Der Spind, der Hüter - Alexa Klan - E-Book

Der Spind, der Hüter E-Book

Alexa Klan

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Beschreibung

Im Tagebuch eines trauernden Mädchens findet sie eine Liste mit den Namen der Schüler, die nacheinander sterben. Das Schuljahr fängt für die 15-jährige Christel Garb an, als sie den letzten, zerbeulten Spind vermietet bekommt. Durch ein Versteck fällt ihr ein geheimes Tagebuch in die Hände. Die emotionale Verfasserin Liane Hertz ist zwar nicht mehr auf der Schule, aber führt das Buch regelmäßig mit seltsamer werdenden Einträgen weiter, die Christel anregen, nachzuforschen. Es finden sich Nachrichten an ihren Geliebten, in denen sie ihre Rache an den Leuten, welche die Schuld an dessen Verlust tragen sollen, ankündigt. Zeitgleich kommen Schüler, die in Verbindung zueinanderstehen, auf mysteriöse Weisen zu Tode. Als Christel die Liste der Toten und die Wahrheit hinter dem Rachewunsch entdeckt, sieht sie sich gezwungen, zu handeln. Schafft sie es, ihre Angst vor dem Versagen zu überwinden und einzugreifen, bevor weitere Schüler sterben?

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Seitenzahl: 200

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Ähnliche


Warnung vor sensiblen Themen. Lesen auf eigene Gefahr.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Prolog

30.05.2018, Mittwoch

Die feuchte Luft des nebligen Morgens schmeckte kalt auf der Zunge. Sie umhüllte den Körper so wie das Verlangen die Seele. Autos rasten vorbei. Der Geruch nach Teer schwebte aus der Richtung des Bodens.

Gewiss verstünden sie den Zusammenhang nicht. Eltern durchlebten ständig Ängste, wenn sie ihre Kinder zur Schule schickten. Die Gefahren lauerten hinter jeder Ecke. Für normale Menschen wirkten sie unantastbar. Wieso sollte das ausgerechnet mir passieren?, fragten sich die Leute, wenn sie aus ihren Häusern marschierten.

In der Masse war sie der Schatten, der am Wegrand schlich. Wie jeden Morgen schritten alle denselben Weg zur Schule entlang. Sie positionierte sich in einigen Metern Entfernung und zog sich die Kapuze gegen den leichten Nieselregen tiefer ins Gesicht.

Er hatte sie nicht bemerkt. Mit den Kopfhörern in den Ohren und dem Handy in der Hand lief er allein.

Wenn er sich umdreht, erkennt er mich.

Doch er lauschte vertieft seiner Musik. Sie hatte ein freies Spielfeld. Die breite Straße lag zwei Meter links von ihr.

Ihr Skateboard hatte sie zwischen Arm und Körper gepresst. Nach einem kurzen Blick auf ihr Handgelenk nahm sie es hervor und legte es auf den Boden. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen. Niemand schenkte ihr Beachtung. Sie fuhr los. Zuerst wackelig, dann glittsie in eine geübte Bewegung über, bis sie vorwärts raste. Sie kam seiner Gestalt immer näher. Das Bild klärte sich vor ihren Augen.

»Hey, pass doch auf!«, rief sie und packte ihn beim Vorbeifahren an der Schulter. Dabei drückte sie fester zu, hob ein Bein vom Skateboard und schwankte in seine Richtung. Ihm blieb nur eine Möglichkeit, um auszuweichen.

Sie sah die weit aufgerissenen Augen, dann sprang er beiseite auf die Straße. Direkt vor den LKW.

Das wilde Hupen ertönte, doch das Bremsen lohnte sich nicht mehr. Er klatschte gegen die riesige Front. Sie fuhr vorbei.

Nach der Kurve bremste sie, die Räder verursachten ein schleifendes Geräusch. Sie drehte sich um. Die tosende Maschine rauschte, ohne anzuhalten, an ihr vorbei. Sie sah ihr hinterher und war gezwungen, die Augen vor der Staubwolke zusammenzukneifen. Alles, was sie hörte, war das laute Getöse.

Nachdem sich die Wolke gelegt hatte, erkannte sie ein Bündel auf der Fahrbahn. Der Junge, dem sie einmal so nahe gestanden hatte, lag wie ein zusammengeknüllter Haufen mitten auf der Straße. Nicht das geringste Gefühl durchflutete sie bei diesem Anblick. Sie hatte nichts das Bedürfnis, zu ihm hinzurennen und nach einem Lebenszeichen zu suchen. Genauso wenig schrie oder weinte sie.

Eine gähnende Leere erfüllte sie. Doch bevor sie weiter reglos rumstehen vermochte, holten sie die Schreie der Mitmenschen zurück in die Gegenwart.

Sie tauschte ihre Gesichtszüge aus, so wie ein Schauspieler in eine neue Rolle schlüpfte. Sie ließ ihr Skateboard liegen und rannte los. Kurz bevor sie ihnerreichte, stoppte sie. Weitere Autos fuhren vorbei. Langsamer.

Die Gliedmaßen waren unnatürlich angewinkelt, der Körper voller Blut. Seine Kopfhörer kaum erkennbar, der Rucksack, der beim Aufprall weggeschleudert wurde, lag einige Meter neben ihm auf der Fahrbahn.

Langsam näherte sie sich. Er war der Hauptschuldige. Er verdiente es.

Trotzdem hielt sie sich in ihrer Rolle die Hand vor den Mund und erstarrte. Der feine Nieselregen verstärkte sich. Ein Zeichen? War das, was sie ihm angetan hatte, falsch? Gewiss nicht.

Sie taumelte einige Schritte zurück. Eine Mutter zog ihr Kind weg, welches begehrte, auf das Opfer zu schauen. Eine Anzahl von Leuten starrten genauso wie sie regungslos auf ihn. Nur eine ältere Dame gab hektisch eine Nummer in ihr altmodisches Mobiltelefon ein, derweil ein jüngerer Mann sich neben ihn kniete und versuchte, den Puls zu ertasten.

Doch sein Blick senkte sich und er schüttelte den Kopf. Es war ohne Sinn und Zweck, jegliche Wiederbelebungsmaßnahmen zu ergreifen. Sinnlos, irgendetwas zu fabrizieren. Leblos.

Der Mann trat zurück. Die Menschenmenge vergrößerte sich. Sie sahen sich gegenseitig an. Erwarteten, dass jemand etwas tun würde. Dass ein Zauberer auftauchen und ihn wiederbeleben würde. Einige Blicke trafen sie. Weit aufgerissene Augen, verengte Augenbrauen, der Rest der Gesichter wirkte emotionslos. Doch die Blicke bohrten sich in ihre Seele. Sie schloss ihre Augen und öffnete sie wieder. Es war eine natürliche Reaktion, dass sie einen Schuldigen suchten. Sollten sie es doch tun. Es war ihr gleichgültig. Denn die Polizei würde ihr nichts nachweisen. Egal, wie sie, siebestrafen würden, es wäre nur die Form einer Ermahnung. Und weil es wie ein Unfall ausgesehen hatte, trug sie keine Last auf ihren Schultern. Niemand würde sie verdächtigen, ihn absichtlich geschubst zu haben. Selbst, wenn ... sie brauchte nur die Zeit, ihren Plan zu vollenden.

Einige starrten sie noch immer an. Doch sie hatte nicht vor, sich für irgendetwas zu entschuldigen. Sie hatte es geschafft. Ein einziger Gedanke hauste in ihrem Kopf.

Tristan ist tot.

1

23.08.2018, Donnerstag

»Weg da! Ich war zuerst hier!«

»Na und? Jetzt steh’ ich hier.«

Das Mädchen fuhr sich durch die Haare und wandte den Blick nach vorne. Der Junge, vor den sie sich gestellt hatte, schubste sie grob zur Seite.

»Spinnst du? Fass mich nicht an!« Ihr Gekreische tat in den Ohren weh. Sie fuchtelte wild mit den Armen und sah sich um. Dann stolperte sie vorwärts und streckte die Arme aus, doch der Junge trat einen Schritt zur Seite. Ihr Versuch, ihn zurückzuschubsen endete damit, dass sie mit ausgestreckten Armen auf den Boden fiel.

Einige der versammelten Schüler schielten auf sie herunter und lachten.

»Er hat mich geschubst! Hallo, was ...«

»Selbst schuld«, murmelte der Junge und trat einen Schritt auf die Schlange zu. Ein Lehrer packte ihn bei der Schulter. »Was ist hier los?«

Die Schüler schwiegen. Der Lehrer zog beide Parteien ein paar Meter mit sich und redete mit ihnen. Einige der Anwesenden machten zerknickte Gesichter oder zuckten mit den Schultern und sahen dann weg. Sie wandte ihren Blick ab.

Das Gerede und das Gedrängel sorgten dafür, dass sie sich vorkam wie in einer Glaskuppel. Sie hörte den Lärm, identifizierte aber keine einzelnen Worte. Die Schüler in der Traube stießen sie vor und zurück. Eine der Vorsitzenden hatte doch nicht umsonst gesagt, man solle vor dem Büro der Schülervertreter eine geordnete Schlange bilden. Sie versuchte, dem Gedrängel zu entkommen, und bekam einen Ellbogen in die Rippen gestoßen. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht machte sie einen Schritt nach vorn und lief in jemand anderes rein, der sie beschimpfte. Der genaue Wortlaut ging in der Menge unter, doch etwas Nettes war es nicht.

Über die Köpfe hinweg sah sie zu dem Stand. Einige Schüler trennten sie davon. Es gab immer die Menschen, die es wie aus Zauberhand schafften, die ersten in einer Schlange zu sein.

Sie begnügte sich stattdessen, bis ans hintere Ende der unordentlichen Reihe geschubst zu werden. Wozu gab es denn so eine Eile? Sie standen hier erst ein paar Minuten. Wenn jemand begehrte, die Spindvergabe für dieses Schuljahr schnell hinter sich zu bringen, dann sie.

»Hey, Christel! Wehe, du bist vor Ende der Pause nicht am Kiosk. Ich habe absolut keine Ahnung, wo unser Bioraum ist«, hatte ihre Freundin Sienna ihr zu Anfang der Pause zugerufen.

Christel stand am Ende der langen Schlange.

Nicht einmal hatte sie ein Lehrer ermahnt, weil sie zu spät gekommen war. Herr von Kiew hatte die Chance, der Erste zu sein. Aber sie hatte die letzte Woche nach Austeilung der Bücher bemerkt, dass sie zum Herumschleppen viel zu schwer waren. In ihrer Schule hingen altmodische Gemälde, statt dass Tablets ausgeteilt wurden. Und so war die Begierde bei betroffenen Personen, einen Spind zu ergattern, wie jedes Mal, wenn sie nach den Sommerferien wieder in die Schule kamen, hoch. Begierig hatten alle auf den Termin der Spindvergabe gewartet. Letztes Jahr hatten ihre Freunde keinen Gefallen daran gefunden, ihren Spind mit ihr zu teilen. Oder Christel hatte sich mit den schweren Büchern abgemüht. Sie sah auf die Uhr, die im Flur hing. Wie lange dauerte das?

Eines der beiden Mädchen, welche die Spind-Vergabe durchführten, empfahl dem Jungen vor ihr, sich selbst ein Schloss zu kaufen. Die Schule übernahm diese Kosten nicht.

Was macht sie überhaupt? Seitdem Frau Bique das Amt der Schulleiterin übernommen hatte, passte der Name ›Fassaden-Gymnasium‹ besser als ›Graubrunnen‹.

Überall sprach sich herum, wie organisiert sie war, welche Pläne sie verfolgte, die Schule zu verbessern, doch was nützte das? Ja, sie hatte die Renovierung veranlasst, aber der allgemeine Wohlstand war dadurch nicht unbedingt gestiegen. Doch ihr war klar, dass die Schülervertretung keine Schuld trug.

Der Junge vor ihr wandte sich frustriert ab.

Endlich.

Sie trat vor.

»Hallo, ich würde gerne einen Spind mieten«, sagte sie, wie jeder andere zuvor, nur das ihre Stimme dabei leicht zitterte.

Ihre Hoffnung wankte, als das Mädchen vor ihr – hieß es nicht Marlena? - zögerte und zu ihrer Kameradin sah.

»Ich glaube, das war der Letzte, oder Sam?«

Die Angesprochene, eine Kurzhaarige mit einem neonfarbigen Pullover, nickte, blätterte in ihren Listen.

»Wenn niemand unserer Stammkunden seinen Spind aufgegeben hat, dann ja ...«, murmelte sie und sah auf, »Ah, es ist einer frei. Diese eine da ist doch nicht mehr auf der Schule.«

»Oh, ja. Die hatte ihren Spind echt lange. Den wollte sonst niemand«, stimmte Marlena zu.

»Wieso denn nicht?«, fragte Christel verwirrt.

»Na, weil das der Allerletzte im hinteren Teil ist. Du brauchst lange, bis du da bist, und alt ist er auch«, meinte Sam.

»Du hast ›quietschend‹ vergessen«, fügte Marlena hinzu.

»Und das ist echt der Letzte?«

»Sieht so aus.«

Christel überlegte nicht lang. Sie hatte hier doch nicht ihre ganze Pause gestanden, nur, um dann keinen Spind zu bekommen?

»Ok, wo ist er denn?«

»Nummer 31, Erdgeschoss, hinterster Flur, am Ende, wo der Klassenraum ist, der momentan saniert wird«, antwortete Sam wie aus der Pistole geschossen.

Von der Sanierung hatte Christel gehört. Es betraf die ganze Hälfte des Schulgebäudes. Verständlich, die Risse in den Mauern verursachten ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Die meisten Arbeiten wurden in den Sommerferien beendet, außer das kleine Stück neben dem Schulhof.

Besser als nichts.

»Ich nehme ihn.«

»Ok. das macht 5 Euro .«

»5? Kostet das seit diesem Jahr nicht 7?«

Sam musterte sie von oben bis unten. »Eigentlich schon ... Aber sieh es als kleine Entschädigung. «

Christel zuckte mit den Schultern und reichte Sam einen Fünf-Euro-Schein.

Sie verabschiedete sich und sah an sich herunter. Lag es an dem selbst gestrickten Pullover ihrer Mutter oder war der Spind wirklich so schäbig?

Der Gong zur nächsten Unterrichtsstunde schallte durch das Gebäude. Sie schlug sofort die Richtung zu ihrem Bio-Raum ein.

Sam und Marlena hatten nicht geblufft, das stand fest. Sie öffnete den Spind mit der Nummer 31. Ein Quietschen, das ihr in den Ohren wehtat, ertönte. Ein ranziger Geruch schlug ihr entgegen. So wie es aussah, hatte ihre Vormieterin nicht alle Gegenstände rausgeschafft. Sie erfasste ihr eigenes Gesicht, als sie hineinsah. Ihre braunen, welligen Haare, die mit einem Stich von Pumuckl-Orange glühten, fielen ihr über die Schulter und ihre rundliche Brille thronte etwas schief auf ihrer sommersprossigen Nase.

Sie rückte sie zurecht und sah sich um. Außer dem Spiegel lagen auf dem Boden eine Packung Kaugummi, ein paar lose Arbeitsblätter, eine Klausur? Sie nahm das Blatt in die Hand und fand keine Zensur, sondern einen traurigen Smiley. Wenn sie das Papier in rote Farbe tunkte, würde man keinen Unterschied wahrnehmen. Sie warf einen Blick auf die Kopfzeile des Blattes.

Name: Liane Hertz Datum: 16.05.2018

Der Name war ihr neu. Aber eine Sache hatten sie gemeinsam. Christel verstand genauso wenig etwa von den Aufgaben wie ihre Vormieterin. Sie zerknüllte das Blatt und ihre Hand setzte zur Bewegung an, um es auf den Boden zu werfen. Sie ermahnte sich zur Vernunft und beschloss, es später in einen Mülleimer zu entsorgen.

Seufzend schmiss sie ihre schweren Bücher in den Spind und stellte mit Vergnügen fest, dass ihre Tasche um zwei Drittel leichter war. Sie schloss ihren rostigen Gefährten.

»Christel!«

Ein Mädchen mit hellblonden, glatten Haaren und Kopfhörern in den Ohren kam auf sie zu. Christel erkannte ihre Freundin Sienna wieder.

»Hey, da bist du ja. Ich habe schon nach dir gesucht.« Sie warf einen Blick auf den Spind. »Du hast ja noch einen erwischt! Und ich dachte, du hast mich in der Pause umsonst sitzen gelassen.«

»Ja, das war der Letzte. Ist nicht so luxuriös, aber was soll’s?«

»Egal. Hast du schon ein Schloss? Würde ich dir dringend empfehlen, bei dem Teil. Lukas hat sich irgendeinen teuren High-Tech Kram gekauft. Als würde er darin seine gesamten Ersparnisse aufbewahren!«

Lukas war ein Freund von ihnen, mit dem sich Sienna einen Spind teilte. Bei ihm war so eine Investition nicht verwunderlich.

»Ach, ein normales Schloss reicht mir schon«, murmelte sie nur, denn sie hatte keine Lust, sich jetzt mit Sienna über Spinde zu unterhalten. Hatte sie einmal den Mund geöffnet, redete sie wie ein Wasserfall.

Nr. 31 spielte keine größere Rolle.

2

31.08.2018, Freitag

Schüler liefen mit ihren Freunden durch die Gänge. Sie erzählten einander, wie langweilig der Unterricht war und spekulierten, wer beim Vokabelabfragen dran-genommen werden würde. Dieses Jahr würde Christels Zeugnis eine bessere Note zieren. Zwischen dem Ziel und ihr lag eine Treppe zum Überwinden.

Der durchdringende Gong der Glocke schallte durch die Schule und das Foyer füllte sich. Sie bog kurz vor dem Ausgang zum Pausenhof in einen Gang ab und entkam der Menschenmasse. Ihre Schultern, auf denen sie ihren Rucksack trug, lockerten sich. Mit eiligen Schritten lief sie zum Ende des Flurs. Einige Schüler standen an der linken Seite der Spinde und wühlten darin.

Dämliche Mathehausaufgaben. Jetzt muss ich extra diesen langen Weg gehen.

Sie erreichte ihr Ziel. Die anderen Schüler waren fertig und ließen sie allein. Niemand marschierte denselben Weg wie sie entlang. Ihre Spindnachbarn hatte sie bisher nicht gesehen. Sie stellte ihren Rucksack ab und öffnete den Spind. Sie beugte sich zu ihrer Tasche und griff nach ihren Büchern. Dann hielt sie inne und spulte die Bewegung zurück. Stille. Gedämpfte Kinder-schreie durbrachen sie in unregelmäßigen Zeitabständen. Doch das war es nicht, was sie veranlasste, einen Blick ins Innere der Höhle zu werfen.

Hatte sie ihre Klausurhefte nicht auf einen getrennten Stapel neben den Büchern gelegt?

Wieso lag dann ihr Deutschbuch zwischen den Heften? Sie legte das es auf den passenden Stapel.

Das leere ›Wasmachstduhier‹ Gefühl umgab sie. Sie fummelte an ihrem Ohrläppchen herum. Der Ohrring saß wieder locker. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem Mathebuch. Warum rutschte es so weit? War der Boden uneben?

Sie beugte sich tiefer in den Spind und der Ohrring, ein teures Geschenk ihrer Großmutter, verschwand in ihren Sachen.

Frustriert packte sie ihr Mathebuch in die Tasche und räumte alle Sachen heraus. Es dauerte eine Ewigkeit. Nachdem sie den glänzenden Boden betrachtete, tastete sie ihn ab, um das Schmuckstück mit dem grünen Edelstein, welcher eine vergleichbare Farbe wie ihre Augen hatte, zu finden.

Unmöglich!

Im ganzen Spind ertastete sie ihn nicht, dabei musste er da drin sein!

Hektisch schob sie ihre Hand weiter hinein, um die Ecken abzutasten, und knallte mit ihren Fingern gegen die hintere Wand.

Es schmerzte nicht. Sie war nicht steinhart. Sie schlug ein zweites Mal dagegen. Es war Pappe.

Sie blinzelte. Wie alt und billig waren diese Spinde? Was sollte sie auch von ihrer Schule erwarten? Dass sie die Aufbewahrungsmöglichkeiten mit goldener Seide auspolsterten?

Nr. 31 hatte bessere Tage erlebt. Die Rückwand hatte möglicherweise Beulen und morsche Stellen aufgewiesen, sodass man sie mit gleichfarbigem Karton ausgekleidet hatte, damit nichts zwischen den Spinden und die Wand fiel.

Aber wieso war der Karton dann angeschnitten?

Wenn sie dagegen drückte, schob sie die untere Seite ein Stück zurück. Ihre Finger schlossen sich um einen kleinen Gegenstand. Erleichtert nahm sie ihren Ohrring und steckte ihn in ihre Hosentasche. So schnell würde er ihr nicht wieder entkommen.

Eine schwarze Ecke von einem Gegenstand lugte aus dem Schacht heraus. War es ein Buch?

Sie packte es und zog es langsam und bedächtig hervor.

Der Einband war mattschwarz gefärbt, ohne jeglichen Schriftzug oder Prägungen. Kein Roman.

Sie schlug es auf und blätterte einmal durch. Über die Blätter zog sich eine einheitliche Schreibschrift. Die Einträge waren im Buch verteilt, vor jedem waren Ort und Datum notiert. Sie schlug die erste Seite auf und las.

Hamburg, den 16.06.2017

Liebes Tagebuch,

Ich bin froh, dass Micah dich mir zum Geburtstag geschenkt hat. Ich denke, dass ich mich schon länger nach etwas gesehnt habe, wo ich meine Gefühle niederschreiben kann, nachdem ich letztes Jahr mit dem Tagebuch-Schreiben aufgehört habe, weil ich keine Lust mehr hatte, JEDEN Tag einen Eintrag zu verfassen. Aber ich hab mich dazu entschlossen wieder anzufangen. Ich werde hier reinschreiben, wenn etwas passiert, das du wissen sollst.

Was auch immer, ich fahre jetzt mit Micah und Chloe zum Strand an die Nordsee.

Wir sehen uns (oder schreiben uns eher).

Deine Liane

PS: M+L

Derselbe Name wie auf dem Test, den sie gefunden hatte. In Gedanken verloren blätterte sie das Buch durch. Hatte ihre Vormieterin es dort vergessen? Im Spind hatten auch andere Sachen von ihr gelegen. Sie redete mit dem Tagebuch wie mit einem Menschen. Wieso hatte sie es nicht mitgenommen, als sie von der Schule ging? Wäre das nicht ein Anlass, reinzuschreiben? Ihre Finger glitten über die Seiten, sie suchte nach einem Eintrag, der ihr Aufschluss darüber gab.

Hamburg, den 01.05.2018

Lieber Micah,

Langsam halte ich es echt nicht mehr aus, seit du mich verlassen hast, ist mir nur dieses Buch von dir geblieben, meine Eltern nerven total, mein Vater hat sich ›extra für mich‹, die nächste Woche frei genommen, so ein Quatsch, als würde das was bringen.

L.

›Lieber Micah‹? War das nicht ihr Freund? Was meinte sie mit ›verlassen‹?

Abgesehen davon hatte sie kaum auf ihre Zeichensetzung geachtet. Christel blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite. Darauf folgten Leerseiten.

Hamburg, den 14.05.2018

Lieber Micah,

Endlich kann meine Rache beginnen, nachdem mich Mama dazu gezwungen hat für drei Tage zu vereisen. ›Pfingsturlaub!‹, ich kotz’ gleich. Als ob ausgerechnet das, meinem Leben noch irgendeinen Sinn geben könnte.

Liane

Wow, was war nur los mit ihr? Die ersten Einträge hatte sie ordentlich verfasst und der Inhalt klang normal. Etwas musste passiert sein. Hatte sie vorgehabt, Micah das Tagebuch zu überreichen? Wieso versteckte sie es dann im Spind?

Besser, ich lese der Reihe nach. Aber hier bleibt mir keine Zeit.

Sie sah sich kurz um und blätterte einige Seite weiter. Das war nicht der letzte Eintrag! Es gab noch einen mit kaum lesbarer Schrift, als hätte sie ihn in einer Minute hingekritzelt. Der Eintrag war nicht einmal so alt ...

Hamburg, den 15.08.2018

Lieber Micah,

endlich bin ich wieder zurück aus diesem ätzenden Kur-Aufenthalt. Als hätte der Pfingsturlaub im Frühjahr nicht gereicht. Die dachten wohl, mir macht es Spaß, mich in einer Kur therapieren zu lassen. So sieht es vielleicht aus, aber nichts kann mein gebrochenes Herz heilen. Eher hatten sie Spaß, als ich weg war.

Ich hoffe, meine Eltern ahnen nichts, aber das sollte nicht schwer werden, sie verstehen mich ja sowieso nicht.

Liane

»Christel!« Die Stimme ihrer Freundin Sienna holte sie in die Gegenwart zurück.

Oh nein!

Sie hatte ihren Freunden doch versprochen, sich zu beeilen. Sie warteten schon seit einer Ewigkeit auf sie.

Schnell schob sie das seltsame Tagebuch zurück in das Versteck und raffte ihre Bücher grob zusammen. Sie nahm sich die Zeit und stapelte sie mehr oder weniger ordentlich.

»Komme schon!«, rief sie und warf sich ihren Rucksack über. Sie lief zu ihren wartenden Freunden.

Ein Gedanke ließ sie nicht los. Warum versteckte ihre Vormieterin ein Tagebuch in ihrem alten Spind? Und vor allem: Wie schrieb sie in den Sommerferien darin, wenn sie nicht mehr auf der Schule war?

3

03.09.2018, Montag

Schon jetzt hingen die Plakate für das 50-jährige Jubiläum an den Schulwänden, dabei würde dies erst um den 20. September herum abgehalten werden.

Die Vorstellung hinzugehen, löste keinen Reiz bei ihr aus.

Sie wollte mehr Zeit mit Sienna verbringen. Ihre Freundin erlebte einige Unannehmlichkeiten zu Hause, äußerte sich darüber aber ungern. Christel hatte bloß erfahren, dass ihr großer Bruder ausgezogen war und die Ehe ihrer Eltern durch die Streitereien kriselte. Sie würde ihrer Freundin gerne helfen. Aber wie half man jemanden, der nicht mit einem sprach?

Einige Leute in ihrem Alter trugen Zeitungen aus oder bereiteten sich darauf vor, Bewerbungen zu schreiben. Was sie mit ihrem Leben nach der Schule anstellte, schwebte in unerreichbarer Ferne. Das einzige Fach, indem sie in ihre Tagträume abschweifen konnte, war Kunst.

Was solls.

Sie setzten sich an einen Tisch in der Cafeteria. Christel gab Sienna, die gedankenverloren Musik auf ihren Kopfhörern lauschte, ihre Hausaufgaben zum Abschreiben und blätterte dann ungestört im Tagebuch.

Nachdem sie sich damit befasst hatte, war ihr einiges aufgefallen. Die Verfasserin war nur so von Problemen umzingelt. Christel hatte heraus gefiltert, dass ihre Eltern sie kontrollierten. Sie erinnerte sie an eines dieser Kinder in manchen Fernsehprogrammen, die sich abends mit ihren Freunden betranken und bis spät in die Nacht versuchen Leute abzuziehen, um am darauffolgenden Tag genug Geld für ihre Geschäfte mit Kriminellen zu haben. Jugendliche, die erst gegen vier Uhr morgens nach Hause kamen und ignorierten, dass ihre Eltern vergeblich versuchten, sie zu kontaktieren. Darauf gab es unzählige Andeutungen.

Zudem fing sie im Laufe des Buches an, an einen Micah gerichtet zu schreiben. Eine einzige Person, der sie sich in dem Kreis von Problemen anvertraute.

Und zuletzt ... die verwaisten Seiten. Oft folgten nach einigen normal aussehenden Blättern eine Reihe an weißem Papier. Und, wenn sie diese übersprang, fand sie ein paar Einträge verstreut im Buch. Völlig aus dem Kontext gerissen. Das war mittlerweile das größte Mysterium für sie. Wieso hatte die Tagebuch-Schreiberin immer wieder mit dem Schreiben aufgehört und dann einige Tage oder Wochen später wahllos auf anderen Seiten weitergeschrieben?

Ein Junge mit dunkelblonden Haaren, es war Lukas, kam in ihr Sichtfeld. »Hi, was hast du da?«

»Ach«, Christel blätterte langsam zurück zu dem letzten Eintrag, den sie gelesen hatte, »das ist dieses Tagebuch, das ich gefunden habe.«

Sie hoffte, Lukas würde nicht weiter nachfragen und sich zu Sienna setzen.

Er schob den Stuhl neben ihrer Freundin zurück. Wo sollte er sonst hingehen? Alle anderen Stühle waren besetzt. Christel erfreute es nicht, an großen Tischen zu sitzen. Er streckte seine Hand nach dem Buch aus, ehe sie es realisierte. Sie biss sich schmerzhaft auf die Zunge: besser sie sagte nichts. Was war schon dabei.

Doch Lukas las nicht, er erfasste die Seitenränder, drehte das Buch ein paar Mal.

»Schon seltsam, diese leeren Seiten, findest du nicht?«

Die Frage kam überraschend. Hatte er sie zuvor dabei beobachtet, wie sie über dem Buch rätselte?

Christel nickte und fragte sich, worauf er anspielte.

»Vielleicht sind die Einträge verschlüsselt?«

»Wie denn?«

Lukas war ein seltsamer Kauz. Aber, wenn jemand das Mysterium lösen konnte, dann er. Christel erinnerte sich daran, wie er ihnen, damals, als sie in derselben Klasse waren, geheime Botschaften durch den Raum reichte, die sie entzifferten.

Er hielt das Buch waagerecht vor seinem Auge. »Ich denke, da steht was. Ist dir aufgefallen, dass die leeren Seiten alle oben an der Seite minimal eingerissen sind?«

Er gab ihr das Buch zurück. Zuerst wollte sie ihm vorschlagen, sich eine Brille zu beschaffen, dann sah sie es. »Warum hat sie die Seiten markiert? Ist da was streng geheimes oder was hatte sie vor? Aber womit hat sie dann geschrieben? Mit unsichtbarer Tinte?«

»Klar, natürlich! Ich weiß sogar, wie wir das lesen können! Komm mit. Wir haben zehn Minuten.«

Verwirrt steckte Christel das Tagebuch in ihre Tasche und stolperte Lukas hinterher. Er verließ das Schulgebäude und schlug den Weg in Richtung des Kiosks ein, der neben der Schule stand.

»Was woll’n wir da?«

»Wirst du gleich sehen.«

Sie betrat den Kiosk hinter ihm. Der Kioskbesitzer musterte sie kurz und widmete sich dann wieder der Kasse.