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Zwei Schwestern zwischen Geheimnissen, Verrat und dem Kampf für ihre Familie
Der bewegende Auftakt einer Familiensaga über eine Spitzenmanufaktur in turbulenten Zeiten
Plauen, 1878: Stadt der Spitzen, Stadt der Träume
Als die junge Helene ein uneheliches Kind erwartet, gefährdet sie nicht nur ihren eigenen guten Ruf, sondern auch den der Spitzenmanufaktur ihrer Familie zu Hohenlinden. Es gibt nur eine Rettung – ihre bereits verheiratete Schwester Johanna. Sie gibt Helenes Tochter als ihre eigene aus und gemeinsam bewahren die Schwestern dieses delikate Geheimnis. Doch der Preis ist hoch: Helene leidet schwer unter der Trennung von ihrem Kind. Auch die unlauteren Machenschaften von Johannas Ehemann rütteln an dem fragilen Gerüst der Familie und bedrohen den notwendigen Schritt der Manufaktur in das Zeitalter der Industrialisierung. Johanna und Helene müssen sich entscheiden: Was ist wichtiger – Ansehen oder persönliches Glück?
Erste Leser:innenstimmen
„Herausforderungen und Stimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts bieten die ideale Kulisse für dieses fesselnde Familiendrama.“
„Die Charaktere in diesem historischen Roman sind mit so viel Liebe zum Detail gezeichnet und haben mich tief berührt.“
„Ein echter Pageturner mit historischem Flair!“
„Die perfekte Familiensaga für alle, die Geschichten mit Herz und Tiefe lieben!“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 558
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Plauen, 1878: Stadt der Spitzen, Stadt der Träume
Als die junge Helene ein uneheliches Kind erwartet, gefährdet sie nicht nur ihren eigenen guten Ruf, sondern auch den der Spitzenmanufaktur ihrer Familie zu Hohenlinden. Es gibt nur eine Rettung – ihre bereits verheiratete Schwester Johanna. Sie gibt Helenes Tochter als ihre eigene aus und gemeinsam bewahren die Schwestern dieses delikate Geheimnis. Doch der Preis ist hoch: Helene leidet schwer unter der Trennung von ihrem Kind. Auch die unlauteren Machenschaften von Johannas Ehemann rütteln an dem fragilen Gerüst der Familie und bedrohen den notwendigen Schritt der Manufaktur in das Zeitalter der Industrialisierung. Johanna und Helene müssen sich entscheiden: Was ist wichtiger – Ansehen oder persönliches Glück?
Erstausgabe Mai 2025
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-653-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-929-0
Covergestaltung: Anne Gebhardt Unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Vic, © SDF_QWE, © comotomka © Adobe Firefly © Sammlung Vogtlandmuseum Plauen Lektorat: The Write Spirit
E-Book-Version 12.08.2025, 13:46:57.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Die Handlung des Buches lehnt sich an historische Ereignisse an, weicht aber in einigen Aspekten von den tatsächlichen Geschehnissen ab. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf geschichtliche Authentizität.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Für Colinne
Helene bebte. Es verlangte sie nach einem Schrei, doch sie atmete nur ein paarmal tief ein und aus. Die würzige Morgenluft flutete ihre Lungen und bescherte ihr eine Gänsehaut. Aus den Augenwinkeln sah sie den Dunst, der den Nüstern ihres Pferdes entwich.
Ich kann dieses Gefühl nicht mehr ertragen. Es muss einen Ausweg für mich geben. Ich will endlich wieder frei sein … Doch selbst der härteste Galopp und die wohltuende Wärme ihres Pferdes erlösten ihr steifgefrorenes Inneres nicht. Es schien unmöglich, der Wahrheit, die ihr aus jeder Pore troff, zu entkommen.
Der leichte Stoff ihres sommerlichen Reitkleides hatte sich vor ihr aufgebauscht, als sich Helene vor Minuten energisch in den Sattel geschwungen und ihrem braunen Hengst etwas ins Ohr geflüstert hatte. Sie wusste, das Rascheln des Stoffes würde Golden anstacheln, und ja, das elegante Tier hatte seine Hufe hart ins nebelfeuchte Gras gesetzt. Nun verfielen sie in einen steten Galopp. Sie konzentrierte sich auf die Spannung in ihren Muskeln, spürte hoffend in sich hinein. Bald schon fühlte sie jede Faser ihres Körpers, pochend vernahm sie ihr Herz in den Schläfen. Längst hatte sich die kühle Morgenluft den Weg durch den Stoff ihrer Jacke gesucht und die Härchen auf ihren Armen aufgerichtet. Ihr braunes Haar war zerzaust, doch sie hielt nicht an. Verbissen versuchte sie, dem nagenden Gefühl davon zu galoppieren, das sich tief in ihre Eingeweide gebohrt hatte.
Helene liebte diese Zeit am Tag, wenn er jung an Stunden, seine Schönheit nur für sie allein zu entfalten schien. Die Sonne stand noch niedrig und einzig die Burschen und Mägde gingen in den Stallungen von Gut Hohenlinden in der Nähe des vogtländischen Adorf, bereits ihrem Tagwerk nach.
Und so war sie erpicht darauf gewesen, diesen herrlichen Spätsommermorgen ohne beobachtet und gemaßregelt zu werden, auf dem Rücken ihres Lieblingspferdes zu begrüßen. Sie hatte sich nach dieser einsamen Stunde gesehnt, denn es war Zeit für eine Entscheidung. Im Einklang mit der Natur glaubte sie, endlich einen Ausweg zu finden.
Vor nicht einmal fünfzehn Minuten hatte sie den Innenhof des Gutes schnellen Schrittes auf Zehenspitzen durchquert, um ungehört zu den Stallungen zu gelangen. Fast schon schien ihr Ziel erreicht, als sie ihren Hut vermisste. Zögernd hatte sie sich nach der Kellertreppe umgesehen, von der sie gekommen war.
Bei dem Gedanken jedoch, zurückgehen zu müssen, um Mutters Ansprüchen zu genügen, stöhnte sie unmerklich auf. In den Wirtschaftsräumen des Gutshauses wäre ihr der Majordomus Hans Hofstetter begegnet, denn dieser hatte die Angewohnheit, immer da lautlos aufzutauchen, wo man ihn nicht vermutete. Überall schien der Mittfünfziger präsent zu sein und über alles, was auf dem Gut geschah, zu wachen. Er hätte dafür Sorge getragen, dass einer der Stallburschen sie begleitete. Dann wäre es vorbei gewesen mit ihrer Freiheit und der Möglichkeit, endlich ein Stündchen für sich zu sein. Und so hatte sie nach ihrem Bernstein gegriffen, den sie seit einigen Wochen an einer Kette um den Hals trug, ihn vorsichtig unter dem Kragen ins Kleid geschoben und entschieden, ohne den unbequemen Hut auszureiten. Hastig war sie durch eine schmale Seitentür in den Stall gehuscht.
Ihr letzter Ausritt war eine Weile her. Nach einem beherzten Sprung über einen Weidezaun hatte dieser leider mit einer unsanften Landung geendet. Das Bild ihrer echauffierten Mutter, die entgeistert über ihr derangiertes Aussehen, sofort ein Reitverbot ausgesprochen hatte, stand ihr noch immer vor Augen. Kurz zögerte Helene, doch sie vermisste die Pferde, ihren Geruch, das berauschende Gefühl beim Reiten. Mutters Verbot hallte nur noch schwach in ihr wider und das Verlangen nach einem ungestümen Ritt bekam an diesem Morgen die Oberhand.
Sie musste auch an ihre Schwester denken, die sie an jenem Frühsommertag in ihrem Zimmer aufgesucht und liebevoll mit einer Portion Linseneintopf versorgt hatte. Anders als sie selbst war Johanna eine hochgewachsene, schlanke junge Frau und einzig ihre muskulösen Hände zeugten von der körperlichen Arbeit, die sie auf dem Gut verrichtete. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den zu eng stehenden Augen, ganz wie die ihrer Mutter, war umrahmt von einem dicken Kranz blonder geflochtener Haare.
»Seit Tagen schon bist du so eigenartig, Schwesterlein. Ständig steckst du die Nase in dein Tagebuch, scheinst völlig abwesend zu sein. Was ist los mit dir?« Johanna hatte sie auffordernd angesehen, doch Helene war ihr ausgewichen.
»Nun sag schon, was muss man anstellen, damit Mutter einen nicht sehen will? Komm, rede mit mir.« Noch heute fühlte sie sich schlecht, wenn sie daran dachte, dass sie ihrer Schwester ihre innersten Sorgen verheimlichte. Einzig die Geschichte von ihrem dummen Missgeschick mit dem Weidezaun, dem zerschlissenen Hut, der Strafpredigt und dem Verbot allein auszureiten, hatte sie ihr preisgegeben. Blumig hatte sie jedes Detail ausgeschmückt und dabei in Windeseile den köstlichen Eintopf mit Speck verschlungen. Darauf hoffend, sie könnten miteinander wie immer die Zeit vergessen, während sie schnatternd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Und es war ihr gelungen.
Kurz sah sie zurück zum Gut. Noch immer kein Anzeichen, dass irgendjemand aus der Familie schon wach war. Keines der Schlafzimmerfenster schien geöffnet. Und so trieb sie Golden weiter hinaus auf die Felder.
Wie habe ich das vermisst, dachte sie. Im Stall könnte ich stundenlang stehen, riechen, fühlen und den Gäulen zusehen.Die wohlige Wärme, der mir so vertraute Geruch nach Stroh, Holz und den Ausdünstungen der Tiere hat mich eingehüllt wie eine mollige Decke. Pure Freude stieg in ihr auf.
Mit den Tieren verband Helene etwas Profundes, Reines. Es ließ sich nicht mit ihren Beziehungen zu Menschen vergleichen, die immer irgendeine Gegenleistung von ihr erwarteten. Die einzigen Personen, bei denen sie so nicht fühlte, waren Johanna und ihre Großmama. Karoline zu Hohenlinden führte das Gut im Andenken an ihren verstorbenen Mann und Sohn mit liebevoller Strenge und genauso ging sie auch mit ihr um. Am liebsten wäre ich selbst ein Fohlen in den Stallungen auf diesem Gut, wünschte sich Helene. Eingehüllt in herzliche lebenslange Fürsorge, ließe sich alles ertragen.
War sie den Pferden nahe, so machte sich in ihr eine wohltuende Anspannung breit und nur das flatternde Gefühl von Aufgeregtheit, das sie früher flutete, wenn sie an Curt dachte, kam diesem gleich.
Curt, schon wieder Curt … Mit aller Gewalt stahlen sich seine geheimnisvoll blickenden Augen in ihren Kopf. Seine für einen Mann ungewöhnlich langen Wimpern kamen ihr in den Sinn und ein prickelndes Gefühl übermannte Helene. So, als ob sie keinerlei Macht über ihren Körper hätte, raste ihr Pulsschlag. Fast unbewusst erhöhte sie das Tempo, in dem Golden und sie dahinflogen.
Unkontrolliert wanderten dabei ihre Gedanken zu den Stunden, die sie allein mit Curt Blasewitz verbracht hatte. Er, der Stargeiger der Bäderkapelle Bad Elster, war in ihre kleine, wohlbehütete Welt hereingebrochen wie ein Sommergewitter. Mit seiner unverwechselbaren Nonchalance und wohldosierten Schmeicheleien hatte er sie umgarnt, ihr zum ersten Mal im Leben das Gefühl gegeben, sie sei etwas Besonderes. Sie, die kleine, etwas pummelige Helene, mit dem Allerweltsgesicht. In seiner Gegenwart vergaß sie ihr, für ihren Geschmack, durchschnittliches Aussehen, hatte seine Komplimente dankend angenommen und aufgehört, sich ständig mit ihrer bezaubernden, älteren Schwester zu vergleichen.
»Aber hör doch auf«, hatte Blasewitz lachend gesagt und sie sanft auf den einzigen Stuhl gedrückt, der in seinem Pensionszimmer stand. »Johanna hat nicht dein Format. Sie ist fad und langweilig, ohne jede Ambition. Ständig plappert sie nach, was ihr Aufschneider von einem Ehemann von sich gibt, oder jagt den Komplimenten eurer Mutter hinterher. Sie ist so unscheinbar, wie du nie sein könntest.«
Diese Komplimente waren es gewesen, die sie unvorsichtig gemacht hatten. Berechnend hatte sie Gründe erfunden, allein mit ihrer Zofe nach Bad Elster zu reisen. Hier mal ein Besuch bei der Schneiderin, da mal ein Ausflug zu einem Stickkränzchen in der Stadt der Heilquellen, dann mal ein schmerzender Zahn, der nur beim Bäderarzt behandelt werden konnte. Sie hatte nicht im Geringsten gezaudert. Wäre Dorothea ihr auf die Schliche gekommen, hätte Helene ein Leben im Kloster bevorgestanden, da war sie sich sicher. Aber ihre Mutter hatte keinen Verdacht geschöpft und schien froh, dass sich die Tochter die Zeit zu vertreiben wusste. Sie hatte keine Fragen zu ihren Unternehmungen gestellt und wie durch ein Wunder hatte Helene nie eine der Freundinnen der Mutter getroffen, denen sie sich hätte erklären müssen.
Peu à peu hatte sie jegliche Vorsicht abgestreift. Sie war elektrisiert vom Timbre seiner Stimme, seinen eleganten Bewegungen, dem gefühlvollen Spiel auf der Geige und es war ihr unmöglich erschienen, seinem Drängen nicht nachzugeben. War sie um ihn gewesen, schien er seine Aufmerksamkeit einzig ihr zu widmen. Er hörte ihr zu, ihr der 17-Jährigen, die nichts als Flausen im Kopf habe, wie ihre Mutter immerfort betonte. Ja, die Mutter: ewige Nörglerin, stete Unterstützerin ihrer aparten und vor allem verheirateten Schwester. Seit Johanna und August ein Paar waren, schien sich keiner im Haus mehr um Helenes Anliegen zu kümmern. Selbst Papa verbrachte die meiste Zeit mit den beiden im Kontor, in Besprechungen, die die Firma betrafen oder auf Bällen und Ausflügen, für die sie zu jung an Jahren sei. Wären da nicht Omama, ihr Pferd und Emma ihre Zofe, sie würde sich wie ein Waisenkind fühlen.
Curt Blasewitz gegenüber wollte sie weder zu jung noch zu schüchtern erscheinen, und so hatte sie nach ein paar Wochen heimlichen Umwerbens den Treffen mit ihm zugestimmt. Curt hatte sie beschworen, ihre Gefühle niemandem zu offenbaren. Der Ehrenkodex für sein Engagement in der Bäderkapelle schließe amouröse Abenteuer während der Saison aus, erst danach könnten sie mit ihrer Verbindung an die Öffentlichkeit gehen. Sie dummes Ding, hatte ihm vertraut. Zwar nagte schon damals ein kleiner, sie ständig begleitender Zweifel an ihr, dennoch hatte sie es verstanden, diesen zu verdrängen und sein Hofieren zu genießen. Sie war sich sicher gewesen: So sprach und handelte nur ein liebender Mann.
Bei all diesen Erinnerungen biss sich Helene verzagt auf die Unterlippe, tastete wieder nach dem Bernstein und versuchte, sich von der Panik loszumachen, die in ihr aufstieg. Doch die Frage, ob Blasewitz ihren Brief jemals bekommen hatte, ließ sich nicht vertreiben.
War er in der Pension in Bad Elster angekommen? Warum höre ich nichts von ihm? Weshalb antwortet er mir nicht? Ständig schwirrten ihr mögliche Szenarien durch den Kopf, die ihn davon abgehalten hatten, sich bei ihr zu melden. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Niemand würde sie in Kenntnis setzen. Dringender als noch vor Tagen, suchte sie Antworten zu finden.
Mit einem mulmigen Gefühl war sie im Sommer an die Ostsee abgereist, ohne von ihm gehört zu haben. Seither fraß die Sehnsucht nach seinen Komplimenten ein riesiges Loch in ihre verwundete Seele. Seine weltgewandte, manchmal etwas schnoddrige Art fehlte ihr zudem. Sie hatte sich eingeredet, im Hotel im Ostseebad würde sie Post mit einem glühenden Bekenntnis seiner Liebe und Verbundenheit erwarten. Aufbrausend wie er war und überschäumend in seinen Gefühlen, hätte ihm ein solcher Auftritt entsprochen.
Doch da war keine einzige Zeile gewesen, kein Brief, keine noch so kleine Nachricht. Sie hatte weitere Depeschen geschickt, befürchtet, er wäre schon in Leipzig, bevor sie zurückkäme. Über die Wochen beschlich sie langsam eine lähmende Hilflosigkeit.
Nun war die Sommerfrische vorüber, Helene und Johanna zurück im Vogtland und Curt Blasewitz hatte weder auf ihre liebevollen Worte noch auf ihr eindringliches Flehen geantwortet. Sie war enttäuscht und ratlos, schien an manchen Tagen keinen konkreten Gedanken fassen zu können. Denn es war traurige Gewissheit. Er war fort, sein Engagement in den Kaiserbädern für dieses Jahr beendet. Curt war ohne ein Wort abgereist und hatte auf ihre Briefe, ihr Flehen nicht reagiert. Selbst ihr Zustand hatte keinen Sinneswandel bei ihm herbeigeführt. Seine Nonchalance hatte sich nicht, wie erwartet, in Pflichtbewusstsein gewandelt. Er hatte sie einfach vergessen. Sie und ihre gemeinsame Zeit aus seinem Leben gestrichen.
Ich habe mich ihm hingegeben, meine Unschuld dargeboten und er hat sich bedient. Das klingt schrecklich abgeklärt, urteilte Helene nun und doch: Ich habe mich zu ihm gelegt, schamlos dargeboten. Oh, wie hasse ich ihn. An seinen Lippen habe ich geklebt, wie eine dieser jungen Frauen, die ihm nachjagten und um seine Gunst warben. Diese Erkenntnis lähmte Helene seither.
Das, was sie mit ihm hätte besprechen wollen, nein müssen, erlaubte keinen weiteren Aufschub. Doch wie sollte sie vorgehen? Mal um Mal wanden sich ihre Gedanken um eine neue Möglichkeit. Ersann sie dies, dann das, verwarf es wieder, um nur eines zu erkennen: Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen und sie ignorierte das Offensichtliche. Ihr Mieder spannte.
Gleichzeitig spürte sie einen Ring, der sich immer fester um ihr Herz zog. Eines Tages würde er ihr die Luft nehmen und dann wäre der Schmerz vorbei. Sie würde loslassen und sich nicht weiter sorgen. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als sich abzulenken.
Angestrengt stemmte sich Helene in die Steigbügel. Sie presste ihre Beine enger an den Körper des Pferdes, lies die Zügel etwas lockerer, krümmte ihre Schultern und merkte, wie viel Kraft sie brauchte, um sich in der schnellen Bewegung sicher zu fühlen. Golden schien darauf gewartet zu haben, mit ihr zu reiten. Er preschte davon. Schon nach wenigen Augenblicken fanden sie mühelos einen Rhythmus, der für Reiterin und Pferd angenehm war. Ihre anfängliche Angespanntheit verschwand und beim Anblick des Nebels, der sich vor ihr als lang gezogener Schleier in der Talsenke auftat, versanken sogar die trüben Gedanken an Curt.
Wie fein gewebte Spitze sieht das aus, sinnierte sie und es erinnerte sie an den Vater, der sich mit der Herstellung dieser filigranen Schmuckstücke in Plauen einen Namen gemacht hatte. Leichte Nebelschwaden waberten über dem gemächlich dahinplätschernden Fluss und würden sich erst durch die Kraft der späten Vormittagssonne auflösen. Bis dahin aber schien dieses Naturschauspiel nur für Helene geschaffen worden zu sein und es hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Sie zog die Zügel näher zu sich heran, bedeutete dem Pferd damit, in eine langsamere Gangart zu wechseln, und nahm keuchend wahr, wie sie sich selbst nach dem harten Ritt beruhigte. Es dauerte nur einige Momente und die lähmende Melancholie, die sie seit Wochen beherrschte, überkam sie sogar hier an ihrem Lieblingsort. All das, was ihr sonst so vertraut war, und Freude bereitete, verschluckte der Morgennebel.
Vom Pferderücken aus beobachtete sie die Vögel am Wasser, sah, wie die Sumpfdotterblume in einer zweiten verhaltenen Blüte, große Kissen gebildet hatte und hell durch die Gräser blitzte. Die Äste der Weiden legten sich in sattem Grün über den Uferrand und boten unter ihren ausladenden Ruten Schutz für kleines Getier. Der Fluss war an dieser Stelle überaus lebendig, er rauschte und toste an den felsartigen Steinmassiven vorbei und nahm stetig an Fahrt auf. Glänzend brach sich das Licht im Wasser. Weiter vorn, so wusste sie, floss ein Nebenarm in den Weiher, der zum Gut ihrer Familie gehörte. Der wurde selbst an heißen Sommertagen nur mäßig warm, weil immer wieder frisches Wasser zufloss.
Die Natur bot alles auf, was sie früher in ekstatische Freude versetzt hätte. Heute kam all das nicht bei ihr an. Die Melodie der Wasserschnellen verhallte vor dem Zugang zu ihrem Herzen. Die Hoffnung, das hier würde ihren Kummer vertreiben, starb schneller, als sie dagegen anblinzeln konnte.
Die Kühle des Morgens kroch ihr weiter unters Kleid, während sie aufmerksam am Ufer entlang ritt. Sie hörte eine Amselfamilie, die aufgeregt zwitscherte, sah Fische aus dem glitzernden Nass springen und selbst der Reiher an der gegenüberliegenden Uferseite blieb ihr nicht verborgen. Früher hätte sie ihren Skizzenblock dabeigehabt und die Motive mit gekonnten Bleistiftstrichen eingefangen. Heute verschwendete sie keinen einzigen Gedanken daran.
Nach einiger Zeit spannte sich vor ihr eine kleine Brücke über das Wasser. Kurz stutzte sie, entschied sich jedoch, heute nicht hinüber zum Nachbargut zu reiten, sondern den Weg hinauf zur Kapelle nehmen. Bewusst oder unbewusst vermied sie damit den Sprung über den Weidezaun, der ihr vor Wochen zum Verhängnis geworden war.
Der Ritt den Hügel hinauf war anstrengend, zumal der grobe Schotter auf dem Pfad unter den Hufen ihres Pferdes wegsprang und dem Tier nur ungenügend Halt bot. Doch sie war geübt im Umgang mit Golden und sie schaffte es am Rand des kleinen Tales anzukommen, ohne ihm Blessuren zugefügt zu haben. Ihr selbst hatte der Ritt feine Schweißperlen auf Stirn und Rücken getrieben. Nun verfielen sie in einen mäßigen Trab, bei dem sie ihre Handschuhe auszog. Dann beugte sie sich vor und tätschelte liebevoll den Hals ihres treuen Begleiters.
»Braver Junge. Das hast du gut gemacht. Jetzt reiten wir langsam hinüber zur Kapelle und rasten. Die Wiese dort wird dir gefallen«, flüsterte sie ihm ins Ohr und bewegte sich wie eins mit dem Tier, in einem steten Auf und Ab, geübt im Sattel.
Schon sah sie das weiße Gebäude, das ihr Großvater vor vielen Jahren errichtet hatte. Auf der Rückseite von den Bäumen des Waldes geschützt, erstreckte sich auf der Vorderseite der Kapelle ein weiter Blick auf die Wiesen und Äcker, die zum Gutshof ihrer Familie in Freiberg gehörten. Neben den drei Stufen, die hinauf zur Eingangstüre führten, hatte ihr Vater vor ein paar Jahren eine Bank errichten und eine Linde pflanzen lassen.
Helene sah die betagte Frau mit dem schmucklosen Kleid schon von Weitem. Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Füße steckten in derben Schuhen und man hätte sie für eine Bäuerin halten können, die Rast machte und ein wenig verschnaufte. Ihre Großmutter väterlicherseits, die auf dem Hof lebte, seit sie als junges Mädchen Erwin zu Hohenlinden, den Zweitgeborenen des imposanten Gutes auf einem Sommerfest in Bad Elster kennengelernt hatte, kam jeden Tag hier herauf. Nichts hielt Omama Karoline davon ab. Weder Schnee noch Hitze oder Regen hatten sie jemals abgeschreckt. Ihr Lieblingsplatz, an dem sie sich ihrem verschiedenen Mann am nächsten fühlte, war genau dort bei der Kapelle.
Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie ähnlich sie ihrer Omama ist. Anders als ihre Schwester war Helene klein, etwas untersetzt und dunkelhaarig. Ihr schweres Haar und das runde Gesicht, dem der Großmutter gleich. Sie war ein Ebenbild von Omama Karoline, der Mutter ihres Vaters. Bei dem Gedanken lächelte sie.
***
Näherkommend überlegte Helene kurz, umzudrehen und die Großmutter nicht zu stören. Sie beobachtete, wie sich der Brustkorb der alten Dame gleichmäßig hob und senkte und wollte ihr Pferd schon behutsam in die andere Richtung lenken, als ihre Omama unvermittelt die Augen aufschlug und ihr bedeutete näher zu kommen. Die Chance wegzureiten, hatte sie vertan. Sie straffte ihren Rücken, setzte sich vollends aufrecht in den Sattel, sich sehr wohl bewusst, dass sie womöglich mit einer Standpauke rechnen musste.
»Guten Morgen, mein Kind. Ist das nicht ein famoser Tag? Ich liebe diese Jahreszeit. Alles ist noch grün, an den Apfelbäumen dort drüben biegen sich die Äste unter der Last der Früchte. Und das Kartoffelkraut auf dem Acker dahinter könnte nicht besser stehen. Komm herüber und setz dich zu mir. Mach mir das Vergnügen.«
Helene, freudig überrascht, war sie doch zumindest auf eine Ermahnung bezüglich ihres Reitstils gefasst gewesen, lenkte den Hengst zur Linde, sprang herunter und schlang die Zügel lose um den Baumstamm. Mit wenigen Schritten war sie bei der Großmutter, umarmte sie flüchtig und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr leichter, immer gleicher Geruch nach Kölnisch Wasser, stieg ihr kitzelnd in die Nase.
»Lass dich anschauen, Helenchen. Du scheinst erholt nach dem Aufenthalt an der See, hast endlich etwas zugenommen. Wie steht es um dein Asthma?« Helene hörte echtes Interesse in den Fragen der Großmutter und war froh, dass sie den leidlichen Reitunfall nicht erwähnte. Auch, dass sie den Damensattel mied, störte Omama nicht und das freute sie. Dass sie ihr jedoch fülliger erschien, quittierte Helene mit einem innerlichen Aufstöhnen.
»Ich fühle mich gut, Omama und mein Asthma ist auch besser. Wie immer, nach dem Aufenthalt an der See. Außerdem lasse ich mich nicht unterkriegen, wie du weißt.« Sie lächelte etwas verlegen und schloss ihre Augen, als sie ihr Gesicht der stärker werdenden Sonne zuwandte.
»Dann will ich dir das mal glauben, mein Lenchen. Deine Mutter scheint dennoch besorgt zu sein und wiegelt im Haus jeden auf, ein Auge auf dich zu haben! Was hat es damit auf sich? Hast du etwas ausgefressen?«, fragte Karoline zu Hohenlinden und musterte ihre Enkelin aufmerksam.
Sie blickte in die wachen Augen eines jungen Mädchens an der Schwelle zum Frau-Sein und ahnte, dass es für Helene in den kommenden Jahren nicht leicht würde. Etikette, Anstand, der Norm entsprechen, das war gar nicht nach dem Geschmack dieses Kindes. Der lockere Umgang hier draußen auf dem Gutshof gefiel ihr besser als das Leben in der Stadt. Karoline verstand den kleinen Wildfang, erkannte sich manchmal selbst in ihr.
Helene saß kleinlaut neben ihr, unsicher darüber, was sie erwidern sollte. Nur zögernd kam eine ausweichende Antwort:
»Wie du siehst, bin ich ausgeritten, ohne, dass Mutter, oder sonst eine Seele davon weiß und …« Jetzt sah sie ihre Großmutter unvermittelt fest an, bevor sie fortfuhr:
»Ich habe nicht vor, es ihr zu sagen oder gar damit aufzuhören. Hier draußen auf dem Rücken von Golden fühle ich mich frei. Das Reiten tut mir gut, auch wenn man mich wegen des Asthmas am liebsten in Watte packen würde.« Helene sah, dass ihr Karoline wohlwollend zuhörte. Ihr Gesichtsausdruck war offen und zugewandt, er hatte nichts von der Verbissenheit, die Großmutters Mund manchmal umspielte, wenn es etwas zu besprechen gab, das ihr missfiel.
»Sprich, Lenchen, nur zu. Ich kann dich sehr gut verstehen. Auch mir gefällt das Leben hier auf dem Landgut am besten. In Plauen fühle ich mich eingesperrt. Die Stadt wächst und wächst, doppelt so viele Leute wohnen da, seit du geboren wurdest. Die Straßen sind voller Menschen und Droschken, man muss aufpassen, nicht überfahren zu werden. Es gibt gar eine Eisenbahn und unsere geliebten Gardinen und Spitzen werden von Maschinen hergestellt. Überall rattert und rauscht es, die Schlote der Appreturanstalten ragen in den Himmel und die Häuser werden immer größer und prachtvoller.« Versonnen lauschte Karoline ihren eigenen Worten nach und sah in das erstaunte Antlitz ihrer jüngsten Enkelin. Zärtlich strich sie ihr eine braune Locke aus dem Gesicht und nahm ihre Hand in die ihre. Sie sprach leise, aber eindringlich auf sie ein.
»Wir sind nie wirklich frei, Lenchen, nirgends. Auch auf dem Rücken des Pferdes bist du es nicht. Denn du hast deinen eleganten Golden nur, weil mein Sohn mit der Spitzenfabrik genug Geld erwirtschaftet, dass wir den Gutshof hier draußen noch unterhalten können. In früheren Generationen waren wir Landwirte, bewirtschafteten Ländereien und Wälder, betrieben Viehzucht. Aber dein Großvater, mein geliebter Erwin, träumte von mehr. Er ersehnte für uns ein Leben in der Stadt und so versuchte er sich als Verleger. Seine Zusammenarbeit mit den vielen eigenständigen Familienbetrieben, die als Lohnsticker ein Auskommen gefunden hatten, war äußerst gewinnbringend und schnell entschied er damals, auch als Fabrikant in der Weißwarenproduktion sein Glück zu versuchen.
Er arbeitete hart, um sich das Wissen anzueignen, das er brauchte. Aber es hat sich gelohnt. Er errichtete die Manufaktur in der Stadt und bald war er Verleger und Fabrikant in einem. Er war eben ein Ökonom und ein Tüftler, kein Landwirt.
Aber glaube mir, mein Lenchen, er war nicht frei, sorgte sich stetig um das Auskommen der Familie. Er sah unsere Zukunft nicht mehr nur auf dem Lande, hat seinen Geschäftssinn genutzt und Neues geschaffen. Doch auch er war nicht frei. Selbst als Mann nicht«, eilte sie sich, hinterherzuschicken.
»Aber er wollte genau das. Ich meine, er hätte Landwirt bleiben können, Großmutter.« Helene war auf das vorderste Brett der Bank gerutscht und sah die alte Dame mit den winzigen Falten im rundlichen Gesicht von der Seite an.
»Er folgte seiner Leidenschaft, probierte sich aus, man ließ ihn und er hatte Erfolg. Ich bin ein Mädchen und was ich auch anfange, immer hält man mich zurück. Mutter findet ständig einen Grund, warum sich dies oder das nicht ziemt. Das Einzige, das zählt, ist, einen Ehemann zu finden. Was ich möchte, interessiert nicht.«
»Lenchen, mein liebes Kind, ach, wie sage ich das nur? Es wird immer Konventionen geben. Dinge, die wir nicht mögen und Verpflichtungen, denen du nachkommen musst. So ist das Leben. Und besonders für uns Frauen ist es manchmal schwer. Einen Weg zu finden, deine Kreativität auszuleben, kann herausfordernd sein. Aber sieh, deine Schwester hat es auch geschafft.« Ihre Großmutter verstummte kurz, offensichtlich, um die richtigen Worte zu wählen.
»Natürlich, sie darf mit ins Kontor, weil sie außerordentlich gut mit Zahlen umgeht und der Vater sie braucht. Aber meine Zeichnungen interessieren keinen Menschen, da engagiert man doch lieber hoch bezahlte Musterzeichner, die die Schablonen für seine feinen Spitzen anfertigen. So, als ob nur Männer die Technik verstünden, die es braucht, um auf den unterschiedlichsten Grundstoffen zu arbeiten. Glaubt ihr wirklich, dass sie den Geschmack der Damen von Welt einfangen? Und natürlich sind auch die Sticker an den Maschinen, die die Entwürfe umsetzen, Männer.
Ach, Omama. So gerne würde ich die neue Fachzeichenschule besuchen und das Musterzeichnen von der Pike auf lernen. Es wäre ein Katzensprung von daheim. Gerade mal hinüber zur Inneren Neundorfer Straße müsste ich laufen. Wenn unser neues Haus erst fertig ist, sieht man die Schule fast. Ich möchte alles über die innovativen Maschinen und die Stoffe lernen und das technische Zeichnen nicht nur in Büchern studieren. Endlich ließe sich erklären, warum die Schablonen so oder so gestaltet werden müssen. Die Lehrer haben so viel Erfahrung. Das können Papas Musterzeichner leider nicht leisten. Er bedient sich noch immer aushäusiger Ateliers, um die wirklich hochwertigen Muster zu bekommen.
Aber ich muss für meinen Lebensunterhalt nicht arbeiten, brauche keinen Beruf und außerdem werden Mädchen nicht angenommen. In England gibt es eine solche Schule seit 30 Jahren, sicher auch für Frauen.« Den Schluss schob sie fast trotzig hinterher.
Helene hatte sich in Rage geredet, holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand abwesend über ihre Stirn, die sich trotz ihrer Jugend in klitzekleine Fältchen legte. Karoline zu Hohenlinden verzog nachdenklich ihre Brauen, war ihr doch nicht klargewesen, wie ernsthaft ihr kleines Lenchen an diese Arbeit dachte. Schon hörte sie die Enkelin sagen:
»Und das ist nicht alles Omama …« Beifall heischend sah sie die Großmutter an und fuhr fort: »Weil ich ein Mädchen bin, darf ich kein Laufrad benutzen? Schaukele in diesem vorsintflutlichen Damensattel mehr schlecht als recht auf dem Hengst durch die Gegend und soll um Himmelswillen nicht ins Schwitzen kommen? Das ist nicht damenhaft? Ich hasse diese verlogene Etikette, Großmutter. Schon als kleines Mädchen zog es mich eher in den Stall als in Mutters Salon. Habe ich die Wahl, so gehe ich mit den Gänsen auf die Wiese, liege im Gras und schaue in den Himmel. Und weißt du, was mir neben dem Zeichnen am liebsten ist?«
Jetzt hatte Helene etwas Herausforderndes im Blick, als sie ihre Großmutter wieder unverwandt ansah. Sie war aufgesprungen und stand vor der alten Dame, die sich in Erwartung einer Enthüllung die Hand auf ihren großen Busen gelegt hatte und sich kaum regte.
»Jetzt bin ich aber gespannt und fast ein wenig ängstlich, mein Kind!«, sagte sie und lächelte ihre Enkeltochter aufmunternd an. Sie war auf alles gefasst und hoffte doch inständig, dass es sich um eine harmlose Enthüllung handelte.
»Ich schwimme in hellen Nächten im Sommer drüben im Weiher.« Helene lächelte verschmitzt, hockte sich vor die Großmutter hin, umfasste ihre Knie und fügte keck hinzu: »Mich hat noch nie einer erwischt.«
Karoline entfuhr ein amüsiertes Glucksen. Sie streckte ihre Arme nach der Enkelin aus, zog sie zu sich auf die Bank und sie prusteten gemeinsam los. Es war ein befreiendes Gefühl für Helene, die kurz daran dachte, diesen vertrauten Moment für eine andere Beichte zu nutzen. Die Beiden hielten sich die Seiten, bis Karoline ernst wurde und fragte: »Wo hast du das gelernt und was, wenn du dich verausgabst, einen Asthmaanfall hast und nicht aus dem Wasser kommst? Hast du daran gedacht?«
Helene nickte und erzählte ihr von den Sommertagen mit den Kindern aus dem Dorf. Sie sprach von Emma, dem Zimmermädchen, das schwamm wie ein Fisch und ihrem größeren Bruder Jacob, der als Perlmutter sein Geld an der Weißen Elster verdiente und quasi von Berufs wegen schwimmen gelernt hatte. Er hatte es seiner Schwester und später auch Helene beigebracht.
»Im seichten Flussbett, unten in der Senke an der Brücke, da passiert nichts. Wir waren immer vorsichtig. Weißt du, wie herrlich sich das kühle Nass an einem Sommertag anfühlt? Wie es auf der Haut prickelt, wenn man schwerelos an der Wasseroberfläche dahingleitet? Das ist wundervoll Omama. So fühlt sich Freiheit an.« Es schien, als könne sie ihre Großmutter beruhigen, dennoch meinte diese mit Nachdruck:
»Weiß deine Mutter davon? Eine Dame wie sie, hat nie schwimmen gelernt, nehme ich mal an.«
»Ja, sie weiß Bescheid. Es zu verheimlichen, war fast unmöglich, denn auf unseren Reisen an die Ostsee buchten Bekannte immer wieder einen Badekarren und luden uns ein.« Zu ihrer Überraschung wurde sie von Karoline unterbrochen.
»Was in Gottes Namen ist ein Badekarren, mein Kind?«
Sie hatte vergessen, dass sich ihre Omama nie weiter als bis nach Leipzig von ihrer vogtländischen Heimat entfernt hatte und erklärte: »Du musst dir das vorstellen, wie den Wagen unseres Schäfers. Du weißt schon, wo er im Sommer drin schläft. Diese Badekarren sitzen auf vier hohen Rädern und ungefähr vier Damen haben darin Platz. Man klettert am Strand in normaler Kleidung hinein und zieht sich darin die wadenlangen Hosen und die baumwollenen Überkleider an. Meines hat einen Marinekragen in blau-weiß«, erklärte sie mit ernstem Blick und fuhr fort: »Mama zog es vor, die bodenlangen Kleider zu tragen, die aussehen wie Schlafgewänder. Sie war nicht zu überzeugen, sich etwas leichter zu kleiden und ließ sich von Frau Leonhard gar Gewichte in den Rocksaum nähen. Damit der Rock im Wasser nicht hochtreibt.«
Karoline nickte verstehend und bedeutete ihr weiterzusprechen.
»Den Wagen zieht ein Reiter mit Pferd ins Wasser. Manchmal standen fünf oder sechs Wägen hintereinander, dann öffnet eine Badewärterin an der Seeseite eine Tür oder zieht einen Vorhang weg und mit Hilfe einer Leiter kann man ungesehen ins Wasser steigen. Diese Wägen stehen meist an einem entlegenen Strandabschnitt. Sich in einem Badekleid zu zeigen oder sich im beengten Wagen umzuziehen, war Mama immer furchtbar unangenehm. Doch Johanna und ich lechzten nach einer Abkühlung und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzukommen. Weißt du, wie komisch es ist, an einer Leine zu baden? Ich täuschte Mutter einen Sommer lang vor, die richtigen Bewegungen zu üben und habe ihr dann meine Schwimmkünste präsentiert. Seither verbietet sie mir zwar noch immer, allein zum Weiher zu gehen, aber sie hat wenigstens aufgehört, mich ständig zu ermahnen.«
Karoline zu Hohenlinden hatte aufmerksam gelauscht und beobachtete ihre Enkeltochter dabei genau. Selbst bei dieser unterhaltsamen Erzählung wirkte Helene angespannt. Die Augen des Mädchens lächelten nicht mit, während sie sprudelnd sprach. Sie erschien ihr seltsam bedrückt, um nicht zu sagen verzagt. Sie entschied, die Gelegenheit und Ruhe an diesem einzigartigen Ort zu nutzen, um es aus ihr herauszukitzeln. Sie ahnte, waren sie erst einmal zurück auf dem Gutshof und die ganze Familie um sie herum, käme kein solch intimer Moment mehr zustande. Dafür waren sie alle zu impulsiv und in ein anstrengendes Tagwerk eingebunden.
»Was soll ich sagen, Lenchen? Du bist alt genug, um vorsichtig zu sein. Ich verstehe dich einerseits, andererseits: Für mich hat es solche Fluchten nie gegeben. Allein der Gedanke an einen Beruf verbat sich in meiner Jugend. Und die Traute hätte mir auch gefehlt. Erst seit dem Tod deines Großvaters stehle ich mich ohne Erklärungen davon und genieße diesen herrlichen Platz hier. Ich komme gerne her. Mein Blick schweift dann über die Felder, ich bestaune die Wiesen und Äcker. Und schau doch, dort, der Wald, dunkel und geheimnisvoll führt er ins Tetterweinbachtal. Dein Großvater Erwin jagte an der Anhöhe da drüben. Viele Samstagmorgen verbrachte er mit der Jagd und dann kam er mit einem Hasen heim oder hatte ein Wildschwein im Schlepptau. Ich bin glücklich hier in unserer kleinen Welt, am liebsten würde ich immer auf dem Gut bleiben.«
Ihre Ausführung war abgeschweift, wie so oft in letzter Zeit, doch Helene störte das nicht. Sie hörte der Großmutter gerne zu, wenn sie von ihrem Leben mit dem Großvater erzählte. Mit einer ausladenden Bewegung deutete ihre Omama in Richtung des Gutes. Am Vierseitenhof standen die Fenster offen, der Tag hatte auch für die restliche Familie begonnen.
»Schau, die Gänse werden auf die Wiese getrieben und oben in deinem Zimmer schüttelt Emma das Duvet aus. Spätestens jetzt vermisst man uns. Wir haben die Zeit vergessen, meine Liebe. Ich schlage vor, du sagst mir, was du auf dem Herzen hast Lenchen, und dann sollten wir so schnell wie möglich zurück.«
Helene, erstaunt über die Wendung des Gesprächs, war überrascht vom fragenden Ausdruck im Gesicht der Großmutter. Was wusste sie? Doch sie war nicht bereit. Der Hinweis auf das erwachte Leben auf dem Gutshof und die Vorstellung, dass ihre Mutter sie schon suchte, beunruhigten Helene. Sie hatte nicht die Ruhe, die sie gebraucht hätte, um mit Omama über Curt zu sprechen.
Aufmunternd legte diese ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Enkelin und klopfte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Stoff des Reitkleides. Doch Helene reagierte nicht. Und so erhob sich Karoline schwerfällig und trat vor sie hin:
»Na dann, vielleicht ein anderes Mal? Vergiss nicht, mein Lenchen: Du bist eine kluge junge Frau und wirst es schon schaffen, deinen Verpflichtungen nachzukommen, ohne dich selbst zu verleugnen. Du musst es nur wollen. Komm jetzt, lass uns gehen.« Sie steuerte auf das Pferd zu, hielt Helene das lose Halfter hin und bot ihr an, sie zu Fuß zu begleiten.
»Ich könnte deiner Mutter sagen, du wärst mit mir hier heraufgekommen, weil ich dich darum gebeten habe. Mir ist in letzter Zeit oft ein wenig blümerant, das weiß sie. Lass uns gemeinsam die Wiese hinunterlaufen, dann wird sie diese kleine Notlüge glauben.«
Johanna reckte und streckte sich. Schemenhaft nur, nahm sie ihre Umgebung wahr. Noch hing sie fest in ihrer Traumwelt und genoss das langsame Hinübergleiten in den Tag. Als die Bilder der Nacht verschwunden waren, wusste sie für den Bruchteil einer Sekunde nicht genau, wo sie war. Erwachte sie in ihrem eleganten Schlafzimmer in der Plauener Wohnung, in der gemütlichen Schlafkammer auf dem Gut ihrer Familie oder in dem Hotel in Heiligendamm, das Helene und sie im Sommer bewohnt hatten? Sie öffnete ihre graublauen Augen, die unter langen Wimpern lagen, nur einen Schlitz weit, blinzelte und schnell kam die Orientierung zurück.
Die Geräusche des Gutshofes, die an ihr Ohr drangen, tröpfelten die Erinnerung in ihr Bewusstsein. Helene und sie waren gestern in den späten Abendstunden hier angekommen. Die Reise vom Seebad war lang und anstrengend gewesen, aber heute würde sie mit der ganzen Familie ihren 24. Geburtstag feiern.
Helene, schoss es ihr durch den Kopf und wie schon seit Wochen beschlich sie auch heute ein ungutes Gefühl.
Mit dem ersten Tag ihrer Existenz himmelte die kleine Schwester sie an. Seit die Jüngere laufen konnte, verfolgte sie sie auf Schritt und Tritt, verehrte sie, die Ältere und Johanna fand das süß. Sie liebte ihr sieben Jahre jüngeres Schwesterlein auf eine unschuldige und fast mütterliche Art. Sie hatte ihr alles beigebracht, was sie wusste, und merkte früh, dass auch Helene ihr etwas geben konnte: Das Gefühl, gebraucht zu werden. Da war jemand, der auf sie baute, ihr vertraute und sie in ihrer kindlich unbedarften Art mitriss.
Die Welt der jüngeren, begabten Schwester war so viel kreativer; Helene war so viel mutiger als sie selbst. Pferde konnten ihr nicht groß genug sein, der Hofhund, zottig und rüpelhaft, schreckte sie auch mit gefletschten Zähnen nicht im Mindesten ab. Nur gegenüber den Eltern benahm sie sich eigenartig zurückhaltend. Die Ermahnungen ihrer Mutter schüchterten sie ein und schienen den Funken aus ihren Augen zu vertreiben. Scheu und unsicher wurde sie dann.
Dieser Gedanke traf Johanna unvermittelt. Das war es: Scheu und ohne ihren sonstigen Esprit war Helene auch an der Ostsee gewesen. In sich gekehrt und immer mit diesem melancholischen Blick. Obwohl sie einiges unternommen hatten, war die ganze Zeit eine gewisse Leere und Resignation von der Schwester ausgegangen. Sie kam einfach nicht dahinter, was mit ihr los war.
Heute jedoch wollte sie ihren Geburtstag genießen. Ausdrücklich hatte sich Johanna ein schlichtes Fest im Obstgarten gewünscht. Schon lange träumte sie von einer bunt gedeckten Tafel unter den Apfelbäumen. Sah sich mit fröhlichen, leger gekleideten Gästen, die sich entspannt unterhielten, tanzten, oder einen Spaziergang unternahmen. Ihre Mutter Dorothea hatte davon nichts hören wollen. Zu gern lud Mama in ihren Plauener Salon ein, plante schon die musikalische Untermalung der Feier und schwärmte von Wilhelmine von Hillern, die sie einladen wolle. Die Schriftstellerin weile in den vogtländischen Bädern zur Kur und würde sicher einer Lesung aus einem ihrer bekannten Werke zustimmen. Die Mutter verehrte die Dame, war vernarrt in die Geier-Wally-Erzählung, doch Johanna hatte keine Lust auf einen weiteren Nachmittag im stickigen Salon gehabt. Zwar liebte auch sie extravagante Festlichkeiten, große Roben und ausgefallene Speisen, doch nicht in diesem Jahr. Sie wollte ein Fest auf dem Gutshof. Mithilfe ihres Vaters hatte sie es durchgesetzt. Schon vor ihrer Abreise nach Heiligendamm hatte sie ihn in einem persönlichen Gespräch von ihrer Idee überzeugt.
»Johanna«, hatte er mit seiner sonoren Stimme gesagt und sie tadelnd angesehen. »Deine Mutter kümmert sich um die Ausrichtung unserer Festlichkeiten, bitte verschone mich damit.« Doch sie hatte seinen Einwurf ignoriert, die schwere Tür zu seinem Arbeitszimmer behutsam hinter sich geschlossen und sich auf den Holzstuhl gesetzt, der vor seinem imposanten Schreibtisch stand. Offen und freundlich hatte sie den Vater angeschaut, der nicht umhinkonnte, zu schmunzeln und sich ihr gegenüber mit einem lauten Seufzer in seinen weichen Ledersessel fallen ließ.
»Wie schaffst du es nur, mein Kind? Keiner vor dir hat diesen knarzenden Stuhl je mit solcher Grazie und ohne jegliche Furcht erobert. Du indessen, hast schon als kleines Mädchen darauf gethront, und jeden glauben gemacht, es handelt sich um das bequemste Möbelstück im Raum. Dieser harte Stuhl stammt noch von meinem Vater, der ihn als Aufforderung verstand, sich kurzzufassen und sich nie zu sicher zu wähnen. Aber du hast dich davon nicht beeindrucken lassen. Was gibt es?« Abweisend hatte er demonstrativ die Hände über seinem mittlerweile stattlichen Bauch gefaltet und sich im Stuhl zurückgelehnt. Sein Schmunzeln hatte es Johanna leicht gemacht, gleich auf den Punkt zu kommen.
Kurz und knapp hatte sie ihm ihre Pläne für das kleine Gartenfest erklärt und auch die Bitte nicht vergessen, ihre Freunde aus Kindertagen einladen zu dürfen. Zu lange, um genau zu sein, seit ihrer Hochzeit mit August, hatte sie diese aus den Augen verloren. Ihr Vater antwortete nicht und so musste Johanna auftrumpfen und ihn an etwas erinnern.
»Du verstehst, welch großen Gefallen ich euch tue, diesen Sommer allein mit Helene an die See zu fahren? Mutter litt im vergangenen Jahr sehr unter den fast tropischen Temperaturen und du weißt, wie sehr sie die Badekarren verabscheut. Zu allem Überfluss …« Und hier war ihre Stimme tragisch und verschwörerisch geworden. »… zu allem Überfluss weigert sich Mutter, das einzige Zimmer zu buchen, das im Hotel noch verfügbar wäre. Die übliche Suite mit Blick auf die Promenade und den Strand hat irgendein Großindustrieller aus Berlin gebucht. Für den ganzen Sommer! Stell dir das vor. Mama wollte auf keinen Fall in dem kleinen Zimmer unterm Dach hausen, wie sie sich auszudrücken pflegt.« Johanna hatte sich theatralisch im Stuhl zurückgelehnt, einen Handrücken an die Stirn gelegt und leicht geseufzt.
Diese Geste, der Ausdruck und durchaus höhnische Ton, den sie gewählt hatte, brachte ihren Vater innerlich zum Lachen. Das wusste Johanna. Ihr Vater machte keinen Hehl daraus, dass seine Frau manchmal kapriziös sein konnte. Anders als Helene und Johanna stellte sie Ansprüche, die seiner Meinung nach übertrieben waren.
Johanna sah ihrem Vater an, dass er abschweifte, irgendetwas ging in ihm vor.
»Vater, bist du noch bei mir?«
Wilhelm zu Hohenlinden erklärte seiner Tochter in kurzen einprägsamen Worten, wie fröhlich ihre Mutter früher gewesen war und dass er sich fragte, wann sich das geändert hatte. Doch er erwartete keine Antwort von ihr.
»Ich werde Helene zu ihrer Kur begleiten. Sie könnte zwar mit dem Dienstmädchen reisen, doch Mama traut Emma und Helene nicht über den Weg. Und ehrlich gesagt, stimme ich ihr zu. Dafür sind sich die beiden zu nah. Die Seeluft aber ist heilend für ihr Asthma und auch Doktor Merk riet wieder zu dieser Reise.«
»Hast Du denn so gar keine Freude daran, mein liebes Kind? Ich verstehe, es ist anstrengend, aber ich glaubte, euer Zwischenstopp in Berlin hätte dir gefallen?«, hatte Wilhelm eine Frage in den Raum gestellt, die ihm schon die ganze Zeit im Kopf herumgeschwirrt war.
»Doch, doch natürlich, ich genieße die Reise, Vater. So kräftezehrend, wie Mama immer tut, ist es nicht. Ich habe ein Buch dabei und vor allem die Bahnstrecken finde ich durchaus abwechslungsreich. Man sieht viel von der Landschaft und lernt außerdem faszinierende Menschen kennen. Eine Vielzahl von ihnen ist weit gereist und hat Famoses zu erzählen. In Heiligendamm oder Bad Doberan ist der Tagesablauf angenehm gleichförmig. Meist bestimmt das Wetter unsere Aktivitäten. Im Großen und Ganzen geht es etwas lockerer und weniger förmlich als hier zu. Selbstverständlich beteiligen wir uns an den gesellschaftlichen Höhepunkten wie kleinen Picknicks und Soiréen … Der Punkt ist aber ein anderer, Papa.«
Ihr Vater hatte aufgemerkt. Das schmale Gesicht Johannas war hart geworden und sie beugte sich zu ihm vor, bevor sie leiser weitersprach. »August hatte geplant, diesen Sommer mit mir allein an die See zu fahren, aber das fällt nun aus und glaube mir, er ist nicht amüsiert darüber.« Verlegen hatte sie über ihr lindgrünes Kostüm gestrichen, richtete das Ausgehhütchen. Die feinen Spitzenapplikationen am Hut waren kunstvoll hergestellt und sie wusste, dass es ihren Vater rührte, Arbeiten aus seiner Manufaktur an der Kleidung seiner Töchter zu entdecken.
Vor dem, was sie dem Vater damals hatte sagen wollen, hatte ihr gegraut, doch sie überwand sich. »August hofft noch immer auf ein Kind, wie du weißt. Er insistiert, dass uns die Zeit allein, also ohne die Familie, als Paar dabei helfen würde.« Sie hatte verlegen geschluckt, bevor sie fortfuhr. »Aber Papa, ich glaube nicht daran. Seit vier Jahren wünschen wir uns ein Baby und mittlerweile fühlt es sich an wie ein Wettstreit, den August um jeden Preis gewinnen möchte. Und ich bin die Dame, die auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben wird. Monatlich wird mein Wert neu bemessen und mittlerweile bin ich seine schlechteste Mitspielerin. Du musst nicht abwehren, Papa. Ich spüre genau, wie abschätzig er mich manchmal ansieht. Mich bald in guter Hoffnung zu wissen, ist für ihn zur Obsession geworden.«
Wilhelm zu Hohenlinden war ob der Wendung, die dieses leichte Gespräch über eine sommerliche Festivität genommen hatte, erschrocken gewesen. »Liebste Johanna, meinst du nicht, du solltest diese Themen mit deiner Mutter besprechen? Ich weiß nicht, wie ich dir dabei helfen könnte«, hatte er verlegen gesagt, an seiner Weste gezupft und demonstrativ seine Taschenuhr hervorgeholt.
»Aber das ist es ja, Vater. Mutter ist der Ansicht, ich strenge mich nicht genug an. Sie meinte, ich müsse mehr daran glauben. Sie kann es nicht lassen, eindringlich nach dem Intimsten aus unserem Schlafzimmer zu fragen. Sie lässt mir ungefragt Nachtwäsche nähen, mit handgearbeiteter Spitze an Stellen, die ich dir nicht einmal beschreiben mag.«
»Johanna, das geht jetzt zu weit.« Mit diesen Worten hatte sich ihr Vater erhoben und war um den Tisch herum auf sie zugetreten. Seine Hände hatten die ihren gefasst, während er sie vom Stuhl hochzog. Sie war fast so groß wie er, nur wenige Zentimeter überragte er seine Erstgeborene, die ein Ebenbild ihrer Mutter war.
Als sie zu ihrem Verdruss die Tränen nicht zurückhalten konnte, die glasklar und in großen Tropfen aus ihren Augen quollen, hatte sich Johanna an seine Brust geschmiegt. Minutenlang hatten sie so dagestanden und sie erinnerte sich an die ungelenken Berührungen, mit denen er ihr den Rücken streichelte. Sie roch noch immer den süßlichen Tabakduft, der von ihm ausgegangen war. Damals war einzig das Rascheln ihres Rockes zu vernehmen, der sich mit jedem weiteren Schluchzer leicht bewegt hatte.
Schniefend hatte sie gesagt: »Würden wir allein an die See fahren, fände August doch nur wieder ein Casino und andere Herren in seinem Alter, mit denen er spielen und trinken kann. Und ich sitze in einem Hotelzimmer und er kommt nur zu mir, um gemeinsam publikumswirksam zu dinieren, und um …«
Ihr Vater hatte beschwichtigend einen Finger auf ihren Mund gelegt und sie näher an sich herangezogen. Dann erinnert sie sich an die Kissen, die er ihr in der Sesselgruppe im rückwärtigen Teil seines Büros in den Rücken geschoben hatte und sagte: »Es scheint mir, hier ist der bessere Platz für ein solches Gespräch.«
***
Sie hatte von dem Altersunterschied zwischen August und ihr gesprochen, der dem Vater unerheblich erschien. Erwähnte die Leidenschaft ihres Ehemannes fürs Glücksspiel und hatte in den Gesichtszügen ihres Vaters, den wachsenden Unmut gesehen.
»August ist aufbrausend, das ist auch mir nicht entgangen«, hörte sie ihn murmeln.
»Aufbrausend? Er ist unbeherrscht und das Leben in der Familienvilla gefällt ihm nicht mehr.«
»Er fühlt sich eingeengt? Das mag sein, Johanna, es ist nun mal mein Haus. Aber sobald ein Kind da ist, wird sich alles einrenken. Dann hat er seinen Stammhalter und wird die Annehmlichkeiten eines großen Hauses und der Bediensteten sicher wieder mehr zu schätzen wissen.«
Es war Johanna schwergefallen, unbeschwert darauf zu antworten, doch sie hatte bemerkt, dass sich ihr Vater insgeheim Vorwürfe machte. Anfangs hatte sie geweint, mit jedem Satz jedoch klarer und verständlicher gesprochen. Sie versicherte ihrem Vater, dass sie ihren Mann liebte, es aber nicht immer leicht mit ihm wäre. Und das lag auch an der finanziellen Abhängigkeit vom Familienunternehmen. August stand nicht auf eigenen Beinen. Ihr beider Auskommen hing direkt von der Firma und Wilhelms Entschlüssen ab.
Die Manufaktur hatte sich in den vergangenen zehn Jahren als schwer lenkbares Schiff gebärdet. Ihr Vater traf so einige Male wirtschaftliche Entscheidungen, die August nicht nachzuvollziehen vermochte, diese aber in Ermangelung eigener Vorschläge seinerseits, mitgetragen hatte.
»Augusts Handlungsspielraum zu erweitern, ist derzeit undenkbar, Johanna. Die Weichen für die Manufaktur stelle ich lieber selbst. Dass dies eure Ehe belastet, habe ich nicht bedacht.«
Das junge Paar lebt in der Wohnung der zu Hohenlindens in Plauen. Die obere Etage im weitläufigen Gebäude der Spitzenmanufaktur wurde ausschließlich von der Familie genutzt und Johanna nebst August bewohnten ein elegantes Zimmer, in das sie sich, wann immer sie wünschten, zurückzogen. Genau wie alle anderen weiblichen Familienmitglieder verbrachte Johanna jeden Sommer auf dem Landgut nahe Freiberg bei Adorf. Auch Wilhelm entfloh der Schwüle und Enge der Stadt und genoss die Weitläufigkeit ihres Anwesens vor den Toren von Adorf. Nach dem tragischen Tod von Vater und Bruder vor fünf Jahren leitete er neben der Spitzenmanufaktur nun auch die Geschicke des Gehöftes. Sein Schwiegersohn August hingegen war lieber in der Stadt.
»Das Leben auf dem Land bezeichnete er schon nach dem ersten Sommer als zu provinziell und abgeschieden. Er fand schnell Ausreden, um uns nicht zu begleiten. Erinnerst du dich, wie er verkündet hat, er würde täglich in der Manufaktur gebraucht und könne deshalb nur aller zwei oder drei Wochen die Reise nach Adorf auf sich nehmen? Obwohl die Fahrt mit den Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen mittlerweile durchaus angenehm ist, sogar schneller und bequemer als mit der Droschke. Schon bald erschien er nicht mehr an jedem Wochenende auf Gut Hohenlinden.«
Johanna hatte merklich die Luft eingesogen und ihren Rücken gestreckt, bevor sie weitersprach.
»Anfangs habe ich auf ihn eingeredet. Er gab nach und fand sich an den Freitagen auf dem Gutshof ein. Doch die Tage mit ihm waren anstrengend, seine Nörgeleien für alle befremdlich und es dauerte nur einen kurzen Sommer, bis ich mir eingestand, dass ich die Zeit ohne ihn mehr genieße. Ständig hätte ich mich sonst um sein Benehmen der Familie und den Angestellten gegenüber, gesorgt. Ich musste jeden meiner Schritte erklären, traute mich kaum, Freunde aus Kindertagen zu treffen, da sie ihm nicht standesgemäß erschienen.«
»Mir schien euer gemeinsames Leben in der Stadt immer erfüllt. August wirkte ausgelassen und zuvorkommend auf mich. Ich mutmaßte, du hättest Gefallen an den regelmäßigen Einladungen von Bekannten und Geschäftspartnern gefunden. Ihr wart auf allen angesagten Konzerten und Bällen gern gesehen, oder täusche ich mich?«
»Nein, Papa, du irrst dich nicht. Ich trug die schönsten Roben, immer die neueste Frisur und mein Gatte war … ist, sollte ich wohl sagen, überall gut gelitten. Nur auf dem Gut kann er nichts mit sich anfangen. Irgendwann habe ich verstanden, dass er nicht einmal mir zuliebe versuchte, dem Landleben etwas abzugewinnen.« Sie hatte sich im Sessel zurückgelehnt und starrte an die Wand hinter ihrem Vater. Für eine gefühlte Ewigkeit schien sie an den nächsten Sätzen zu formulieren.
»Er tut sich nicht nur mit den Abläufen auf dem Gutshof schwer, sondern auch mit den eingefahrenen Gefügen in der Manufaktur. Er hadert mit seiner Abhängigkeit von dir«, fügte sie leise hinzu. »Das Haus, das Gut, das Manufakturgebäude: All das gehört dir. Nichts davon meinem Ehemann. Er erhält zwar ein durchaus fürstliches Gehalt von dir, aber ich glaube, er fühlt sich dennoch wie ein Bittsteller. Zu all dem, drängt er mich immer und immer wieder, endlich mit dir über meinen Erbteil zu sprechen.«
Sie hatte es ausgesprochen. Auch wenn Johanna nur wegen des Geburtstages zu ihm gekommen war, würde sich die Gelegenheit für ein solch intimes Gespräch wohl nicht so schnell wieder ergeben. Der Vater hatte ihr, seiner Ältesten, aufmerksam zugehört und sie war zufrieden, mit nichts hinter dem Berg gehalten zu haben. Sie hatte sich ihm so nahe gefühlt, wie selten zuvor.
»Ich verstehe das Dilemma deines Gatten. Er ist ambitioniert, strebt nach Anerkennung und fast ehrt ihn sein Ehrgeiz. Doch ich versichere dir, Johanna, es braucht noch etwas Zeit, bis aus ihm ein umsichtiger Geschäftsmann wird, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Bis dahin bedarf es meinerseits noch so mancher Hilfestellung und Korrektur.«
Johanna wusste um das Potenzial, das ihr Vater in dem jungen Mann gesehen hatte, als sie einander vorgestellt worden waren. Und dennoch ahnte sie, ihr Vater würde stets ein wachsames Auge auf ihn haben. Da war etwas in der Aura ihres Mannes, das nun stärker als früher hervortrat und sie sich nicht zu erklären vermochte. Eine unsichtbare Hülle umgab ihn und verhinderte den Blick auf die wahre Identität von August Bader. Die Distanz, die sich schon kurz nach ihrer Hochzeit zwischen den beiden Männern aufgebaut hatte, riefen die Instinkte ihres Vaters auf den Plan. Doch sie hatten nie darüber gesprochen, das war nicht Vaters Art.
August Bader stammte aus bescheidenen, aber doch untadeligen Verhältnissen. Er hatte seine außergewöhnlichen Fähigkeiten schon in jungen Jahren genutzt, um dem eigenen Familienunternehmen auf die Füße zu helfen. Sein Vater, ehemaliger Handweber, war in der Blütezeit der Lohnstickerei als Heimindustrieller zu einem kleinen Vermögen gekommen, das er in mehrere Stickmaschinen der Voigt‘schen Maschinenfabrik investierte. Einige wurden gekauft, andere schaffte er auf Raten an. Die meisten vermietete er gewinnbringend. An zwei weiteren arbeiteten sein ältester Sohn und er selbst.
»Ich kenne die Geschichte, Papa. Augusts Vater war zwar Kleinunternehmer, jedoch immer von den Aufträgen größerer Verleger abhängig. Oder er würde seine Waren direkt verkaufen müssen. Doch er hatte weder das Talent noch den Weitblick. Von guten Verbindungen ganz zu schweigen. Die Aufgaben wuchsen ihm über den Kopf. Es wurde ihm unmöglich, zu sticken, neue Order an Land zu ziehen und gleichzeitig die Arbeit der Lohnsticker zu überwachen und auszuliefern.«
»Das hast du gut zusammengefasst. Der alte Bader befand sich in einem mächtigen Dilemma, denn keine dieser Aufgaben konnte er richtig erfüllen. Er hatte sich verzettelt. Und hier kam August ins Spiel. Er war jung und wusste genau, was er nicht wollte. Er erkannte in dem Durcheinander schnell die Möglichkeit, aus der heimischen Enge auszubrechen, dem elterlichen Unternehmen wenigstens räumlich den Rücken zuzukehren. Zwar verstand er das Handwerk, hatte aber weder Freude daran, noch mochte er sich vorstellen, tagtäglich die eintönige und körperlich fordernde Arbeit als Sticker auszuführen. In unzureichend beleuchteten Räumen bewegten Vater und Bruder die schweren Schlitten der Stickmaschinen unaufhörlich nach der Vorgabe für die filigranen Muster. Er selbst hatte als Kind jahrelang jeden Morgen vor der Schule die Garne eingefädelt, bis er zu groß war, um sich unter dem Schlitten behände zu bewegen.«
Johanna hatte wissend genickt und erklärt, dass es für ihren Mann einen bereits vor seiner Geburt festgelegten Weg gegeben habe. Er war dazu bestimmt gewesen, als Sticker sein Brot zu verdienen.
»Das Geburtsrecht des Älteren verhinderte zudem, dass er etwas erben würde. Für seine eigenen Kinder dürstete ihm aber nach mehr. Und so nutzte er jede Gelegenheit zum Lernen. Ob in der Dorfschule oder der Kirche, überall saugte er Wissen auf. Sogar die weiterführende Schule setzte er bei seinem Vater durch und überzeugte seine Familie schlussendlich, dass seine Talente nicht in der Produktion der feinen Weiß- oder Stickereiwaren an sich lagen.«
»Genau, dein Mann hatte damals schon ein Händchen für Zahlen. Und er konnte mühelos mit Menschen umgehen, las immer und überall, wo er eine Zeitung erhaschte den Wirtschaftsteil und unterbreitete seinem Vater Vorschläge, wie man den Betrieb effektiver betreiben könne. Anstatt wie bisher pro Stich bezahlt zu werden und darauf angewiesen zu sein, die Arbeiten anzunehmen, die Verleger aus Plauen ihnen übrig ließen, hatte August die Idee, eigene Muster für Krägen, Hauben, Tischdecken und Manschetten zu entwerfen. Diese wurden gestickt, und direkt an die Konfektionsbetriebe vertrieben.«
Dies war eine neue und auch riskante Vorgehensweise für einen kleinen, unbedeutenden Handweber, erklärte Wilhelm seiner Tochter.
Ausschweifend erzählte er von Augusts ersten bescheidenen Erfolgen und wie er begann, mit dessen Familie Geschäfte zu machen.
»Die Krönung der Beziehung aber war die Einladung zu einer Soiree deiner Mutter«, sagte Wilhelm. »Sechs Jahre ist das her, stell dir vor, Vater. Ich erinnere mich genau, wie weltgewandt ich ihn fand. Schon zwei Jahre großjährig, unabhängig und so geschäftstüchtig.« Johanna lächelte versonnen. Doch schnell hatte sich auch Resignation in ihre Züge geschlichen.
»Ja, das war er, mein liebes Kind. Er gefiel uns gut, auch wenn er manchmal übertrieben freundlich daherkam, freuten wir uns doch, dass du Gefallen an dem jungen Mann aus dem Erzgebirge zu haben schienst.«
Rückblickend betrachtet, hatte ihr ihr Vater gestanden, gewann er ihrer beider Verbindung von Anfang an etwas Gutes ab. Er war für seine Älteste nicht auf einen Mann aus den tonangebenden Familien der Stadt erpicht.
»Ich habe ja selbst einen Sohn, der unsere Geschäfte einmal übernehmen soll. Ein vermögender Schwiegersohn mit eigenen Ambitionen hätte auch Konkurrenz für uns bedeuten können, liebe Johanna.«
Denn als Gutsbesitzer war Wilhelm in der Stadt nicht darauf bedacht, die Latifundien zusammen zu legen. Zumal ein Schwiegersohn, der vielleicht betuchter wäre als er selbst, ihm ganz andere Probleme hätte bescheren können.
»Das klingt berechnend«, hatte Johanna ausgerufen und sie erinnerte sich genau, wie befremdlich ihr des Vaters Ausführungen vorgekommen waren. Sie hatte August einfach nur gemocht, seine Schmeicheleien und die Selbstverständlichkeit, wie er sich in ihrer Gegenwart bewegte, genossen. An das Geschäft hatte sie keinerlei Gedanken verschwendet.
»Ein junger Mann wie August, mit Ambitionen, aber aus schlichten Verhältnissen, mit einem Abschluss der Höheren Handelsschule in der Webergasse, der Familie gegenüber demütig und dankbar, das war in unserem Interesse, Johanna. Und deshalb stimmte ich der Verbindung mit August Bader zu, als er zwei Jahre später um deine Hand anhielt.«
Eine undefinierbare Beklemmung hatte sich ihrer bemannt und sie musste den oberen Knopf ihres Jäckchens öffnen. Diese Verbindung, wie Vater es genannt hatte, klang ein wenig wie ein Geschäft. Für eine Sekunde war ihr damals deutlich, dass sie der Einsatz gewesen war, der für einen Höchstpreis versteigert wurde. Doch der Vater hatte diesen Gedanken unterbrochen und die trüben Gedanken zu verscheuchen gesucht.
»Das klingt jetzt sehr geschäftsmäßig, Johanna. Das war es aber nicht. Ich konnte euch zwei lange Jahre beobachten. Sah, wie er um dich warb, wie wohl du dich in seiner Gegenwart fühltest. Wie sehr seine Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben mit den deinen übereinstimmten.« Wilhelm hatte seine Tochter fragend, aber auch prüfend angesehen, bevor er fortfuhr.
»Wenn ich ehrlich bin, meine liebe Johanna, dann barg eure Verbindung für mich einen großen, sehr egoistischen Vorteil.«
Fast hatte er geflüstert, als er ihr zuraunte: »Welcher Vater würde sein Kind nicht immer bei sich behalten wollen? Die Vorstellung, dich zu verlieren, die du mir so ähnlich bist, war mir ein Graus. Wir haben die gleichen Interessen und Ansichten, du bist mir unentbehrlich. Hier im Geschäft und besonders zu Hause. Ich kann mir ein Leben ohne dich in meinem Haushalt nur schwerlich ausmalen.«
»Ein Schwiegersohn, der bei dir einzog, da er sich ein eigenes Heim für die junge Familie nicht leisten konnte, kam dir da nur zu Pass.« Johanna war ernüchtert und man sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte. Aber sie liebte ihren Vater. Mehr als die Mutter. War sie ehrlich zu sich selbst, hatte sie seine Beweggründe gut nachvollziehen können.
»Verzeih meine Eigensucht, Johanna.«
Hätte ich damals anders reagieren sollen? Johanna rekelte sich, hielt aber noch immer ihre Augen geschlossen. Dem Vater seine Eigensucht einfach so nachzusehen, war ihr damals nicht schwergefallen, denn sie wusste um die Spannungen zwischen den beiden wichtigsten Männern in ihrem Leben und wollte diese nicht noch verstärken.
Bereits kurz nach der Heirat und mit Augusts Eintritt in die Leitung der Spitzenmanufaktur hatten die ersten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern begonnen. Meist geht es um Augusts Unpünktlichkeit, oder sein harsches Benehmen, mit dem er das Personal in Haushalt und Kontor herum scheuchte.
Ihr Ehemann zeigte deutlich, dass er seine neue Stellung nicht mit einem täglichen Diener in Richtung Wilhelm beginnen würde. Anfangs gestand dieser ihm einen gewissen Freiraum zu, um seinen Platz im Gefüge des Kontors zu finden, denn seine Arbeit selbst verrichtete er zu aller Zufriedenheit.
Johanna wusste, dies war ein Fehler gewesen, doch zu Beginn ihrer Ehe hatte sie alles getan, um ihren Mann zu unterstützen, hatte über so manche Attitüde hinweggesehen. Genau wie ihr Vater.
Von Anfang an hättest du einschreiten müssen, Vater, dachte Johanna, erstaunt über die Klarheit ihrer Gedanken und die Kälte, die sie dabei durchströmte. Konnte dieser leise Zweifel gar Abscheu sein? Erschrocken setzte sie sich auf und zog die Decke bis an die Schulter. Klar erinnerte sie sich an das Ende ihres damaligen Gespräches.
»Mit diesen Spielchen muss jetzt endlich Schluss sein, Vater. Wir alle leiden darunter. Ich decke seine Lügen, du wirfst den Mantel des Schweigens darüber und für Mutter existiert sowieso nichts, was sie nicht sehen oder hören möchte. Die Einzige, die manchmal Tacheles redet, ist Großmama. Aber wie soll ich …«
Wilhelm zu Hohenlinden hatte seine Tochter erstaunt angesehen und die Brauen gehoben. Nach einer Weile erst hörte sie ihn fast enthusiastisch einen Vorschlag machen.