Eine Handvoll Würfelzucker - Anett Klose - E-Book
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Eine Handvoll Würfelzucker E-Book

Anett Klose

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Beschreibung

Ein berührender Roman über Hoffnung und Liebe, Verzweiflung und Zuversicht Ein glückliches junges Paar, getrennt durch Krieg und Gefangenschaft. Berührende Briefe voller Sehnsucht und Zuversicht. Zweifel am geliebten Mann, schmerzliches Vermissen des Vaters und Glück in einer kleinen Geste – eine Geschichte voll berührender Momente. Die scheue Elsa findet im eloquenten Paul ihren Seelenverwandten. Im Vogtland wachsen ihre zarten Bande zu einer starken Liebe heran, doch ihnen bleibt kaum Zeit mit ihrem Söhnchen, bevor Krieg und Gefangenschaft die Familie auseinanderreißen. Der kleine Heiner träumt jahrelang davon, endlich mit dem Vater Drachen steigen zu lassen, und Würfelzucker bleibt für ihn der Inbegriff von Glückseligkeit. Unter welchen Umständen existieren Liebende in dieser Zeit? Wie erlebt und überlebt man Lager, Mangel und Verzicht – im Nachkriegsdeutschland und in der russischen Steppe? Wie verändert Distanz die Menschen, die mit ihr leben müssen? Fragen, auf die diese wahre Familiengeschichte Antworten sucht.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


ANETT KLOSE

Eine Handvoll Würfelzucker

INHALT

Erinnerungen

Es war doch erst der Anfang …

Das rote Backsteinhaus

Vermächtnisse

Die glücklichen Momente

Der Zauber der Genügsamkeit

Ein Antrag fürs Rehlein

Sie ahnten nicht

Hoffen, bangen, warten …

Herschey’s Tropical Bar & Soljanka

Tausend Fragen

Sehnsucht

Borschtsch & Renftel vom Blechkuchen

Euer ist mein Herz

Ich begrabe das Sehnen

Es gibt keine Antworten

Spekulationen

Herzel, bleibe nur stark

Ein reines Frauenherz

Insel der Barmherzigkeit

Die absolute Nichtigkeit aller äusseren Dinge

Die Sehnsucht brennt im Herzen

Verheissung

Ein kleines Stück Glückseligkeit

Alles auf Anfang?

Der grosse Sprung

Zwei mal zwei ist vier

Nimm dein Herz in deine Hände

Die Mauer

Bescheiden, genügsam und zufrieden

Schicksalhafte Begegnung

Nachwort

Danksagung

Interview

Allgemeine Hinweise

Von der Autorin ist ausserdem erschienen:

Impressum

© 2021 Anett KloseAnett Klose, Am Königsberg 10, 82211 Herrsching

Korrektorat: Romanufaktur Sabine M. Steck

Covergestaltung und Buchsatz: rauschgold coverdesign: Catrin Sommer – rausch-gold.com

Bilder: Anett Klose (Privatbesitz)

Shutterstock.de: Only background, Tashsat, Yavuz ILDIZ

ISBN: Paperback 978 375 435 6487

ISBN: Hardcover 978 375 435 6586

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Heiner

»Denn es war doch erst der Anfang und sollte doch ein ganzes Leben ausfüllen, ohne zu versiegen an Liebe und Treue.« Elsa K.

Personenverzeichnis der Hauptcharaktere

Sascha Tochter von Lisa

Bente Tochter von Lisa

Jan Amelies Sohn

Amelie Roberts Frau, Mutter von Jan

Robert Amelies Mann, Sohn von Martina & Heiner

Lisa Tochter von Martina & Heiner, Mutter von Sascha & Bente

Martina Heiners Frau, Mutter von Lisa & Robert

Heiner Martinas Mann, Sohn von Paul & Elsa, Vater von Lisa & Robert

Paul Elsas Mann, Vater von Heiner & Hilde

Elsa Pauls Frau, Mutter von Heiner & Hilde

Hilde Tochter von Paul & Elsa,

Schwester von Heiner

Heinrich Almas Mann, Vater von Elsa

Alma Heinrichs Frau, Mutter von Elsa

Arthur, Willi, Helmut Brüder von Elsa,

Kinder von Heinrich & Alma

Karl Agnes’ Mann, Vater von Paul

Agnes Karls Frau, Mutter von Paul

Martha, Liesel, Mariechen, Hedwig, Agnes, Karl, Heinrich, Hermann, Alfred Geschwister von Paul

Selma Schwägerin von Heinrich

Franz, »Lord« lebenslang der beste Freund von Heiner

Stammbaum

ERINNERUNGEN

Plauen, 3. April 2019, Das rote Backsteinhaus – Heiner

Die verblichenen, leicht gelblichen Umschläge fühlten sich spröde an, als seine kräftigen Hände zögernd danach griffen. Heiner strich mit den Fingerkuppen behutsam über das beige Papier und zog einen Bogen heraus. Staunend entfaltete er einen Brief und als er die Handschrift darauf erkannte, hüpfte sein Herz für einen kurzen Augenblick. Dann musste er lächeln. Mein Herz hüpft?Welch ungewöhnliche Ausdrucksweise, dachte er. Aber genau das war es, was sein Herz tat. Er konnte es mehr als deutlich spüren. Es hüpfte beim Anblick der ihm bekannten Handschrift.

Er hatte sie seit sechzig Jahren nicht gesehen und doch war sie in seinem Kopf, hatte sich dort eingebrannt, war ihm auch nach all den Jahren immer noch vertraut. Die Zeilen tanzten vor seinen Augen wie der Staub in den Sonnenstrahlen, die durch die schmutzige Fensterluke des oberen Dachbodens drangen, als er realisierte, dass dies Aufzeichnungen seiner Mutter Elsa waren.

Er traute seinen Augen kaum. Las die Worte immer und immer wieder, blätterte die Seiten um und zog voller Erwartung auch schon den nächsten Bogen aus einem Umschlag. Wie viele Jahre hatte er sich gewünscht, etwas Ähnliches von seinen Eltern zu besitzen. War es nun noch von Bedeutung, fragte er sich resigniert und rieb sich die aufkommende Müdigkeit aus den Augenwinkeln.

Dann hob Heiner den Blick, spürte ein dumpfes Pochen und mit einem Mal merkte er, wie seine Knie schmerzten. Zu lange schon hockte er vor dieser alten Truhe. Unmerklich war die Kälte in seine Glieder gekrochen und auch sein Rücken wurde langsam steif.

Vielleicht lagerte seine Schwester ja noch Kohlen in der Wohnung und er könnte wenigstens in einem Raum für etwas Wärme sorgen, bevor er sich weiter an das Aussortieren ihrer Dinge machte. Heizen mit Kohlen. Wie absurd. Ich komme mir vor wie vor 50 Jahren, murmelte er und nahm einen langen tiefen Atemzug.

Etwas zögerlich erst, doch dann mit einem festen Ruck zog er zwei weitere Umschläge und ein Heftchen mit Aufzeichnungen unter dem halbherzig angenagelten Holzbrett am Boden der Truhe hervor, schob sie in seine Jackentasche und drückte sich aus der unbequemen Haltung nach oben. Ein kleines Schnaufen entfuhr ihm ungewollt und wieder atmete er hörbar ein und aus. Ich werde halt doch alt, dachte er mit Verdruss. Sich elegant und beweglich zu geben, fiel ihm tatsächlich immer schwerer. Heiner ließ seinen Blick nochmals umherschweifen.

Was er sah, machte ihn traurig. Es war ihm vertraut und doch auch fremd. Zu lange hatte er keinen Fuß mehr in dieses große Mietshaus gesetzt. Über ein Jahrhundert war das rote Backsteinhaus, hier im Herzen des Vogtlandes, nun im Besitz seiner Familie, war der ganze Stolz seines Großvaters Heinrich und auch seiner Mutter Elsa gewesen.

Und obwohl es für Jahrzehnte auch sein Heim gewesen war, hatte er nun keine Verbindung mehr dazu. Zu lange war er schon fort von hier, hatte die Schwester und damit auch das Elternhaus nur selten besucht.

Jetzt war das rote Backsteinhaus für ihn nur noch ein verlassenes, her­unter­­gekommenes Mehrparteienhaus, das seine Schwester in den dreißig Jahren nach der Wende weder instandgehalten noch renoviert hatte. Der Familienbesitz sollte in den Händen der Familie bleiben, hatte sie immer gejammert, doch nie etwas getan, um ihn zu erhalten.

Was hätte er tun können? Unzählige Male hatten er und sein Sohn versucht, ihr klarzumachen, dass man das hübsche Backsteinhaus mit den hohen Giebeln erhalten müsse und dieses Haus aus dem Jahre 1909 einer Generalüberholung bedürfe. Aber sie hatte sich nie auch nur für einige Monate von ihrem Heim trennen wollen. Und so war dieses Haus im einundzwanzigsten Jahrhundert noch immer im gleichen Zustand wie 1978, dem Jahr, in dem Heiner mit seiner Familie ausgezogen war.

Das Haus besaß Charme und war mit Verstand und Geschmack errichtet worden. Die Außenansicht bestach mit einer Fassade aus roten Klinker­backsteinen und hellgrauem Putz, der jedoch schon seit Langem an manchen Stellen abbröckelte. Die Holzfenster waren noch aus den fünfziger Jahren, ein Erkeranbau im vierten Stock verlieh dem Haus Struktur, die Treppen im Flur waren aus wertbeständigen Theumaer Schieferplatten gefertigt und die Travertinsteinbeläge zwischen den Etagen sahen aus wie kürzlich verlegt. Vor den Fenstern im Inneren gab es breite Eichenholzsimse.

Aber es gab auch Trockenklos auf halber Treppe, keine Bäder, eine stink­ende Grube im Hinterhof und Kohleöfen in den Wohnräumen. Manche Öfen waren heute antike Stücke, Reliquien aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Noch immer glänzten die kunstvoll gefertigten Kacheln im Licht und gaben den Räumen eine gewisse Eleganz. Im Keller jedoch roch es modrig und die Brandschutztür war so schwer, dass man sie allein kaum bewegen konnte.

Der Dachboden, auf dem sich Heiner gerade umsah, war nicht ausgebaut. Große Balken zogen sich hinauf in den Giebel und noch immer hing hier Wäsche seiner Schwester Hilde, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte. Unter diesem Dach hatte er als Kind unzählige Stunden verbracht. Der Spitzboden war vor allem in den Wintermonaten seiner Kindheit sein Spielplatz gewesen.

Nur wenige ovale Dachfenster aus Aluminium ließen das Licht an einigen Stellen gebündelt auf den verstaubten Boden fallen. An anderen Stellen war es dunkel und geheimnisvoll. Dort in diesen Ecken waren die Dinge verstaut, die keiner mehr brauchte, die aber niemand wegwerfen wollte. Jahrzehntelang hatte hier jeder Mieter alte Lampen, Stühle, Eimer oder Geschirr abgestellt. Nun fristete all das seit Langem ein einsames Dasein, niemand interessierte sich mehr dafür.

Die große Wäschekiste war sorgsam zusammengezimmert worden, maß sicher eineinhalb Meter in Höhe und Breite und stand direkt neben einem Schornstein. Dort hatte jemand gedankenlos eine Holzsprossenleiter angelehnt. Wahrscheinlich der Schornsteinfeger, als er das letzte Mal hier oben gekehrt hatte. Als kleiner Junge war er stundenlang immer und immer wieder gemeinsam mit seinem Freund Franz von der oberen Sprosse der Leiter in die Wolkenburg aus Winterdecken und Kissen gesprungen.

Die roten und blauen Überzüge aus festem Stoff bauschten sich über ihrem Inhalt aus Federn auf, wenn sie sich hineinfallen ließen und zwischen den Decken und Kissen versanken. Immer wieder piekten kleine Federkiele hervor und verfingen sich in seinen Haaren und den groben Strümpfen. Die Federn waren für seine Mutter ein untrügliches Zeichen dafür gewesen, wo er den Nachmittag verbracht hatte. Er konnte sich noch so penibel absuchen, sie fand immer welche. Aber trotz ihres Ärgers darüber strich sie ihm sanft über den Kopf und murmelte etwas wie:

»Passt bloß gut auf, wenn ihr da oben spielt, holt euch nicht den Tod. Es zieht und ist kalt dort.«

In einer anderen Ecke, gleich links neben der steilen Treppe, hatte man einen Verschlag eingebaut, schöne, auf Maß geschnittene Bretter trennten diesen Teil des Dachbodens vom Rest ab. Es gab eine Holztür und ein daran angebrachtes Vorhängeschloss. Dort durfte er als Junge nicht hinein. Hier bewahrte Tante Selma Andenken an ihren verstorbenen Verlobten auf und die Mutter hatte in einem kleinen Schränkchen und einer Truhe fein säuberlich Wäsche von den Großeltern aufgeschichtet. Vorkriegswäsche hatte sie dieses teils kratzige Leinen genannt. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie es je benutzt hätte.

Er selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen, diese Schätze anzufassen. Seine Schwester Hilde war ihr ganzes Leben lang peinlich darauf bedacht gewesen, die Hinterlassenschaften der Mutter als die ihren zu bewahren. Irgendwie hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass dies die Andenken waren, die man der Tochter hinterließ und nicht dem Sohn. Und so hatte er nie ein Stück davon beansprucht.

Er wiederum hatte die Bücher, die Uhr und einen bunten gläsernen Brief­beschwerer des Vaters erhalten und auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass der Schwester von diesen Schätzen nichts zustünde.

Warum gibt es diese Trennung, dachte er. Es ist wirklich ein Jammer, dass wir uns nie ausgesprochen haben, uns nicht verstehen. Wir waren schon von Kindesbeinen an so verschieden. Und nun musste er alles ausräumen und für das Haus einen Käufer finden.

Heiner schloss kurz seine graublauen Augen, die an einem gewöhn­lichen Tag neugierig und wissend die Welt bestaunt hätten, dann lenkte er seine noch immer kraftvollen und ausholenden Schritte in Richtung Ausgang. Mit seinen durch Rheuma gezeichneten Händen verschloss er die Kammer und ließ den kleinen Schlüssel in seine Jackentasche gleiten, in der er auch die Papiere fühlte, die auf eine ruhige Lesestunde warteten.

Verstaubte Holzdielen knirschten unter seinen Schritten, während er in Gedanken versunken zurück zur steilen, aber massiven Holzstiege ging. Eine kleine Wolke aus Staub fuhr in die Höhe und tanzte in den Sonnenstrahlen am Boden. Von unten aus dem Haus drangen Stimmen zu ihm herauf.

Leben im alten Kasten, dachte er und war nun doch froh, dass Sascha mitgekommen war. Seine Enkeltochter hatte extra die lange Reise von Kopenhagen hierher gemacht, um ihm zu helfen, die Sachen seiner Schwester Hilde zu sortieren und alles zu regeln.

Die Stimmen wurden lauter und schon stürmte seine Labradorhündin wild und ungestüm die alte Holztreppe herauf. Oben angekommen hechelte sie angestrengt und die rosa Zunge hing ihr weit aus dem Maul. Ihre braunen Knopfaugen strahlten ihn an und der Schwanz wedelte zur Begrüßung wie verrückt. So ein Energiebündel, dieser Hund, dachte Heiner erfreut. Etwas abgehetzt erschien nun auch seine Enkeltochter an der Schwelle zur Bodentreppe.

»Was tust du nur so lange hier oben? Ich habe versucht, in einem der alten Kachelöfen ein Feuer anzufachen, aber es ist mir nicht gelungen. Vielleicht ist die Kohle feucht, vielleicht das Spaltholz, ich weiß es nicht. Aber ich friere, wir müssen eine Lösung finden, Opa. Komm bitte runter und hilf mir. Wir wollten doch die wichtigsten Unterlagen zusammensuchen und in der Kälte ist das einfach nicht möglich.«

Wie immer war sie dezent gekleidet, trug schwarze Jeans und der Aufgabe des Tages entsprechend bequeme schwarze Schuhe und einen Kapuzenpulli, der ihren jugendlichen Körper leicht umspielte. Ihr braunes, lockiges Haar schimmerte seidig und war in einen lockeren Knoten aufgezwirbelt. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden Nase hatte die makellose Haut eines frischen Pfirsichs. Die strahlend blauen Augen, die mal abschätzend, mal belustigt dreinschauten, wurden von einem dichten Kranz aus langen dunklen Wimpern eingerahmt.

Sie ist immer so engagiert, egal was sie tut, dachte Heiner in diesem Moment und eine warme Herzlichkeit durchströmte ihn. Er war überglücklich über den Werdegang seiner Enkeltöchter, die beide ihren Weg gemacht hatten. Mit Freude hatte er mit angesehen, wie sie sich von engagierten und wissbegierigen Teenagern zu aufgeschlossenen, toleranten jungen Frauen entwickelt hatten. Ihr liebes, zugewandtes Wesen berührte ihn und ihre tiefe Verbundenheit mit dem Vogtland ließ sie zu seinem Glück oft nach Plauen und damit zu ihm zurückkommen.

»Wenn ich noch länger vor mich hindöse, werden wir heute wahrhaftig nichts mehr fertigbekommen«, entgegnete Heiner lakonisch und folgte seiner Enkelin, die raschen Schrittes die Haustreppe wieder nach unten gelaufen war. Der Hund folgte ihr schwanzwedelnd und ließ ihn allein zurück. Während er den alten Schlüssel über der Tür zum Dachboden auf einen Vorsprung legte, dachte er an die letzten Monate.

Um Weihnachten herum war ihm bei einem der wenigen Besuche aufgefallen, dass seine Schwester schlecht aussah. Sie hatte an Gewicht verloren, antwortete ausweichend auf seine Fragen nach ihrem Wohl­befinden, verwechselte Personen, wirkte abwesend auf ihn. Er bestand auf einem Besuch bei ihrem Hausarzt, der ihn darüber in Kenntnis setzte, dass sich Hilde in einem frühen, aber sich rapide verschlechternden Stadium von Demenz befinde. Wenn sie die verordneten Medikamente einnähme, sähe er gute Chancen, dass sich der Verlauf milder zeigen würde, man müsse aber umgehend Vorkehrungen zu Vorsorge treffen und Betreuung organisieren. Im Beisein des Arztes noch wurden alle nötigen Papiere unterzeichnet, sie machten einen Banktermin und Heiner begann, sich um Essen auf Rädern und Pflege zu kümmern. Wöchentlich ging er zu ihr, kaufte ein, sortierte die Post, organisierte die Medikamente, las ihr vor.

Einige Wochen vergingen und es sah so aus, als ob die Krankheit sich nicht verschlechtern würde. Doch dann fand er sie bei einem seiner wöchentlichen Besuche verwirrt vor. Ihre Medikamente und auch die von ihm organisierten Mahlzeiten waren seit Tagen unangetastet geblieben.

Sie sprach zusammenhanglos, ein Blick in den Kühlschrank zeigte ihm, dass sie weder gegessen noch viel getrunken hatte. Sogar ihre Lieblingsschokolade lag ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch. Sie hatte abermals an Gewicht verloren, ihr Gesicht war fahl und sie schien nicht genau zu wissen, wer er war. Heiner rief die Ambulanz und nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in der Klinik trug man ihm an, seine nunmehr schwer an Demenz leidende Schwester in einem Pflegeheim unterzubringen. Sie könne sich unmöglich länger allein in ihrer Wohnung versorgen, war das Fazit der Ärzte. Seither waren zwei Wochen vergangen, in denen er gemeinsam mit Martina, seiner Frau, die wichtigsten Sachen für Hilde zusammengesucht hatte, um ihr den Aufenthalt im Heim so angenehm wie möglich zu machen. Nun war es an der Zeit, die Wohnung aufzulösen.

All das belastete ihn schwer, denn seine Schwester und er hatten leider wenig Kontakt zueinander gehabt. Obwohl sie in derselben Stadt lebten, sahen sie sich nur an Geburtstagen oder manchmal zufällig beim Einkaufen. Dann beschränkte sich das Gespräch oft auf ein »Hallo« und »Wie geht’s?«. Tiefsinnig oder wirklich interessiert war keine ihrer Unterhaltungen je gewesen. Und so waren auch in diesem letzten Jahr einige Monate vergangen, in denen sie sich nicht gesehen, nicht einmal ein Telefonat geführt hatten. Von außen betrachtet könnte man meinen, sie wären allenfalls Bekannte, aber nicht verwandt miteinander. Ein inniges Bruder-Schwester-Verhältnis, das sich sein Vater Paul für ihn und Hilde so sehr gewünscht hatte, wollte sich zeitlebens nicht einstellen. Zu verschieden waren sie. Hart wie die Mutter war die Schwester, unnachgiebig, verschlossen und etwas zu fantasielos für seinen Geschmack. Geheiratet hatte sie nie, auch nie nur eine Woche mit jemandem zusammengelebt. Denn eine feste Bindung, die Verantwortung und auch Abhängigkeit bedeutet hätte, wäre für sie nicht in Frage gekommen. Selbst gegen Kinder hatte sie sich entschieden. Anschluss an seine Familie, an Martina, Lisa und Robert, wollte sie nicht. Nie brachte sie sich irgendwie mit ein.

Heiners Kinder, ihre Nichte und der Neffe, hatten wie sie viele Jahre im roten Backsteinhaus gelebt. Eine Bindung war dennoch nicht entstanden. Geburtstage und Weihnachten überging sie, Geschenke für die Kinder gab es keine. Gemeinsam etwas mit der Familie zu unternehmen, dazu hatte seine Schwester nie Lust gehabt. Bot nie auch nur eine Fahrt mit ihrem Auto an. Den Kindern hätte das sicher viel Spaß gemacht.

Er selbst konnte sich seinen Trabant erst sehr viel später als seine Schwester leisten. Immerhin war Heiner Familienvater und musste mit einem wahrhaft nicht üppigen Lehrergehalt eine vierköpfige Familie durchbringen. Auf ein Auto zu sparen, hatte für ihn dementsprechend viel länger gedauert.

Obwohl sie in ihrem gemeinsamen Elternhaus, eben diesem Mietshaus hier, viele Jahre auf der gleichen Etage gelebt hatten, war ihr Verhältnis zueinander wie das von zufällig nebeneinander lebenden Fremden. Man glaubte zu wissen, dass sie ein zurückgezogenes Leben führte, aber genau wusste man es nicht. Welche Menschen waren ihr wichtig? Hatte sie Wünsche, was erlebte sie auf ihren vielen Reisen? Nie wurde darüber gesprochen. Sie erzählte nichts, er fragte nichts.

Es schauderte Heiner, wenn er daran dachte, was wohl geschehen wäre, hätte er sich nicht durchgesetzt und den Termin mit dem Hausarzt vereinbart. Seine Schwester hatte sich anfangs dagegen gesträubt. Nun war sie im Heim und soweit man das nach wenigen Tagen sagen konnte, hatte sich ihr Allgemeinzustand bereits gebessert. Sie schien sich wohlzufühlen. Durch die Betreuung war die Medikamenteneinnahme kontrolliert, sie war ruhiger, aß regelmäßig und nahm auch schon an Gruppenveranstaltungen teil. Bei seinem letzten Besuch hatte sie ihn zwar erst nicht erkannt, aber als er sich ihr dann vorgestellt hatte, waren ganz schnell sehr viele Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit bei ihr hochgekommen. Sie sprach in fast mädchenhafter Art und Weise von Mutti und Vati, erwähnte Menschen und Begebenheiten, die er selbst fast schon vergessen hatte. Dann wieder stutzte sie, verfiel in minutenlanges Schweigen und fragte ihn wieder, wer er sei und wohin ihr Bruder gegangen sei.

Die Erinnerung an diesen Besuch ließ ihn frösteln. Zu sehr bohrte sich die Angst in seinen Kopf, dass auch ihm ein solches Schicksal beschieden sein könnte.

Als Heiner in die Wohnung kam, bemühte sich Sascha gerade erneut, das Feuer im Kachelofen in Gang zu setzen. Seine Schwester hatte auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer kein Bad oder eine Zentralheizung installieren lassen. Dabei ging es ihr finanziell nicht schlecht, wie ihm ein Blick in ihre Bankunterlagen gezeigt hatte. Heiner traf eine Entscheidung.

»Lass uns gehen, Sascha. Selbst wenn wir das Feuer anbekommen, dauert es eine Stunde, bis der Raum warm wird«, meinte er und schlug vor, am Morgen gemeinsam mit seiner Frau Martina und einem elektrischen Heizgerät zurückzukommen, um die restlichen Dokumente und Habseligkeiten so schnell wie möglich gemeinsam zu sortieren.

Sascha stimmte ihm nickend zu. Sie leinte den Hund an, dann gingen sie aus der Wohnung, hielten es nicht für nötig, abzuschließen, und verließen das Haus durch die imposante Haustür, deren Farbanstrich an vielen Stellen absplitterte.

Wie vergänglich doch alles ist, dachte Heiner melancholisch. Die Straßen­laternen tauchten die kurze, ihm so vertraute Straße schon in ein milchiges Licht, in dem die letzten Sonnenstrahlen vergeblich versuchten, Fuß zu fassen, als Heiner und seine Enkelin auf den Bürgersteig traten.

Und da stand auch Hildes Auto. Was soll ich wohl damit machen? Viele solcher praktischen Gedanken bewegten Heiner in dieser Stunde und doch hatte er auch die Papiere in seiner Jackentasche nicht vergessen. Er würde sie heute Abend lesen, wenn Ruhe eingekehrt war.

ES WAR DOCH ERST DER ANFANG …

Pöhl, Vogtland, 10. April 1945 – Elsa

Mein lieber guter Paul,

es ist ein herrlicher Frühlingstag heute, aber grausam und schrecklich für uns hier im Herzen Deutschlands. Wir erleben das, was die Vielen vor uns erlebt haben und auch nach uns erleben werden.

Es ist eine sehr große Frage, ob Du meine Briefe überhaupt erhältst. Ich bin mir darüber vollkommen im Klaren und mache mir gar nichts vor. Wie soll das da hinauf zu Euch kommen? Aber trotzdem muss ich doch schreiben, muss mit Dir reden und Dir erzählen.

Ob Ihr den Wehrmachtsbericht jeden Tag zu hören bekommt? Wie oft ist Plauen jetzt schon genannt worden? Seit ein paar Wochen sind die Eltern bei mir. Bei all den Angriffen ist das Haus in Plauen in den Mauern stehen geblieben, aber Fenster und Türen sind hin. Schon lange kein Licht, kein Wasser. Um uns herum eingestürzte Häuser, Bombentrichter. Täglich hier bei uns Tiefflieger, die die Bahn usw. beschießen. Völkerwanderung der Obdachlosen täglich, sowie von und nach den Bahnhöfen, der anderen kleineren Orte. Ich schreibe tatsächlich keine Ortsnamen, denn Du wirst Dir das alles auch so vorstellen können.

Gestern Abend um 11 Uhr war der schlimmste Terrorangriff nach dem im Februar, wir dachten der Untergang ist da. Wir sind noch alle gesund. Ich bin fest und ruhig, es nützt alles nichts, aber furchtbar ist es, wenn man das so an sich vorbeigehen lassen muss. Das Häusel wackelt und man kann seinem Schicksal nicht entgehen.

Ich denke immer an Dich, wenn wir in Gefahr sind. Die Front rückt immer näher, man will es einfach nicht fassen, aber eines Tages wird es doch so weit sein. Was die Kinder jetzt miterleben. Heiner ist laut und aufgebracht, ich muss ihn immer dämpfen. Sie parieren schlecht, hören mir nicht aufs Wort und so muss ich noch immer ganz energisch werden und aufbrausen. Warum?, denke ich manchmal. Wenn man wüsste, wo unser Ziel gesteckt ist, würde man ihnen alles noch gewähren, aber so weit darf man sich gar nicht gehen lassen.

Hart muss man werden, unsagbar hart. Wenn ich Dich doch nur in der Nähe wüsste. Die Gedanken hetzen einander und bald redet man sich das ein und dann was anderes. Einen alten Brief erhielt ich von Dir vor ein paar Tagen. Ich freue mich über jede geschriebene Zeile von Dir, wenn sie auch alt ist. Sie spricht Dir aus dem Herzen und wie Du mit heißer Liebe an uns denkst. Herzel, vielleicht gibt es doch noch eine Rettung, dass wir uns je wiedersehen. Solange das letzte Wort nicht gesprochen ist, will man noch ein Fünkchen Hoffnung glimmen lassen.

Ich denke immer, Vati hatte doch in allen Lebenslagen Glück. So sollte es doch auch weiterhin bei Dir bleiben. Den Lebensmut sollte man doch nie aufgeben.

Am 9.4. erhielt ich einen Brief von Dir, Nr. 23 vom 3.3.45. Ihr wartet täglich auf ein Postschiff. Ob überhaupt wieder eines angekommen ist? Du schreibst, dass Du in Ermangelung neuer Briefe alte Briefe gelesen hast und wie Du dabei in unserer Mitte bist, in der Heimatstadt Deines Herzens und Deiner Sehnsucht. In treuer Liebe bist Du bei mir, immer und das wird es sein, dass mir Kraft gibt und mich so stark macht. Im Bilde bist Du um mich, Deine geliebten Züge, von denen ich mich nicht trennen möchte. Ich liebe Dich so heiß. Es war doch erst der Anfang und sollte doch ein ganzes Leben ausfüllen, ohne zu versiegen an Treue und Güte.

Ich schreibe nochmal die Päckchennummern, die bis jetzt angekommen sind. Nummer 1,5,6,7. Vor Tagen haben die Kinder Himmelschlüsselchen gepflückt und sie haben auch Deine Bilder geschmückt.

Jetzt kann man aber gar nicht mehr hinaus, nachmittags kreisen dauernd die Flieger und man müsste immer in Deckung gehen.

Vater hat mein ganzes Holz gehackt. Dann holen sie auch immer wieder Reisig aus dem Wald und das verbrennen wir dann gleich.

Gestern früh war ich nochmal in der Stadtwohnung. Ich nehme immer wieder Verschiedenes mit runter. Einen Hasen, der in drei Tagen sicher Junge bekommt, habe ich dieses Mal mitgebracht. Der zweite hat 6 Junge und ist noch drin. Vater war heute früh drin. Einmal wollen wir noch rein, wissen aber noch nicht wann. Unser früherer Garten ist vernichtet, Georgs Häusel mit Hasen usw. ist hin. Seit gestern ist hier keine Schule mehr, in der Stadt ist schon lange keine Schule mehr.

In einem Brief Nr. 24 vom 12.3., es ist der letztgeschriebene von Dir und mir besonders wertvoll, denn ich halte mich an Deine Meinungen und Stellungnahmen, da teilst Du mir mit, dass Du das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern bekommen hast. Ja, ich kenne meinen Schatz und bin stolz auf ihn und weiß auch, dass er beinahe vergisst, so etwas seinem Frauchen zu schreiben. Wenn ich könnte, würde ich Dich mit Lorbeeren schmücken.

Nun wünsche ich mir, dass mich neue Post von Dir erreicht und dass Du vor allen Dingen auch bald etwas von mir erhältst. Ich halte mich tapfer und aufrecht und wirke beruhigend auf meine Umgebung. Bleibe Du uns gesund und nahe. In Liebe und Zärtlichkeit

Deine Ettel mit den geliebten Kindern.

Plauen, 3. April 2019 – Heiners Wohnung

Heiner legte die Papiere behutsam aus der Hand und stand leise auf, penibel darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken. Im Bad angekommen, schüttelte ihn ein Weinkrampf. Erst schnürte es ihm den Hals zu und er fürchtete, keine Luft zu bekommen, dann wanderte ein heftiges Pulsieren über seine Brust in seinen Magen, der sich sogleich heftig zusammenzog. Schnell öffnete er den Deckel der Toilette und als seine Beine nachgaben, kauerte er sich davor.

Beide Arme umfassten die Keramikschüssel, aber es kam nicht zum Äußersten. Als die Spannung in seinem Körper langsam abnahm, er sank in die Knie, dann nach links auf die Badematte und weinte lautlos. Wie er so dalag, fühlte er sich buchstäblich wie das so oft beschriebene Häufchen Elend und er musste an sich halten, um nicht laut zu schluchzen.

Ging es um seine Eltern, die Kriegserlebnisse der Familie, verlor er, je älter er wurde, immer leichter die Beherrschung, so stark war das Gefühl von Verlust, das er noch immer empfand. So sehr wünschte er sich, mit Vater und Mutter zu reden, sein Leben mit ihnen teilen zu können. Wünschte sich, er könnte sie um Rat fragen. Sogar heute, zig Jahrzehnte später noch, rollten Tränen unaufhaltsam seine Wangen hinunter.

Was seine Mutter da in diesem Brief und den anderen sehr persönlichen Tagebuchaufzeichnungen im Detail beschrieben hatte, war neu für ihn. Sie schüttete dem Vater ihr Herz aus, zeigte sich verwundbar, verletzt, verlassen, und ihre Gedanken und Gefühle bewegten ihn sehr. So wie es aussah, hatte sie den Brief nie abgeschickt, wusste im April 1945 wahrscheinlich nicht einmal, wohin sie ihn hätte schicken sollen.

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die Mutter solche Gedanken je laut ausgesprochen hätte. Er wusste, dass sie in Kriegstagen selten ruhig mit ihm und der Schwester zusammengesessen oder ihnen Geschichten erzählt hätte. Außer an den Feiertagen vielleicht, da hatte sie ihnen vorgelesen, hatte draußen mit ihnen gespielt und sich Zeit für sie genommen.

Aber an den anderen Tagen im Jahr funktionierte sie, musste sie im Krieg allein für zwei Kinder und die Großeltern sorgen, ohne Beruf, ohne Mann und ohne die Brüder, die hätten helfen können.

Nach dem Krieg waren die Stunden, die seine Eltern mit der Vergangenheit verbringen wollten, rar gesät. So gut wie nie hörte er sie von den Kriegsjahren sprechen, selten nahm ihn der Vater mit auf eine Reise in seine Erinnerungen. Umso kostbarer waren die wenigen Details, die er erzählte.

Die ersten zehn Jahre seines Lebens musste Heiner ohne seinen Vater auskommen, gab es lediglich die Erzählungen der Mutter oder Bilder in Fotoalben von ihm. Er erschuf sich sein eigenes Bild von dem Mann, den er vermisste, ohne ihn zu kennen. Seine emotionale Bindung an ihn blieb ein Leben lang stark und ungetrübt. Obwohl er ihn als Kind nur zweimal gesehen hatte, war er in seinen Träumen doch immer bei ihm. Ihre Bilder von den Vätern verklärten sich, je länger er und sein Jugendfreund Franz von den abwesenden Vätern träumen mussten. Und so entstand früh das Idealbild eines Mannes, der später hohen Ansprüchen genügen musste. Dieses Idealbild nährten und pflegten sie bis zu dem Punkt, an dem sie glaubten, die beschriebene Person wirklich zu kennen.

Heiner sollte es später gelingen, seinen eigenen Kindern das Wesen und den Charakter seines Vaters in ebensolcher Manier zu malen. Sie hatten ihr Leben lang das Gefühl, ihren Großvater leibhaftig gekannt zu haben.

An jenem Abend im April 2019 dachte Heiner mit Wehmut an die Momente zurück, an denen Paul in Erzähllaune gewesen war. Dann hatte er ihn an allem teilhaben lassen. An den schönen Dingen, die er wertschätzte, und an denen, die er als Herausforderung empfand. Diese Momente waren selten und deshalb umso wertvoller gewesen.

Nur langsam beruhigte sich Heiner, zog sich am Waschbecken hoch, schnäuzte sich geräuschvoll und wusch sich das Gesicht. Als er sich mit den feuchten Händen gedankenverloren über die Glatze fuhr, streifte sein Blick sein Spiegelbild. Er stutzte, blickte zurück und sah sich als kleinen Jungen, als jungen Mann, als Ehemann, als Vater. In wenigen Sekunden zogen die verschiedenen Stationen seines Lebens an ihm vorüber.

Dann sah er wieder den alten Mann mit dem Dreitagebart und den Lachfalten um die Augen, der ihn verständnislos anblickte. Er musste schmunzeln, bevor er zurück ins Wohnzimmer zu den Papieren ging.

In seinem Sessel sitzend schlug er das Schulheft auf, das seine Mutter in ihrer krakeligen, etwas unbeholfenen Schrift fast vollständig mit ihren Gedanken gefüllt hatte. Gedanken an ihre Kinder, ihre eigene unbeschwerte Kindheit und die Zeit der ersten unbedarften Liebe zu ihrem zukünftigen Mann. Gedanken an Paul, an sein Leben, seine Herkunft, sein Verbleiben in den Wirren des Krieges. Und auch Heiner erinnerte sich beim Lesen an Fragmente, die ihm Mutter und Vater erzählt hatten.

Frankenstein, Schlesien, Polen 1907 – Paul

Heiners Vater Paul war das zehnte Kind eines schlesischen Schusters, der nur ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes verstarb.

Es war ein regnerischer, kalter Novembertag im Jahre 1907, an dem Franken­stein in Schlesien unter einer bleiernen Schicht aus Nebel und Nieselregen lag. Graue, regenschwangere Wolken zogen unaufhörlich in großer Geschwindigkeit über den von einer Stadtmauer umgebenen Ort. Die Straßen an der Peripherie der Stadt erschienen heute noch trostloser und verlassener als sonst. Alles war in ein hässliches Grau getaucht.

Uralte verknöcherte Weiden am Ufer des Pausebaches bogen sich im Wind. Ihre kahlen Äste widerstanden der steifen Brise und peitschten kraftvoll auf und nieder. Der schiefe Turm nordöstlich der Pfarrkirche St. Anna war nur schwer auszumachen, denn Nebelschwaden waberten unaufhörlich durch Straßen und Gassen. Immer wieder rissen sie auf und gaben den Blick auf eine kleine Trauergemeinde frei.

Die dunklen Kleider dieser Menschen vermischten sich mit ihren dunklen Gedanken, die zwar nicht sichtbar waren, aber dennoch wie eine Wolke über ihnen zu schweben schienen. Die Trauergemeinde schob sich unaufhaltsam am Pausebach entlang in Richtung Gottesacker. Es war ein tragischer Anblick. Ein schlichter Sarg, ein paar erfrorene Blumen und eine schwarz gekleidete Frau, die schon bessere Tage gesehen hatte. Sie führte eine Gruppe von Menschen auf ihrem Weg zur Kirche an.

Wie in dieser Zeit in einer gottesfürchtigen Familie üblich, hatte man den Verstorbenen in den Tagen zuvor zu Hause aufgebahrt, eine Totenwache gehalten, gemeinsam gebetet und sich von ihm verabschiedet. Man hatte den Leichnam gewaschen, ihn frisch angekleidet. Der Sargmacher hatte beim Umbetten in die schlichte letzte Ruhestätte aus Fichtenholz geholfen.

Agnes, die Frau des Verstorbenen, dachte an diese letzten Stunden mit Wehmut. Es war ihr nicht vergönnt gewesen, noch einmal längere Zwiesprache mit ihrem Mann zu halten. Immer hatte mindestens eines der Kinder auf ihrem Schoß gesessen, hatte Zuspruch gebraucht oder einfach nur jemanden, der es hielt. Die Kinder waren verwirrt, schauten verängstigt und verstanden einfach nicht, warum der Vater nicht aufwachte. Die Kleinsten weinten viel und so war sie, die ihren Mann verloren hatte, wie meist in ihrem Leben für die Kinder da und stellte ihre Gefühle und Bedürfnisse hintan.

Fast schien es, als ob nur diese Zeit auf dem Weg zur Kirche ihr ein paar Minuten der Ruhe geben könnte, denn es war kalt und die Kinder huschten an die Seite der Verwandten, ihrer älteren Schwestern, gruben ihre roten Nasen in die Falten der Mäntel und Schals, waren stumm geworden. Die Finger ihrer älteren Töchter Martha, Liesel und Agnes umklammerten die Hände der jüngeren Kinder. Nur Alfred, der Zweitjüngste, machte sich frei und lief an die Spitze des Zuges, wo er sich bemühte, mit den Sargträgern Schritt zu halten.

Man sah, welche Sorge die Familie umtrieb. Die Familie des Schusters Karl Klose hatte den Ernährer verloren und man war an diesem trüben Tag nicht nur zusammengekommen, um Abschied von ihm zu nehmen, sondern auch, um zu überlegen, was für die Familie nun zu tun sei.

Des Schusters Frau Agnes, die fast zwanzig Jahre mit Karl verheiratet gewesen war, konnte die Kinder schwerlich allein durchbringen. Zehn Mäuler zu stopfen und auch noch ein Baby ohne den Vater zu ernähren, das erschien allen Anwesenden unmöglich.

Vierundzwanzig Jahre war Agnes alt gewesen, als sie sich das Jawort gaben, und fast drei lange Jahre hatten sie auf ihre erste Tochter Martha gewartet. Diese war mit ihren siebzehn Jahren nun eine große Stütze für die Mutter. Und dennoch fühlte sich Agnes allein in der Welt.

An der Kirche angekommen, gesellten sich noch einige andere Menschen in dunkler Kleidung zu ihnen, schüttelten Agnes’ Hände und sorgten dafür, dass die Kinder ihre Plätze in der zweiten Reihe vor dem Altar einnahmen. Sie selbst saß ganz vorn, links vom Mittelgang, neben ihr die anderen Frauen der Familie. Rechts vom Mittelgang die Männer.

Ich sitze in der Reihe, die für die Familie eines Verstorbenen reserviert ist, dachte sie bestürzt, als Orgelmusik erklang, aufbrauste, abschwoll und der Pfarrer auf der Kanzel zu sprechen begann.

Wie oft hatte sie irgendwo hinten gesessen und war froh gewesen, nicht in die erste Reihe zu müssen. Wovon redet der Pfarrer da, dachte Agnes. Sie hörte ihm zu, wie er von Gnade und Vergebung sprach, und konnte doch so gar keine Gnade in dem sehen, was ihrem Karl passiert war. Agnes dachte an so vieles in diesen Minuten und bewegte sich nach der kurzen Zeremonie wie automatisch nach draußen. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, schob die Kinder zum Kirchenportal hinaus und nahm dann wieder die Spitze des kleinen Zuges ein, der nun zur letzten Ruhestätte aufbrach.

Das Grab am Rande der Friedhofsmauer war gesäumt von dunkler, satter Erde, die des Schusters Leichnam aufnehmen würde. Ein schlichtes Holzkreuz mit dem Namen von Karl Klose, seinem Geburts- und Sterbejahr sowie einer schlichten und doch hübschen schwarzen Spitzenschleife stand etwas windschief am Kopfende des Grabes.

Noch einmal schwebten die Worte des Pfarrers über den Köpfen der Trauergäste und hallten von der mannshohen Mauer wider. Wie schon in der Kirche versagte sich Agnes jede Regung. Ihre von der Arbeit geröteten und schwieligen Hände umklammerten einen kleinen Strauß aus Immergrün und Christrosen. Liebevoll hatte sie ihn am Morgen gebunden, die Stiele mit dem Schleifenband ihres Sommerhutes verziert.

Das hätte meinem Karl gefallen, sinnierte sie verträumt und bei dem Gedanken an ihren letzten gemeinsamen Ausflug zu den Wiesen am Flussufer im vergangenen Sommer lächelte sie sogar.

Da hatte sie den Hut mit eben diesem Band getragen und der Wind hatte ihn ihr vom Kopf gerissen. Karl war lachend aufgesprungen und hatte ihn vor dem Wassertod gerettet, wie er damals freudig erklärt hatte. Dies waren wundervolle Erinnerungen an einen der seltenen unbeschwerten Tage in ihrem gemeinsamen Leben.

Heute war kein solcher Tag. Der Himmel weinte, ihr Mann war tot, die Kinder schockiert und starr neben ihr.

Sie schalt sich insgeheim, die Kinder mit ihrer verschlossenen Art so eingeschüchtert zu haben. Ihre Ermahnung, sich ordentlich zu benehmen, hatte sie wahrscheinlich ziemlich verschreckt. Noch immer sah sie in den blassen Gesichtern ihrer Kinder Unglauben, Verständnislosigkeit und Angst. Und gerade jetzt, hier vor dem Sarg und der kalten Erde konnte sie auch blankes Entsetzen in ihren Augen erkennen.

»Ihr seid jetzt traurig, aber ich werde euch wiedersehen. Dann wird euer Herz sich freuen und eure Freude wird euch niemand nehmen. Johannes 16, Vers 22«, proklamierte der Pfarrer. Seine sonore Stimme drang in diesem Moment in ihren Kopf und das, was er sagte, klang für sie wie ein Versprechen. Nur allzu gern würde jeder hier daran glauben. An ein Wiedersehen in einer anderen, schmerzfreien, sorglosen Welt.

Der in einen dicken Talar gehüllte Geistliche sprach noch einmal von einem gottesfürchtigen Mann, von dem Vater, der seine Kinder geliebt hatte, dem Ehemann, der treu und liebevoll zu seiner Frau gewesen war. Er sprach von einem arbeitsreichen und mühsamen Leben, von Vergänglichkeit und Vergebung, von Schicksal und der Notwendigkeit, sich diesem gottesfürchtig zu ergeben. Sie hörte jedes dieser Worte, deren Bedeutung jedoch blieb ihr hier und heute verwehrt. Zu sehr war sie mit ihren Erinnerungen beschäftigt.

Die innere Emigration, in der sie den Tag bisher durchlebt hatte, musste sie später in der kleinen Eckkneipe aufgeben, als der Schwager nach einer Weile harmlosen Geplänkels zwischen den Anwesenden eindringlich ihre Aufmerksamkeit einforderte.

»Wir müssen dir mit den Kleinsten helfen, Agnes. Du kannst unmöglich zehn Kinder allein durchfüttern«, sagte der Schwager beim Leichenschmaus in die Stille hinein.

Augenblicklich legte sich eine tiefe Schwermut auf Agnes. Sie hatte damit gerechnet, dass er es gleich heute ansprach. Nachts hatte sie sich deswegen herumgewälzt und die Gedanken an die Zukunft wogen schwer. Immer und immer wieder kam sie ins Grübeln, suchte sie nach einem Ausweg aus dem Unausweichlichen.

Sie hatte mit dem Bruder gesprochen, den Pfarrer um Rat gebeten. Aber es wollte sich keine Lösung einstellen.

»Verstehst du, was ich dir sagen will, Agnes?«, schickte der Schwager fragend hinterher. Er war kein Mann langen Zögerns. Dinge mussten geklärt werden, also klärte er sie. Er fühlte sich nun als Familienoberhaupt, traf Entscheidungen, ohne sie vorher mit ihr zu besprechen. So war das eben. Und doch, hätte ihr Karl das gutgeheißen?

Karl hatte jedes seiner Kinder geliebt und unermüdlich gearbeitet, um alle durchzubringen. Und sie selbst führte nicht nur den Haushalt, wusch, kochte und kümmerte sich um die vielen kleinen Rotznasen. An den langen Winterabenden hatte sie auch genäht und gestrickt, war ihm beim Sattelnähen zur Hand gegangen. Hatte als Garderobiere im Theater und Kino ausgeholfen, um zusätzlich Geld zu verdienen. Ihre Hände ruhten nie auch nur eine Stunde. Um alle ihre Kinder satt zu bekommen, mussten sie gemeinsam als Mann und Frau die Tage bestreiten, die Last gemeinsam tragen. Und das hatten sie getan.

Sie hatte viel von ihrem Mann gelernt und erhoffte sich im Stillen, dass die Kunden auch nach dem Tod des Ernährers der Familie noch in die Schusterwerkstatt kommen würden. Als Frau ein Geschäft führen, das konnte sie, sie wusste es. Aber würde man ihr das gestatten? Und was wäre bis dahin? Sollte sie den Schwager bitten, ihr auszuhelfen?

Oder denken wirklich alle, ich solle den Kleinsten hergeben, fragte sie sich voller Verzweiflung. Wohl waren nicht alle ihrer Kinder in Liebe gezeugt worden, aber die kurzen Momente der Nähe, die sie mit Karl gehabt hatte, waren für sie beide wichtig gewesen. Hatte sie bei ihrem Mann gelegen, hatte sie die Anstrengungen der Tage vergessen können, war die Welt da draußen für einen kurzen Moment weniger bedrohlich gewesen. Und so hatte sie nicht immer nein gesagt, wenn er nachts auf der Rosshaarmatratze und dem groben Leintuch näher gerutscht war, und hatte diese Kinder als Preis für Momente der Zweisamkeit genommen. Oft waren sie ihr doch auch Freude und Trostspender im entbehrungsreichen Alltag und nicht nur Arbeit und Mühe.

Konnte sie den Kleinsten jetzt einfach so hergeben? Ihre Schwester hatte mit ihr darüber gesprochen. Gleich am Tag nach Karls Tod hatte sie auf sie eingeredet. Dass der Schwager nun so schnell eine Entscheidung herbeiführen wollte, gefiel ihr nicht, doch sie wusste sich nicht zu wehren. Tief im Inneren war sie unschlüssig, sah aber auch keinen anderen Ausweg. Paul war noch so klein, konnte noch nicht einmal laufen. Sie musste ihn überall mit hinnehmen, konnte ihn nicht wie die Großen auch einmal allein daheimlassen.

An den Abenden, an denen sie im Theater an der Garderobe aushalf, übergab sie ihn an die großen Schwestern. Aber wie lange würden die noch hier bei ihr bleiben? Bald würden sie eine Anstellung finden, von ihr weggehen und ihr eigenes Leben haben, für sich selbst sorgen.

Resigniert gestand sie sich ein, dass es wahrscheinlich keine andere Mög­lich­keit gab, als den Kleinsten, ihren Paulemann, zu ihrer Schwester zu geben.

»Was hältst du von unserem Vorschlag?«, fragte ihr Schwager nochmals mit Nachdruck. Er hatte sich aufgerichtet, strich die dunkle Weste über seinem kleinen Bauch glatt und schaute vom Kopf der Tafel auf die Kinder, die in einer Ecke zusammensaßen und spielten. Er war ein großer imposanter Mann mittleren Alters mit welligem, teils ergrautem Haar und einer starken Kinnpartie. Er gab ihr keine Möglichkeit, sich zu äußern, sondern ließ alle am Tisch weiter an seinen Gedanken teilhaben.

»Agnes, wir müssen eine Lösung finden. Der kleine Paul hätte bei deiner Schwester und mir ein gutes Leben. Magda und ich möchten schon morgen mit dem ersten Zug zurück nach Striegau fahren. Bis dahin sollten wir alles geregelt haben. Du hast doch mit Magda gesprochen?«

»Ja, ja, natürlich verstehe ich, was du sagst. Ich habe seit Tagen an nichts Anderes gedacht, aber weißt du …«, setzte sie zu einer Antwort an, doch die Stimme versagte ihr mitten im Satz. Sie schluckte, setzte nochmals an. Doch der Schwager schien sie nicht zu hören, nahm seine Erklärung wieder auf und sprach in die kleine Runde.

»Magda und mir sind Kinder versagt geblieben, das wisst ihr. Sehr wahr­scheinlich werden wir nie eigene Kinder haben. Wir nehmen den Paul mit. Für ihn ist eine andere Umgebung am wenigsten einschneidend. Und er wird es gut bei uns haben. Es wird ihm an nichts fehlen.«

Ihr Schwager war ein Mann mit bestimmtem Auftreten, der nie viel Federlesens machte und es nicht gewohnt war, über eine Sache zu diskutieren. Und sicher hatte er recht.

Ihre Schwester Magda saß direkt neben ihm, den Blick schwermütig auf das Baby gerichtet, das neben Agnes in einem Weidenkorb friedlich schlief. Sie war eine große, kräftige Frau mit blondem Haar und hellen ausdruckslosen Augen. Sie neigte nicht dazu, viel zu reden, sich zu erklären. Und doch wusste Agnes instinktiv, dass ihre Schwester Magda einem Kind all die mütterliche Fürsorge und Zuneigung geben konnte, die nötig war. Es ging den beiden gut. Sie waren keineswegs vermögend, führten ein karges Leben, aber er war Postangestellter mit Aussicht auf eine gute Pension. Seine Familie hatte ihm ein kleines Häuschen vermacht. Eine Wohnung vermieteten ihre Schwester und der Schwager, die andere bewohnten sie selbst. Das Herrenzimmer würde wohl das Kinderzimmer für Paul werden und im angrenzenden kleinen Wäschegarten konnte der Junge Zeit an der frischen Luft verbringen. Sogar mitten in der Stadt. Striegau war nicht so weit weg, sicher würde man sie oft besuchen kommen.

Dennoch nahm sie sich Zeit mit einer Antwort, denn es gingen ihr unendlich viele Dinge durch den Kopf. Mit dem Zeigefinger schob sie das verrutschte Mützchen des neben ihr schlafenden Kindes gerade, strich sich beim Aufstehen den schlichten schwarzen Rock glatt und nahm dann behutsam den Korb auf. Agnes streckte den Rücken durch und schluckte. Ein riesiger Kloß saß in ihrem Hals und ihr Herz pochte in den Schläfen. Doch es half alles nichts.

Sie trug ihr Kind hinüber zur Schwester. Die wenigen Meter erschienen ihr unermesslich weit, denn die Entscheidung wog schwer. Sie fühlte die Blicke aller auf sich gerichtet und das machte sie noch nervöser.

Agnes’ Stimme war schwach und zögerlich, als sie dem Schwager schließlich zustimmte. Sie wusste, dass dies die einzig vernünftige Lösung für alle war, als sie der Schwester den Korb mit Paul übergab.

Der Schwager atmete erleichtert ein und aus, beugte sich über das Kind und als er wieder aufsah, sah Agnes ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

Unbemerkt verließ sie den Raum, lehnte sich im zugigen Flur an die kalte, gekalkte Wand und weinte. Sie hatte im Theater von heißen Tränen gehört, doch jetzt und hier spürte sie das erste Mal in ihrem Leben, was damit gemeint war. Dicke Tränen quollen aus ihren Augen hervor, bahnten sich ihren Weg über ihre geröteten Wangen, liefen ihr in die Mundwinkel.

Das schmeckt salzig, meldete sich ihr Kopf zurück. Das Salz der Erde, dachte sie dann und wieder standen die Bilder am Friedhof vor ihrem geistigen Auge.

Lag ihr Karl nun wirklich dort unten, in diesem schwarzen kalten Loch? Karl? Bist du fort? Für immer? Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Soll unser Paulemann wirklich bei Magda bleiben? Sie fröstelte, als sie aufblickte, die Schankraumtür von dünnen Kinderarmen aufgeschoben wurde und Alfred heraus stürmte. Die Kinder hatten sich gestritten und der Jüngste rief ohrenbetäubend laut nach der schlichtenden Hand der Mutter.

Schau, Agnes, schalt sie sich, sie brauchen dich, es gibt keine Zeit zum Jammern und Lamentieren.

Wie lange hatte sie hier gestanden? Unwichtig. Sie streckte sich und zog ein fein säuberlich gefaltetes Taschentuch aus ihrem Rock, wischte sich die Augen und trat zu den Kindern. Mit einfühlsamer Stimme beschwichtigte sie die aufgebrachte Rasselbande, setzte sich zurück an ihren angestammten Platz inmitten ihrer Familie und besprach alle Details mit ihrer Schwester und dem Schwager.

Am frühen Morgen des nächsten Tages war sie zurückgelassen mit immer­h­in noch neun ihrer Kinder und die Familie war wieder in alle Winde zerstreut.

DAS ROTE BACKSTEINHAUS

Plauen, in der Nacht zum 4. April 2019 – Heiners Wohnung

Seit wann sitzt du hier im Halbdunkel? Einen Penny für deine Gedanken, mein Lieber.« Heiner schrak auf. Er hatte nicht bemerkt, wie Martina das Zimmer betreten hatte. Er murmelte etwas Unverständliches und schlug das Fotoalbum zu, in dem er geblättert hatte. Neben ihm der Brief seiner Mutter vom April 1945 und das Heft mit ihren Aufzeichnungen.

»Stell dir doch nur mal vor, wie das für meine Mutter gewesen sein muss. Hart musste sie sein, schrieb sie und alles musste sie allein schultern, ohne meinen Vater. Und er? Zu diesem Zeitpunkt wusste auch er noch nicht, was ihn erwartet. Dachte er an seine Eltern, an den Vater, die Mutter? An seine eigene Kindheit ohne sie? Daran, dass sie ihn hatte weggeben müssen? Und wie schrecklich muss das für meine Oma gewesen sein?«

Die Sätze sprudelten in wilder Folge aus ihm heraus. Er war müde und die Stille der Nacht ließ seine Worte umso lauter, umso härter klingen.

»Vielleicht war deine Großmutter froh und dankbar für die Hilfe ihrer Schwester. Immerhin gab dies den Kindern und ihr eine reelle Überlebens­chance«, unterbrach Martina seinen Redeschwall und knipste die kleine Lampe auf der Anrichte an. Warmes gelbliches Licht ergoss sich in den Raum und die Nacht verlor etwas an Schwärze und Schwere und die Dinge bekamen mehr Kontur.

Dann setzte sie sich auf die Couch, drehte seinen Sessel zu sich um und nahm seine Hand in die ihre. Behutsam strich sie die auf dem Handrücken hervortretenden Adern nach und sah ihm ins Gesicht. Ihr Haar war zerzaust und sie sah müde aus.

Und doch, im goldenen Schein der Lampe und im Mondlicht, das durch ihr breites Wohnzimmerfenster schien, glänzten ihre blonden Haare wie damals vor sechzig Jahren. Ihre Augen strahlten nicht mehr ganz so intensiv, aber sie war noch immer eine schöne Frau. Und ich, dachte Heiner, ich bin ihr total verfallen, ich würde alles tun, um unsere Ehe so harmonisch wie möglich zu gestalten.

Solche Nächte wie eben und solche Geschehnisse wie in den vergangenen Tagen brachten ihm zu Bewusstsein, wie vergänglich alles war und dass auch ihm nur noch beschränkt Zeit blieb, um alles zu erleben, alles zu wissen, zu fühlen, zu erfahren. Seine Frau und ihr gemeinsames Leben waren der Garant dafür, dass jeder seiner Tage erfüllt war, und das sollte gern noch eine Weile so bleiben.

»Bestimmt hat deine Oma Kontakt zu ihrer Schwester gehalten. Sie lebten ja nicht so weit auseinander. Paul war doch ihr Sohn. Sie wollte sicher wissen, wie es ihm geht. Immerhin gab sie ihn ja nicht in fremde Hände, sondern zu ihrer eigenen Schwester. Hat keiner deiner Onkel oder Cousins je davon gesprochen?«, fragte Martina und strich dabei sanft über seine Hände.

»Ich weiß es nicht so genau. Man sprach nicht darüber, oder ich war noch zu jung, um solche Sachen abzuspeichern. Im Krieg war ich zu klein, mein Vater nie da. Ich kannte ihn nur in Uniform, von Bildern. Nach dem Krieg sprach man schon gar nicht mehr davon, da zählte nur das Heute. Man ließ das Vergangene ruhen. Jeder wollte nur in die Zukunft sehen.

Die Mutter meines Vaters kenne ich nicht einmal, sie starb 1939 kurz vor Ausbruch des Krieges. Ich habe keine Aufzeichnungen gefunden, aus denen hervorgeht, wo sie gelebt hat. Und ja, auch nicht, wo sie gestorben ist. Es gibt keine Sterbeurkunde. Warum der Vater die nicht hatte, ob er auf der Beerdigung war? Ich weiß es nicht. Eigentlich kümmerte sich meine Mutter um diese schriftlichen Dinge. Ich hoffe ja, dass sie darüber noch in ihrem Tagebuch schreiben wird.«

Heiner löste sich von Martina, lehnte sich etwas zurück und zeigte auf die wenigen Papiere vor ihm auf dem Couchtisch.

»Wenn ich nur wüsste, warum die Mutter das alles so vor uns verbarg. Martina, diese Truhe war ganz sicher ein Versteck. Ach, es gibt immer noch Fragen über Fragen.«

Damit stapelte er die Papiere und das Album mit einem tiefen Atemzug sorgsam übereinander und brachte sie in sein Arbeitszimmer. Bevor er sie in die unterste Schublade seines Schreibtisches legte und diese geräuschvoll schloss, strich er noch einmal versonnen mit seinen Fingerkuppen darüber.

Auf einmal sehnte er sich nur noch nach seinem Bett, die kühlen Laken erschienen ihm willkommener Trost für sein aufgewühltes, fragendes Inneres zu sein. Er löschte das Licht im Flur und ging mit Martina gemeinsam in ihr kleines gemütliches Schlafzimmer. Er schmiegte sich an seine Frau und der gleichförmige Schlag ihres Herzens machte ihm irgendwie Mut. Mut für den nächsten Tag, die Neuigkeiten, die Aufregungen, wahrscheinlich auch für die kommenden Träume.

Plauen, 4. April 2019 – Heiners Wohnung

»Ich weiß nicht, was ich gestern ohne Sascha gemacht hätte. Wahrscheinlich hätte ich mich ewig über den Papierkram aufgeregt. Wann kommt Lisa? Ich habe noch gar nichts von ihr gehört.«

Eine Flut von Gedanken entfleuchte Heiner am nächsten Morgen und ein wenig hilflos sah er hinüber zu seiner Frau. Sie saß an ihrem gemeinsamen Esstisch und schälte in stoischer Ruhe einen Apfel.

Gleich wird sie mir einen Schnitz rüberschieben und meinen, der wäre gut für mich, dachte er amüsiert. Zusammengerechnet hatte er mit einem Apfelschnitz pro Tag in ihrer gesamten Ehe wohl so ziemlich genau 3500 Äpfel gegessen. Was wiegt so ein Apfel? Wie viele Kilogramm werden das wohl gewesen sein? Fast verlor er sich in seiner Manie, allen Dingen des Lebens etwas Statistisches abzuringen, aber sie holte ihn zurück ins Hier und Jetzt.

»Hier, iss!« Es gibt also noch Dinge mit Bestand in diesen Tagen des Um­bruchs und der Ungewissheit, dachte er vergnügt und sprach weiter über seine Enkelinnen. Sie wollten ihn heute beide begleiten. Hatten es sich nicht nehmen lassen, ihm bei dieser Sache zu helfen.

Sascha war schon gestern aus Kopenhagen angereist und die Jüngere, Bente, war gestern Nacht aus Berlin gekommen. Und auch seine Tochter Lisa sollte auf dem Weg sein.

»Paul wollte immer nur für seine Enkel sparen, weißt du das, Martina?«

»Aber natürlich, Heiner, wer in der Familie wusste das nicht? Du hast es doch jedem tausend Mal erzählt,« antwortete seine Frau etwas gereizt.

Er begriff, es fiel ihr schwer, gelassen zu bleiben und so zu tun, als ob ihr die permanente Beschäftigung mit der Vergangenheit in den letzten Wochen nicht auch ein wenig auf die Nerven gegangen wäre. Dieses Vermächtnis in Form des alten Hauses und die Beschäftigung mit dem Leben der Schwägerin war ein Ärgernis für sie. Das war auch für jeden Außenstehenden unschwer zu erkennen.

In ihren Augen brachte dieses Haus nur Erinnerungen hervor, die ihren Mann sehr schwermütig machten. Martina hatte zwar auch selbst lange dort gelebt, hatte auch gute Erinnerungen daran. Immerhin hatten Heiner und sie dort ihre Familie gegründet, waren ihre Kinder dort aufgewachsen. Aber die Unterhaltung des großen Mietshauses konnten sie sich auf Dauer nicht leisten, zu niedrig waren in der DDR die Mieteinnahmen gewesen. Die notwendigen Renovierungen von Dach und Flur, der Einbau von Zentralheizung und Bädern waren mit einem Lehrergehalt und dem einer Schneiderin einfach nicht machbar gewesen.

Das Geld hat so schon kaum gereicht, dachte sie bitter. Und so mussten sie irgendwann ausziehen. Wollten das Haus, wie so viele andere Miets­hausbesitzer in der DDR vor ihnen, in staatliche Hände geben. Weg von der Verantwortung, weg von den finanziellen Bürden. Der Staat wurde Eigentümer des Hauses sein, alle Nebenkosten übernehmen, Mieten kassieren. Sanieren würde auch der Staat nicht, aber die Verantwortung wäre Heiner los gewesen.

Doch als es so weit war und ein Termin beim Notar anstand, bei dem man das Haus dem Staat für null Mark überschreiben wollte, erschien Heiners Schwester Hilde nicht wie verabredet. Ohne sich mit ihm abzusprechen, ließ sie den Termin platzen und erklärte sich auch nicht wirklich.

Heiner fuhr damals wütend nach Hause und versuchte, sie zur Rede zu stellen, aber außer einer vagen Erklärung über das Vermächtnis der Eltern und dass sie ihnen das nicht antun könne, kam nichts. Letztendlich übertrug Heiner das Haus nach einem ewigen Hin und Her an seine Schwester Hilde. Damit war er die Verantwortung los.

Später dann, nach der Wende 1989, gab es neue Möglichkeiten, eine Sanierung zu finanzieren, und ihr Sohn Robert hatte sich sehr gut vorstellen können, das Haus zu renovieren. Er bot der Tante ein lebenslanges mietfreies Wohnrecht in einer der zu sanierenden Wohnungen an. Im Gegenzug sollte sie ihm als Sicherheit für die Bank das Haus übertragen. Oder wenigstens einen Großteil davon.

Er hatte umfangreiche Umbaupläne und plante moderne Sanierungs­maßnahmen für die Wohnungen, designte eine neue Wohnung im alten Wäscheboden mit einer wunderschönen Dach­terrasse. Für den Erhalt der alten Türen, Böden und Öfen hatte er sogar ein Extrabudget eingeplant und Anträge beim Denkmal­­schutzamt eingereicht.

Heiners Schwester schien anfangs interessiert, ließ sich wieder und wieder alles erklären. Die Finanzierung wurde mit der Bank besprochen, der Kaufvertrag in mehrfachen Varianten mit ihr durchgegangen. Aber die Schwägerin hielt alle nur hin. Nahm die Pläne an, verwarf sie, sagte zu, ließ den Grundriss für ihre eigene Wohnung Mal um Mal ändern und letztendlich brach sie ihr Wort. Bis Jahre später niemand mehr daran glaubte, Robert seine ambitionierten Pläne aufgab und sich nach einem anderen Objekt umsah.

Hilde blieb im roten Backsteinhaus wohnen. Es war noch immer auf dem Stand seiner Errichtung, so wie es ihr Großvater Anfang 1900 geplant hatte. Einfachverglaste Holzfenster, Ofenheizung, Plumpsklo auf halber Treppe. Sie nahm keinerlei Veränderungen vor.

Robert hatte mit seiner Frau ein anderes Mietshaus gefunden, das sie renovierten. Es war nicht einmal weit weg von seinem Geburtshaus. Aber es war eben doch nicht das Haus der Familie. Und Heiner und Martina waren darüber unausgesprochen etwas traurig.

»Die Mädels werden schon kommen. Wer weiß, wo sie gestern Abend noch hängengeblieben sind«, unterbrach Martina seine Gedanken. »Vielleicht hat Robert sie ja auch schon abgeholt und die drei warten auf uns. Dann sollten wir los und dürfen das Heizgerät nicht vergessen.«

Mit diesen Sätzen begann Martina ihre Morgenroutine in der Küche. Für sie war der Tag schon in voller Fahrt, während Heiner erst langsam mit einem frischen Kaffee geweckt wurde. Ihre Tage begannen meist schon sehr früh mit einer ausgedehnten Runde im nahen Wald mit dem Hund. Dann duschte sie, schminkte sich sorgfältig, aber dezent, kleidete sich an und setzte zwischendurch Kaffee auf.

Während sie nun als letzte Vorbereitung den Toaster mit Brot bestückte, schickte sie Heiner an den Briefkasten, um die Zeitung zu holen. All diese Dinge gaben dem Morgen nach dieser kurzen Nacht eine gewisse Normalität. Die Routine lenkte sie beide von den Gedanken an das Haus, die kranke Schwägerin, diese Papiere, den ›Nachlass‹ ab. Auch wenn sie wussten, dass sie bald schon wieder in das Haus der Schwägerin aufbrechen mussten, versuchten sie, im Jetzt eine Atempause von den düsteren Gedanken zu bekommen.

Nachdem Martina noch ein paar Brote geschmiert hatte und die Thermoskanne voller Tee im Korb verstaut war, packte Heiner ein wenig Werkzeug zusammen, sie schnappten sich Hundeleine und Wagenschlüssel und machten sich gemeinsam mit dem Hund auf den Weg. Auf die Idee, die Kinder oder Enkelinnen nochmals anzurufen, kamen sie nicht.

Plauen, 4. April 2019 – Lisas Gartenhaus

Zur selben Stunde bog Robert auf den alten Feldweg ein, der das Gartengrundstück seiner Schwester mit der Straße verband. Zum Glück war der Weg noch nicht aufgeweicht. Irgendwie hat es niemand geschafft, in all den Jahren einen einigermaßen respektablen Weg zu bauen, dachte er, als der Nachbar gerade aus seinem Haus kam und seinen Gruß freudig erwiderte.

»Du bist ja pünktlich wie die Maurer«, rief Robert mit einem Augenzwinkern seiner Nichte Sascha zu, die auf die Minute genau aus einem hübschen Gartenhäuschen trat.

»Ach, Robert, purer Zufall und außerdem müssen wir auf Bente warten. Sie schreibt noch eine Mail, müsste aber gleich da sein«, erwiderte Sascha und grinste ihren Onkel an.

Er kam am Gartentor zum Stehen und parkte den Wagen. Noch vor ein paar Jahren hatte er hier viel Zeit verbracht. Das Häuschen bot gerade mal genug Platz, um im großen Raum eine kleine Küchenzeile, Tisch und Stühle sowie eine Schlafcouch unterzubringen. Im angrenzenden Schlafraum hatte er ein Hochbett und darunter passgenau ein Doppelbett eingebaut. Dort war bequem Platz für drei. Ein kleines Bad mit Dusche machte alles zu einem großartigen Wochenendhaus. Robert hatte es vor dem Hauskauf oft genutzt, um aus der Stadt rauszukommen, und seine Schwester Lisa übernachtete bei ihren Besuchen im Vogtland meist hier. Heute verbrachte er Zeit hier draußen, wenn er Holzsäge- oder Flexarbeiten erledigte. Ansonsten teilte er sich die grüne Oase mit einem Rentnerpaar, das im Sommer hier etwas gärtnerte und nach dem Rechten sah.

Jetzt kam auch Bente dazu und umarmte ihren Onkel heftig. »Na, du! Danke, dass du uns abholst, und wenn du noch eine Bäckerei auftust, bei der ich einen Kaffee bekomme, wäre mein Tag gerettet. Im Haus gibt es nicht mal mehr einen Krümel Kaffee.«

»Klar, dass kriegen wir hin.« Lächelnd bedeutete er seinen beiden Nichten, endlich einzusteigen, und lenkte dann seinen geliebten Honda in einem Zug rückwärts aus der Einfahrt auf die wenig befahrene Dorfstraße. Bente auf der Rückbank zog ein Magazin unter ihrem Po hervor.

»Du bist echt sesshaft geworden. Man mag es kaum glauben. So richtig mit Frau und Haus und angeheiratetem Sohn. Nur noch immer ohne Familienkutsche«, rief sie nach vorn.

»Wir müssen jetzt ins rote Backsteinhaus und am Nachmittag hole ich Jan vom Bahnhof ab. Er kommt fürs Wochenende aus Dresden. Wenn ihr Lust habt, könnten wir abends alle bei uns essen. An den Wohnungen im Hochparterre saniere ich nach wie vor, aber unsere ist jetzt fertig. Es wird«, lenkte er das Gespräch von seinem Wagen hin zu den praktischen Dingen des Tages.

»Hast du eigentlich deinen Traum verwirklicht und anstatt der Trockenklos auf halber Treppe einen Fahrstuhl eingebaut?«, fragte Sascha wenig später, während sie genüsslich an dem Milchschaum leckte, der aus ihrem Kaffeebecher quoll.

Immer und überall waren sie und ihre Schwester mit diesen Bechern und einer Wasserflasche aus Edelstahl unterwegs. Einweggeschirr verabscheuten sie beide. Nachhaltiges Leben, zurückhaltender Konsum generell, das lebten die beiden Mädchen mit jeder Faser.

Robert kam auf ihre Frage zum Fahrstuhl zurück. »Das hätte ich gern getan und bauseitig ist es auch noch möglich, aber es würde mich finanziell ruinieren«, informierte er kurz und knapp, ohne auf Details einzugehen.

Plappernd kletterten sie nach fünfzehn Minuten aus seinem geliebten Honda CRX. Das Auto war älter als zwanzig Jahre, aber laut Robert für sein Alter in Topform. Bei diesem Wagen ging es nicht um Pferdestärken und technischen Schnickschnack. Dieses Auto war für ihn eine Lebenseinstellung, hatte nostalgischen Wert.

Wahrscheinlich wird man mit dem Alter so romantisch, dachte Bente. Immerhin schleppen wir ja alle Dinge mit uns durch die ganze Welt, die ein Fremder vielleicht einfach ausrangieren würde. Es ist eben oft der ideelle Wert, den eine Sache speziell und besonders macht. Völlig unabhängig davon, welchen materiellen Wert etwas hat. Mit Sicherheit wird Opa heute auch solche Dinge finden, wenn wir uns im Haus umsehen.