Der Sommer, als ich fliegen lernte - Jasminka Petrović - E-Book + Hörbuch

Der Sommer, als ich fliegen lernte Hörbuch

Jasminka Petrović

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Beschreibung

Ein feinsinniger und vielschichtiger Coming-of-Age-Roman – berührend, leicht, spannend! Ab Frühjahr 2023 im Kino. Endlich Sommerferien – eigentlich die schönste Zeit des Jahres für die dreizehnjährige Sofija. Aber in diesem Jahr ist alles anders. Statt mit ihren Freundinnen in Belgrad abzuhängen, muss sie mit ihrer Oma auf die kroatische Insel Hvar zu Omas Schwester Lucija fahren. Für die beiden Frauen ist es das erste glückliche Wiedersehen seit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Für Sofija hingegen ist es ein absoluter Teenager-Albtraum: Um sie herum nur alte Leute, Mücken ohne Ende, keine Freunde. Wie soll sie es hier bloß zwei Wochen aushalten? Doch alles verändert sich, als Sofija sich zum ersten Mal richtig verliebt, neue Freunde findet und sogar mit einem Familiengeheimnis konfrontiert wird, das auf den Krieg in Jugoslawien zurückgeht …

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Zeit:5 Std. 17 min

Veröffentlichungsjahr: 2024

Sprecher:Giovanna Meyrat

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Für Vlada

***

Quellenangaben:

Seite 102: Henri-Pierre Roché: Jules und Jim. Neu übersetzt von Patricia Klobusiczky. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2016. S. 259.

Seite 103: Ebd., S. 261.

Seite 104: Ebd., S. 261.

Seite 147 und Seite 189: Das Urheberrecht für die zwei Liedzeilen aus »Fly me to the moon« liegt bei Bart Howard.

Seite 150: Richard Bach: Die Möwe Jonathan. Aus dem Englischen von Jeannie Ebner. 22. Auflage. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2009. Seite 13.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Leto kada sam naučila da letim, 1. Auflage 2015 bei © Kreativni centar, Belgrad, Serbien

Text: Jasminka Petrović

Für die deutsche Ausgabe:

© 2023 Tulipan Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Text: Jasminka Petrović

Übersetzung: Marie Alpermann ‒ Die Arbeit von Marie Alpermann wurde vom Deutschen Übersetzerfonds mit einem Initiativ-Stipendium gefördert.

Covergestaltung: Stephanie Raubach, Tulipan Verlag

Bildnachweise Cover: iStock-1202923946-PeopleImages,

iStock-584229526-jacoblund

ISBN 978-3-641-32927-3V001

www.tulipan-verlag.de

Inhalt

Erste Nacht

Zweite Nacht

Dritte Nacht

Vierte Nacht

Fünfte Nacht

Sechste Nacht

Siebte Nacht

Achte Nacht

Neunte Nacht

Zehnte Nacht

Elfte Nacht

Zwölfte Nacht

Dreizehnte Nacht

Vierzehnte Nacht

Fünfzehnte Nacht

Sechzehnte Nacht

Siebzehnte Nacht

Achtzehnte Nacht

Neunzehnte Nacht

Zwanzigste Nacht

Einundzwanzigste Nacht

Zweiundzwanzigste Nacht

Dreiundzwanzigste Nacht

Erste Nacht

Oma schnarcht. Ich raste aus. Und die Mücken bringen mich erst recht auf die Palme. Sie attackieren meine Nase und meine Augen. Gleich wird es hell und ich bin immer noch wach. Und Hunger hab ich auch. Ich wälze mich im Bett hin und her. Das Nachthemd hat sich um mich gewickelt wie ein Bonbonpapier ums Bonbon.

Dabei hab ich mich so auf den Sommer und die Ferien gefreut! Ich dachte, Mama und Papa erlauben mir, mit Luka und seiner Clique zu zelten. Die zweite Variante wäre gewesen, mit Saška zu ihrer Cousine nach Kraljevo zu fahren. Falsch gedacht!

An einem Nachmittag hat mich meine Mutter richtig bequatscht: »Wie blass du bist, schau dich nur an! Den ganzen Tag starrst du auf den Computer. Hör mal, du begleitest Oma diesen Sommer nach Hvar. Das wird bestimmt super: Insel, Meer, Sonne, nette Leute, verliebt sein … Ich habe in Stari Grad die schönsten Sommer meines Lebens verbracht, ach, wenn ich nur anfange mich zu erinnern …«

Bla, bla, bla … Und ich biss auch noch an, schnappte nach ihrem Köder wie ein dummer Fisch und willigte ein. Sobald ich im Bus saß, bereute ichs natürlich sofort, doch zu spät: Oma holte ein Kissen aus dem Beutel, allerdings nicht so ein fancy Reisekissen zum Aufblasen, nein, ein richtig großes fürs Bett. Mit dem Riesenkissen verbaute sie den Durchgang und die anderen Reisenden konnten sich kaum noch zu ihren Sitzplätzen durchzwängen. Voll peinlich! Ich presste mein Gesicht ans Fenster und tat so, als ob ich nicht zu ihr gehören würde. Die Situation auf dem Bussteig war jedoch kein bisschen besser. Mama und Papa gaben mir die letzten Anweisungen vor der Reise und schrien, als hätten sie sich im Wald verirrt. Weil ich nicht darauf reagierte, fingen sie an, wie wahnsinnig zu hüpfen und an die Scheibe zu klopfen. Im selben Moment bekam ich auch noch eine Nachricht von Saška:

Schöne Reise dir, hast dus gut! Ivana und ich hängen hier vor der Schule rum. Grüß uns das Meer und sag ihm, dass wirs auch irgendwann noch kennenlernen! Wenn wir mal berühmt und reich sind. Kuss

Ich wollte ihnen schnell zurückschreiben, dass die Dinge ganz anders standen, als sie dachten. Gut haben es die, die auf der Mauer im Schulhof sitzen und chillen, nicht die, die mit Oma in den Sommerurlaub fahren. Ich schickte noch hinterher, dass ich am liebsten aus dem Bus springen, oder besser gesagt, im Erdboden versinken würde … Als ich gerade auf Senden drücken wollte, fuhr der Bus los und Mama und Papa fingen an, neben meinem Fenster herzulaufen. Ich dachte: ›Okay, dann laufen sie halt ein bisschen mit, die werden schon gleich wieder aufhören. Ich fahr ja nicht mit der Grundschule ins Schullandheim.‹ Falsch! Die beiden rannten durch den ganzen Busbahnhof hinter uns her und noch weiter die Straße entlang, während wir an der Ampel standen und dann über die Kreuzung fuhren ... Dieses dumme Familienritual ziehen Mama und Papa jedes Mal durch, wenn Luka und ich irgendwo hinfahren. Wir haben ihnen schon hundertmal gesagt, sie sollen das lassen, aber es bringt nichts. Luka denkt, sie versuchen so, ihre elterlichen Sünden wiedergutzumachen. Ich dachte in dem Moment gar nichts, ich versank nur immer tiefer im Boden, also ich meine, im Sitz.

Ich löschte die Nachricht an Saška wieder, fügte einen ein, schrieb Kuss, Kuss dahinter und drückte auf Senden. Sollten sie doch lieber neidisch sein, als mich für eine Idiotin zu halten. Die Nachricht ging Richtung Schulhof und ich blieb im Bus sitzen und sah weiter Mama und Papa zu, wie sie neben meinem Fenster herrannten und winkten. Sie sahen aus wie schlechte Comedians. Irgendwann machte Papa schlapp. Eine Weile ging er noch mitten auf der Straße, dann blieb er stehen. Halb nackt, mit offenem Hemd, schwitzend und keuchend. Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie. Ich bin fast gestorben vor Angst, dass ihn gleich ein Riesenlaster umfährt. Mama rannte noch bis zur Verkehrsinsel weiter. Sie lehnte sich an die Ampel und winkte, winkte, winkte; so lange, bis eine Straßenbahn kam und sie verdeckte. Dann rief sie mich auf dem Handy an und sagte mir, ich soll mich benehmen, Oma gehorchen und nicht ihren Blutdruck erhöhen, denn die Krankenversicherung gilt im Ausland nicht, was heißt, dass jeder Arztbesuch von Oma extra bezahlt werden muss. Während der Bus auf der Gazela-Brücke über die Save fuhr, erklärte Mama mir, das würde daran liegen, dass wir die zusätzliche Versicherung nicht bezahlt haben, weil nun mal die finanzielle Situation so ist. Dann sagte sie noch, dass das keine gewöhnliche Reise ist, Oma wird aufgewühlt sein und ich muss ihr eine Stütze sein, sie und Papa würden nachkommen, sobald sie das Projekt abgegeben hätten, ich soll mir keine Sorgen machen, alles wird gut, Stari Grad ist der schönste Ort der Welt, aber ich soll dort nicht bre sagen und auch keine kyrillische Schrift benutzen, die Leute sind dort wundervoll, aber es könnte auch passieren, dass mich jemand schief ansieht, das soll ich aber nicht persönlich nehmen, darüber hätten wir ja schon gesprochen, am besten ist es, wenn ich immer bei Oma bleibe, und dann sagte sie, dass sie jetzt auflegen muss, weil Papa einen Hexenschuss hat und sich nicht mehr aufrichten kann.

Das war also der Anfang meiner Sommerferien. Luka hats gut! Er kommt immer besser weg als ich. Echt immer. Ich kann mir genau vorstellen, was für eine coole Zeit er jetzt am Silbernen See hat, während ich hier Omas Gesäge zuhören muss. Schon die zweite Nacht, in der ich nicht schlafen kann. Im Bus war es schrecklich stickig. Die Klimaanlage funktionierte fast nicht. Ich wollte lesen, aber so ne Kuh hat sich aufgeregt, dass sie das Licht stört, und ich musste die Lampe ausmachen. Die größte Party hatten wir übrigens an der Grenze. Oma konnte ewig den Zettel nicht finden, auf dem meine Eltern mir erlaubten, das Land zu verlassen. Panisch wühlte sie in den Taschen und warf mit Essen, Flaschen, Brille, Taschentüchern, Hausschuhen, Cremes und solchen Sachen um sich. Als sie uns dann schon ordentlich vor dem Grenzbeamten blamiert hatte, fiel ihr wieder ein, dass sie ja das Dokument an einem sicheren Ort verstaut hatte – in der Tüte mit den Medikamenten! Sobald der Bus weiterfuhr, stopfte ich mir die In-Ears in die Ohren und machte Musik an, doch das hielt meine Oma nicht davon ab, mir alle paar Minuten Pfirsiche, Sandwiches oder Dickmilch unter die Nase zu halten. Wer bitte nimmt heute noch Dickmilch mit auf die Reise?!

Um sieben Uhr morgens kamen wir in Split an. Ich wollte mir am Brunnen neben dem Busbahnhof die Zähne putzen, doch da brüllte Oma wie ein bengalischer Tiger los: »Jetzt Zähne putzen! Willst du, dass wir die Fähre verpassen? Willst du das, ja? Nimm ein Kaugummi und fertig! Schaust du denn keine Werbung?«, schrie sie panisch und zog mich am Arm. Wenn sie hysterisch wird, fängt Oma an, unglaublich dummes Zeug zu reden, und zwar megalaut.

Auf die Fähre gingen wir unausgeschlafen, zerknautscht, stinkend und zerstritten. Ich war so nervös, dass ich alles aufaß, was noch vom Futterpaket übrig war. Sogar die Dickmilch. Ich musste den Knopf meiner Jeans öffnen, weil ich nicht mehr atmen konnte. Neben uns saßen sieben oder acht Leute aus Italien. Sie spielten Karten und hatten richtig viel Spaß – im Gegensatz zu mir. Unter ihnen war auch ein Paar, das sich die ganze Zeit küsste und rummachte. Ich fühlte mich so elendig, dass es mir nicht mal peinlich war, als Oma an meine Schulter gelehnt schnarchte. Musik konnte ich auch keine hören, der Handy-Akku war leer.

Meine Oma schnarchte also im Bus, auf der Fähre und jetzt schnarcht sie hier im Zimmer. Ist auch kein Wunder, wenn sie sich so mit Bromazepam vollstopft. Sie hat die doppelte Dosis geschluckt und schläft wie ein Stein. Und was mache ich? Ich könnte an die Decke starren, Schafe zählen, mit dem Kopf gegen die Wand hauen oder was mir sonst noch einfällt. Okay, ich gebe zu, Oma hat es nicht leicht. Sie ist nach 26 Jahren in ihre Geburtsstadt zurückgekommen. Das ist echt ganz schön viel Zeit – zwei Mal mein bisheriges Leben. Wie das alles hier wohl für sie aussieht? Das Meer? Das Haus? Die Leute? Nicht mal einen Monat könnte ich ohne Belgrad aushalten. Ich vermisse es ja jetzt schon! Und mein Zimmer erst und mein Bett!

Die völlige Apokalypse begann, als wir von der Fähre runtergingen. Die Sonne brannte, aber ich hatte einen Kapuzenpulli, eine lange Hose und eine Jacke an, weil es beim Losfahren in Belgrad kalt und regnerisch gewesen war. Am Hafen in Stari Grad wartete Omas Schwester Lucija, die Luce genannt wird, auf uns. Die beiden fielen sich um den Hals und weinten los. Während sie in Tränen erstickten, stand ich daneben wie die größte Vollidiotin. In der Zwischenzeit verließen alle Reisenden den Hafen, alle Autos, alle Taxis und alle Busse fuhren ab, also mussten wir drei zu Fuß zum Haus gehen, und zwar auf dem Pfad parallel zum Strand. Während normale Leute dort in Badesachen herumspazierten, musste ich in voller Wintermontur Omas und meinen Riesenkoffer hinter mir herschleifen. Die Hände tun mir jetzt noch weh vom Schleppen. Oma war knallrot wie eine Tomate, ich bekam schon Angst, sie würde gleich einen Schlaganfall kriegen. Ein paar Mal war ich kurz davor, ihr Megakissen ins Meer zu schleudern, hatte aber Schiss, einen Badegast am Kopf zu treffen, und ließ es bleiben.

Oma hat mir gesagt, dass Luce meine Nona ist (so sagen sie in Dalmatien zu Oma) und ich sie nicht siezen muss. Nona Luce lebt allein. In ihrem Haus zerfällt so ziemlich alles, vor allem die Klobrille. Heißt also, ich werde die Ferien in einem schwarzen Loch mit zwei Omas verbringen. Oliver Twist ist gegen mich ein echter Glückspilz.

Wenn jetzt nur Winter wäre! Ich hasse den Sommer. Ich drehe den Ton am Handy so laut wie nur möglich. One Directiongegen Omas Schnarchen. Ich drücke die In-Ears fester in die Ohren. Es bringt gar nichts. Oma ist lauter. Warum hab ich nur zugestimmt, hierherzukommen? Mir ist so heiß. Und die Mücken haben mich völlig zerfressen, ich muss mich dauernd kratzen.

Letztes Jahr waren wir in den Sommerferien in Griechenland. Doch so richtig hatten nur Luka, Mama und Papa was vom Urlaub, ich lag nämlich zehn Tage lang im dunklen Zimmer. Nach der Anreise hab ich sofort einen Magen-Darm-Virus mit Fieber gekriegt. Nicht mal das Meer hab ich zu Gesicht bekommen. Kann es echt sein, dass diese Sommerferien noch schlimmer werden?

Ich starre an die Decke und warte, dass es richtig hell wird. Von Weitem ist Hundegebell zu hören. Was Cvrle jetzt wohl macht? Mein Cvrle, mein süßer Cvrle. Wenn der schnarcht, stört mich das überhaupt nicht.

Mein Akku ist leer. Ich nehme die In-Ears raus und lege sie auf die Kommode neben das Bett. Nona Luce hat keinen Computer, Internet schon gar nicht. Wie soll ich mich da retten? Soll ich ne Flaschenpost schreiben? Ein Floß bauen und von der Insel fliehen wie Robinson Crusoe? Das wäre ja mal was Nützliches aus der Schullektüre!

Ach so, ich könnte eigentlich was lesen! Gute Idee. Ich knipse die Lampe an und öffne mein Buch.

»Mach das Licht aus und schlaf! Die Mücken fressen uns noch auf!« Oma brüllt mich so an, dass Die unendliche Geschichte in meinen Händen einen Hüpfer macht.

Ich klappe das Buch wieder zu und lösche das Licht. Dieses eine Mal hat Oma recht. In den wenigen Minuten sind eine Million Mücken reingeflogen und summen mir jetzt um den Kopf rum. Ich fuchtele mit den Armen, um sie zu verscheuchen. Es ist so heiß wie im Backofen. Ich ziehe das Laken über meinen Kopf. Ich hasse den Sommer, weil ich dann schwitze wie ein Schwein. Schrecklich. Ich schwitze so, weil ich mich ganz dick einpacken muss, damit die Leute nicht sehen, dass ich flach wie ein Brett bin. Ivana und Saška haben es gut, die kennen solche Probleme gar nicht. Am schlimmsten ist es im Sportunterricht, wenn mich Julijana vor allen Mädchen fragt: »Trägst du noch keinen BH, Sofija?«

Pah, lieber kleine Brüste als kleines Hirn! Oma dreht sich um. Das Bett quietscht. Jetzt liegt sie auf der Seite. Sie hat aufgehört zu schnarchen. Endlich Ruhe. Nee, eigentlich nicht. Die Grillen zirpen. Richtige Erholung für meine Ohren! Ein Nachtkonzert, nur für mich. Oh nein, jetzt fängt Oma wieder an! Ich raste aus! Ich stecke meinen Kopf unters Kissen. Nun ist es so heiß wie in zwei Backöfen. Menno, ich will nach Hause. Nach Hause! Zu meinem Cvrle!

Zweite Nacht

Ich hab einen Sonnenbrand. Vorne bin ich komplett weiß und hinten komplett rot. Ich könnte das Maskottchen für den FC Roter Stern spielen. Peđa wäre begeistert, wenn er mich so sehen würde. Der Rote Stern ist für ihn Papa und Mama in einem.

Oma und Nona Luce weckten mich heute Morgen vor acht. Sie tranken am Tisch im Hof Kaffee. Gefühlt saßen sie an meinem Kopfende, so doll haben sie geschrien. Ich dachte erst, sie würden streiten, doch dann hörte ich sie lachen und kapierte, dass das ihr ganz normales morgendliches Schwatzen war. Eine Zeit lang wälzte ich mich noch im Bett rum und versuchte wieder einzuschlafen. Schließlich bin ich doch aufgestanden. Wie unfair! Ich langweile mich hier und dann kann ich nicht mal richtig ausschlafen!

Die letzten zwei Tage hab ich um die 20 Personen kennengelernt, aber keine jünger als 70. Alles Omas Verwandte, ihre Kumpels und Kumpelinen aus der Kindheit. Und wie die erst reden! Ich verstehe sie kein bisschen. Früher hörte ich Oma manchmal am Telefon so sprechen, doch sobald sie aufgelegt hatte, switchte sie sofort wieder ins Belgraderische. Seit wir aber in Stari Grad sind, hat sie einen Hänger und plappert nur noch Bodulisch. Das ist so ein lokaler Dialekt. Mittlerweile hab ich verstanden, dass in Kroatien an der Küste Dalmatinisch, in den Bergen Walachisch und auf den Inseln dieser Boduler Dialekt gesprochen wird. Abgesehen davon, dass meine Oma in Stari Grad anders redet, zieht sie sich hier übrigens auch anders an, sie lacht anders, verhält sich anders, läuft, guckt und atmet anders … Einfach ein komplett anderer Mensch. Ich erkenne sie echt fast nicht wieder. Als hätte sie einen geheimen Teil ihrer Persönlichkeit aus dem Käfig entlassen, der sich nun in Freiheit wütend austobt. Irgendwie so, ich kann es nicht genau erklären. Ach, eigentlich ist Oma super, wenn sie nur nicht so viel schnarchen würde.

Die Sonne hat meine Haut verbrannt. Die Rückseite meines Körpers brennt, juckt und schmerzt gleichzeitig. Ich würde sagen, es handelt sich um Verbrennungen vierten Grades. Ich liege auf dem Bauch und stelle mir meine eigene Beerdigung vor. Wenn ich keinen Hautkrebs kriege, werde ich an Omas Gesäge sterben. Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Ich öffne die škure. So heißen hier die Fensterläden außen am Haus, die das Zimmer vor Sonne, Wind und Regen schützen. Ich schaue in den Hof. Angenehm kühle Luft. Wetten, dass hier Edward mit den Scherenhänden gedreht wurde? Direkt am Haus ist eine Laube. Darin steht ein Tisch mit Stühlen, daneben zwei Liegestühle. Gerade läuft eine schwarze Katze vorbei. Was für ein Tier, wie ein Panther! Geräuschlos betritt sie den Garten und verschwindet in der Dunkelheit. Die Glückliche, kann gehen, wohin sie will. Ich höre eine Grille zirpen. Dieses Geräusch beruhigt mich definitiv.

Direkt unter meinem Fenster ist ein großer Lavendelstrauch. Wenn du tagsüber mit den Fingern durchstreifst, antwortet er sofort mit Geruch. Nach Lavendel riechen auch die Kissen, die Bettwäsche und die Handtücher, der Kleiderschrank und das ganze Haus. Kein Wunder, schließlich bewahrt Nona Luce in allen Schränken, Schubladen, Ecken und Vasen, ach, eigentlich überall Lavendel auf. Nona sagt, Lavendel vertreibt die Viecher und hält das Haus frisch.

Ich gucke hoch. Bei den Nachbarn trocknet Wäsche auf dem Balkon. Die umliegenden Häuser leuchten weiß durch die Baumkronen. Ich höre Stimmen. Die Straßen sind hier so eng, dass zwei dicke Menschen kaum aneinander vorbeikommen. Ein Mann und eine Frau laufen an unserem Hoftor vorüber und weiter die Gasse runter. Mit ihnen verschwinden auch die Stimmen. Ich fange an, im Rhythmus der zirpenden Grillen zu atmen.

Meine Oma wurde in diesem Haus geboren. Sie ging in Stari Grad in die Grundschule und in Split in die Mittelschule, dann zog sie zum Studieren nach Belgrad. Dort hat sie Opa Steva geheiratet und meine Mama bekommen. Damals gehörten Serbien und Kroatien zu einem Staat, nämlich Jugoslawien. Papa hat mir erzählt, dass er in meinem Alter ans Meer fuhr und weder Pass noch Geld dabeihatte. Er steckte bloß seinen Schlafsack und eine Zahnbürste ein, lief zur Autobahn und hielt den Daumen raus. In jeder Stadt wohnte irgendein Verwandter oder Freund oder wenigstens der Freund eines Freundes. Luka und ich haben schon Pläne geschmiedet, genauso zu verreisen, doch Mama hat uns gleich zu Beginn entmutigt: »Die Polizei würde euch verhaften, wenn ihr noch keine 500 Meter weit seid. Ihr habt ja gar keine BusPlus-Karte und auch keinen Ausweis.«

»Aber Papa sagt doch …«, versuche ich ihr zu erklären.

»Lass mal Papa beiseite …«, fährt Mama mit ihrer Litanei fort, »das waren andere Zeiten damals …«

»Voll unfair, du und Papa durftet per Anhalter unterwegs sein und wir nicht!«, beschwert sich Luka.

Mama winkt kopfschüttelnd ab. »Ich will überhaupt nicht weiter drüber reden!«

»Zdenka, warum bist du nur so negativ?« Papa versucht positiv zu sein. »Du vermittelst den Kindern ein Bild, dass die Welt gefährlich wäre.«

»Ist sie das etwa nicht? Von allen Seiten prasseln doch nur schlechte Nachrichten auf uns ein. Bis dir der Kopf platzt. Ach, und hast du eigentlich die Rechnung abgeschickt? Die Frau hat uns extra noch mal darum gebeten, dass wir das bis zehn Uhr erledigen …« Mama ist Spezialistin darin, das Gespräch in eine für sie nützliche Richtung zu lenken.

»Kinder, wascht euch die Hände, es gibt Frühstück!« Oma hält natürlich wie immer zu ihr.

Als in den 90ern der Krieg anfing, hörten Mama, Oma und Opa auf, nach Kroatien zu fahren. Mama hat mir erzählt, dass sie früher jede Sommer- und Winterferien in Stari Grad verbracht hat. Ich verstehe bloß nicht, was ihr hier so krass gefallen hat; außer einer Konditorei, einer Kirche, einer Post und zwei Supermärkten gibt es gar nichts. Voll langweilig. Das Schlimmste ist, dass die Strände ein paar Lichtjahre vom Zentrum entfernt sind.

Heute bin ich naiv losgezogen, um ins Meer zu springen, aber bis ich am Strand angekommen war, hatte ich mir schon sieben Sonnenstiche geholt. Der Stadtstrand ist der erste, zu dem du von Nona Luce aus gelangst. Die Körper der kleinen Kinder und ihrer Omas bilden eine Menschenkette – unmöglich, überhaupt zum Meer durchzukommen. Aus Mamas Erzählungen hab ich kapiert, dass die schönsten Badeplätze in Stari Grad die am weitesten entfernten sind. Leider stimmt das. Nach zwei, drei Kilometern bin ich im Kiefernwald auf eine kleine Bucht gestoßen. Ich hab mein Handtuch im Schatten ausgebreitet und mich hingelegt. Mich hat komplett die Müdigkeit überwältigt, noch im selben Moment bin ich wie ein Bär in der Höhle eingeschlafen. Ich habs nicht mal mehr geschafft, mich mit Sonnencreme einzuschmieren. Kein Wunder, so krass unausgeschlafen wie ich bin. Und was ist passiert? Der Schatten der Kiefer hat sich zurückgezogen und den bösen ultravioletten Strahlen Platz gemacht, die mich sofort verbrannten. Als ich aufgewacht bin, war die Rückseite meines Körpers rot wie eine Tomate. Zurück zu Hause rieb mir Oma den Rücken mit Dickmilch ein. Sie behauptete, dass so die Rötung verschwindet, wie weggeblasen. Bisher spüre ich aber keine Besserung. Ich glaube sogar, dass es schlimmer geworden ist. Falls ich sterbe, hinterlasse ich Cvrle all meinen Besitz. Er ist eh der Einzige, der aufrichtig um mich trauern wird.

Langsam schließe ich die škure und gehe zurück ins Bett. Ich lege mich auf den Bauch. Oma schnarcht, das stört mich aber nicht mehr. Ich bemerke nicht mal die Mücken. Mein Rücken brennt dermaßen, dass mir zum Heulen zumute ist. Wenn ich mich doch nur in einer bequemen Position hinlegen könnte.

Auf dem Rückweg vom Strand hab ich einen Jungen und ein Mädchen gesehen, die ein am Ufer festgebundenes Boot gewaschen haben. Vor dem Boot stand ein Schild mit der Aufschrift FOR RENT. Als ich an dem Schild vorbeikam, sagte der Junge was zu mir, ich verstand jedoch überhaupt nichts. Deshalb tat ich so, als würde ich ihn nicht bemerken. Ich schaute einfach geradeaus und lief weiter. Der Junge ist in Lukas Alter, würde ich schätzen, das Mädchen jünger als ich. Ich denke, es ist in der Fünften. Als ich so an ihnen vorbeiging, sprang ein großer, weißer Hund aus dem Boot. Wie verrückt lief er um mich rum, ich versuchte ihn zu beruhigen und zu streicheln. Wir spielten ein paar Minuten. Ich musste an Cvrle denken. Dann pfiff der Junge und der Hund sprang zurück ins Boot. Ich ging weiter. Der Hund gefällt mir sehr, schade nur, dass er so ein eingebildetes Herrchen hat. Der ist ja aufgeblasen wie ein Luftballon.

Was machen Saška und Ivana wohl gerade? Bestimmt schicken sie mir Nachrichten auf Facebook, aber ich kann sie nicht lesen. Das Leben ist echt schrecklich ohne Internet. Ich will nach Hause. Ich will nach Hause! Hundertpro hat Luka Bilder vom Zelten hochgeladen. Ich hab ihm gesagt, er soll Marko auf jedem Foto taggen. Vor der Reise hat mich Luka damit aufgezogen, dass ich in Marko verknallt bin. Zuerst ließ ich das schweigend über mich ergehen, aber irgendwann hab ichs doch zugegeben. Fühlt sich leichter an, wenn ich das Geheimnis mit jemandem teilen kann, selbst wenn die Person Luka ist. Klar, er hatte auf den Moment nur gewartet, um mich danach so richtig dissen zu können. Er rannte schreiend durchs Haus: »Marko, Sofija – verliebt, verlobt, verheiratet!«

Ich rannte ihm hinterher, versuchte ihn zu fangen und ihm das Maul zu stopfen. Erst im Flur schaffte ich es, ihn am T-Shirt zu fassen. Er verfing sich im Teppich, krachte volle Kanne mit dem Kopf gegen die Eingangstür und fiel dann auf den Hintern. Im gleichen Moment tauchte Mama über unseren Köpfen auf, sie sagte, Schluss jetzt mit dem Quatsch, wir würden uns wie kleine Kinder benehmen und morgen früh müssten wir in die Schule. Ich machte mich in fünf Minuten bettfertig, legte mich hin und nahm mein Handy. Ich ging auf Facebook und sah mir Markos Profil an. Was würde ich nur dafür geben, wenn ich jetzt auf Facebook sein könnte! Ein Handy ohne Internet ist das Dümmste auf der Welt.

Ich versuche, mich auf die Seite zu drehen … Keine Chance. Aua, mir tut der Rücken weh. Ich drehe mich zurück auf den Bauch. Oje, so werde ich nie einschlafen!

Nona Luce hat heute ein extra leckeres Abendessen zubereitet – gegrillten Fisch! Zum Grill sagen sie hier gradele, also Fisch vom gradele. Yummy, yummy. Am besten gefällt mir, dass wir im Hof essen. Das finde ich echt cool. In Belgrad gibts bei Oma auch oft Fisch, aber dieser hier ist hundertmal besser. Nona Luce sagt, das liegt daran, dass er überm Feuer gegrillt wird statt auf dem Herd. Zum Essen hab ich ein Glas Weinschorle getrunken. Nona Luce hat mir ein bisschen Rotwein ins Glas gegossen und es dann mit Wasser aufgefüllt. Sie sagte, nach Fisch wird kein Wasser getrunken, erst recht keine Cola. Wenn Papa sehen würde, wie ich hier mit Weinschorle anstoße und trinke, würde er austicken. Papa sagt, Alkohol ist nichts für Kinder. Nona ist eigentlich seiner Meinung. Aber heute war alles anders. Sie sagte, dass sie 26 Jahre auf diesen Tag gewartet hat und dass er gefeiert werden muss. Nona Luce und Oma sehen sich echt ähnlich. Vor allem, wenn sie lachen. Nach dem Abendessen haben sich die beiden über irgendwas unterhalten und weggeschmissen vor Lachen. Ich gackerte mit, obwohl ich gar nichts kapierte.