Der stille Schrei - Leon Specht - E-Book

Der stille Schrei E-Book

Leon Specht

4,4

  • Herausgeber: B3 Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

"Der stille Schrei" ist der Debütroman von Leon Specht und der erste von drei geplanten Spessart-Krimis. Die Romane sind dabei jeweils in sich abgeschlossen. Die Handlung Ort des Geschehens ist das hessische Jossgrund - ein idyllisches Dorf im Spessart. Hier fristet die Protagonistin Claudia Röder ein zwar luxuriöses, doch einsames und langweiliges Dasein. Materiell fehlt es an nichts - ist doch der Gatte einer der reichsten Männer der Region mit guten Kontakten in die Wirtschaft und in die Lokalpolitik. Doch hinter dieser Fassade des attraktiv und erfolgreich scheinenden Paares brodelt Angst und Gewalt. Schon lange sinnt die Protagonistin Claudia Röder auf einen Plan ihren cholerischen und gewalttätigen Ehemann loszuwerden. Wie sie sich mit Hilfe eines Psychologen und eines Lauftrainers von ihrem Mann zu befreien versucht, ob und wie es ihr gelingen wird, dies sind die Themen dieses psychologisch tiefgründigen Romans.

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Seitenzahl: 141

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Für Otto

LEON SPECHT

Der stille Schrei

Kriminal

ROMAN

Leon Specht, Der stille Schrei

© 2012 B3 Verlags und Vertriebs GmbH, Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Weitere Titel des B3 Verlages unter www.bedrei.de

Umschlag: Bayerl & Ost, Frankfurt am Main

Druck: KLARdruck, Marktheidenfeld

ISBN 978-3-943758-40-5eISBN 978-3-943758-41-2

INHALT

Prolog

Feuerstreifen

Fragestunde

Frankfurt

Burgjoss

Tim

Endorphine

Karl

Pulsfrequenz

Kaviarspaghetti

Amnesieverlust

Mordauftrag

Morgenstund

Landrat

Zerwürfnis

Verhör

Qualen

Seelenkater

Glück

Gelnhausen

Testament

Präludium

Sonntag

Frankfurt Marathon

Reset

Übergang

Kein Epilog

PROLOG

Leon, ich muss dir eine verrückte Geschichte erzählen. Ja, sie ist wirklich verrückt. Ich bin schuld an einem Verbrechen.“

Meine Augen weiteten sich. Er registrierte es und zuckte, gar nicht seine Art, hilflos die Schultern. „Und ganz paradox: in Ausübung meines Hippokrates-Eids.“

Dann spannte er aber seine Schultern und fuhr auf seine souveräne und so einzigartige Art fort. „Also, hör zu und mach etwas draus. Eines Tages kam eine Klientin zu mir und trug mir ihr Leid vor. Ihr Mann behandle sie sehr schlimm. Er schlage und vergewaltige sie. Sie wisse nicht mehr ein noch aus. Über die Jahre sei sie innerlich fast zerbrochen, habe sich aufgegeben. Aus Kompensation habe sie sich Kummerspeck angefressen, fast 20 Kilogramm. Jetzt leide sie doppelt.“

Das Sonnenlicht fiel schräg auf sein lebensgegerbtes Gesicht und hob die tiefen Falten plastisch hervor. Er schwieg. Ich wusste, dass ich ihn in seiner Erzählung nicht unterbrechen durfte. Gleich fuhr er auch fort. „Also sagte ich der Frau, wie sie abnehmen solle und überhaupt in Bewegung kommen könne. Damit würde sie ihre Probleme lösen. Das viel anspruchsvollere Thema mit ihrem Mann wollte ich dann in der zweiten Sitzung angehen. Ich gab ihr einen weiteren Termin. Aber sie kam nicht.“

Er machte wieder eine Pause. „Auch die nächsten Wochen und Monate meldete sie sich nicht. Irgendwann vergaß ich sie im Strom der immer wieder neuen Patienten und ihrer größeren und kleineren Probleme. Bis eines Tages dieselbe Frau erneut in meine Praxis kam. Ich erkannte sie zunächst nicht. Und dann erzählte sie mir die Geschichte, was sie mit ihrem Mann angestellt hatte, weil ich ihr das so empfohlen hätte.“

FEUERSTREIFEN

Er schlug noch einmal zu. Und wieder. Der Lederriemen zischte auf meinen Rücken und hinterließ eine Brandspur. Ich wimmerte leise in mich hinein und zählte die Schläge, um mich abzulenken und den Schmerz zu verdrängen. Wimmern statt schreien. Früher hatte ich geschrien. Die körperlichen Schmerzen. Die seelischen Qualen. Je lauter ich schrie, desto stärker schlug er zu. Also lernte ich, leiser zu schreien. Konnte man still schreien?

Inständig hoffte ich, dass er sich verausgaben und ihm dann die Kraft oder Lust fehlen würde, mich auch noch zu vergewaltigen. Lieber ein brennender Rücken als seinen stinkenden Atem in meiner Nase und seinen ekelerregenden Körper auf meinem.

Beim letzten Mal hatte ich etwas Neues ausprobiert, seinen Schlägen irgendwie zu entkommen. Es war eine Mischung aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Scham, die mich zu dieser verrückten Idee geführt hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Jugendliche mit Freunden das Ohnmachtsspiel entdeckt hatte. Als 12-Jährige war ich mehr mit den Jungs aus meiner Klasse unterwegs, die mich immer noch akzeptierten, obwohl ich ein Mädchen war. Schlank und rank, noch keinerlei Brustansätze zu sehen, und eine ganz Wilde, war ich ihnen lieber als manch männlicher, aber merkwürdigerweise recht zart besaiteter Altersgenosse. Schließlich schreckte ich auch vor keiner Mutprobe zurück und war in vielen Spielen den Jungs ebenbürtig oder sogar überlegen. Wir tollten und liefen herum, und ganz oft war ich die Schnellste und Wendigste.

Damals spielten wir das Spiel, ohnmächtig zu werden. Man holte tief Luft und wurde von hinten von einem Partner mit dessen Armen umfangen. Er drückte auf den Brustkorb, und man hielt mit angehaltenem Atem dagegen. Nach kurzer Zeit wurde man ohnmächtig.

Als er mich letzte Woche schlug, hatte ich versucht, diesen Zustand selbst herbeizuführen. Und es hatte geklappt! Aus der Ohnmacht wieder erwacht, hatte ich erstaunt festgestellt, dass er mit seiner Züchtigung aufgehört hatte.

Ich beschloss, mein Glück erneut zu versuchen. Mit diesem Bild vor Augen, die Arme um meinen Körper geschlungen, mit dem Brustkorb auf dem Bett liegend, holte ich tief Luft und drückte die Arme noch fester an mich. Schwarze Funken tobten hinter der Netzhaut. Ein Schlag des Lederriemens, und das Licht ging aus. Einige Zeit später kam ich wieder zu mir und stellte erleichtert fest, dass es auch dieses Mal geklappt hatte.

Er brauchte offensichtlich meinen Widerstand, um sich abzureagieren. Wurde er größer, schlug er noch heftiger zu. Es schien ihn noch aufzuputschen. Erlahmte mein Widerstand und wurden meine Schreie leiser, ließ er in seinen Bemühungen nach. Sobald sich meine Körperspannung also durch die Ohnmacht auflöste, verlor er wohl ganz und gar die Lust, mich weiter zu peinigen. Vielleicht wollte er einfach nur seine Ruhe haben?

Kontrolle. Ja, er musste alles kontrollieren. Seine Mitarbeiter in der Firma, sein angehäuftes Vermögen, seine Frau, seine offizielle Geliebte.

Erschöpft stand ich auf und ging ins Bad. Ich wusste, dass ich jetzt Ruhe vor ihm hatte und wollte mich im heißen Badewasser entspannen. Während das Wasser einlief, schluckte ich ein schnell wirkendes Schmerzmittel, das mir der Arzt verschrieben hatte. Als das Badethermometer die richtige Temperatur anzeigte, legte ich mich in die Wanne und biss die Zähne zusammen, weil es dennoch sehr weh tat. Nach und nach beruhigten sich meine Nerven, und ich döste vor mich hin.

Schon oft hatte ich in diesem Zustand gelegen. Mir war bewusst, dass es mit mir immer weiter abwärts ging. Hatte ich anfänglich noch versucht, mich gegen seine Gewalt aufzubäumen, so hatte er nach und nach obsiegt. Jetzt, in diesem Moment wurde es mir klar: Je mehr ich mich aufbäumte, desto mehr musste er mich zähmen! Mir wurde klar, dass ich ihm so nicht entkommen konnte. Ich fand aber keinen Ausweg. Nur noch dunkel und leise schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, dass ich gerade dabei war, mich aufzugeben.

Prustend und hustend schreckte ich voller Todesangst auf. Ich war vor Erschöpfung eingedöst und mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche gekommen. Das Wasser brannte mir in Nase und Lunge. Die Schmerzen auf dem Rücken waren vergessen. Als der Hustenreiz langsam verschwand, realisierte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Morgen würde ich etwas unternehmen müssen. Nur was?

Ich stieg aus der Badewanne, trocknete mich ab und ging in mein Schlafzimmer. Müde zog ich mein teures Nachthemd über und spürte die Kühle der Seide wie Balsam auf meiner Haut. Nach wenigen Minuten war ich eingeschlafen.

FRAGESTUNDE

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, nahm ich als Erstes eine weitere Schmerztablette. Ich war schon Expertin in der Wahl der Dosierung. Kein Wunder. Mühsam ging ich mit steifen Muskeln in die Küche. Ich wusste, dass ich allein sein würde und genoss die Stille im Haus. Er war Frühaufsteher und musste in seiner Firma der Erste sein: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.

Das Weißbrot bruzzelte mit nussigem Aroma zwischen den Heizstäben des Toasters, die Kaffeemaschine gluckste zufrieden vor sich hin, und durch das leicht geöffnete Fenster mischte sich eine Vogelstimme ein. Mein kleines Paradies. Nein, meldete sich die andere Stimme in meinem Kopf: dein Gefängnis. Mach dir nichts vor.

Während beide Stimmen leise vor sich hin stritten, kaute ich das getoastete Weißbrot und genoss den buttrigen Honiggeschmack. Ich beschloss, der kritischen Stimme zu folgen. Viel zu lange schon hatte ich mich belogen und war in die Lethargie abgesunken. Damit musste jetzt endlich Schluss sein, sonst konnte ich meinem Leben gleich ein Ende bereiten.

Im Schlafzimmer schlüpfte ich aus dem Seidennachthemd und betrachtete mich im Spiegel. Eine gebrochene und aufgequollene Frau sah mich deprimiert und vorwurfsvoll an. Früher hübsch. Andere sagten sogar schön. Lange Haare. Wellig. Unbestimmbare Farbe. Im Licht schimmernd. Gut duftend, hatte mal ein Junge gesagt, der mir beim Tanzen sehr nahe gekommen war. Die Augen. Mein Gott. Meine Augen. Ich weiß noch, wie ich früher meine Augen geliebt habe. Die viel zu spät wachsenden Brüste. Noch nicht Frau, aber auch nicht mehr Junge. Ambivalent. Chimäre. Aber die Augen waren Frau! Schon immer. Und jetzt? Der Tod blickte mich an. Dunkle Schreie.

Ich riss mich von diesem deprimierenden Spiegelbild los und wählte ein dezentes, aber elegantes Kostüm. Es sollte mir Selbstvertrauen geben und mich an bessere Zeiten erinnern. Damals, als Karl noch um mich gworben hatte und zumindest in dieser Phase liebevoll mit mir ungegangen war. Wir hatten eine Woche im Schwarzwald verbracht, waren viel, gewandert, hatten noch mehr gegessen und uns noch viel mehr geliebt. An einem Tag hatten wir die Boutiquen in Freiburg geplündert. Dieses Kostüm hatte ich viele Jahre nicht mehr angezogen. Als ich den Rock hochziehen wollte, spürte ich sofort, wie viele Jahre. Ich passte nicht mehr hinein! Was war das für ein Gefühl? Wut, Resignation, Selbstaufgabe? Ein bitterer Cocktail.

Also die zweite Wahl, ein maßgeschneiderter Hosenanzug, papageienblau, und eine Bluse in Safrangelb, dazu eine dünne Lederkrawatte. Ja, ich hörte Lisa, meine beste Freundin, aufschreien: Wie läufst du denn wieder rum? Oder ein anderer Vorwurf von ihr: Wieso läufst du ihm nicht einfach weg?

Das Weglaufen war mir nicht möglich. Nach den Shopping-Touren und unendlich vielen schönen Stunden mit ihm war dann die Hochzeitsnacht gekommen. Wir hatten kirchlich geheiratet. Ich spürte den schweren Platinring an meinem Finger. Ungewohnt. Fesselnd. Viel später, nach dem Abendessen im trauten Kreis von wenigen Freunden im Sternerestaurant des Frankfurter Hofs, waren wir dort im Hotel auf unser Zimmer gegangen. Ich zog mich aus und legte mich aufs Bett. Er kam aus dem Bad, warf sich auf mich und fesselte mich dann ans Bett. Verwundert ließ ich es geschehen. Vielleicht hatte er eine ganz besondere Zeremonie vor?

Schon nach wenigen Minuten merkte ich: Ja, aber anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Keine Verführung à la 9½ Wochen, sondern härteste Brutalität. Meine erste Vergewaltigung. Ich versuchte, mich aufzubäumen. Die Fesseln schnitten in meine Haut. Ich blutete. Ich schrie. Er stopfte mir ein Tuch in den Mund. Dann bekam ich keine Luft mehr. Mein Widerstand erlahmte. Nachdem er mich vergewaltigt hatte und selbst schweißgetränkt auf mir lag, hörte ich ihn sein Mantra flüstern. Wenn du mich verlässt, bringe ich dich um. Er sagte es so lange, bis ich vor Erschöpfung einschlief.

Trotzig reckte ich das Kinn nach oben. Ich brauchte jetzt einen verrückten Kick, sonst würde ich es nie schaffen, mich aus meinem Elend zu befreien. Ich holte die Adresse des Therapeuten in Frankfurt, die ich von Lisa hatte, aus dem Versteck zwischen meinen Büchern, die Karl nie anfassen würde. Frauenscheiße, so sein derbes Etikett für meine Lesestaffel.

Lisas Etikett für den Therapeuten: unglaublich, wie klar und weitsichtig er denkt. Ein sehr guter Zuhörer. Stell dir vor: Er stellt dir ein paar Fragen und du bist fassungslos, wie viel er von dir weiß. Und was du alles von dir nicht weißt. Du merkst es daran, dass du seine Fragen nicht mehr beantworten kannst.

Schon damals hatte ich den Kopf geschüttelt. Meine kleine Freundin Lisa. Sie war so schnell zu beeindrucken! Ich hatte alle Antworten auf jede Frage, nur wusste ich nicht, wie ich aus meiner Falle herausfinden sollte. Dafür war schließlich ein Therapeut zuständig.

Meine kritische Stimme meldete sich leise: Wenn du diese entscheidende Antwort weißt, dann findest du hier auch raus! Ja, ich war bereit, Lisa einen kleinen Erfolg zuzugestehen. Aber so beeindruckend konnte kein Therapeut dieser Welt sein, zumal nicht ein Mann. In der Garage stieg ich in meinen kleinen schicken Roadster, ein Geschenk von Karl zur Hochzeit. Tiefzeit. Triefzeit. Mein Gott, wie dämlich war ich damals gewesen, so auf ihn und seine coolen Macho-sprüche hereinzufallen. Verärgert über mich selbst gab ich zu viel Gas, was der Roadster mit einem Schlenker des Hecks quittierte. Ernüchtert nahm ich meinen Fuß vom Gaspedal und war dankbar, dass der Wagen sich stabilisierte.

Die weitere Fahrt verlief wie in Trance, von einigen Hinweisen des Navigationssystems begleitet. Wie würde ich ihm meine Geschichte erzählen? Wie konnte ich mein Gesicht wahren? Wie die Wahrheit so erzählen, dass mich meine ganze Schmach und Schande nicht in meinem winzigen Rest Selbstwertgefühl beschädigen würde?

Ich begann zu spüren, dass es nicht einfach werden würde. Mein Navi fand die Tiefgarage in Frankfurt unter dem Goetheplatz, meine hochhackigen Schuhe den Weg in die Goethestraße, sonst immer der Weg für edelste Einkäufe, nein: Prostitutionsgelder, schalt mich die kritische Stimme in meinem Kopf. Paralysiert stand ich auf einmal vor der Tür seiner Praxis. Mir war eiskalt. Eine meiner inneren Stimmen rief mir zu: Geh sofort wieder! Ich drehte mich schon um und war im Begriff, erneut vor mir selbst wegzulaufen. Ich brauchte das Flüstern der zweiten Stimme gar nicht zu hören. Der Fall war klar.

Mein Mittelfinger machte sich selbstständig und übernahm die Verantwortung. Er drückte zitternd auf den Klingelknopf, während ich darüber nachdachte, wann und wieso ich mir das angewöhnt hatte. Mittelfinger statt Zeigefinger. Eine Ahnung umschlich mich. Der Türschnapper summte und lud mich ein, die Tür aufzustoßen. Ich verfiel in völlige Bewegungslosigkeit. Starr starrte ich auf die Tür. Der schmutziggraue Anstrich fing an zu verschwimmen, Bilder tauchten auf und verwirrten mich, bis sich die Tür plötzlich öffnete. Ein großer Mann stand vor mir.

„Dr. Bring.“ Er lächelte mich ganz ruhig an. „Klemmt die Tür mal wieder? Das passiert des Öfteren. Kommen Sie herein. Sie sind doch sicherlich Frau Röder.“

Ich konnte nur noch nicken und ließ mich von ihm in seine Praxis führen. Willenlos. Ein Schaf. Völlig hypnotisiert.

„Meine Assistentin hat heute einen Tag Urlaub genommen, weil sie ihre Wohnung neu möbliert. Sie hat nämlich einen neuen Freund, der demnächst bei ihr einzieht. Vorher schafft sie noch Ordnung. Heute muss ich also den Kaffee oder Tee selbst kochen. Was möchten Sie denn trinken?“ Er drehte sich zu mir um und schaute mich aus seinen tiefblauen Augen durchdringend an.

„Ein Glas Wasser“, murmelte ich leise. Er nickte und verschwand in der Küche, mich einfach im Flur stehen lassend.

Ich schaute mich um. Ein langer weißer Gang. Rechts und links Türen. Einige Bilder, schwarz-weiße Fotos, symmetrisch genau aufgehängt. In welches Zimmer sollte ich gehen?

„Bitte gehen Sie in das zweite Zimmer auf der linken Seite, hinter dem Bild mit der Birke.“

Konnte er meine Gedanken lesen? Das Bild mit der Birke: Gebannt blieb ich stehen. Wie schön dieses Foto war! Eine Komposition in Weiß und Schwarz. Das zebragefleckte Muster der Birke zog sich über das ganze Bild hinweg. Auch der Hintergrund zeigte diese Struktur. Ich ging näher, um zu ergründen, was es war und was die Natur dort komponiert hatte.

„Ein wunderschönes Bild, nicht wahr?“

Seine tiefe und klare Stimme war so nah an meinem Ohr, dass ich seinen Atem spüren konnte. Ich hatte ihn nicht kommen gehört.

„Sie fragen sich, wie dieses Bild entstanden ist.“ Nach einer Pause des Schweigens fuhr er fort. „Tja, da müssen wir Thea fragen, meine Assistentin. Sie hat das Bild geschossen und verweigert mir bis heute die Antwort. Bitte kommen Sie doch in mein Sprechzimmer.“

Einladend zeigte er mir den Weg, ließ mich in einem tiefen Sessel Platz nehmen, in dem ich fast versank, und stellte mir das Glas Wasser auf einen Beistelltisch.

„Was führt Sie zu mir? Was ist Ihr Anliegen?“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mich an. Sein Blick: ruhig, gelassen, weise. Ich wurde wieder starr vor Angst.

Er lächelte. „Entspannen Sie sich. Trinken Sie erst einen Schluck.“ Zögernd gehorchte ich und führte das Glas an meine Lippen. Der erste Schluck löste meinen Staudamm. „Mein Mann schlägt mich. Er vergewaltigt mich. Er tötet mich, auf Raten.“ Tonlos brach es aus mir heraus.

Schweigend schaute er mich aus seinen gütigen Augen an. In seinem Blick lag alles. Verständnis. Anteilnahme. Tiefe. Die Stille zwischen uns war eine magnetische Form der Verbindung, ein eigenes Universum. Proton und Elektron. Stabilität. Schwingungen. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, dass meine Wunden zu heilen begannen. Ich hätte gehen können. Aber eine andere innere Stimme sagte mir: Nutze diese Gelegenheit. Sprich dich aus. Nimm alles mit, was du brauchst. Es wird nur diesen einen Termin geben.

Also holte ich tief Luft und begann zu sprechen. „Das erste Mal schlug er mich in der Hochzeitsnacht. Davor war er der charmanteste Liebhaber, den man sich nur vorstellen konnte. Er erfüllte mir jeden Wunsch. Einkäufe. Reisen. Konzerte. Im Hotel Atlantic in Hamburg trank er einmal Udo Lindenberg unter den Tisch, den wir dort spätnachts zufällig an der Bar trafen, bis sich dieser bereiterklärte, mir ein Autogramm zu geben. Ich war ganz überrascht: Udo malte mir ein kleines Bild. Es ist wunderschön geworden. Und er schrieb ein paar Zeilen darunter: Pass auf dich auf. Udo.“

Dr. Bring runzelte die Stirn. Ich nickte. „Ja, damals erschloss sich mir der Sinn nicht. Aber vermutlich hatte er meinen Mann verstanden und wollte mich warnen.“