Der Seelenjäger - Er wird sie töten - Robert Gregory Browne - E-Book
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Der Seelenjäger - Er wird sie töten E-Book

Robert Gregory Browne

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Beschreibung

Das Haus der Toten: Der harte Psychothriller »Der Seelenjäger – Er wird sie töten« von Robert Gregory Browne jetzt als eBook bei dotbooks. Dieser Anblick lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren ... Die junge FBI-Ermittlerin Anna McBride wird an einen Tatort gerufen, an dem ein Killer mit schrecklicher Brutalität zugeschlagen hat: Wieder und wieder stach er mit dem Messer auf ein junges Paar und dessen Kindermädchen ein. Der kleine Evan, der den Angriff überlebte, ist so traumatisiert, dass er nicht über das Gesehene sprechen kann. Aber die Zeit drängt – denn von seiner Schwester fehlt jede Spur. Gemeinsam mit einem Hypnotiseur versucht Anna, die Erinnerungen des Jungen wachzurufen. Doch je näher sie der Wahrheit kommt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, dass der Mörder es auf jemand ganz anderen abgesehen haben könnte ... »Eine fesselnde Geschichte in rasantem Tempo, gespickt mit unerwarteten Wendungen.« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Seelenjäger – Er wird sie töten« von Robert Gregory Browne, packende Mystery-Spannung die Fans der Bestseller von Michael Robotham und Tess Gerritsen das Fürchten lehren wird! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über dieses Buch:

Dieser Anblick lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren ... Die junge FBI-Ermittlerin Anna McBride wird an einen Tatort gerufen, an dem ein Killer mit schrecklicher Brutalität zugeschlagen hat: Wieder und wieder stach er mit dem Messer auf ein junges Paar und dessen Kindermädchen ein. Der kleine Evan, der den Angriff überlebte, ist so traumatisiert, dass er nicht über das Gesehene sprechen kann. Aber die Zeit drängt – denn von seiner Schwester fehlt jede Spur. Gemeinsam mit einem Hypnotiseur versucht Anna, die Erinnerungen des Jungen wachzurufen. Doch je näher sie der Wahrheit kommt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, dass der Mörder es auf jemand ganz anderen abgesehen haben könnte ...

»Eine fesselnde Geschichte in rasantem Tempo, gespickt mit unerwarteten Wendungen.« Publishers Weekly

Über den Autor:

Robert Gregory Browne wurde 1955 in Baltimore geboren und lebt heute mit seiner Familie in Kalifornien. Nach erfolgreichen Jahren in der Film- und Fernsehbranche entschied er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Heute ist er ist Autor zahlreicher Thriller, die in den Vereinigten Staaten und weltweit veröffentlicht wurden, darunter »Totenkult – Finde die Wahrheit«, der für den ITW-Thriller-Preis nominiert wurde..

Robert Gregory Browne veröffentlichte bei dotbooks bereits »Totenkult – Finde die Wahrheit«, »Devil's Kiss – Dir bleiben 48 Stunden« und »Der Witwer – Klebt ihr Blut an deinen Händen?«.

Die Website des Autors: robertgregorybrowne.com/

Der Autor bei Facebook: facebook.com/RobertGregoryBrowneBestsellingAuthor/

***

eBook-Neuausgabe September 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Kill her again« bei St. Martin’s Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Der Seelenjäger« bei Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2009 by Robert Gregory Browne

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Mark_Kostich, Memen Saputra

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-789-1

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Robert Gregory Browne

Der Seelenjäger – Er wird sie töten

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Heike Holtsch

dotbooks.

Für meine Mutter, die immer Chopin spielte

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GEGENWART

KAPITEL 1

Sie würde sterben.

Instinktiv wusste die Kleine es, obwohl der Mann mit der roten Baseballkappe kein Wort darüber verloren hatte. Es kam ihr vor, als könnte sie sich in seinen Verstand schleichen und dort seine verborgensten Gedanken lesen.

Finstere Gedanken. Gedanken, die um den Tod kreisten.

Der Kleinen war der Tod keineswegs fremd. Mit sechs Jahren hatte sie ihn hautnah erlebt, als Mr. Stinky von einem Bus überfahren wurde. Sie erinnerte sich nur schemenhaft an die Einzelheiten, aber sie wusste noch, dass sie mit Suzie Himmel und Hölle gespielt hatte, während Mr. Stinky in der Einfahrt um sie herumtollte und wie verrückt bellte.

Aus einem unerfindlichen Grund war er plötzlich auf die Straße gelaufen, vielleicht hatte er eine Katze gesehen. Der Bus, der normalerweise jeden Tag um neun Uhr dort vorbeifuhr, hatte sich an jenem Morgen verspätet. Wie aus dem Nichts tauchte er auf, als hätte er es auf Mr. Stinky abgesehen.

Das Mädchen schaute gerade zu, wie Suzie von einem Feld zum nächsten hüpfte. Als es den Bus heranbrausen hörte, blickte es auf, genau in dem Moment, als Mr. Stinky von der vorderen Stoßstange genau am Kopf getroffen wurde. Wie in Zeitlupe wirbelte er durch die Luft, bevor er auf dem Asphalt landete und reglos liegen blieb. Der Busfahrer fuhr einfach weiter.

Schreiend lief das Mädchen auf die Straße, obwohl es wusste, dass seine Mutter es dafür ausschimpfen würde. Mr Stinky glich einem kaputten Stofftier, mit glasigem Blick aus einem Paar Augen, die aussahen wie die beiden schwarzen Knöpfe am Sonntagskleid des Mädchens.

Er blutete nicht, doch unwillkürlich wusste die Kleine, dass Mr. Stinky nicht mehr lebte. Er war tot, für immer, ganz gleich, wie sehr sie ihn auch anflehte, bei ihr zu bleiben. Weinend hielt sie ihn in den Armen. Das war vor vier Jahren gewesen. Aber sie vermisste Mr. Stinky noch immer. Manchmal wünschte sie, er wäre bei ihr, würde seinen Kopf gegen ihren Arm pressen oder eine Pfote auf ihr Knie legen, als Aufforderung, ihn zu streicheln.

Vielleicht ging dieser Wunsch bald in Erfüllung. Möglicherweise wartete Mr. Stinky im Himmel auf sie.

An Hand- und Fußgelenken gefesselt und mit einem Klebestreifen über dem Mund lag sie auf dem Rücksitz des Autos, betrachtete diese schmierige rote Baseballkappe vor sich und fragte sich, wohin der Mann sie bringen würde.

Die Straße war holprig, und anhand der schattenhaften Bäume, die unter dem Abendhimmel an ihr vorbeizogen, schloss sie, dass sie auf dem Weg durch einen Wald waren. Jedoch nicht durch einen lichtdurchfluteten Wald, wie der, in dem sie mit ihren Eltern Camping gemacht hatte, und wo es einen See zum Angeln gab. Nein, eher so ein finsterer wie bei Hänsel und Gretel, ein Wald, in dem kleine Kinder gebraten und aufgefressen wurden.

Das kleine Mädchen hatte schreckliche Bauchschmerzen, so wie an jenem Abend, als es zu viel Zitronenkuchen gegessen hatte. Es wollte sich auf dem Rücksitz übergeben, wollte alles ausspucken. Es wusste genau, dass das Ende nahte. Bald wäre es vorbei.

Wie damals Mr. Stinky würde es bald ...

»He, McBride! Sind Sie wach?«

Anna McBride wandte den Blick vom Seitenfenster ab und sah ihren neuen Partner blinzelnd an. Ted Royer. Seine Stimme klang weit entfernt, als käme sie vom Ende eines langen, dunklen Korridors. Sie kniff die Augen zusammen und rieb sich kurz mit den Händen durchs Gesicht, um wieder klar denken zu können. Tiefes Unbehagen stieg aus ihrer Magengrube auf, während der Korridor breiter wurde und sich schließlich auflöste. Dunkel war es allerdings noch immer, denn es war kurz nach ein Uhr in der Nacht.

»Heißt das ja oder nein?«, fragte Royer.

»Ja«, antwortete Anna und räusperte sich. »Ich war in Gedanken versunken.«

Das entsprach nur der halben Wahrheit. Die andere Hälfte ging über bloßes Nachdenken hinaus und schien weitaus bedrohlicher. Denn Special Agent Anna McBride fürchtete, den Verstand zu verlieren.

»Eins wollen wir von Anfang an klarstellen«, sagte Royer, während er den schwarzen Ford Explorer mit der lässigen Selbstsicherheit eines erfahrenen FBI-Agenten fuhr. »Wenn wir zusammenarbeiten sollen – und genau danach sieht es ja wohl aus –, brauche ich Ihre volle Konzentration. Kriegen Sie das hin?« Er klang ein wenig genervt. Anna wusste, dass sie nicht seine Wunschkandidatin gewesen war. Die Wahl war zufällig auf sie gefallen, und ihr war klar, dass Royer diese Tatsache für keinen glücklichen Zufall hielt. Doch damit konnte sie sich im Moment nicht beschäftigen. Es gab Wichtigeres als ein problematisches Arbeitsverhältnis. Psychische Probleme beispielsweise.

So sehr sie auch versuchte, sich einzureden, dass sie nur für einen Augenblick eingenickt und das gleichmäßige Summen des Motors sie ins Reich der Träume geschickt hatte – tief in ihrem Inneren wusste sie: Es war kein Traum. Fragte sich nur, was war es dann?

»Hallo, McBride! Haben Sie mich verstanden?«

Anna nickte. »Laut und deutlich.«

Royer sah sie prüfend an. »Sie sind doch nicht so eine, oder?«

»Was für eine?«

»So eine Klugscheißerin.« Er richtete den Blick wieder auf die Straße, die sich endlos durch die finstere Einöde zu erstrecken schien, zu beiden Seiten nichts als verdorrtes Gebüsch und Kakteen. Anna kam sich vor wie in einer Mondlandschaft. »Ich sage es Ihnen lieber ohne Umschweife. Ich habe genug von diesen Besserwissern, die so tun, als wären sie besonders schlau, was in der Regel zu Lasten der Ermittlungen geht. Die hören sich selbst nämlich so gern reden, dass sie alles andere aus dem Blick verlieren.«

Anna war versucht, ihn auf das sprichwörtliche Glashaus zu verweisen, doch sie hielt sich zurück und sagte stattdessen: »Da brauchen Sie sich bei mir keine Sorgen zu machen. Keine Klugscheißerei, sondern volle Konzentration.« Was selbstverständlich eine Lüge war. Denn Konzentration war im Moment ganz und gar nicht Annas Stärke.

»Ich will Ihnen nichts vormachen«, fuhr Royer fort. »Die allgemeine Begeisterung darüber, dass Sie unserer Abteilung zugeteilt wurden, hält sich in Grenzen.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

Abermals ein prüfender Seitenblick. »Sehen Sie, da haben wir es wieder: Klugscheißerei. Weshalb hat man Sie eigentlich nicht nach South Dakota verbannt? Für wen mussten Sie die Beine breit machen, um diesen Posten hier zu bekommen?« Anna biss sich auf die Zunge. Was immer sie darauf antwortete, würde Royer noch weiter anstacheln, und eigentlich wünschte sie nur, er würde endlich die Klappe halten. Am liebsten hätte sie ihre 9-mm-Glock gezogen und ihm eine Kugel in den Kopf gejagt, doch einmal mehr widerstand sie der Versuchung. Wie schon so oft seit ihrer ersten Begegnung.

Zwei Tage zuvor war sie in Victorville angekommen – kaum eine Woche nachdem die Ärzte ihr die Diensttauglichkeit bescheinigt hatten, etwas mehr als einen Monat nach dem Desaster im Süden von San Francisco. Nur ungern dachte sie an die Ereignisse jenes Abends zurück. Sie hatte geahnt, dass man sie anschließend zum Sündenbock machen würde, aber so war es ja auch. Alles war ihre Schuld!

Immer wieder zerbrach sie sich den Kopf darüber, doch das war momentan nicht ihre einzige Sorge. Denn als sie in dem abgedunkelten Krankenzimmer wieder zu sich gekommen war – mit einer hässlichen Narbe auf der Wange, die sie auf ewig an ihr Versagen erinnern würde –, hatte es angefangen: Visionen. Träume. Alpträume, die so wirklich schienen, dass sie jede Nacht schweißgebadet aufwachte. Eine Abfolge flüchtiger Gedanken und Bilder, die verschwanden, sobald sie die Augen aufschlug. Von einem kleinen Mädchen in Gefahr, das bald sterben würde.

»Ich hoffe, Sie wissen, wie es läuft«, sagte Royer. »Sobald wir in Ludlow sind, halten Sie einfach den Mund. Die Frage der Zuständigkeit ist ein wenig verzwickt, also überlassen Sie mir das Reden.«

»Ich dachte, man hätte uns angefordert.«

»Hat man auch, aber die Anfrage kam direkt vom Ludlow County Undersheriff. Bei seinen Leuten wird sich die Begeisterung darüber, dass sich das FBI in den Fall einmischt, allerdings eher in Grenzen halten.«

»Ich hatte oft genug mit verärgerten Ortspolizisten zu tun. Damit komme ich schon zurecht.«

»Na klar«, sagte Royer und zeigte auf Annas Narbe, die sich trotz sorgfältigem Make-up nicht verbergen ließ. »Sieht man ja!«

Anna schwieg und warf ihm ihrerseits einen bösen Seitenblick zu, doch Royer war so auf die Straße konzentriert, dass er es nicht bemerkte. Oder etwa doch? Wollte er sie provozieren, damit sie ihm einen Grund lieferte, sie zum Teufel zu schicken?

Die Victorville Resident Agency – eine Außenstelle des FBI in Los Angeles – war alles andere als das Paradies. Trotzdem, eigentlich hatte Royer recht, man hätte sie nach South Dakota versetzen müssen. Einzig und allein der Tatsache, dass ihr Vater gute Beziehungen zum Justizministerium hatte, verdankte Anna es, dass sie in Kalifornien bleiben durfte. Außerdem bezweifelte sie, dass man sie in South Dakota überhaupt gewollt hätte. Wahrscheinlich wollte niemand sie.

»Ich werde den Mund halten«, sagte sie, ohne Royers Unverschämtheiten etwas entgegenzusetzen. Wenn sie sich mit ihm arrangieren wollte, würde sie noch so manche Kröte schlucken müssen. Denn die Karriere, auf die sie ihr Leben lang hingearbeitet hatte, war innerhalb weniger Minuten in Rauch aufgegangen, und sie würde diese zweite Chance nicht aufs Spiel setzen – ganz gleich, wie schwer es ihr auch fallen mochte.

Falscher Stolz war momentan ihr geringstes Problem. Denn die Visionen kamen immer häufiger, mittlerweile auch im Wachzustand. Trotz allem, was die Ärzte ihr für den Leiter der Außenstelle in Victorville bescheinigt hatten, sie wusste, dass sie alles andere als diensttauglich war. Doch bis sie es tatsächlich wieder wäre, musste sie zumindest den Eindruck erwecken.

»Da ist es«, sagte Royer, als in der Ferne die flackernden Lichter von Ludlow in Sicht kamen, einem staubigen Nest mitten in der Mojave-Wüste.

Anne fragte sich, wie man hier nur leben konnte. Was trieb einen in diese öde Abgeschiedenheit und die glühende Hitze? Überall in Kalifornien gab es solche Orte, ohne erkennbare Verbindung zum Rest der Welt. Wer weiß, vielleicht lag gerade darin der Reiz?

»Machen Sie sich auf was gefasst«, sagte Royer. »Man hat mich vorgewarnt, es muss ein grauenhafter Anblick sein.«

Anna kümmerte das nicht. Vielleicht war Grauen genau die Ablenkung, die sie brauchte.

KAPITEL 2

Das Haus war klein, ein verwahrloster Kasten aus verputzten Ziegeln, umgeben von einem niedrigen, abgesackten Holzzaun. Der Vorgarten bestand aus einem Fleckchen staubiger Erde, auf dem nichts wuchs als ein wenig vertrocknetes Unkraut.

Anna hatte stets den Eindruck gehabt, dass bei Nacht alles ein wenig besser aussah. Stilvoller und romantischer. Dieser Ort jedoch hatte rein gar nichts Romantisches an sich, sondern wirkte ebenso trist wie die Umgebung – so trostlos wie die ganze Stadt.

Ein halbes Dutzend Streifenwagen parkte kreuz und quer vor dem Haus, in der Einfahrt stand mit offener Heckklappe der Van der Gerichtsmedizin. Von der anderen Straßenseite aus beobachteten die Nachbarn das Geschehen, junge und alte, dicke und dünne, manche bekleidet, andere halbnackt. Alle hatten sie von der Sonne gegerbte Gesichter, die sie um gut zehn Jahre älter erschienen ließen.

Als Anna aus dem klimatisierten Wagen stieg, schlug ihr sogleich drückende Hitze entgegen. Es war mitten in der Nacht, trotzdem lag die Temperatur noch bei fast 40 Grad Celsius. Es kam ihr vor, als hätte ihr jemand eine Wolldecke um die Schultern gelegt, und sie verspürte das dringliche Bedürfnis, ihre Jacke auszuziehen. Doch Anna nahm sich vor, abzuwarten, bis Royer sein Jackett ablegte. Hoffentlich tat er es bald! Immerhin knöpfte er es auf, bevor er einem der Deputys seine Marke vor die Nase hielt. Dann duckte er sich unter dem Absperrband hindurch und ging auf die offene Haustür zu. Anna folgte ihm. Auf der Veranda kam ihnen ein kräftiger Mann in Westernhemd, Jeans und Cowboystiefeln entgegen.

»Agent Royer?«, fragte er. Weder sein Bariton noch seine Miene verrieten Anzeichen von Feindseligkeit.

Ein wenig überrascht von der Höflichkeit reichte Royer dem Mann die Hand. »Richtig«, antwortete er. »Deputy Worthington?«

Worthington nickte. »Mordkommission. Nennen Sie mich Jake.« Er wandte sich Anna zu, und für einen Moment richtete sich sein Blick auf ihre Narbe, bevor er ihr in die Augen sah. »Und Sie sind ...?«

Ehe sie antworten konnte, fiel Royer ihr ins Wort. »Agent McBride.«

»Willkommen in Ludlow«, sagte Worthington, und Anna ergriff seine ausgestreckte Hand.

Schon immer hatte sie sich unbehaglich gefühlt, wenn sie einem Mann die Hand gab, denn sie wusste nie, wie sie es richtig machen sollte. Drückte sie zu fest, würde es den Eindruck vermitteln, sie wolle beweisen, wie hart sie war. Wäre ihr Händedruck hingegen zu zart, könnte das den Anschein von Schwäche und Antriebslosigkeit erwecken. Es war schwierig, die goldene Mitte zu finden, und sie kam sich in solch einer Situation stets hölzern vor. In diesem Fall jedoch brachte sie die Begrüßung ohne größere Schwierigkeiten hinter sich, denn Worthington verschwendete nicht viel Zeit darauf.

»Ich muss Sie beide vorwarnen, da drinnen erwartet Sie kein schöner Anblick. Einige meiner Leute sind ihr Abendessen bereits wieder los, ich übrigens auch.«

»Wenn es einem nichts mehr ausmacht, sollte man darüber nachdenken, den Beruf zu wechseln«, sagte Anna.

Royer warf ihr einen finsteren Blick zu, Worthington hingegen nickte zustimmend. Er reichte ihnen Latexhandschuhe und sagte: »Gehen wir hinein.«

Royer wartete nicht auf Anna, auf die Idee, ihr den Vortritt zu lassen, wäre er ohnehin nicht gekommen. Für ihn war sie offenbar nichts weiter als ein lästiges Anhängsel, nur zur Schau, ohne weitere Befugnis. Es war Royers Party, und ihr kam die Rolle der kleinen Schwester zu, die den großen Jungs auf die Nerven geht. Ihre einzige Genugtuung bestand darin, dass sich Royer hinsichtlich des Empfangs geirrt hatte, denn Worthington schien höchst erfreut über ihre Anwesenheit.

Einen Moment lang blieb sie vor der Haustür stehen, zog die Handschuhe an und warf einen Blick auf die maroden Häuser entlang der Straße. Auch den Bewohnern dieser Einöde war Gewalt sicher nicht fremd. Die Tatsache, dass sich gegen halb zwei in der Nacht eine solche Menge Schaulustiger versammelt hatte, musste also bedeuten, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war. Anna blieb nichts anderes übrig, als sich selbst ein Bild davon zu machen, und so betrat sie das Haus.

Das Erste, was ihr auffiel, war Blut. Man konnte es gar nicht übersehen, denn es war einfach überall. Aus den Arterien über Möbel und Wände gespritzt. Anstelle der Handschuhe hätte sie vielmehr einen Schutzanzug gebraucht.

Einen Sekundenbruchteil später roch sie es auch. Es war der Geruch, der ihr schon an zu vielen Tatorten in die Nase gestiegen war: Urin und Fäkalien. Etwas, das sowohl im Kino als auch im Fernsehen in der Regel verschwiegen wird. Es kommt nämlich vor, dass Menschen, die einen gewaltsamen Tod erleiden, Blase und Darm entleeren. Ganz gleich, ob Rockstar oder Nobody, häufig findet man sie in einer Lache ihrer eigenen Ausscheidungen vor. Nimmt man den Gestank von Blut und verwesenden Eingeweiden hinzu, weiß man, wie der Tod riecht. Ein Geruch, an den man sich niemals gewöhnt.

Royer und Worthington standen vor einer Leiche, die rechts von ihnen in einem unordentlichen Wohnzimmer lag. Daneben warteten die Assistenten der Gerichtsmedizin mit einem Leichensack.

Das Opfer war weiblich, vielleicht dreißig Jahre alt. Doch das ließ sich nur schwer sagen, denn die Leiche war übel zugerichtet. Wieder und wieder musste der Mörder Gebrauch von seiner Waffe gemacht haben, die offenbar sehr scharf war, da sie tiefe Schnittwunden hinterlassen hatte.

Auch die Sofakissen waren von Blut durchtränkt, man sah genau, wo die Frau gelegen hatte und wahrscheinlich auch getötet worden war. Anna merkte, wie ihr das Stück Hackbraten, dass sie am Abend verschlungen hatte, wieder hochkam. Aber sie riss sich zusammen, denn sie wollte sich vor Royer keine Blöße geben.

Was allerdings gar nicht nötig gewesen wäre, denn als sie sich zu ihm und Worthington gesellte, versetzte ihr Royer trotzdem einen Seitenhieb. »Wo haben Sie denn gesteckt?«, fragte er spöttisch. Doch sie ignorierte seine Bemerkung und sah sich die Leiche an. Augenblicklich überkam sie ein Gefühl der Traurigkeit. Sie kannte diese bedauernswerte Frau nicht und wusste rein gar nichts über sie, aber niemand verdiente es, vor Fremden derart zur Schau gestellt zu werden.

Anna wandte sich an Worthington. »Wer ist die Frau?«

»Rita Fairweather. siebenundzwanzig Jahre alt, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern.« Großer Gott, dachte Anna, sogar ein Jahr jünger als ich. »Sie hat in der Stadt gearbeitet, in einer Bar namens The Well. Dort war sie bis ungefähr elf Uhr.« Worthington wies auf das Blut an den Wänden. »Soweit wir es beurteilen können, war das hier eine überraschend schnelle Attacke, mit der keiner von ihnen gerechnet hat.«

»Keiner von ihnen?«, fragte Royer stirnrunzelnd. Worthington winkte die beiden Agenten hinter sich her, und sie folgten ihm quer durch den Raum in eine schmuddelige kleine Küche. Auf dem abgenutzten Linoleumfußboden lag ein Mann unbestimmbaren Alters inmitten einer Blutlache. Er hatte mehrere Stichwunden in der Brust, zu seinen Füßen stand eine ungeöffnete Getränkedose.

»Einer ihrer Freunde aus der Bar«, sagte Worthington. »John Meacham. Der arme Kerl! Schlechtes Timing für ein Rendezvous.«

Anna fiel etwas am Hals der Leiche auf. Sie bückte sich und stellte fest, dass die Haut leicht gerötet war und im Abstand von etwa einem Zentimeter zwei dunklere Stellen aufwies. »Sieht so aus, als hätte der Mörder einen Elektroschocker benutzt.«

Worthington nickte. »Zu diesem Schluss sind wir ebenfalls gekommen. Genau wissen wir es allerdings erst, nachdem der Pathologe ihn auf dem Tisch hatte.«

Anna stand auf. »Sie sagten, Fairweather hatte Kinder. Wo sind sie jetzt?«

»Tja«, antwortete Worthington, »aus diesem Grund haben wir Sie hinzugezogen.«

Er führte sie durch den Wohnraum zurück bis zu einem engen Flur. Anna hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihr diese Situation bekannt vorkam. Am Ende des Flurs war das Badezimmer, direkt gegenüber befanden sich zwei Schlafzimmer. Worthington ging voraus in das Schlafzimmer auf der linken Seite, wo eine weitere Leiche lag: ein junges Mädchen mit einem Klebestreifen über dem Mund und an Händen und Füßen gefesselt, ebenfalls erstochen.

Ein Bild blitzte vor Annas innerem Auge auf – das kleine Mädchen, das auf die gleiche Art gefesselt und geknebelt auf dem Rücksitz eines Autos lag. Sie kniff die Augen zu, bis das Bild verschwand, und konzentrierte sich mit aller Kraft auf den Raum, der nahezu vollständig ausgefüllt wurde von zwei Betten und einer Parade aus Stofftieren und Action-Figuren. Eins der Betten war mit Bettwäsche der Los Angeles Dodgers bezogen. Die rosafarbene Bettdecke des anderen erinnerte Anna an ihre eigene Kindheit: Motive von My Little Pony.

Rechts stand ein Regal mit einigen Dutzend Kinderbüchern, darunter auch Annas Lieblingslektüre: Unsere kleine Farm. Alice hinter den Spiegeln. Der Zauberer von Oz. Anna musste daran denken, wie oft ihre Mutter abends an ihrem Bett gesessen und ihr vorgelesen hatte, und sie fragte sich, ob auch Rita Fairweather die Gelegenheit dazu gehabt hatte.

Worthington wies auf die Leiche. »Tammy Garrett. Die Babysitterin. Hat an drei Abenden pro Woche auf die Kinder aufgepasst.« Das Mädchen war etwa fünfzehn Jahre alt, allenfalls sechzehn.

»Und die Kinder?«, fragte Anna, obwohl sie sich die Antwort bereits denken konnte.

»Wie gesagt, aus genau diesem Grund sind Sie hier.«

Worthington ging zu dem Nachttisch, der zwischen den beiden Betten stand. Darauf lag eine Digitalkamera. Er drückte auf einen Knopf und reichte Anna den Apparat.

»Evan und Kimberly«, sagte er.

Anna sah sich das Foto auf dem kleinen LCD-Bildschirm an. Es zeigte eine Frau, vermutlich Rita Fairweather, mit einem Jungen und einem Mädchen. Anscheinend waren sie auf einer Kirmes, denn im Hintergrund war ein Riesenrad zu sehen, und direkt hinter ihnen führte ein dunkler Eingang in »DR DEMON’S HAUS DER TAUSEND SPIEGEL«. Ein weiteres Bild erschien vor Annas innerem Auge – zu schnell, als dass sie es hätte erkennen können. Ihr wurde schwindelig, und wieder einmal zweifelte sie an ihrem Verstand. Die beiden Leichen in all dem Blut und den Fäkalien hatten sie nur kurzzeitig davon abgelenkt, dass zurzeit irgendetwas ganz und gar nicht mit ihr stimmte. Sie wartete, bis die Benommenheit nachließ.

»Alles in Ordnung?«, fragte Worthington.

Er musste ihr die Qual vom Gesicht abgelesen haben. »Ja«, antwortete sie. »Mir ist nur ein wenig übel.«

Er nickte und lächelte düster. »Wie Sie schon sagten, wenn es einem nichts mehr ausmacht, sollte man darüber nachdenken, den Beruf zu wechseln.«

Anna brachte ebenfalls ein Lächeln zustande, ganz im Gegensatz zu Royer, der ihr erneut einen finsteren Blick zuwarf. Dann riss er ihr die Kamera aus der Hand und starrte auf das Foto von Rita Fairweather und ihren Kindern.«

»Wo wurde das Bild gemacht?«

»Auf dem Sportplatz der Highschool. Einmal im Jahr ist dort Kirmes. Die diesjährige Kirmes steht sogar noch, das Foto ist also ziemlich aktuell.«

»Ich vermute, die Kinder sind verschwunden?«, fuhr Royer fort.

Das lag wohl auf der Hand.

»Von den beiden fehlt jede Spur«, sagte Worthington. »Da es nicht weit bis Nevada ist, müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass man sie über die Grenze geschafft hat.«

Dessen konnte man sich natürlich nicht sicher sein, aber Worthington war schlau genug gewesen, sich abzusichern, indem er das FBI einschaltete. Die Überschreitung einer Staatsgrenze würde das Verbrechen automatisch zu einem Fall für die Bundesbehörde machen, und darüber hinaus war das Ludlow County Sheriff’s Department zweifellos nicht auf ein Verbrechen dieser Größenordnung vorbereitet. Das erklärte auch, weshalb niemand etwas dagegen hatte, dass sich das FBI einmischte. Man war ganz einfach froh, den Fall abgeben zu können.

»Was ist mit dem Vater?«, fragte Royer. »Lebt er noch?«

»Seit zwei Jahren tot, laut Aussage der Nachbarn.«

»Gibt es eine Lösegeldforderung?«, fragte Anna.

Die Frage schien überflüssig. Wer war noch übrig, um Lösegeld zu zahlen? Und selbst wenn Rita Fairweather noch leben würde, wäre es ihr wohl kaum möglich, eine größere Summe aufzubringen. Doch man konnte nie wissen, ob es nicht einen reichen Verwandten gab, und nach all den Fehlern, die Anna in jüngster Zeit unterlaufen waren, wollte sie möglichst gründlich vorgehen.

»Keinerlei Forderungen«, antwortete Worthington. »Ich vermute, wir haben es mit einem Killer zu tun – aber nicht mit irgendeinem.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Anna.

»Es mag ein wenig verrückt klingen, aber wenn man sich lange genug mit einem Tatort beschäftigt, beginnen die Opfer gewissermaßen zu sprechen.«

»Und was sagen Ihnen diese beiden?«

»Wer immer das getan hat, es war nicht das erste Mal. Der Kerl hatte Übung, und das nicht zu knapp.«

Anna dachte an die Serienmörder, mit denen sie sich damals in Quantico hatte auseinandersetzen müssen. Verrohte Soziopathen, die ihre Opfer gnadenlos gequält hatten, ohne die geringste Spur von Mitgefühl. Es mochte stimmen, dass manche von ihnen zuvor selbst Opfer gewesen waren, doch das erklärte ihr Verhalten lediglich, konnte es jedoch keineswegs entschuldigen. Sollte ihr jemals einer dieser Kerle außerhalb der Mauern eines Stützpunkts über den Weg laufen, würde sie nicht zögern, ihn wegzupusten.

Plötzlich fiel ihr Blick auf die Kamera in Royers Händen. Das Foto war noch immer auf dem Display zu sehen. Es waren jedoch nicht die Kinder, die ihre Aufmerksamkeit erregten, sondern das Spiegelkabinett.

Auf einmal lief eine Bilderfolge vor ihrem inneren Auge ab, als würde ein Karton mit Puzzleteilchen ausgeschüttet – in einer derartigen Geschwindigkeit, dass ihr abermals schwindelig wurde und sie Halt suchend nach Worthingtons Arm greifen musste.

»Was ist los?«, fragte dieser. »Stimmt etwas nicht?«

Sie fand keine Worte, denn die Bilder stürmten weiter auf sie ein – spritzendes Blut, das gefesselte Mädchen, der Mann mit der roten Baseballkappe, vorbeihuschende Schatten von Bäumen, und ein verschnörkeltes Medaillon, das an einem Rückspiegel hing.

Anna wich vor der Kamera zurück und verlor beinahe das Gleichgewicht. Hastig verließ sie den Raum. Sie rannte durch den Flur, durchquerte das Wohnzimmer und eilte nach draußen. Noch im Laufen zog sie die Jacke aus und versuchte verzweifelt, die schrecklichen Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben: eine dunkle Allee, eine weit entfernte Lichtung, ein Koffer voll blutiger Messer.

Mit einer Hand stützte sie sich an der Hauswand ab. Dann endlich verblasste das letzte Bild. Sie schloss die Augen und fragte sich, was mit ihr geschah. War sie tatsächlich dabei, verrückt zu werden?

KAPITEL 3

Was ist denn nur mit Ihnen los, verflucht noch mal?«

Anna saß neben dem Haus an einem alten Gartentisch unter einem zerfledderten Sonnenschirm. Hinter dem niedrigen Holzzaun lag ein unbebautes Grundstück, das an einen Schrottplatz grenzte. Das Mondlicht beleuchtete eine Reihe aufgetürmter Autowracks, Reifen, einzelne Motoren, verrostete Waschmaschinen, Altmetall, alles von einem Maschendrahtzaun umschlossen.

Gäbe es einen Schrottplatz für degradierte FBI-Agenten, hätte sie ganz sicher dorthin gehört, dachte Anna, während sie über den Zaun starrte. Als sie sich umdrehte, sah sie in Royers zorniges Gesicht. Gerade einmal seit vier Stunden arbeitete sie mit ihm zusammen, und schon jetzt war ihr klar, dass diese Partnerschaft unter keinem guten Stern stand. Sobald sie wieder in Victorville waren, würde er wahrscheinlich eine Beschwerde gegen sie einreichen.

»Und?«, fragte er.

»Mir ist schlecht geworden.« Auf keinen Fall wollte sie ihm die Wahrheit sagen. »Ist Ihnen das etwa noch nie an einem Tatort passiert?«

»Noch nie!«, antwortete er. »Und wenn doch, würde ich es mir verdammt noch mal nicht anmerken lassen!«

Wütend funkelte Anna ihn an. »Geht es darum? Macho-Gehabe? Habe ich Sie vielleicht vor dem Deputy blamiert?«

»Ich habe nichts weiter von Ihnen verlangt, als den Mund zu halten und sich zu konzentrieren, aber nicht einmal dazu sind sie in der Lage.« Nun war sein Gesicht rot vor Zorn. »Sie sind eine Schande für das gesamte FBI, ist Ihnen das eigentlich klar? Welch ein Glück, dass man sich auf Daddys Beziehungen verlassen kann!« Anna stieg ebenfalls Röte in die Wangen, allerdings nicht vor Wut, sondern aus Scham.

Wäre sie nach dem Desaster in San Francisco diejenige gewesen, die eine Entscheidung hätte treffen müssen, sie hätte dem politischen Druck standgehalten und dafür gesorgt, dass man sie in die Wüste schickte. Und zwar auf ewig!

Doch Daddy war ein einflussreicher Mann, und das bereits, seit sie denken konnte. Also hatte sie sich in ihrer Verzweiflung an ihn gewandt, damit er verhinderte, dass ihre Karriere vollkommen den Bach hinunterging. Dabei war ihr jedoch klar, dass sie seine Hilfe eigentlich nicht verdiente. Ein Mann war gelähmt und wäre beinahe ums Leben gekommen, weil sie versagt hatte. Sie hatte ihren Partner im Stich gelassen, ebenso wie alle anderen, einschließlich sich selbst. Vielleicht war das der Grund für die seltsamen Visionen und Schwindelanfälle. Möglicherweise trieben ihre eigenen Schuldgefühle sie in den Wahnsinn, quälte sie in den tiefsten Abgründen ihrer Seele ein unbewusstes Bedürfnis nach Strafe.

Aber was hatte es mit diesem kleinen Mädchen auf sich? Weshalb ausgerechnet dieses Szenario? Kannte sie die Kleine?

Von weit entfernt hörte sie Royer sagen: »Sie ignorieren mich ja völlig!« Seine Worte drangen kaum zu ihr durch, und als sie blinzelnd aufblickte, war er bereits auf dem Weg zurück ins Haus. Sie sah nur noch, wie er die Glastür an der Hinterseite des Hauses aufstieß, ärgerlich die Vorhänge zur Seite zog und dahinter verschwand.

Anna wandte sich um und sah zu dem aufgestapelten Schrott. Vielleicht sollte sie einfach über den Zaun klettern und sich zu den anderen Wracks setzen. Ihre Karriere war ohnehin gelaufen. Hinüber. Eine ordentliche Dosis Morphium und dann den Stecker ziehen, Herr Doktor.

Eine Bewegung auf der anderen Seite des freien Grundstücks hielt sie davon ab, weiter in Selbstmitleid zu schwelgen. Gleich neben einem der Schrottstapel war ein Schatten zu sehen. Eine Silhouette, die sich dicht am Boden hielt. Ein Tier? Ein Hofhund vielleicht?

Anna stand auf und ging näher an den Holzzaun heran. Auch die Silhouette bewegte sich, es sah aus, als ob sie ein Stück zurückweichen würde. Das war kein Hund. Denn im selben Moment schien der Mond auf ein Paar verängstigte Augen in einem schmalen Kindergesicht – dem Gesicht eines kleinen Jungen. Trotz der Entfernung war Anna sicher, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, und zwar auf dem Foto, das auf der Kirmes gemacht worden war.

Evan, Rita Fairweathers Sohn.

Anna kletterte über den Holzzaun, lief auf den Jungen zu und rief seinen Namen: »Evan?« Doch das Kind sprang auf und verschwand zwischen zwei Schrottstapeln. Anna rannte hinterher und rief gleichzeitig nach Verstärkung, in der Hoffnung, dass einer von Worthingtons Leuten sie hören würde.

Das freie Grundstück bestand aus zerfurchtem, ausgedörrtem Lehmboden. Es war nicht gerade einfach, sich im schwachen Schein des Mondlichts vorwärtszubewegen, ohne hinzufallen, doch irgendwie schaffte Anna es. Dann nahm sie Anlauf, sprang an den Maschendrahtzaun und schwang sich hinüber. Sie landete unsanft auf der anderen Seite und verstauchte sich dabei den Knöchel, aber sie biss die Zähne zusammen. Als sie nach ihrer Taschenlampe greifen wollte, fiel ihr ein, dass sie sich in der Jacke befand, die sie über der Stuhllehne hatte hängen lassen. Würde sie zurücklaufen, um sie zu holen, wäre der Junge sicher verschwunden, bis sie wieder hier war. Nach kurzem Zögern wagte sie einen Vorstoß in die Dunkelheit und sah sich die rostigen Schrottberge einen nach dem anderen an.

»Evan?«

Keine Antwort.

»Evan, du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin eine Freundin von deiner Mummy.«

Abermals keine Antwort.

Das Mondlicht reichte nicht bis in die Zwischenräume der Schrottberge, so dass die Finsternis dort nahezu undurchdringlich schien. Möglicherweise war Evan gar nicht allein, schoss es Anna plötzlich durch den Kopf. Vielleicht lag der Killer irgendwo auf der Lauer und wartete. Aber worauf? Sie zog die Glock aus dem Holster und nahm sie in beide Hände, den Finger am Abzug. Vorsichtig bewegte sie sich vorwärts und beschloss, nicht noch einmal nach dem Jungen zu rufen. Falls er tatsächlich nicht allein war, wäre es ziemlich unklug, die eigene Position preiszugeben.

Plötzlich hörte sie zu ihrer Rechten ein Geräusch, kaum lauter als das zufällige Knarren von Metall im Wind. Doch Anna glaubte nicht, dass dies ein Zufall war. Sie drehte sich um und ging an einem riesigen Schrotthaufen vorbei, der wohl einmal ein Schulbus gewesen war. Vor ihr lag ein vom Mondlicht beschienener kleiner Platz. Abermals hörte sie das knarrende Geräusch und rannte in die Richtung, aus der es kam. Sie drückte sich in die Schatten und lief außen am Platz entlang, um so wenig wie möglich gesehen zu werden. Als sie die andere Seite erreichte, hörte sie hinter einem Schrottstapel ein deutliches Poltern. Plötzlich huschte der kleine Junge an ihr vorbei, eilte über den Platz und verschwand in der Dunkelheit.

»Evan, warte!«, rief Anna, aber er rannte weiter.

Hastig steckte sie die Glock zurück ins Holster und lief, so schnell sie konnte, hinterher. Schmerz schoss durch ihren Knöchel. Es war nicht ungefährlich, in einem schwer überschaubaren Gelände derart unvorsichtig vorzugehen, doch instinktiv wusste Anna, dass ihr keine Gefahr drohte. Sie war sicher, dass der Junge ganz allein hier draußen war. Allein und verängstigt. Was auch immer er im Haus mit angesehen hatte, sie musste ihn unbedingt einholen und ihm begreiflich machen, dass er nicht mehr allein war und ihm jemand helfen wollte.

»Evan!«, rief sie noch einmal und machte einen weiteren Schritt in der Dunkelheit. Wenn sie doch bloß die Taschenlampe bei sich gehabt hätte!

Plötzlich erstarrte sie. Sie hatte ein Wimmern gehört, ganz in ihrer Nähe. Offenbar hatte sich der Junge verirrt, vielleicht war er in eine Sackgasse zwischen den Schrottbergen geraten, aus der er keinen Ausweg mehr fand. Sie hörte ihn keuchen, es klang rauh und erschöpft – und nach Todesangst.

»Evan? Bist du da? Es ist alles gut, ich will dir nichts tun.«

Allmählich gewöhnten sich Annas Augen an die Dunkelheit, und sie konnte das schmale Gesichtchen erkennen, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. Evan hatte sich in einem kaputten Holzschrank verkrochen, dem eine Tür fehlte, während die andere nur noch an einem Scharnier hing.

Anna hockte sich vor ihn und sagte: »Es ist alles okay, Kleiner. Alles wird ...«

Wütendes Gebell schnitt ihr das Wort ab. Sie fuhr herum und griff nach der Glock. Doch ein Schuss in die Luft ließ sie innehalten. Eine Taschenlampe leuchtete ihr genau ins Gesicht.

»Lassen Sie Ihre Hände verdammt noch mal da, wo sie sind, Missy! Sie wären nicht der erste Eindringling, den ich erschießen müsste.«

KAPITEL 4

Daniel Pope sah sich gerade selbst im Fernsehen zu, als er einen Anruf erhielt. Das tat er öfter. Sich im Fernsehen ansehen. Nicht aus Eitelkeit – das war keine von Popes Schwächen –, sondern aus einem viel einfacheren Grund: Er war der Ansicht, seine Arbeit perfektionieren zu können, wenn er regelmäßig seine Auftritte beurteilte. Und genauso war es. Außerdem gab es derzeit nichts anderes, worauf sich Pope etwas hätte einbilden können. Auf seine Arbeit jedoch war er nach wie vor stolz. Sie gab ihm Halt. Und den hatte Pope dringend nötig.

Bei gedämpftem Licht saß er in seinem Hotelzimmer mit einem Pfeifchen feinstem White Widow und sah sich die Show vom Abend zuvor an – auf einer DVD, wie sie in der Lobby des Casinos für fünfzehn Dollar an Touristen verkauft wurde. Sein Mobiltelefon klingelte. Pope drückte die Pause-Taste der Fernbedienung, angelte das Telefon vom Nachttisch und sah blinzelnd auf das Display. Genau wie er befürchtet hatte. Sharkey.

Vielleicht sollte er einfach warten, bis sich die Mailbox einschaltete. Doch auch so würde er das Unvermeidliche lediglich hinauszögern, denn anschließend wäre er gezwungen, Sharkey zurückzurufen. Und das galt es unter allen Umständen zu vermeiden.

Er starrte das Foto von sich auf dem Bildschirm an, gefangen in einer absurden Haltung, und das auch noch in diesem albernen, schwarz glitzernden Smoking. Er beschloss, seine Garderobe ernsthaft zu überdenken. Diese Kleidung galt bei einer Las-Vegas-Show zwar als unerlässlich, doch er konnte ebenso gut seine Assistentinnen Carmen und Feather in Glitzerklamotten stecken. Die Hälfte der Touristen kam ohnehin nur, um ihnen auf die Titten zu starren.

Seufzend meldete er sich: »Hey, Sharkey, was gibt’s?«

»Du bist um diese Uhrzeit noch wach?«

»Davon musstest du doch wohl ausgehen.«

»Nee, ich hatte mich schon darauf eingestellt, eine Nachricht zu hinterlassen. Aber so ist es mir natürlich lieber. Wenn ich auf eine Mailbox spreche, habe ich immer das Gefühl, ich müsste höflich sein.«

»Dass du dich auch daran halten würdest, kann dir allerdings niemand unterstellen!«

Sharkey ließ ein Bellen hören, das eigentlich ein Lachen sein sollte. »Du bist wirklich ein Witzbold, Danny. Vielleicht solltest du ein bisschen Comedy in deine Show einbauen.«

»Die ist schon komisch genug«, gab Pope zurück.

»Ach ja? Auch auf die Gefahr hin, dass mir da etwas entgangen ist, aber ich finde ein paar Idioten, die auf der Bühne herumhüpfen, nicht besonders lustig.«

»Hast du angerufen, um den Kritiker zu spielen, oder gibt es noch einen anderen Grund für diese Unterhaltung?«

Sharkey schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Troy will dich sehen. Er ist ziemlich sauer.«

»Auf wen?«

»Auf dich natürlich.«

Stoned wie er war, rief sich Pope eine Liste möglicher Fettnäpfchen in sein vernebeltes Gedächtnis, doch ihm fiel nur eine Sache ein.

»Wegen der Sitzung?«

»Bingo. Er glaubt, du hast da vielleicht etwas falsch gemacht. Nicht die richtige Verbindung hergestellt.«

»So läuft das nicht«, erklärte Pope und starrte wieder auf den Bildschirm. Sein Gesicht, in einer Grimasse festgehalten, war ein Spiegelbild dessen, wie er sich in Bezug auf Anderson Troy fühlte: als unbedeutender Clown.

»Ich will gar nicht so tun, als wüsste ich, wie das läuft«, antwortete Sharkey. »Aber ich werde auch nicht dafür bezahlt, es herauszufinden. Troy ist angepisst, und jetzt muss ich zusehen, dass er sich wieder einkriegt. Selbst wenn das bedeutet, dass ich mich mit einem zweitklassigen Bühnenmagier beschäftigen muss.«

»Was soll das denn heißen, Sharkey? Glaubst du etwa nicht an Hypnose?«

»Ich glaube an gar nichts.«

Das klang einleuchtend. Aber was Sharkey glaubte oder nicht, war im Moment nicht Popes größte Sorge. »Troy war also nicht begeistert von unserem kleinen Rendezvous gestern Abend. Und was kann ich dagegen tun?«

»Deinen Hintern in Bewegung setzen und dich schleunigst hierher bemühen.«

Großartig! So etwas hatte Pope um zwei Uhr am Morgen gerade noch gefehlt. »Weshalb das denn? Ich kann auch nichts mehr ändern. Die Vergangenheit ist gelaufen.«

»Du solltest lieber über deine Zukunft nachdenken!«, sagte Sharkey und legte auf.

Der Aufzug in der Appartementanlage des Desert Oasis Casino Hotel war mit Sicherheit der langsamste der Welt. Doch hier draußen war alles ein wenig langsamer, und das kam Pope recht gelegen.

Vierzig Meilen vor der Stadt, als letzte Tank- und Spielgelegenheit vor der Grenze nach Kalifornien, gab sich das Oasis gar nicht erst den Anschein, zum Rummel des »neuen« Las Vegas zu gehören. Das Casino zu betreten war wie eine Zeitreise. Es sah aus wie in den 1970ern, nur ein wenig schäbiger. Der fleckige Teppich mit den zahlreichen Brandlöchern und die verblasste Wandverkleidung waren seit Jahrzehnten nicht erneuert worden, und die Spielautomaten ließen sich ganz einfach knacken. Wenn man an den Glamour des Vegas Strip oder gar an das auf Hochglanz polierte Golden Nugget in Downtown gewöhnt war, bekam man nach dem ersten Blick auf das Oasis augenblicklich das Bedürfnis, zum Desinfektionsmittel zu greifen. Und in Reisebroschüren wurde eine solche Atmosphäre auch noch als Flair angepriesen. Im vierzehnten Stockwerk jedoch war alles anders. Anderson Troys Privatsuite war klinisch rein wie ein desinfiziertes Labor und wirkte ebenso einladend.

Nach der langen Fahrt mit dem Aufzug, noch leicht benebelt von dem mörderischen Gras, das er zuvor geraucht hatte, sah Pope hinab auf den fleckenlosen weißen Teppich. Nicht einmal ein Hauch von Zigarettenasche oder ein Spritzer Bourbon waren darauf zu sehen.

»Guten Morgen, Daniel.«

Pope blickte auf. Arturo, Troys persönlicher Assistent, stand vor der Doppeltür zur Suite, auf dem Boden daneben waren mehrere Paar Schuhe ordentlich aufgereiht.

»Morgen, Arturo.«

Pope kannte den Ablauf und zog seine Slipper aus. Anderson Troy war weder exzentrisch noch hatte er einen übersteigerten Reinlichkeitswahn, er wollte lediglich, dass sein Teppich sauber blieb – insbesondere dann, wenn seine Mitarbeiter oder Besucher aus dem Casino kamen.

Pope hatte ihn einmal gefragt, weshalb er nur den vierzehnten Stock und nicht den gesamten Hotelkomplex hatte renovieren lassen. Troy hatte geantwortet, eine Renovierung könne Leute aus der Umgebung und weniger betuchte Touristen, die immerhin 90 Prozent seiner Besucher ausmachten, abschrecken. »Außerdem«, hatte Troy hinzugefügt, »wäre es viel zu teuer. Und du weißt ja, wie sehr ich am Geld hänge.« Allerdings! Das wusste Pope. Schließlich war sein gegenwärtiger Lebensstil auf diese Tatsache zurückzuführen. Aber er wusste auch, dass der aktuelle Zustand des Oasis es zu dem perfekten Ort für Troys weniger legale Aktivitäten machte. Denn Anderson Troy war kein typischer Casinobetreiber. Eigentlich war er für nichts ein typisches Beispiel – was ihn jedoch nicht weniger gefährlich sein ließ.

Nachdem Pope seine Schuhe zu den anderen in die Reihe gestellt hatte, reichte Arturo ihm ein Paar Einweg-Überschuhe, die Pope gehorsam über seine Socken streifte. Er kam sich vor wie ein kleines Kind beim Zubettgehen, fehlte nur noch der Häschenschlafanzug.

»Geh rein. Du wirst schon erwartet«, erklärte Arturo.

Schlau bemerkt, Watson, hätte Pope beinahe gesagt, doch er hielt sich zurück. Was würde es schon bringen? Arturo war nur ein einfacher Mitarbeiter, der seinen Job machte und gegen niemanden persönlich etwas hatte. Auch dann nicht, wenn er den einen oder anderen umbringen musste.

Also nickte Pope nur und betrat das ihm mittlerweile vertraute Refugium eines der jüngsten Selfmade-Multimillionäre der Welt. Troy hatte den größten Teil seiner Millionen mit DVDs und Videospielen verdient. Was allerdings nicht hieß, dass er sie damals auch entwickelte. Er hackte sich in den Kopierschutz hinein, vervielfältigte sie und verkaufte sie nach Übersee. Und nachdem er die ersten Millionen gemacht hatte, verlegte er sich auf eine Reihe von Internet-Programmen, die ihn für den Rest seines Lebens in den Knast bringen konnten. Vorausgesetzt, er verstand es nicht, anonym zu bleiben. Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten wusste, dass Troy millionenschwer war. Der selbsternannte Gangster Anderson Troy war also eigentlich bloß ein Computerfreak von Anfang dreißig mit ein paar Bodyguards. Und der Bereitschaft, sie einzusetzen, versteht sich.

Als Pope den Raum betrat, saß Troy auf dem Sofa, dessen Grauton genau auf den Rest des in gedämpftem Grau und Weiß gehaltenen Raums abgestimmt war. Über seinen Laptop gebeugt wirkte er in seiner abgeschnittenen Jogginghose und dem verwaschenen T-Shirt, auf dem der Linux-Pinguin neben der Aufschrift »GOT ROOT?« zu sehen war, wie ein Fleck auf dem feinen Sofabezug. Das strähnige Haar hing ihm nach Art eines Möchtegern-Rockstars ins Gesicht, und ohne sich die Mühe zu machen, Pope anzusehen, fragte er: »Schwuchtel?«

Das war das Letzte, womit Pope gerechnet hatte. Also fragte er schlicht: »Was?«

Troy riss sich vom Bildschirm los und sah Pope in die Augen. »Willst du mir etwa weismachen, ich wäre einmal eine Schwuchtel gewesen? Ein Homo?«

»Ich glaube, der politisch korrekte Ausdruck lautet ›schwul‹«, sagte Pope.

»Ist mir egal, wie du es beschönigst. Dieser Nigel Fromme, von dem du erzählt hast! Ich habe ihn gerade gegoogelt und bin auf ein paar äußerst beunruhigende Informationen gestoßen. Er war Künstler, einer der angesagtesten Maler seiner Zeit.«

»Und was stimmt daran nicht?«

»Nichts«, antwortete Troy. »Was mir Sorgen macht, ist seine sexuelle Orientierung.«

»Dann war er also schwul?«

»Schwuler als ein Eimer Schmetterlinge.«

»Und? Was bedeutet das?«

»Was das bedeutet?« Troy klappte den Laptop zu und erhob sich. Er war groß wie ein Basketballspieler. »Jetzt will ich dir einmal etwas erklären, Daniel. Ich komme aus einer Familie, die aus Generationen schießwütiger Schwulenhasser besteht. Ich persönlich denke ein wenig liberaler, und es interessiert mich nicht, wer mit wem ins Bett steigt. Wenn ein Typ einen anderen flachlegt, bitte sehr, von mir aus kann er es auch mit einer Wüstenspringmaus treiben. Was auch immer in den eigenen vier Wänden geschieht, ist mir gleichgültig. Aber tut mir den Gefallen und seht zu, dass das auch so bleibt. Ich stehe nämlich nicht auf euch, es sei denn, ihr wärt Blondinen mit Riesentitten, bei denen keine Überraschung zwischen den Beinen hängt.«

Er ging einige Schritte auf Pope zu. »Sollte sich also herausstellen, dass dieser Nigel Fromme eine richtige Tunte war, dann wirst du wohl meine Sorge verstehen.«

»Eigentlich nicht.«

Troy seufzte. »Wenn ich all dieses Zeug, womit du mich gefüttert hast, glauben soll, über frühere Leben –«

»Gefüttert?«

»- dann muss ich doch davon ausgehen, dass meine Seele früher in Nigel Frommes Körper steckte, oder?«

»Theoretisch ja«, sagte Pope achselzuckend.

Unter Hypnotiseuren war man seit langem geteilter Meinung über das Thema Rückführungstherapie. War tatsächlich etwas Wahres daran? Oder handelte es sich, wie Popes Großvater immer gesagt hatte, um Humbug? Manche hielten sogar die einfache Rückführung in die Kindheit für Unsinn, für nichts weiter als das Zusammenwirken von Erinnerung und Fantasie. Doch Popes Ansicht nach bedeutete das nicht zwingend, dass eine solche Therapie vollkommen nutzlos war. Erinnerung und Fantasie offenbarten eine Menge über einen Menschen. Und nur fürs Protokoll, schließlich hatte Troy selbst das Thema Reinkarnation zur Sprache gebracht, nachdem er einen Artikel darüber im Internet gelesen hatte. Popes persönliche Ansicht war vollkommen unerheblich. Ihn kümmerte das Ganze nämlich nicht im Geringsten.

»Wenn dieser Nigel tatsächlich vom anderen Ufer war«, fuhr Troy fort, »dann gilt das doch auch für meine Seele, oder? Und genau diese Seele wohnt nun in dem Körper vor dir, hier und jetzt.« Pope hielt es für angebracht, nichts auf Troys Ausführungen zu erwidern. »Mit anderen Worten: Du willst mir einreden, ich wäre eine Schwuchtel!«

Pope starrte ihn verwundert an. Sollte das ein Witz sein? Wollte sich Troy über ihn lustig machen? Vielleicht stand Sharkey gerade hinter der Küchentür und lachte sich kaputt.

Doch das schien unwahrscheinlich. Troy war einfach nicht der Typ, der sich solch einen Scherz erlaubte. Computerfreak hin oder her, wenn er sich über etwas ärgerte, wurde er unberechenbar.

»Ich will dir gar nichts einreden«, sagte Pope. »So läuft das nicht.«

»Oh? Wie läuft es denn dann? So wie ich das sehe, bin ich nämlich entweder eine Schwuchtel oder du hast einen Fehler gemacht. Also, such dir eins von beidem aus.«

Plötzlich herrschte eisige Kälte im Raum. Pope war nicht sicher, ob es lediglich Einbildung oder tatsächlich so war. Er spürte jemanden hinter sich, und als er sich umdrehte, stand Arturo seelenruhig in der Tür. Kein gutes Zeichen.

Am vorigen Abend war aus einer halbbekifften Unterhaltung während einer nächtlichen Pokerpartie eine spontane Hypnosesitzung geworden, die einen ziemlich beleidigten und gefährlich wütenden Anderson Troy hinterlassen hatte. Und der Einzige, den Troy dafür verantwortlich machen konnte, war derjenige, der ihm die Nachricht aus seinem Unterbewusstsein überbracht hatte: der Hypnotiseur, der Troy in Trance versetzte.

Und das war Pope, der Star der groß aufgemachten Show im Desert Oasis Casino Hotel: Metamorphose. Für die zwanzig Dollar gab es sogar einen Drink dazu. Rabattcoupons waren in der Lobby erhältlich.

»Weißt du«, sagte Pope und zeigte Troy sein strahlendstes Bühnenlächeln, das sicher noch überzeugender gewesen wäre, wenn er seinen Glitzersmoking getragen hätte. »Wir reden hier nicht über eine exakte Wissenschaft. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, die falsche Verbindung hergestellt. Wenn du willst, können wir es noch einmal versuchen.«

Troy nickte Arturo zu. Dieser antwortete ebenfalls mit einem Kopfnicken und verließ den Raum.

»Schön, dass du es auch so siehst, Daniel. Das erspart mir die Mühe, schon wieder einen neuen Teppich legen zu lassen.«

KAPITEL 5

Der Junge konnte sich an nichts erinnern.