetzt gegenüber, das Laken beiseitegeschoben, zwischen sich eine kleine Öllampe, wie Georg sie noch niemals gesehen hatte.

»Die hat Vater im Welschland gefunden. Sie soll mal den Römern gehört haben und hunderte von Jahren alt sein. Sie funktioniert noch gut.«

Im Licht der kleinen Lampe betrachtete Georg Sarinas Gesicht, das durch das Flackern ganz geheimnisvoll wirkte. Am liebsten hätte er sie die ganze Zeit nur angesehen. Doch das ging nicht. Er wusste jedoch nicht, was er sagen sollte.

»Mein Vater hat mir jeden Abend etwas vorgelesen«, sagte Sarina. »Willst du auch etwas hören?«

Georgs Augen weiteten sich. »Du willst mir etwas vorlesen? Kannst du das denn überhaupt?«

Sarinas Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »Gehörst du etwa auch zu den Kerlen, die uns Frauen nichts anderes zutrauen, als den Kochtopf umzurühren und Kinder in die Welt zu setzen?«

»Ich kenne keine Frau, die lesen kann«, sagte Georg und meinte es ernst. »Ich kenne überhaupt kaum jemanden, der lesen kann. Selbst unser Herr Pfarrer kann es nicht richtig. Nur mein Bruder hat es gelernt. Während seiner Gesellenzeit in der Fremde.«

»Ja, ich weiß, wenige können es«, antwortete Sarina nachdenklich. »Aber wenn es nach mir ginge, sollte jeder lesen können. Es öffnet eine Pforte in eine wundervolle Welt.« Sie beugte sich etwas zu Georg hinüber. »Beinahe so wundervoll wie das Paradies.«

Bevor Georg etwas sagen konnte, zog sie unter ihrem Bett einen kleinen Kasten hervor, in dem zwei Bücher lagen. Kleine, in Leder gebundene Bände, die ein wenig dicklich wirkten.

»Das sind meine Schätze!« Sarina zeigte auf die Bücher. »Ein Evangelium des Markus, von Ulrich Hahn auf Deutsch gedruckt, und das hier ist noch schöner. Sebastian Brant: Das Narrenschiff.«

»Narrenschiff? Was ist das?« Georg war neugierig geworden.

»Ein Buch. In Basel gedruckt. 1494, hat Vater erzählt. Auch in deutscher Sprache, so dass es jeder verstehen kann. Auch du.«

Gespannt beobachtete er, wie Sarina den Band herausholte und aufschlug. Links hatte man mit Holzschnitten Bilder eingefügt, rechts stand ein Text. Sarina blätterte lange darin, bis sie auf einer Seite innehielt und das Buch so umdrehte, dass es für Georg nicht auf dem Kopf stand.

»Schau her. Hier, diese Figur ist der Narr. Ein normaler Mensch, wie du und ich. Nur dass er die Schellenkappe trägt und sich so als Narr ausweist.«

Georg wurde der Mund trocken, denn hinter dem Narren auf dem Holzschnitt lief der Tod drein, einen Holzsarg auf dem knöchernen Buckel, und zupfte ihn am Rock.

»Was soll der Gevatter Tod bei ihm?«, fragte er mit tonloser Stimme.

»All, die wir leben hier auf Erden / geliebte Freund, betrogen werden, daß zu betrachten wir nit bereit / den Tod, der unser harrt allzeit«, las Sarina vor. »Wir wissen und ist uns wohl kund, / daß uns gesetzet ist die Stund, / und wissen nit, wo, wenn und wie? / Der Tod, der ließ noch keinen hie.«

So fuhr Sarina fort, Zeile um Zeile, und las davon, dass der Tod überraschend kam und dass der Mensch noch im Leben sich mit dem Tod vertraut machen sollte und dass ein Narr sei, wer nicht daran denke und den allgegenwärtigen Schnitter und dessen Gewalt leicht nehme.

Georg lehnte sich zurück und hörte einfach zu, ließ sich fallen in diese Stimme, in diesen Klang, und sah überrascht auf, als Sarina endete.

»Hat es dir gefallen?«, fragte sie.

»Wundervoll«, sagte Georg nur. Er musste schlucken, weil ihm der Mund so trocken geworden war. »Du liest so schön.«

»Das könnte jeder«, sagte sie leichthin und begann sich ebenfalls zurückzulegen. »Ich kann dir das Lesen beibringen, wenn du willst.«

Georgs Mundwinkel verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. »Das würdest du tun?«

»Nur, wenn du mir versprichst, dass du nicht weiter glaubst, es gäbe Dinge, die wir Frauen nicht tun könnten«, spottete sie.

Energisch zog Sarina den Vorhang zu und kroch unter ihre Decke, bevor Georg noch etwas sagen konnte.

»Ich werde es nie wieder sagen«, murmelte er und zog sich die Decke über den Körper. Er war hundemüde. Die nächtliche Schneekälte stach durch die Ritzen des Karrens hindurch in seine Haut.

»Es gibt Zeiten zu handeln und Zeiten, um am Feuer zu sitzen«, flüsterte Sarina leise. »Vielleicht ist deine Zeit zu handeln gekommen.«

Georg erwiderte nichts, er horchte nur auf das Rascheln nebenan und überlegte, was Sarina wohl so lange beschäftigte, doch dann schweiften seine Gedanken wieder ab zur Schmiede.

Noch einmal erlebte er alles mit: Die Gesichter der Wegelagerer in ihren Harnischen zogen an ihm vorüber, besonders das von Warzenlippe. In ihrem Gefolge zog diesmal der Gevatter Tod zur Schmiede, in der einen Hand eine Kerze und in der anderen eine Sanduhr, in der nur ein Weniges an Sand übrig war, bevor sie gewendet werden musste. Georg fühlte, wie ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Er sah Warzenlippe, der auf seinen Vater zielte, und dann begann Georg zu schreien, er solle aufhören, solle seinen Vater nicht weiter quälen. Doch ein anderer der Strauchdiebe, Fehlfinger, hielt ihn zurück, und er versuchte sich loszureißen, was ihm nicht gelang. Der Gevatter Tod schlug sich amüsiert auf die knöchernen Schenkel und deutete auf die Sanduhr, die abgelaufen war. Georg wollte danach greifen, wollte sie umdrehen und wieder zum Laufen bringen, doch … er spürte nur, wie er zurückfiel und dann in eine Leere sackte, die so tief und bodenlos war, dass er kaum mehr Luft bekam, und dann schrie er, um atmen zu können, schrie er, schrie er seinen Schmerz hinaus …

»Georg, wach auf, um Gottes Willen, wach auf. Du verrätst uns noch!«

Mit einem Ruck fuhr Georg auf. Warzenlippe und Fehlfinger waren verschwunden. Alles war finster um ihn her. Nur die Stimme neben ihm berührte ihn sanft.

Er brauchte erst einen Moment, bis er begriff, dass er gerade geträumt hatte. Die Hand an seinem Oberarm spürte er allerdings immer noch.

»Georg, bist du wach?«, flüsterte es neben ihm. Es war Sarina.

Zuerst nickte Georg, was natürlich in der Finsternis nichts nützte. Also beschloss er zu reden. »Ja, bin ich!«

»Leise! Auf der Straße ziehen Männer vorbei. Horch!«

Jetzt erst hörte er das Auftreten von Sohlen im gefrorenen Kies und in den Schneeresten des März, das Schnaufen und Keuchen einer großen Menge schwer beladener Menschen und Tiere, das Klirren und Klacken, wenn Metall und Holz aneinanderstießen.

»Was ist dort draußen los?«, fragte er.

»Sandor sieht gerade nach. Er wird gleich berichten«, hauchte Sarina.

Georg fühlte, wie sie sich neben ihn setzte. Er spürte ihren warmen Körper durch die Decke hindurch.

»Darf ich neben dich?«, fragte sie leise. »Ich habe Angst.« Georg hob die Decke, und Sarina schlüpfte drunter. »Du hast so laut geschrien.«

»Ich bin gefallen«, sagte Georg nur. Er legte einen Arm um Sarina und schloss die Augen. Es nützte nichts, sie bei der Dunkelheit offen zu halten. »Ins Bodenlose!«

»Das geht mir auch noch so. Immer wenn ich an Vater denke, glaube ich, keinen Halt mehr zu haben.«

»Woran ist er gestorben?«, fragte Georg, erhielt jedoch keine Antwort mehr, denn die Plane des Karrens wurde angehoben. Eisige Luft drang in den Wagen.

»Sarina?«, flüsterte es in die Dunkelheit hinein. »Ich bin es, Sandor.«

»Ja? Wir sind hier.«

»Bauern ziehen vorbei. Seid leise. Sie haben uns bislang nicht bemerkt. Es muss ein ganzes Heer sein. Mindestens fünfhundert Männer. Ich warne die anderen«, sagte er noch, dann fiel die Plane wieder zurück.

Georg erschrak. Er hatte gehört, dass die Bauern aufstanden gegen die Obrigkeit, dass sie Rechte einforderten und sich nicht länger von Fürsten und Herren unterdrücken lassen wollten. Begegnet war er einem solchen Bauernheer noch niemals. Nur manchmal hatte er in der Schmiede des Vaters schimpfenden Nachbarn zugehört, wenn diese sich darüber beschwerten, dass sie zum Herbst hin die Schweine nicht mehr in den Wald treiben dürften oder mit ihren Wagen über Gebühr Fron beim Bau neuer Schlösser zu leisten hätten.

Jetzt war ihm, als marschiere eine Geisterarmee an ihnen vorüber.

»Müssten wir die Bauern draußen nicht warnen?«, kam ihm ein Gedanke.

»Vor wem willst du sie warnen?«, fragte Sarina amüsiert.

»Die Männer, die unsere Schmiede niedergebrannt haben, standen im Dienst des Schwäbischen Bundes. Mit Harnischen und Pferden und Schwertern. Reisläufige, die sich einen Spaß daraus machen, zu plündern, wenn sie nicht Krieg führen dürfen.«

»Reisläufige also. Gekaufte Soldaten. Landsknechte. Glaubst du, ein Heer des Bundes steht in der Nähe?«

Georg sagte nichts dazu. Was hätte er auch sagen sollen? Eben erst war ihm eingefallen, wie die Männer vom Schwäbischen Bund geredet hatten, dem Bund der Fürsten, Geistlichen und Städte gegen die Bauern. Dabei meinten sie sicherlich die Truppen des Schwäbischen Bundes, die vor allem aus Landsknechten bestanden, aus bezahlten Söldnern also, die im Auftrag der Bundesmitglieder gegen die Forderungen der Zwölf Artikel der Memminger Bauern vorgingen.

»Schließlich führt der Schwäbische Bund Krieg gegen die Bauern. Und die Bauern stehen nicht im Unrecht.« Georg genoss die Wärme, die von Sarina ausging. Sie schmiegten sich aneinander, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan. »Es könnte doch sein, dass ein Heer des Bundes den Bauern auflauert«, drängte er noch einmal. »Muss man sie nicht vorwarnen? Ihnen einen Hinweis geben?«

»Wir sind fahrendes Volk«, erklärte Sarina ruhig und bereits ein wenig schläfrig. »Wer sich als Schausteller auf eine Seite schlägt, bezieht von beiden Seiten Prügel. Wir sind niemals unschuldig, wir sind niemals ohne Verdacht. Nein. Wir warnen niemanden. Wir halten uns aus den Streitigkeiten dieser Welt heraus.«

Georgs Erfahrung dieses Tages war eine andere: Man konnte sich nicht aus den Streitigkeiten der Welt heraushalten, wenn man in sie hineingezogen wurde. Seine Eltern hatten schließlich auch mit niemandem Streit gesucht, und dennoch waren sie brutal ermordet worden. Georg brach der Schweiß aus, wenn er daran dachte; wieder schossen ihm Tränen in die Augen, aber diesmal waren es nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch Tränen der Wut über dieses himmelschreiende Unrecht. Ja, sein Vater, seine Mutter und sein Bruder waren friedliche Leute gewesen, aber was war der Lohn für ihre Friedfertigkeit gewesen? Nein, die Zeitläufte interessierten sich nicht dafür, ob man in ihre Wirrungen verwickelt werden wollte oder nicht.

»Dass die Tiere so ruhig sind«, wunderte sich Georg, als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. »Kein Pferd schnaubt, der Esel schreit nicht.«

Sarina gähnte, bevor sie antwortete. »Es sind Schaustellertiere. Sie wissen, sie müssen bei Lärm ruhig sein. Darauf werden sie von klein auf abgerichtet.«

Draußen verebbte das monotone Geräusch des Bauernzuges. Eine bedrückende Stille blieb zurück. Georg konnte nicht mehr schlafen, wollte jedoch nicht aufstehen, und reden wollte er auch nicht. So lag er da und horchte in die Dunkelheit hinein. Sarina lag auf seinem Arm, und ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten ihm an, dass sie wieder in die Arme der Nacht zurückgefunden hatte.

Womöglich wäre er auch wieder eingeschlafen, wenn nicht vor dem Karren ein Rutschen und Tapsen, ein Flüstern und Wispern eingesetzt hätte. Georg horchte angespannt. Was mochte das bedeuten?

»Was haltet ihr von diesem Jungen?« Die Frage wurde von einer Stimme gestellt, die Georg bereits kannte. Es war Sandor, der redete – doch so leise, dass Georg kaum etwas verstand. Die Antworten fielen ebenso leise aus.