Der Skalde, der nicht singen konnte - U. T. Augstein - E-Book

Der Skalde, der nicht singen konnte E-Book

U. T. Augstein

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Beschreibung

Der wandernde Dichter Pantanon Rabensang träumt von der einen Geschichte, die ihm Ruhm und Unsterblichkeit bringt. Eine uralte Karte scheint ihm den Weg zu dem sagenumwobenen Skaldskringla zu weisen - dem Kreis der Skalden. Doch bevor er seine Suche beginnen kann, landet er zusammen mit einem geflüchteten Regenten, einem Elfen und einem Krieger unschuldig im Kerker. Als die Gelehrte Gyburc, die den Wandel der Welt voraussieht, die Gefährten befreit, begreifen sie, dass ihre Schicksale eng miteinander verwoben sind. Alte Mächte erwachen, und die Magie kehrt nach langem Schlaf zurück ... mit ungeahnten Konsequenzen. Mit einer Erzählweise, die die Grenzen von Zeit und Raum sprengt, ist Der Skalde, der nicht singen konnte nicht nur ein modernes Epos über Magie, Freundschaft und die Kunst, Geschichten zu schreiben, sondern auch der Auftakt der Sage rund um den Skaldskringla. Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Malte Janßen.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Welt des Pantanon Rabensang Teil 2: Seite 11

„Na, und?!?“

(Der Skalde Pantanon Rabensang auf die Zwischenfrage eines Zuhörers, weshalb Helden eigentlich immer Richtung Norden reisen.)

Figurenverzeichnis

Alyzia: Mädchen aus dem Kerker von Oransche

Aranon: Wache auf Oransche

Boumfrosk: Patro von Oransche

Brandub: Krähenvogel, wird von Pantanon Rabensang adoptiert

Canliun: hilfsbereiter Zwerg mit einer gewöhnungsbedürftige Leibspeise

Cattus: treuer Hund und Weggefährte von Haropin Thundra

Demon Munsurel: Freund und Kampfgefährte von Regjag Thundra

Der Königliche Hofheiler: wohnt in Zinamonin und spricht ohne Unterlass

Der Ormalier: eine wahre Wurmzunge

Ethe Pana: gelehrte Frau, wohnhaft in Ormalien

Grâve: geheimnisvoller kleiner Junge

Gyburc: Gelehrte aus dem Mondenland, die an Prophezeiungen glaubt

Haropin Thundra: Vater von Regjag Thundra und Verwalter vom Land

Tandarnas

Johannus: Wirt der Taverne am Barnard-Pass

Joohip: Wache auf Oransche

Jozeranz Jericop: Weltlicher Regent und Menschenfreund

Koningert: Bibliothekar auf Oransche, keineswegs auf Abenteuer erpicht

Ligenmaredi: das Pferd von Demon Munsurel

Naroclyn Norun: aufbrausender Elf mit ausgeprägtem Familiensinn

Magnussen: der Große Patro, Geistiger Regent und kein Menschenfreund

Marrog: ein Dunkling

Oonezinn: rechte Hand Magnussens und ausgesprochener Karrieretyp

Pantanon Rabensang: Aka Panonius Raspanus aka Pantanon Rapanson,

versucht sein Glück als fahrender Dichter

Regjag Thundra: Sohn von Haropin Thundra

Sattembrack: intriganter Bewohner des Landes Tandarnas

Schmelling: Ein Schmied, den so schnell nichts umhaut – schon gar nicht

Wein

Smaranda: kleines Mädchen mit großem Mut, wohnhaft in Oransche

Volatin: das Pferd von Regjag Thundra

und andere …

Inhaltsverzeichnis

Figurenverzeichnis

Kapitel 1 – Schlachtengeplänkel

Kapitel 2 – Der Platz der Mitte

Kapitel 3 – Am Abend vor dem Aufbruch

Kapitel 4 – Verschwörungen

Kapitel 5 – Veränderungen

Kapitel 6 – Von Boten, Barden und anderen seltsamen Geschöpfen

Kapitel 7 – Entdeckungen

Kapitel 8 – Jozeranz Jericop in Gefahr

Kapitel 9 – Gefangene

Kapitel 10 – Verwandte

Kapitel 11 – Botschaften

Kapitel 12 – Grâve

Kapitel 13 – Fluchtprobleme

Kapitel 14 – Retter in der Not

Kapitel 15 – Ein nächtliches Gespräch

Kapitel 16 – In der Taverne

Kapitel 17 – Der Tag danach

Kapitel 18 – Treffen

Kapitel 19 – Ein Traum

Kapitel 20 – Unerwartete Hilfe

Kapitel 21 – Freundschaftszauber

Kapitel 22 – Sternrosen

Kapitel 23 – Ethe Pana

Kapitel 24 – Vergessene Mächte

Kapitel 25 – Abschied

Die Welt des Pantanon Rabensang

In Krieg und Schlacht regiert der Tod,

es knirscht und kracht, das Blut fließt rot.

R. T.

Kapitel 1 – Schlachtengeplänkel

Der Boden war blutdurchtränkt, halb Mondenland ein Ort des Verderbens. Davon einmal abgesehen war es ein schöner Tag.

Der Himmel über Alischanz hatte die Farbe eines strahlenden Saphirs, die Sonne der fremden Hemisphäre glühte tiefrot, die glänzenden Kuppeln der goldenen Türme in der Ferne reflektierten die seidenen Wolkenspiele des Himmels. Für gewöhnlich war die Luft durchdrungen vom salzigen Geruch des Meeres, dessen sprühende Gischt in dem trockenen Klima dieses Landes den einfallenden Kriegern köstliche Labsal versprach, und manchmal wehte ein Hauch fremder, süßer Düfte, gleich dem schweren Parfüm einer schönen Frau, zu ihnen herüber.

Heute aber, am dritten Tag der Schlacht gegen Terramers gottlose Heerscharen, erfüllte aufwirbelnder Staub die hitzeflirrende Luft über dem Kampfplatz. Kein Wohlgeruch schönte den Gestank von dünstendem Schweiß und geronnenem Blut. Seit der Morgendämmerung waren die Schreie sterbender Menschen und Pferde, das Klirren der aufeinander treffenden Waffen, das dumpfe Stampfen der Hufe, das Rasseln der Rüstungen und die gebrüllten Befehle der Kriegsherren das Einzige, was er vernahm. Nachdem er einem weiteren Gegner das Schwert ins Herz gestoßen hatte, wandte er für einen kurzen Moment seinen Blick gen Himmel.

„Ein Feind Eures himmlischen Königreiches ist vernichtet! Mögen ihm heute noch Hunderte folgen!“, stieß er angestrengt atmend hervor

„Nicht schlecht, Regjag!“ Demon drehte sich herum und köpfte mit einem schwungvollen Schlag vier Männer, die den tödlichen Fehler begingen, ihn anzugreifen. „Doch glaube ich in aller Bescheidenheit, dass ich heute mehr der Verfluchten niederstrecken werde, als es dir jemals vergönnt sein wird!“

„Dein Ruhm wird sich vermehren und der Name Munsurel in aller Munde sein!“, erwiderte Regjag lächelnd und stieß mit seinem Schwert zur Seite, um sich eines Angreifers zu entledigen, der brüllend mit gezogenem Krummsäbel auf ihn zustürmte, um geradewegs in die tödliche Schneide seines Feindes zu stürzen. „Doch auch ich hoffe, erfolgreich diesen Tag zu überstehen und zahlreiche Gottesfeinde niederzustrecken!“ Während er sprach, spürte er den scharfen Windzug eines feindliches Pfeils, der seinen Kopf soeben um eine Fingerbreite verfehlt hatte.

„Pah, Feiglinge, elende!“, knurrte er und versuchte, den unglückseligen Bogenschützen inmitten des Kampfgetümmels ausfindig zu machen, als ein heiseres Röcheln zu seiner Rechten seinen Blick auf sich lenkte.

„Demon!“, rief er aus.

Inmitten der Leichen und reglosen Pferdekörper sah er den zusammengesunkenen Gefährten. Ohne auf das Kampfgeschehen zu achten, eilte Regjag zu ihm und tötete dabei drei heidnische Berserker, die ihm, dem Anführer der Angreifer, nach dem Leben trachteten. Noch bevor sie ihre markerschütternden Schreie zu Ende bringen konnten, durchtrennte das blutverschmierte Schwert Regjags ihre Kehlen. Lautlos sanken sie zusammen, ohne dass er sie eines Blickes würdigte.

„Demon!“ Als er sich über den getroffenen Freund beugte und mit seiner kriegsgepanzerten Hand dessen Kopf zur Seite drehte, erkannte er, dass jede Hilfe zu spät kam. Der Pfeil, der ihn verfehlt hatte, war in Demons ungeschützten Hals gedrungen. Der einzige Erbe der Munsurels keuchte, die Augen weit aufgerissen.

„Regjag“, flüsterte er heiser, und Blut floss gurgelnd aus seinem Mund.

„Ruhig, mein Freund, ruhig.“ Hilflos sah Regjag ihn an. „Ich werde dich in Sicherheit bringen und dafür sorgen, dass deine Wunde versorgt wird“, fuhr er fort und hoffte, dass sein Blick nicht seine Worte Lügen strafte.

Der Pfeil hatte, daran gab es keinen Zweifel, eine todbringende Verletzung verursacht, und in wenigen Augenblicken würde der tapfere Streiter des Gottes ruhmvoll in das Ferne Reich eintreten.

„Reg…jag“, raunte der Verwundete abermals und stöhnte qualvoll auf, „bring … es … zu … Ende …“ Der kräftige Körper zuckte zusammen, der Glanz seiner Augen brach und mit dem letzten Atemzug entwich ein wimmernder Laut, dessen Klang Regjags Herz nach all den Jahren des Krieges endlich zum Leben erweckte.

Er kauerte im Nichts, von Bedeutungslosigkeit umgeben.

Weder die Schreie der Schlachtenstreiter noch der Geruch von Tod, Schweiß und Blut oder der Anblick des fremden Himmels, auch nicht der reibende Sand auf seiner Haut vermochten ihn zu berühren.

Er gedachte des Weges, den sie gemeinsam seit ihren Kindertagen gegangen waren. Heiter und wagemutig, vollkommene Krieger, das Erbe verteidigend, begehrt von schönen Frauen, umworben auf Turnieren, von Neidern mit missgünstigen Blicken bedacht.

Bereit, dem Aufruf zur Verteidigung des Reiches gegen die Heiden im Mondenland Folge zu leisten.

Der Wind aus der Ferne hatte Abenteuer, Reichtum und Ruhm verheißen und war bis in die Kemenaten der adeligen Gemächer gedrungen. Das Reich eines Gottes wartete mit offenen Pforten auf den ruhmreich Gefallenen und Ehrerbietung der Daheimgebliebenen auf den Überlebenden.

Leere beschlich den jungen Thundra, und er fand sich wieder, umgeben vom Kampf auf Leben und Tod.

Er erwachte aus seiner Starre und schloss dem toten Freund sanft die Augen.

Er erhob sich langsam und trotzte den feindlichen Waffen.

Er stieß sein Schwert vor sich in den Boden, griff mit beiden Händen nach seinem kunstvoll verzierten Helm und schleuderte ihn weit von sich fort.

Schweißdurchtränktes dunkles Haar fiel auf seine Schultern, und mit einem entsetzlichen Brüllen umfasste er den die gleißende Sonne widerspiegelnden Griff seiner Waffe.

Das grelle Sonnenlicht brannte auf seiner Haut, er öffnete den ausgetrockneten Mund, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer unmenschlichen Grimasse.

Sein Brustkorb blähte sich auf, bis er anderthalb Mal so mächtig wie zuvor war.

Seine Muskeln spannten sich, von übermenschlicher Stärke durchflutet.

Seine blassblauen Augen trübten sich und begannen rötlich zu glänzen.

Das Blau des Himmels verflüchtigte sich, an seine Stelle trat ein eisiges, farbloses Flirren, das sich mit der Kälte tödlich ausgeführter Schwertstreiche ausbreitete.

Der Sand unter seinen Füßen schmolz.

Die Luft war erfüllt von dem unheimlichen Schrei, der seinem Mund entwich, und die Erde zum Beben brachte.

Die Klinge seines blutigen Schwertes, zur Hälfte in den steinharten Wüstenboden getrieben, verfärbte sich schwarz, und Stille breitete sich aus.

Die Heiden und ihre Feinde hielten inne.

Aller Blicke wendeten sich dem Manne zu, den sie als den furchtlosen Heeresführer Regjag Thundra kannten. Die einen fielen auf die Knie und schlugen hastig mit den Händen heilige Zeichen in die Luft, andere erhoben Hilfe suchend ihre Arme und murmelten angsterfüllte Gebete.

Wer in diesem Moment, so wie Gyburc, in der am Horizont gelegenen Stadt einen Blick über die schützenden Mauern auf das Schlachtfeld warf, konnte eine dunkle Wolke sehen, die, von silbrigen Blitzen durchfahren, aus dem Nichts entsprungen am Himmel über der Ebene von Alischanz zum Stillstand kam. Die Pferde scheuten, wieherten angsterfüllt und flüchteten mit donnerndem Hufschlag vor den seltsamen Phänomenen, welche die kämpfenden Menschen zum Verharren gebracht hatten.

Das markerschütternde Brüllen Regjags endete, das Beben der Erde verstummte, und er räusperte sich. Er begann zu sprechen, und seine Stimme war weithin über die Ebene zu hören.

„Ich glaube“, sagte er.

Ein Schaudern erfasste alle, die ihn sehen und verstehen konnten, angesichts dieser bedeutungsvollen Worte.

„Ich glaube“, wiederholte er, und sein durchdringender Blick schweifte über die auf dem Schlachtfeld Versammelten, bevor er den Satz beendete. „Ich habe keine Lust mehr.“

Und Regjag Thundra, großer Held, Streiter der Ehrbaren und Bezwinger zahlloser Ungläubiger, Hoffnung des ehrwürdigen Geschlechts der Thundras und Stolz seiner tandarnischen Gemeinde, trat unbeholfen gegen das Schwert, das vor ihm im Boden steckte. Die Waffe zerbrach in unzählige Stücke, als bestünde sie aus sprödem Eis.

In der Ferne, auf den Mauern der Stadt, saß Gyburc, ließ das Fernrohr sinken und die Beine baumeln.

Sie lächelte.

***

Die Welt des Pantanon Rabensang Teil 1: Seite 5

Ein Bösewicht den Plan ersinnt,

der Held sei nicht mehr Gottes Kind.

R. T.

Kapitel 2 – Der Platz der Mitte

„Das ist ja furchtbar!“ „In der Tat, Patro, es ist entsetzlich.“ „Wie viele sind Zeugen dieser unangenehmen Angelegenheit geworden?“

„Ungefähr achthundert unserer Soldaten und schätzungsweise doppelt so viele von den heidnischen Feinden.“

„Heiden zählen nicht, Pappendinner!“

„Selbstverständlich nicht, Patro.“

„Trotzdem, achthundert unserer Männer sind verdammt, oh, ich meine, sind natürlich sehr viele. Und sehr vielen schenkt das gemeine Volk eher Glauben als einem Einzelnen.“

„Natürlich, Patro.“

Der Patro dachte angestrengt nach. Immer wenn er dies tat, floh er hinaus in den schönen Park des Tempels von Oransche. Dann pflegte er solange durch die Grünanlagen zu spazieren, bis Ordnung in seine Gedanken eingekehrt war.

Kurz nach der Mittagszeit hatte man ihm die unerfreulichen Nachrichten vom Scheitern des Eroberungszuges und des verwerflichen Verhaltens Regjag Thundras überbracht. Die verbliebenen Teilnehmer der Eroberungsmission wurden nicht vor dem nächsten Mondwechsel zurückerwartet.

„Lass mich noch einmal zusammenfassen, was du berichtet hast: Die Schlacht ist verloren, weil die Ungläubigen in der Überzahl waren und unsere Truppen aufgerieben wurden.“

„Gerieben, ja, das trifft es ziemlich gut, Patro! Die Mondenländer sind nicht einfach zu besiegen. Sie verfügen über eine unerschöpfliche Quelle neuer Krieger. Ihr, äh, unser Land ist groß, ebenso der Heiden Zahl.“

„Jaja, ich weiß, verd…, hm, sehr ärgerlich das Ganze. Außerdem haben sie sich bestimmt frevlerischen Zauberwerks bedient. Trotzdem, die Verluste sind verschmerzbar.“

„Es haben ungefähr achthundert von sechstausend Männern überlebt, Patro. Die Angehörigen werden betrübt sein, da es sich diesmal um einen ziemlich sicheren Eroberungsfeldzug hätte handeln sollen, Euren eigenen Worten zufolge …“

„Ich weiß selber, was ich gesagt habe, Pappendinner. Die Angehörigen sollen nicht immer so wehleidig tun. Immerhin sind die Ritter im Zuge der Verteidigung des rechtmäßigen Reiches gestorben und haben nun einen ehrenvollen Platz an der Seite unseres Gottes inne. Was gibt es wohl Erstrebenswerteres?“

„Sicher nichts, Patro, sicher nichts.“

„Wie ich schon sagte, übrigens, unterbrich mich übrigens nicht immer Pappendinner, ich verliere ja vollkommen den Faden!“

„Sehr wohl, Patro, verzeiht mir.“

„Schon gut, schon gut. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, achthundert überlebten, unter ihnen bedauerlicherweise der unglückliche Thundra.“

„Sehr unglücklich, Patro. Er verlor seinen guten Freund, Ihr kennt dessen Vater bestimmt, es handelt sich um den jungen Munsurel und …“

„Pappendinner!“

„Ähm, sehr wohl, verzeiht Patro, ich bemühe mich von nun an, meine Zunge im Zaum zu halten.“

„Sehr schön. Sonst werde ich unseren Kerkermeister fragen müssen, ob er dir in dieser Angelegenheit behilflich sein kann. Wo war ich doch gleich stehengeblieben?“

„Äh, bei einigen Tausend unserer Krieger, die jetzt ehrenvoll im Fernen Reich an einer Tafel mit dem Gott speisen.“

„Ja, hm, nein, unglücklich nur, die Sache mit Thundra, dass sie sich nicht von alleine erledigt hat.“

Patro Boumfrosk nagte gedankenverloren an der Unterlippe, eine Angewohnheit aus seiner Studienzeit, derer er sich offensichtlich nicht bewusst war, denn in solchen Augenblicken ähnelte er stark einem tandarnischen Wiesel, das sich an einer runzligen Manschmarane zu schaffen macht.

Sie erreichten das Zentrum der klösterlichen Parkanlage, in der das Wasser eines Springbrunnens munter vor sich hin sprudelte. Boumfrosk verharrte und betrachtete verwundert die Konstruktion, als ob er sich fragte, wie sie plötzlich hierher gelangt war. Obwohl er schon seit langem seinen Dienst in dem Tempel von Oransche versah, hatte er sich noch nicht an dieses eigenartige Bauwerk in der Mitte des Parks gewöhnen können. Wie so häufig, wenn er diesen Ort aufsuchte, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit ab.

Er erinnerte sich gut an jenen sonnigen Frühjahrstag, an dem ihn sein Vorgänger durch die prachtvolle Anlage geführt hatte. Unbefangen plaudernd waren sie damals über geharkte Steinwege geschlendert, zu deren Seiten gepflegte Büsche und Obstbäume wuchsen, von denen Boumfrosk sofort angetan war: Er träumte bereits von gebackenem Apfelkuchen und Pflaumenkompott mit frischem Rahm, zweien seiner zahlreichen kulinarischen Vorlieben, denen die Übernahme des neuen Amtes zweifellos sehr förderlich sein würde.

Auf dem Platz der Mitte, wie dieser Teil des Parks genannt wurde, erhob sich jedoch das scheußlichste Monument, das Boumfrosk je unter die Augen gekommen war.

Es drohte, die Aufnahmefähigkeit seines Verstandes zu überlasten.

Es kniff in seine Nase und verursachte ein Gefühl in den Zähnen, vergleichbar mit der Empfindung, die man haben mag, bricht man sich auf einer Schiefertafel einen Fingernagel ab.

Trotzdem konnte Jereminus Boumfrosk nicht aufhören, darauf zu starren, denn es hatte etwas an sich, das ihn dazu zwang.

Ein riesiges Monument, konstruiert aus schwarzem Felsgestein, bot sich seinen Blicken dar. Das kreisrunde Wasserbecken wurde aus einem Brunnenschacht in seiner Mitte gespeist, aus dem unablässig Wasser quoll, das über die steinernen Ränder rann und im Erdreich versickerte, ohne den Boden aufzuweichen. Den Zulauf umgab ein großer schwarzer Fels, auf dem einige eiförmige Gebilde lagen.

Boumfrosks Versuche, diese Eier zu zählen, waren bisher immer fehlgeschlagen. Seine Augen verloren den Anhaltspunkt und sein Verstand die Übersicht, während sein Blick auf der Suche nach dem Ei, bei welchem er mit der Zählung begonnen hatte, umherirrte. Nichtsdestotrotz ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, das Rätsel um die Anzahl der steinernen Gebilde zu lösen.

Eines der Steineier war zerbrochen, und darauf ruhte ein gepanzerter Stiefel. Dieser gehörte einem Ritter, der in stolzer Siegerpose einen imposanten Zweihänder einhändig in den Himmel streckte. Mit der freien Hand stützte er sich lässig auf den muskulösen Oberschenkel seines angewinkelten Beines ab. Hinter dem Rücken des siegreichen Kriegers befand sich die Statue eines Drachens, der einen großen Teil des Platzes mit seinen ausgebreiteten Schwingen überschattete. Er streckte seinen langen Hals, um den eine schwere Kette geschlungen war, über die Schulter des Ritters und betrachtete dessen Werk. Die beiden armähnlichen Gliedmaße nach vorne ausgestreckt, die Hinterläufe dicht an den biegsamen Körper geschmiegt, schwebte das dreigehörnte Drachenabbild über dem Boden, gehalten von der mit dem Felsgestein verschmolzenen Kette um seinen Hals.

Da niemand das Geheimnis des schwebenden Steindrachens zu lösen imstande war, vermuteten die Tempelvorsteher in früheren Zeiten ein Werk des Bösen, und man hatte des Öfteren versucht, die Brunnenanlage zu zerstören.

Dem harten Gestein war jedoch weder mit Hacken noch mit Gebeten und Beschwörungen beizukommen, weswegen die Fronarbeiter zurück auf die Felder geschickt wurden. Schließlich gelangte man zu dem Schluss, dass es sich um ein Mahnmal des Gottes handeln musste, das den Gläubigen gebot, furchtlos bei der Verteidigung des Reiches mitzuwirken.

Über die Skulpturen rann beständig Wasser, und niemand wusste, wo die Quelle des Zulaufs lag. Weder Schnecken noch Moos noch sonst etwas Lebendiges fanden sich jemals auf dem dunklen Stein. Selbst in den heißesten Sommern versiegte das Wasser nie, doch keine Menschenseele war verwegen genug, davon zu trinken.

Obwohl von der Sorge um seine Zunge zutiefst bewegt, hielt Pappendinner es irgendwann für angemessen, nach den weiteren Gedankengängen Patro Boumfrosks zu forschen, der seit dem Erreichen des Brunnens stehengeblieben war und geschwiegen hatte.

„Zeit und Raum, in Bedeutungslosigkeit versunken“, bemerkte Pappendinner und war selbst überrascht von seinen Worten.

„Hm?“ Verärgert musterte Boumfrosk seinen Untergebenen. „Was plapperst du da? Mich dünkt, du sprichst im Fieber, Pappendinner!“

„Wie? Was? Oh, ich weiß gar nicht, was ich eben gesagt habe, Patro. Äh, was habe ich denn gesagt?“

„Ach, geh, Pappendinner, ich habe kein Wort davon verstanden. Vielleicht sollte ich darüber nachdenken, dich zu ersetzen!“ Boumfrosks Augen glitzerten mit einem Mal fröhlich. „Das Alter, mein lieber Pappendinner, es macht schließlich auch vor dir nicht Halt …“

Pappendinner war von Beruf Untergebener und deswegen nicht schwer von Begriff. Vor seinem inneren Auge sah er bereits die Spielzeuge des Kerkermeisters. Und in gefährlichster Nähe derselben einige seiner Körperteile, die er gerne noch für ein Weilchen behalten hätte. Er räusperte sich und sagte, ohne dass er es wusste, etwas sehr Wahres. „Verzeiht, Patro, ich glaube, ich habe mich von der hier herrschenden seltsamen Atmosphäre zu solchen Bemerkungen hinreißen lassen.“

Boumfrosk nickte huldvoll, angenehm überrascht darüber, dass der andere ebenfalls empfänglich für die seltsame Stimmung dieses Ortes war. „Ja, in der Tat. Diesem Brunnen haftet etwas sehr, ähm, etwas, nun, ich glaube, etwas sehr Heiliges an. Schwache Geister können diese Last nicht verkraften. Deswegen kann auch nicht jeder Patro und erst recht nicht jeder ein Großer Patro werden.“

„Oh, Ihr sprecht sehr weise, Patro.“

„Ja, ja, ich weiß. Wo war ich eben stehengeblieben?“

„Beim schwachen Geist?“

„Sehr wohl. Recht so. Genau. Das Verhalten, das dieser Thundra an den Tag legte, zeugt in der Tat von einem schwachen Geist. Und was haben schwache Geister so an sich, Pappendinner?“

„Äh, sie sind verwirrt?“

„Genau, Pappendinner. Deine Scharfsichtigkeit überrascht mich.“

„Danke, Patro.“

„Nun, schwache Geister geben häufig unqualifizierte Bemerkungen von sich. Häufig. Das kann man ja sehr gut an den Vorsitzenden des Handwerks- und Bauernstandes sehen. Nur Blödsinn. Unerfüllbare Forderungen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es mit Thundra noch mehr auf sich haben muss. Was hältst du davon: Könnte man ihn gar als besessen bezeichnen?“

„Ihr meint, von bösen Mächten ergriffen und lediglich eine Marionette ihrer gotteslästerlichen Ziele?“

„Du hast es erfasst, Pappendinner. Wir werden bestimmt nach seiner Ankunft herausfinden, dass wir mit unserer Vermutung recht haben. Sobald der Beweis erbracht ist, wollen wir ihn verbrennen oder vierteilen und vorher ein wenig foltern, damit er ein Geständnis unterschreibt. Er kann doch schreiben, oder?“

„Ich denke schon, Patro, schließlich ist er der Sohn Haropin Thundras. Ein wohlhabender und gebildeter Mann.“

„Pah, gebildet. Er mag wohl wissen, wie man kämpft, aber kennt er die alten Schriften und die alten Sprachen? Kaum vorstellbar! Hm, ist dieser Haropin wohl sehr einflussreich?“

„Ähm, Ihr wisst sicherlich, dass er im Auftrag des Großen Bundes Tandarnas verwaltet.“

„Selbstverständlich, Pappendinner. Dann müssen wir sehen, dass wir Haropin davon abhalten, einen Fehler zu begehen und seinen besessenen Sohn befreien zu wollen.“

„Ich denke, das wird nicht sehr leicht sein. Haropin Thundra ist allgemein als sehr starrsinnig bekannt, Patro. Allerdings ist es durchaus möglich, dass er nicht rechtzeitig von der Sache erfährt. Der Weg in den Nordwesten Tandarnas ist lang und beschwerlich.“

„Wir werden sehen, wir werden sehen. Zunächst wirst du eine Botschaft an unsere Truppen in Alischanz übermitteln. Man soll Regjag Thundra in Gewahrsam nehmen, da das Böse von ihm Besitz ergriffen hat. Man soll sich von ihm fernhalten und Buße tun für das, was man zu sehen glaubte. Alles Blendwerk des Bösen.“

„Aber die Soldaten verehren Thundra …“

„Das ist mir verd…, äh, will sagen, ziemlich egal. Hast du etwa ein Problem damit, meine Anordnungen auszuführen, Pappendinner?“

Ein Lächeln huschte über Boumfrosks frettchenartiges Gesicht. Pappendinner blickte einen kurzen, bangen Moment in die wässerigen Augen seines Gegenübers, die boshaft leuchteten, und ein kalter Schauder jagte über seinen Rücken hinweg.

„Selbstverständlich nicht, Patro“, entgegnete er leise.

„Dann kehre jetzt zurück und ordne alles Erforderliche an.“ Boumfrosk drehte sich um. Der Stand der Sonne ließ die Vermutung zu, dass die Tageszeit bereits sehr fortgeschritten war. Kaum hatte er das gedacht, ertönten auch prompt die Spätnachmittagsglocken Oransches.

„Noch Zeit bis zum Abendbrot“, dachte er zufrieden und fuhr fort, den Brunnen zu betrachten.

***

Vorbei die Schlacht, die Schwerter ruhn,

es naht die Nacht, nichts bleibt zu tun.

R. T.

Kapitel 3 – Am Abend vor dem Aufbruch

Am Abend vor dem Aufbruch saß Regjag zusammengesunken an der Küste nahe der Ebene von Alischanz und hing trübsinnigen Gedanken nach.

Ächzend erklomm, mit zusammengepressten Lippen sämtliche Steilküsten der Welt verfluchend, ein junger Knappe den schmalen und beschwerlichen Pfad. Die Laune des hageren Burschen, dessen rotes Haar in feuchten Strähnen über seine Stirn fiel, verschlechterte sich mit jedem weiteren erklommenen Abschnitt.

Seit der letzten Schlacht war bereits einige Zeit ins Land gegangen, und Regjag war sehr schweigsam gewesen. Niemand brachte den Mut auf, ihn auf die seltsamen Geschehnisse auf dem Schlachtfeld anzusprechen. Der eine oder andere unternahm wohl einen Versuch, doch erblickte er den ehemaligen Heerführer mit dem alten Gesicht und den grauen Strähnen im einstmals hellbraunen Haar, besann er sich eines Besseren.

Der junge Thundra verbrachte entgegen seiner Gewohnheit die meiste Zeit weit entfernt von den Lagern an der Küste, anstatt seinen Männern bei den Reisevorbereitungen zu helfen. Er nahm kaum Nahrung zu sich, und er sah den ganzen Tag über unverwandt auf das Meer hinaus, als wolle er auf diese Weise die Heimat näher holen.

War die Sonne endlich hinter dem Horizont versunken, pflegte er sich langsam zu erheben, seinen Umhang aufzunehmen und müde sein Zelt im Lager aufzusuchen.

Die älteren Kämpfer hatten schon bei dem Aufbruch der Rückeroberungsarmee bemängelt, dass der hochgepriesene Thundra keineswegs alt genug war und auch nicht über die Erfahrungen seines Vaters verfügte, um bei diesem entscheidenden Feldzug erfolgreich sein zu können.

Sie vermuteten, dass vielmehr Beziehungen die ausschlaggebende Rolle bei der Ernennung Regjags zum Obersten Kommandanten gespielt hatten und sich nun die gefürchtete Feldkrankheit seiner bemächtigte. Man beobachtete Regjag daher mit einer Mischung aus Ablehnung, Neugierde und Sensationslust und erwartete beinahe sehnsüchtig das Auftreten der ersten Symptome.

Das bekannteste Opfer dieser Krankheit hatte zur Zeit ihrer Vorfahren einen Krieg gegen einfallende Völker aus dem Süden geführt. Mitten in der entscheidenden Schlacht gelang es dem glorreichen Malakin von Morant, einen flüchtigen Blick auf die kämpfende Tochter des feindlichen Heerführers zu werfen.

Überwältigt von ihrer Schönheit, soll er augenblicklich sein Pferd gewendet, die Streitaxt in hohem Bogen von sich geworfen haben und mit wehendem Umhang auf die kämpferische Schönheit zugeritten sein. Bei ihr angelangt sprang er, begleitet von dem Scheppern seiner Rüstungsteile, auf den Boden und fiel vor ihr auf die Knie, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.

Es heißt, die Prinzessin soll vom Mut des kühnen Recken derart angetan gewesen sein, dass sie der Vermählung zustimmte. Während die Schlacht um sie herum allmählich abebbte, sprachen sie über ihre Hochzeit, einen Friedensvertrag und einigten sich sogar auf die Namen ihrer zukünftigen Kinder. Als es zur Vertragsunterzeichnung kommen sollte, wurde die Anwesenheit des Vaters der schönen Kriegerin erwünscht. Dieser jedoch war verhindert, da ihn eine hastig fortgeworfene Kriegsaxt mit den Initialen M. von Morant am Halsansatz getroffen und in zwei ungleichgroße Teile gespalten hatte.

Obwohl erzählt wird, dass die Prinzessin den Verlust ihres tyrannischen Vaters durchaus zu verschmerzen bereit gewesen wäre, teilten ihre Untertanen ihre Meinung nicht. Es gelüstete sie nach Rache, und sie machten sich kurzerhand daran, den edlen und unbewaffneten Malakin zu vielteilen.

Die Prinzessin erachtete es als nicht sehr ratsam, die eigenen Leute gegen sich aufzubringen, und befahl, mit der Schlacht fortzufahren. Ironischerweise unterlagen die Fremden aus dem Süden, es blieben nicht mehr als zwei Dutzend von ihnen am Leben, die meistbietend an Sklavenhändler aus dem Norden verkauft wurden.

Die südländische Schönheit verbrachte ihren nächsten Lebensabschnitt fröstelnd als exotische Tänzerin in einer nordischen Taverne, wo sie sich unliebsamer Verehrer auf recht rabiate Weise entledigte und zu einer gefeierten Attraktion wurde. Man erzählte sich, dass sie nur denjenigen zum Mann zu nehmen gedachte, der sie im sportlichen Wettkampf besiegte. Doch das ist eine andere Geschichte.

Diejenigen, die Augenzeugen der denkwürdigen Erscheinung ihres charismatischen Anführers Regjag Thundra geworden waren, flüsterten sich hinter vorgehaltener Hand zu, dass heidnische Zauberkräfte im Spiel gewesen seien, die sie zum Narren gehalten und dafür gesorgt hatten, dass weder Feind noch Freund den unglückseligen Kampf fortsetzen wollte.

Der schwitzende Knappe beendete den beschwerlichen Aufstieg. Nachdem er eine Weile auf dem schmalen, die Steilküste entlangführenden Pfad mit auffrischendem Wind und tränenden Augen gekämpft hatte, erreichte er Regjag, der wie erwartet auf das Meer hinaussah. Der Bote folgte seinem Blick, schüttelte verständnislos den Kopf und räusperte sich.

„Ähem.“ Als ihm keine Aufmerksamkeit zuteil wurde, hüstelte er um einiges geräuschvoller.

Der Mann auf dem Boden senkte den Kopf zur Seite, starrte auf einen Punkt, der sich eine Handbreit neben den Füßen des Jungen befand und schwieg.

Der Rothaarige hielt das für ein ausreichendes Zeichen, um seine Botschaft vorzutragen. „Er ist völlig abwesend, der Narr!“, dachte er.

Er gehörte zu den wenigen, die Thundras Wandlung nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, weil er gerade zu desertieren im Begriff gewesen war. Im allgemeinen Tumult war das niemandem aufgefallen, daher hatte er sich unbemerkt unter die Überlebenden des Heeres mischen können, als sich herausstellte, dass die Schlacht vorüber war.

„Feiger Hund“, kam es ihm in den Sinn, und er zog verächtlich die Augenbrauen hoch. „Ein Kriegsherr, der grundlos den Sieg verschenkt!“ Seine Gedanken behielt er freilich für sich, und als er sich der Aufmerksamkeit des Mannes gewiss sein konnte, richtete er die ihm aufgetragene Botschaft aus. „Seid gegrüßt, Ritter Regjag Thundra. Ich bin hier, um Euch Meldung vom Zustand des Heeres zu machen.“

Der Angesprochene nickte.

„Die Überlebenden“, fuhr der Bote fort, „sind versorgt, soweit es möglich war. Die Gefallenen sind verbrannt worden, wie Ihr es angeordnet habt. Allerdings konnte der Körper des Ritters Munsurel nicht auf Euer Schiff gebracht werden.“

„Und warum nicht?“ Die Stimme des Mannes klang müde, und er hob den Blick. Unwillkürlich erschauderte der Junge, als er die blassviolette Farbe der Augen sah.

„Weil der Körper von Ritter Demon Munsurel bisher nicht gefunden worden ist, Ritter Thundra.“

„Das kann nicht sein!“ Regjag beugte sich vor. „Habt ihr auch dort gesucht, wie ich es euch auftrug?“

„Selbstverständlich, Ritter Thundra. Wir haben sein totes Pferd gefunden und seine Waffe. Aber keine Spur von Ritter Munsurel.“

Regjag blickte auf das Wasser und unterdrückte seine Wut. „Ist alles vorbereitet, sodass wir morgen aufbrechen können?“

„Sicher.“

„Du kannst wieder gehen.“

„Und was soll in der Angelegenheit unternommen werden?“

„Gar nichts weiter, ich werde mich selbst darum kümmern. Geh jetzt.“

„Wie Ihr wünscht.“

Der Junge ging, und Regjag blieb alleine zurück. Seit jenem Tag, an dem sich die Farbe seiner Augen verändert hatte, vermochte er im Dunkeln zu sehen, bei Tageslicht aber lediglich unscharfe Schatten wahrzunehmen. Er hütete sich davor, den anderen sein Geheimnis preiszugeben.

„Ich werde niemals mehr kämpfen können“, murmelte er. „Jedenfalls nicht mehr bei Tag. Und welche Schlacht wird schon in der Nacht geschlagen?“

Als die Sonne unterging, kletterte er die Steilfelsen hinab und suchte das Schlachtfeld auf. In der Ferne sah er die Umrisse der fremden Stadt, und er fragte sich, was die Heiden tun mochten, wüssten sie, dass der gefürchtete Heerführer ohne Begleitung den Schauplatz ihrer unerbittlichen Auseinandersetzung um das Mondenland betrat.

Zwar hatte König Terramer dem geschlagenen Heer freien Abzug zugesprochen, doch wusste Regjag, dass den Worten der Gottlosen kaum Bedeutung beizumessen war. Ihr aller Überleben hing von der Gunst Terramers ab, der vorgab, sich mit der Erklärung der Unterhändler, der Große Bund verzichte fortan auf seine Ansprüche, zufrieden zu geben. Den jungen Thundra kümmerten diese Angelegenheiten jedoch nicht mehr, denn ihm war gleichgültig, ob er lebte oder starb.

Zielstrebig stapfte er über den sandigen Boden bis zu jener Stelle, an welcher er vor einigen Tagen sein Schwert niedergeworfen und den Kampf beendet hatte. Er verweilte kurz bei den sterblichen Überresten des Hengstes Volatin, der ihn in zahlreichen Schlachten begleitet und nun den Tod durch die Krummsäbel der Feinde gefunden hatte. Die schöne Stute Ligenmaredi, um die Demon von vielen beneidet worden war, lag einige Fuß entfernt. Der Geruch von Verwesung hing über der Ebene, doch das hielt Regjag nicht davon ab, den Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen.

„Alles vergebens …“, wisperte er. Ermattet ließ er sich auf die Knie fallen, und sein Kopf sank kraftlos auf die Brust.

„Trauer“, flüsterte er. „Und Tod! Wenn ich in die Heimat zurückkehre, werde ich deinen Eltern Trauer bringen, und fortan wird sie mein ständiger Begleiter sein. Warum, du Gott, lässt du uns sterben, bevor wir die Süße des Lebens schmecken? Wie kann ich glauben, was Menschen erzählen, die niemals selbst ein Schwert führten und das Blut der Feinde vergossen?“ Er verstummte.

Seine Augen brannten, und sein Kopf schmerzte. Er spürte, dass alle Kraft seinen Körper verließ, und so fiel er in den Sand, in der Hoffnung zu sterben.

Nicht weit von ihm entfernt kehrte der rothaarige Knappe, der den Auftrag bekommen hatte, ihm zu folgen, ins Lager zurück. Wenig später kamen einige Männer, die den reglosen Körper Regjag Thundras in sein Zelt trugen.

Als sie gegangen waren, trat Gyburc hinter einer Anhöhe hervor, um ihr Werk zu vollenden. Sie bestreute die Kadaver der beiden Pferde mit einem hellen Pulver, woraufhin sie zu Asche zerfielen. Diese füllte sie sorgfältig in zwei ledernde Beutel und verwahrte sie unter ihrem Gewand neben einem anderen ledernen Behältnis.

Danach schulterte sie ihren Reisebeutel, verschloss ihren nachtblauen Umhang und wanderte zum Anlegeplatz der Barbarenschiffe. Bevor sie in die Bucht herabstieg, in der die Schiffe der Fremden vor Anker lagen, betrachtete sie vorerst ein letztes Mal das Land, das ihr solange Heimat gewesen war. Sie lächelte wehmütig, wischte eine Träne fort, und das Abenteuer begann.

***

Mutiger Späher, durchschleichend die Nacht,

ach, hätt’ man ihm eher die Wahrheit gebracht!

R. T.

Kapitel 4 – Verschwörungen

Als sich die wenigen Überlebenden des erfolglosen Kriegszuges auf der Heimreise befanden, ereigneten sich seltsame Dinge im reizvollen Land Zinamonin auf dem prächtigen Anwesen Michilon, der Residenz des Großen Patro und des weltlichen Herrschers Jozeranz Jericop, die gemeinsam den Großen Bund regierten.

Begünstigt durch die geschützte Lage herrschte ein mildes Klima, und die in diesem Landstrich geborenen Menschen waren von unübertroffener Anmut, die besonders Nordlinge immer wieder in ihren Bann schlug.

Die duftende, weiche Erde machte jeden Schritt zu einem Vergnügen. Sogar hartgesottene Krieger entledigten sich hin und wieder ihres Schuhwerks, um barfüßig über den schwellenden Grund zu wandeln, was angesichts manch einer Schlachten erprobten Gestalt heimlichen Beobachtern Anlass zur Heiterkeit gab.

Die Nacht, von der ich Euch nun berichten werde, war eine laue Sommernacht. Der Duft unzähliger Blumen erfüllte die Luft, die schmeichelnd an die Haut schmiegend vergessen ließ, dass anderswo der Winter Einzug hielt. Der Gesang der im Laub verborgenen Vögel hatte schon manches trauriges Gemüt aufgeheitert. Das berühmteste unter ihnen war das des Dichters Zaubersang, der seit vielen Winterschlafesmonden nicht mehr unter uns weilt. Das Ländchen jedoch wurde durch sein Wirken zu einem begehrten Ziel fahrender Sänger, die sich mit der Hoffnung trugen, Zaubersangs Ruhm übertreffen zu können.

Jozeranz Jericop stand mit geschlossenen Augen auf dem Balkon seines Schlafgemaches und atmete schwer.

Er war ein zur Dickleibigkeit neigender, hochgewachsener Mann mittleren Alters mit schütterem, weizenblondem Haar, der zu jedermann freundlich war.

Obwohl er nicht den schlechtesten Posten der Welt innehatte und Einfluss besaß, war Jozeranz Jericop alles andere als glücklich mit seiner Position als weltlicher Teil der Doppelregentschaft des Großen Bundes.

Wäre es nach ihm gegangen, hätte er das Leben an der Seite einer freundlichen Frau mit einer fröhlichen Kinderschar und einer einträglichen Warenhandlung vorgezogen. Aber das sollte nicht sein Schicksal sein.

Vor zehn Winterwenden war er zum Nachfolger des seligen Jofred gewählt worden und wusste bis heute nicht, von wem und aus welchem Grund, denn bis dahin hatte er ein unauffälliges Leben als Sohn und Erbe eines angesehen Kaufmannes geführt.

Seit dem Tag seiner Ernennung musste er den Amtssitz mit dem Großen Patro teilen. Da ihn aber nicht nur ein übermäßiger Appetit, sondern auch gute Menschenkenntnis auszeichneten, merkte er sehr bald, dass es bei den Regierungsgeschäften nicht mit rechten Dingen zuging.

Er war ein weitsichtiger Mann, der fühlte, dass Schattentage dem Großen Bündnis bevorstanden.

Jedes Mal, wenn der Große Patro den Stab der Würde senkte, um ein weiteres Todesurteil auszusprechen und Jozeranz den süßlichen Geruch von Tod und Feuer wahrnahm, wusste er, dass er in der Pflicht stand zu handeln.

Er erhob Einspruch gegen die vom Großen Patro verhängten Urteilssprüche, und da er sich der Gefahr bewusst war, wählte er seine Worte mit Bedacht.

Das Volk verehrte ihn gleichermaßen wie es den Großen Patro hasste. Dieser, von Natur aus kein großer Menschenfreund, ärgerte sich jeden Tag erneut über die widrigen Umstände, die ihm seinerzeit den lästigen weltlichen Regenten ins Haus gebracht hatten und behandelte ihn mit einer kuriosen Mischung aus offener und dabei zurückhaltender Feindseligkeit, eine Kunst, die er meisterlich beherrschte.

Jozeranz fand heraus, dass er und die vom Großen Bund eingesetzten Verwalter der Ländereien gleich Schmetterlingen an Spinnenfäden klebten und nichts anderes waren als Schattentänzer im Dienste der Geistlichkeit.

In den wenigen Mußestunden, die ihm vergönnt waren, zog er sich in seine Privatgemächer zurück, um Schriften zu lesen, deren Existenz er streng geheim hielt. Sie galten innerhalb des Großen Bundes als verwerflich, und ihre Verfasser zählten zu der stetig anwachsenden Schar von Ungläubigen.

Jozeranz glaubte nicht, dass diese Werke, die erstaunliche Dinge über Geografie, Astronomie, Architektur, Geometrie und Heilkunde berichteten, ihren Ursprung im Pfuhl der bösen Mächte hatten. Er las nicht nur verbotene Bücher, sondern hatte auch viele Freunde, die ihm dabei halfen, den ersten weltlichen Geheimdienst zu gründen, um die Feuer der Patros zum Erlöschen zu bringen.

Er lehnte an der hölzernen Umfassung des Balkons vor seinem Schlafgemach, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Es wurde nicht dunkler, es wurde nicht heller, es wurde ganz einfach anders.

Er öffnete die tränenden Augen und versuchte, flacher zu atmen, wobei ihm auffiel, was sich verändert hatte.

Schweigen beherrschte den Garten der Residenz, Geräuschlosigkeit Michilon, absolute Stille ganz Zinamonin.

Die Welt war in Leere gehüllt und nichts zu vernehmen, kein Vogelsang, kein Grillenzirpen, kein Menschenlaut. Nicht ein Luftzug kühlte seinen Schweiß oder umspielte die großen weißen Blüten, die duftlos als helle Flecke vor seinen Augen zu unkenntlichen Umrissen verschwammen.

Der Regent hielt die Luft an.

So musste es sein, wenn das Leben stillstand.

War sein Ende nah?

Hatte ihn die namenlose Krankheit besiegt?

Bevor er diesen Gedanken jedoch weiter verfolgen konnte, erwachte die Welt wieder zum Leben.

„Vielleicht“, sorgte Jozeranz sich, „werde ich jetzt auch noch verrückt!“

Kalter Schweiß rann seinen Rücken entlang, und trotz der milden Nacht begann er zu frösteln. Gerade, als er das Ringen um den schmerzlindernden Schlaf wieder aufnehmen wollte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.

Er verharrte und richtete seinen Blick in den Garten. Seine Wachsamkeit wurde belohnt. Überrascht sah er ein Stück der Dunkelheit gleich einem Nebelschleier wabern.

Es kam ihm vor, als spiegelte sich die nächtliche Landschaft in der Oberfläche eines Sees wider, in welchen jemand einen Stein geworfen hatte. Eine Gestalt, mit einem schwarzen Umhang bekleidet, trat aus dem hell strahlenden Zentrum dieser Erscheinung hervor, und das wellenförmige Flimmern der Luft endete so abrupt, wie es begonnen hatte.

Jozeranz presste sich an den kühlen Stein einer Marmorsäule und hielt die Luft an. Was immer hier vor sich ging, es war keinesfalls gewöhnlich, dass Fremde dem Nichts entsprangen und im Garten von Michilon herumspazierten. Er verspürte allerdings nicht das geringste Bedürfnis, den Wachen vor seiner Tür Bescheid zu geben.

Jozeranz Jericop war auch ein sehr neugieriger Mann.

Sein untrüglicher Sinn für brisante Geheimnisse spornte ihn an, auf eigene Faust zu erkunden, was es mit dem nächtlichen Besucher auf sich hatte. Jozeranz hätte die sorgfältig verborgene Kiste mit seinen verbotenen Schriften darauf verwettet, dass hinter dieser Angelegenheit die dunklen Machenschaften des Großen Patros Magnussen steckten.

Die Gestalt, die soeben vor seinem Balkon erschienen war, warf einen flüchtigen Blick um sich, bevor sie sich geräuschlos fortzubewegen begann.

„Fein, fein“, murmelte Jozeranz, während er, mit einer angesichts seiner Körperfülle erstaunlichen Gewandtheit, durch den Balkondurchgang in seinen Schlafraum eilte und nach seinem Umhang griff, der über einem Stuhl lag. Einen Augenblick später schwang er sich über ein Seitengeländer. Als er auf dem weichen und nach warmer Erde duftenden Gartenboden stand, um dem Eindringling zu folgen, waren nur wenige Momente seit dem Erscheinen des Fremden vergangen. Einem ormalischen Dieb gleich verfolgte er die Spur des Dunklen, der sich nicht umblickte.

Jozeranz fühlte sich trotz der körperlichen Anstrengung zwanzig Jahre jünger. Weder Atemnot oder Schwindelgefühle plagten ihn, während er, verschmolzen mit den Schatten der Nacht, dem Eindringling bis zu jenem Flügel des weitläufigen Gebäudekomplexes folgte, in dem die Gemächer seines Mitregenten lagen.

Der Fremde erklomm nicht den Balkon, sondern kletterte behände die Wand empor, um durch ein offenes Fenster in den Arbeitsraum des Großen Patro zu gelangen. Angesichts dieser Leistung pfiff Jozeranz Jericop geräuschlos. Er griff nach dem Balkonvorsprung, kletterte über die Balustrade und lauschte an der Maueröffnung, wobei er versuchte, einen Blick auf das Geschehen im Inneren des Arbeitszimmers zu erhaschen.

Das Arbeitszimmer des Großen Patro war unbeleuchtet, und Jozeranz machte die Umrisse des Verfolgten aus, der mit dem Rücken zum Fenster an den großen Arbeitstisch des Patro gelehnt stand und ungeduldig mit den Füßen wippte.

Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Trotzdem ließ die Aufmerksamkeit des Spähenden nicht nach. Häufig hatte er verharrt und gelauscht, um den Fortbestand seiner Organisation zu sichern. Er spürte ein Kribbeln im Rückgrat, das ihn immer dann überkam, wenn er kurz vor einer wichtigen Entdeckung stand.

Er beobachtete den Schatten im Raum und warf hin und wieder einen Blick in den Park. Noch nie war er während seiner Lauschangriffe entdeckt worden und hoffte inständig, dass es dabei blieb. Plötzlich vernahm sein empfindliches Gehör, dass im Arbeitszimmer des Großen Patro eine Tür geöffnet wurde. Er spähte in den Raum und erschrak. Die dunkle Gestalt war nicht mehr zu sehen! Stattdessen bemerkte er den Großen Patro, der, eine unruhig brennende Kerze haltend, in den Raum trat, sich suchend umsah und schließlich auf seinen Arbeitstisch zuging, um den Kerzenhalter abzusetzen.

„Ihr seid nicht sehr pünktlich!“, erklang ein heiseres Wispern, und sichtlich erschrocken fuhr der Große Patro herum.

Unmittelbar vor ihm stand der Gast mit dem Rücken zu Jozeranz, so dass er sein Gesicht nicht sehen konnte.

Der göttliche Regent erholte sich rasch von seinem Schrecken und bediente sich des für ihn charakteristischen herrischen Tonfalls. „Du weißt, dass ich es verabscheue, wenn du dich heranschleichst. Möchtest du, dass ich dich dorthin zurückschicke, woher du gekommen bist?“

Bei diesen Worten streckte er seine krummen Schultern durch und ging langsam um den Tisch herum, um auf seinem thronähnlichen Stuhl Platz zu nehmen.

„Wie sollte ich bloß auf den Gedanken kommen“, antwortete der Mann, wobei seine Stimme nicht unterwürfiger klang als zuvor. Er deutete eine Verbeugung an und lehnte sich lässig mit überkreuzten Beinen an ein Bücherregal. „Alles geschieht so, wie Ihr es befehlt!“

Der Patro hingegen kümmerte sich nicht um seinen Besuch, der wortlos verharrte, bis ihm Aufmerksamkeit zuteil wurde. Der göttliche Regent zog die Kerze näher zu sich heran und blätterte scheinbar wahllos in den vor ihm liegenden Dokumenten. Als er den Kopf hob, fiel das sonst besänftigende Kerzenlicht auf sein Gesicht. Jozeranz erschrak. Er war seit mehreren Tagen nicht mehr mit dem Patro zusammengetroffen und auch nicht sonderlich betrübt darüber gewesen.

Die Augen seines Widersachers lagen eingefallen in schwarzumrandeten Höhlen. Der Mund, zu einem verhärmten schmalen Strich zusammengekniffen, bewegte sich beim Sprechen kaum. Seine Hände waren mager und zitterten.

Der Große Patro stellte in der Öffentlichkeit stets Härte und Unnahbarkeit zur Schau und jetzt erst wurde Jozeranz bewusst, dass er, der lächelnd Todesurteile aussprach, unter den Schwächen des menschlichen Daseins zu leiden hatte wie alle anderen auch. Fast hätte Jozeranz Mitleid empfunden, das er allerdings umgehend unterdrückte, als der Patro die Unterhaltung fortsetzte.

„Sprich. Was hast du für Neuigkeiten?“

Der Unbekannte begann wispernd, von den Geschehnissen im Machtbereich des Großen Bundes zu berichten. Die Informationen an sich waren wenig interessant für Jozeranz, dem mehr daran lag zu erfahren, über was für einen Informanten der Große Patro verfügte, und warum er ihn vor den Augen anderer zu verbergen trachtete. Das heimliche Auftauchen des Mannes war äußerst verdächtig. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Regenten voreinander bei Weitem nicht alles preisgaben, doch empfand Jozeranz die Umstände, die diesen Besucher begleiteten, als sehr befremdlich.

Er hing seinen Gedanken nach, als er aufhorchte. Das Gespräch hatte eine interessante Wendung genommen.

„Was Eure kleinen Verschwörungen angeht“, sagt der Dunkle, „so kann ich Euch berichten, dass alles nach Wunsch verläuft. Ein wenig Zauber hier, ein wenig üble Nachrede dort, und die Menschen überschlagen sich, wenn es darum geht, Gerüchte zu verbreiten oder unheimliche Geschichten zum Besten zu geben.“

„Schön, schön“, sagte der Große Patro Magnussen ungeduldig. „Weiter!“

„Nun, bei Inkan Belrog in Salenien zeichnen sich bereits deutliche Erfolge ab, denn die Untertanen in den Grenzprovinzen vor dem Leeren Land sind besonders empfänglich für unerklärliche Ereignisse. Sie werden einen neuen Verwalter, der aus Euren Reihen stammen wird, früher oder später mit offenen Armen empfangen und der weltlichen Verwaltung keine Träne nachweinen. Die Ernte in den vergangenen beiden Jahren ist schlecht ausgefallen, und man ist nicht abgeneigt, dem einen oder anderen die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben.“

„Ausgezeichnet“, sagte Magnussen heiser und beugte sein fahles Gesicht ein Stück über den Schreibtisch. „Und weiter?“ Das unruhige Flackern der Kerzenflamme verlieh seinem Antlitz einen dämonischen Ausdruck.

Sein Gesprächspartner schritt anmutig durch den Raum.

Jozeranz runzelte die Stirn.

„Ein wunderlicher Mann“, dachte er. „Ein wichtiger Informant und der erste, den ich sehe, der sich nicht einschüchtern lässt. Sehr merkwürdig!“

Er versuchte, einen Blick auf das Gesicht des dunkel Gekleideten zu werfen. Ihm war allerdings kein Erfolg beschieden, da der Fremde die große Kapuze seines Mantels tief herunter gezogen hatte und der dabei entstehende Schatten sein Antlitz verbarg.

„Es ist“, sagte der Unbekannte, „nur noch eine Frage von ein oder zwei Winterwenden, bis Ihr Eure Leute da habt, wo Ihr sie haben wollt. Nur noch wenige weltliche Verwalter regieren im Machtbereich des Großen Bundes. Es sollte keine Schwierigkeiten bereiten, sie nach und nach zum Abdanken zu bewegen. Es ist gar nicht so schwer.“ Er lachte leise. „Einem Verwalter widerfährt ein tragischer Unfall, oder er erliegt einer geheimnisvollen Krankheit, ein anderes Mal vermag ein vorgeblicher Freund, ihn dazu zu bewegen, das Amt einem Würdigeren zu übertragen. Bald wird es wohl nur noch eine Große Einheit geben, deren Oberhaupt zweifellos jemand sein wird, der Euch sehr ähnlich ist.“

„Ich weiß, ich weiß. Ich werde es sein!“ Magnussen ballte seine weißen Hände zu knochigen Fäusten. Jozeranz bemerkte, dass der Große Patro ein Zittern zu unterdrücken versuchte. „Hast du in der Sache Haropin Thundra die nötigen Schritte eingeleitet? Oransches Patro ist der Meinung, dass er uns hinderlich dabei sein könnte, seinen besessenen Sohn öffentlich hinrichten zu lassen.“

Der Dunkle gab einen abscheulichen Laut von sich. Jozeranz vermutete, dass es sich dabei um einen Ausdruck der Belustigung handelte, der ihn jedoch mehr an das bedrohliche Rasseln eines giftigen Reptils denn an ein Lachen denken ließ. Offensichtlich amüsierte er sich über etwas, das er nicht preiszugeben gedachte.

„Ich kann die Sache sehr schnell für Euch erledigen. Etwas Gift oder einen gelungenen Meuchelmord, schon wäre das Problem beseitigt. Aber Ihr besteht ja auf eine unauffällige und vor allem passende Art. Also werdet Ihr euch noch ein wenig gedulden müssen. Die Menschen um diesen Haropin sind hartnäckig in ihrer Treue. Er ist gut zu den Armen und Beschützer der Waisen und Witwen und so weiter. Ihr wisst schon, dieser weltliche Kram von der ritterlichen Ehre und Pflichterfüllung. So ohne weiteres lässt sich nichts Schlechtes über ihn sagen.“

Magnussen nahm die Kritik an seiner Entscheidung nicht zur Kenntnis, ebenso wenig wollte er wissen, was sein Gegenüber belustigt hatte. „Sehr gläubig, jaja, ich erinnere mich. In einer der letzten Ratsversammlungen fragte er, ob die Todesstrafe im Sinne eines gerechten Gottes wäre. Er ging nicht weiter auf diesen Punkt ein, da die meisten Anwesenden eine Diskussion darüber in meiner Gegenwart nicht für angebracht hielten. Nach dem offiziellen Treffen allerdings versammelten sie sich heimlich, und mahnten Thundra zur Vorsicht. Dies ist wiederum ein weiterer Beweis dafür, dass nur göttliche Verwalter gute Diener sind, da sie nicht hinterfragen, sondern tun, was man ihnen sagt.“ Er hustete trocken.

Der Dunkle blieb stehen und beäugte den Großen Patro neugierig, bis dieser sich von dem Hustenanfall erholt hatte und Kraft zum Weitersprechen fand.

„Auch die treuesten Anhänger werden bereit sein, sich von ihm abzuwenden, sobald sie von der Angst vor dem Zorn unseres Herrn ergriffen sind. Wir können ihn nicht beseitigen, ohne ihm zu einem großen Ruf zu verhelfen, der vielleicht die Menschen gegen die Hinrichtung des Sohns stimmen lassen könnte. Was wir brauchen, ist Enttäuschung und Furcht. Haropin muss als Verbündeter des Bösen entlarvt werden. Du musst lediglich einen Anlass liefern, der auch die Bauern von Haropins Bündnis mit dem Bösen überzeugt.“

„Es geschehe, was Ihr wünscht“, erwiderte sein Gegenüber und fuhr damit fort, hin und her zu schlendern. „Habt Ihr sonst noch Fragen?“

Magnussen vertiefte sich erneut in die Lektüre seiner Dokumente und schüttelte den Kopf. „Ich benötige dich nicht mehr“, sagte er ohne aufzuschauen. Sein Gesicht wirkte noch eingefallener als zu Beginn der Unterredung.

Der Fremde blieb stehen. „Wie Ihr wünscht“, wisperte er. „Ich werde wiederkommen, sobald ich Neuigkeiten für Euch habe.“ Mit diesen Worten wandte er sich dem Fenster zu, als ihn der verhaltene Ruf des anderen zurückhielt.

„Marrog?“

Der Dunkle verharrte. „Ja?“

„Du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn du dich wie ein Dieb durch die Fenster zwängst. Wenn du schon nicht durch eine Tür hineingelangst, so verlasse diesen Raum wenigstens über den Balkon.“

Marrog kicherte leise. „Wie Ihr wünscht“, krächzte er heiser und erreichte mit wenigen Schritten den gemauerten Durchgang, neben dem Jozeranz vor Schreck erstarrte, nachdem er hastig den Umhang noch fester um die Schultern gezogen hatte. Seine Furcht vor Entdeckung war jedoch unbegründet, der Fremde eilte an ihm vorbei, erklomm die Mauer und sprang in den Garten, wobei er keine Zeit verlor und denselben Weg zurücklief, den er gekommen war.

Der aufgeregte Herzschlag des Spähers beruhigte sich allmählich. Der Große Patro saß über seine Papiere gebeugt und schenkte dem Entschwindenden keine Beachtung.

Jozeranz schickte sich an, ihn zu verfolgen. Nicht ungeschickt, jedoch keineswegs so wendig wie der Verfolgte, ließ er sich an den rauen Steinen der Balkonmauer herunter und landete lautlos im weichen Gras. Er ging den Spuren des Eindringlings nach, den er kurz darauf einholte, und verbarg sich im Schutz der Bäume in sicherer Entfernung zu ihm.

Der Fremde erreichte die Stelle, wo ihn die Nacht ausgespien hatte. Jozeranz suchte Deckung hinter einem dornigen Strauch und spähte neugierig durch die Zweige.

Die Gestalt drehte sich um, und der weltliche Regent vermochte einen Blick auf das mondbeschienene Gesicht des Mannes zu werfen. Der schwarze Mantel des Eindringlings bewegte sich flatternd, obwohl kein Luftzug ging und kein Zweig sich regte.

Jozeranz beschlich ein seltsames Gefühl. Die beruhigenden Geräusche der Nacht verstummten, ihre angenehme Kühle verging mit einem Schlag. Die Dunkelheit um den Fremden nahm undeutliche Umrisse an, erstrahlte kurz und krümmte sich, bis sie seinen Körper gänzlich umfing.

Dann verschwand er – Jozeranz kam der Ausdruck wie vom Erdboden verschluckt in den Sinn – und mit einem dumpfen Schlag war die Welt wieder von Leben erfüllt.

Benommen erhob sich der Drahtzieher des zinamoninischen Geheimdienstes und untersuchte die Stelle, an der sich der Unbekannte in Luft aufgelöst zu haben schien. Beharrlich, aber letzten Endes erfolglos, suchte er den Erdboden ab. Keine Öffnung, die auf einen unterirdischen Geheimgang schließen ließ, kein Zeichen dafür, dass sich soeben an diesem Ort etwas Ungewöhnliches ereignet hatte.

Er brach seine Suche ab und beschloss, sie unauffällig bei Tageslicht zu wiederholen, obwohl er ahnte, dass er auch dann nichts finden würde. Fröstelnd begab er sich zurück in sein Schlafgemach, legte sich in das Bett und zog die Decke zitternd bis unter die Nase.

Schlaf fand er jedoch erst viel später, nachdem er aufgehört hatte, an das zu denken, was er im blassen Mondlicht unter dem dunklen Umhang gesehen zu haben glaubte.

***

Störst du der fremden Wesen Schlummer,

endet die Ruh, erwacht der Welten Kummer.

R. T.

Kapitel 5 – Veränderungen

Dinge änderten sich.

Ungehört von den Ohren der Menschen.

Unentdeckt von den Sinnen der Menschen.

Altes erwachte und rieb verschlafene Augen.

Zum selben Zeitpunkt, als Jozeranz Jericop seine unheimliche Beobachtung machte und der ehemalige Kriegsheld Regjag Thundra düsteren Gedanken nachhing, wagte sich eine Erdmaus an die Oberfläche, um nach etwas Fressbaren zu suchen.

Am Eingang ihres Baus schnupperte sie an der kühlen Nachtluft. Es war kalt, es war dunkel, und die Maus wollte schnell wieder zurück in ihr Nest.

Einer Waldeule, die nicht weit entfernt fröstelnd auf dem Ast eines knorrigen Baumes saß, ging es ganz ähnlich.

Da auf Bäumen sitzenden Waldeulen vom Boden aus nun einmal schlecht zu wittern sind, wagte die Maus sich heraus und huschte achtlos über einen kleinen Ast. Dem wachsamen Nachtvogel jedoch entging das leise Knacken nicht, und sein Blick richtete sich zielsicher auf die Beute. Das Tier breitete die Schwingen aus und glitt lautlos auf den Nager zu.

Dieser bemerkte die Gefahr erst, als er den eisigen Luftzug – vom Flug des Jägers verursacht – auf seinem Rückenfell spürte. Doch der Beutegreifer verfehlte ihn knapp und drehte ab, um einen neuen Versuch wagen.

Das verschreckte Nagetier kauerte einen kleinen Moment mit rasendem Herzen auf dem Waldboden, bevor plötzlich sein Fluchttrieb erwachte und es zum Bau zurückhastete. Die Angst im Nacken schlug es jedoch die falsche Richtung ein.

Die Eule ließ den Leckerbissen allerdings nicht einen Moment aus den Augen und holte ihr Opfer rasch ein, bereit, es nun zu ergreifen.

In ihrer Erregung stieß sie einen heiseren Schrei aus, der die Stille des nächtlichen Waldes zerriss – und die Maus noch schneller fliehen ließ.

Das Schicksal hingegen hatte andere Pläne, denn auf ihrer panischen Flucht verfing sich die Maus in einem Grasgeflecht, überschlug sich und … fiel in einen Felsspalt.

Während des Sturzes vernahm sie den enttäuschten Schrei ihres Verfolgers, der nicht verstand, wohin der leckere Bissen Mäusefleisch verschwunden war.

Plmpmp.

Erschöpft verharrte die Maus bewegungslos, bevor sie witternd ihre Nase reckte. Ein strenger Geruch hing in der muffigen und abgestandenen Luft des großen Erdlochs, in das sie gestürzt war.

Unmittelbar neben ihr regte sich etwas.