Der Straßenmagier - Die Götter von New Orleans - Bryan Camp - E-Book

Der Straßenmagier - Die Götter von New Orleans E-Book

Bryan Camp

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Beschreibung

Tote Götter, verlorene Seelen, grausame Morde und dunkle Magie – willkommen im wahren New Orleans!

Jude findet Dinge. Nicht wie ein Detektiv, auch wenn manche das glauben, sondern mit seiner einzigartigen magischen Gabe. Zumindest war es früher so, bevor der Hurrikan Katrina nicht nur in der Welt der Sterblichen entsetzliches Leid verursacht hat, sondern auch das magische Gefüge von New Orleans zerstörte. Seitdem blufft sich Jude durchs Leben und schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Da wird der Schutzgott der Stadt ermordet, und Jude ist der Hauptverdächtige. Ob mit oder ohne seine Gabe: Er muss den wahren Mörder finden, um seine Weste wieder reinzuwaschen. Dabei tritt Jude Engeln, Vampiren, Göttern und Magiern auf die Füße – und entdeckt eine monströse Verschwörung, die New Orleans für immer verändern wird …

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Buch

Jude findet Dinge. Nicht wie ein Detektiv, auch wenn manche das glauben, sondern mit seiner einzigartigen magischen Gabe. Zumindest war es früher so, bevor der Hurrikan Katrina nicht nur in der Welt der Sterblichen entsetzliches Leid verursacht hat, sondern auch das magische Gefüge von New Orleans zerstörte. Seitdem blufft sich Jude durchs Leben und schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Da wird der Schutzgott der Stadt ermordet, und Jude ist der Hauptverdächtige. Ob mit oder ohne seine Gabe: Er muss den wahren Mörder finden, um seine Weste wieder reinzuwaschen. Dabei tritt Jude Engeln, Vampiren, Göttern und Magiern auf die Füße – und entdeckt eine monströse Verschwörung, die New Orleans für immer verändern wird …

Autor

Bryan Camp wuchs in New Orleans auf und studierte auch dort. Seinen ersten Roman »Der Straßenmagier« begann er auf dem Rücksitz des Autos seiner Eltern zu schreiben, während sie vor dem Hurrikan Katrina evakuiert wurden. Er lebt heute immer noch in New Orleans.

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DERSTRASSENMAGIER

Die Götter von New Orleans 1

Roman

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The City of Lost Fortunes (Crescent City 1)« bei John Joseph Adams/Houghton Mifflin Harcourt, New York.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright der Originalausgabe © 2018 by Bryan CampCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Angela KuepperUmschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (BublikHaus; f11photo)Illustrationen: © LaInspiratriz-stock.adobe.comHK · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-26048-4V001www.blanvalet.de

New Orleans gewidmet, meiner Stadt.Und Beth Anne, meiner Heimat.

TEIL I

DERMAGIER

KAPITELEINS

Am Anfang war das Wort. Und die Leere, das Eis im Norden, das Feuer im Süden und die Großen Wasser.

Ein Universum, erschaffen an einem Tag und in einer Nacht oder in Milliarden Jahren, in sieben Tagen oder in einem Zyklus aus Schöpfung und Zerstörung. Man brachte die Wasser dazu zu weichen, damit das Land hervorträte, oder das Land wurde aus den Windungen einer Schlange gebildet oder aus der Hälfte einer erschlagenen Meeresgöttin oder dem Fleisch und den Knochen und dem Schädel eines Giganten oder einem zerbrochenen Ei. Oder eine Insel aus geronnenem Salz tauchte auf, als das Meer von einem Speer aufgewühlt wurde. Oder das Land wurde von einem Wasserkäfer über die Wasseroberfläche gehoben oder von einer Bisamratte oder einer Schildkröte oder von zwei Seetauchern. Wie auch immer die Welt erschaffen worden war, sie wimmelte von Leben, wurde von Wesen bevölkert, die aus einer einzelnen Zelle hervorgegangen waren oder die aus Ton geformt oder aus Holz geschnitzt oder aus einer Venusmuschel befreit worden waren. Sie sind aus den sieben Höhlen ihrer Unterwelt hinaufgewandert oder durch ein Loch im Himmel hinabgestürzt, oder aus der Welt der Insekten gekrochen, die tief darunter liegt. All diese Geschichten, all diese Anfänge sind wahr, und doch enthält keine die absolute Wahrheit. Sie existieren, obgleich paradox, dennoch gleichzeitig. Die Welt ist ein Haus, das aus sich widersprechenden Blaupausen errichtet wurde, weniger eine Geschichte als vielmehr ein Gespräch. Aber es ist keine Welt ohne Komplikationen, ohne Konflikte. Oder ohne Nähte.

Eine dieser Komplikationen war ein Mann namens Jude Dubuisson, ein Mensch aus Fleisch und Blut und gleichzeitig göttlich. Er starrte auf den Jackson Square, auf die breite weiße Fassade der St. Louis Cathedral, auf den flatternden Schwarm fetter Tauben, auf die gezeitengleichen Touristenströme auf den Pflastersteinen, und sah doch nichts davon. Er war taub für seine Umgebung, das ständige Murmeln der Menschenmenge, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster und das laute Tuten der Dampforgel des Schiffs, das vom Fluss herüberschallte. Seine Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf Gedanken an das alte Leben, das er so sehr zu vergessen versucht hatte. Auf all die Jahre, in denen er zwischen den Welten der Götter und der Menschen gestanden hatte, der Lebenden und der Toten.

Sein ganzes Erwachsenenleben hatte er auf dem Saum zwischen diesen beiden Welten balanciert und beiden Schwierigkeiten gemacht – ein lebendiger, atmender Konflikt mit einem Scheiß-drauf-Grinsen. Allerdings war das vor dem Sturm gewesen. Diese Erinnerungen gehörten einem anderen Mann. In den sechs Jahren seit jenen schicksalhaften Tagen des Jahres 2005 hatte er versucht, das alles hinter sich zu lassen. Hatte versucht, all die unmöglichen Dinge zu verdrängen, von denen er wusste. In den letzten Tagen jedoch war die Vergangenheit wie eine Sturmwolke am Horizont aufgezogen, ein Gewitter, das unaufhörlich grollte, eine Schwermut, die sich einfach nicht zerstreuen ließ.

Die Vergangenheit weigerte sich schlichtweg, tot zu bleiben.

Jemanden wie Jude würden die liberaleren Geister in der Stadt, für die der Ausdruck »Mischling« irgendwie beleidigend klang, heutzutage einen »Kreolen« nennen. Die älteren Leute würden ihn als »rotknochig« bezeichnen, eine undefinierbare Melange aus weißen und afrikanischen Vorfahren, gewürzt mit allen möglichen anderen Zutaten, die es in den Gumbo geschafft hatten. Jude wusste nur, dass er hellbraune Haut hatte, eine weiße Mutter und einen Vater, den er nie kennengelernt hatte. Dem Rest der Welt schien seine Ethnie irgendwie immer wichtiger zu sein als ihm selbst.

Sein Haar war kurz geschoren und sein Bart eher stoppelig als stylish. Er trug eine Jeans und ein langärmeliges Oberhemd, trotz der schwülen Hitze, die sich im Sommer über New Orleans legte. Eine Hitze, die jede Betätigung zu einer Mühsal machte, selbst einen Atemzug. Das feuchte Hemd klebte an seiner Haut, und der Schweiß rann ihm das Kreuz hinunter. Jude wollte sich gerade zerstreut das Gesicht abwischen, mit einem Stofftaschentuch, das ein Gentleman stets bei sich trug, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Aber er hielt inne und wurde aus seiner Selbstbetrachtung gerissen, als er plötzlich den Lederhandschuh bemerkte. Er ließ die Hand wieder auf seinem Schoß verschwinden.

Es achtete jedoch ohnehin niemand auf ihn. Er saß seit dem frühen Morgen an der Ecke direkt gegenüber vom Muriel’s, hatte seine Klappstühle und den wackligen Tisch aufgebaut, eine Kreidetafel, eine Geldschachtel und einen zerlesenen Paperback-Atlas ausgelegt, wie an den meisten Tagen. Aber in all den Stunden, die er jetzt auf dem Platz gesessen hatte, hatten nur wenige Leute sich die Mühe gemacht zu fragen, was die Tafel bedeute. Hingesetzt hatte sich keiner. Seine Dienste gehörten im Gegensatz zu den Tarotkartenlegern und den Blaskapellen und den Kunsthändlern nicht zum Klischee des Quarters und blieben folglich unter dem Radar des durchschnittlichen Touristen.

Heute aber passte der Mangel an Kunden zu seiner Stimmung. Es wäre ihm schwergefallen, Interesse an den Problemen irgendwelcher Leute vorzutäuschen, da seine Gedanken unaufhörlich kreisten. Sie rannten in seinem Verstand herum, angespannt und nutzlos wie ein werdender Vater. Oder wie ein Verbrecher, der auf seine Exekution wartete.

Ein junger Straßenkünstler, Jude vergaß immer wieder, ob er Timmy oder Tommy hieß, blieb vor seinem Tisch stehen und warf einen langen Schatten. Jude quittierte diese Störung seiner Gedanken mit einem Stirnrunzeln, obwohl er den Schatten zu schätzen wusste. Das Gesicht des weißen Jungen war mit den verschwitzten Resten einer Clownsbemalung verschmiert, die sich bei seinem offenen Lächeln verzerrte. Er trug ein Golf-Cap und eine Tweedweste ohne Hemd darunter. Die beiden Männer trennten weniger als zehn Jahre, vielleicht gerade fünf, aber in Judes Augen war der andere noch ein Junge.

Jude war mehr an Schweigen als an Sprechen gewöhnt und musste erst einmal seine Stimme suchen, bevor er etwas sagen konnte. »Brauchst du was?«, krächzte er.

»Wollte dich grad dasselbe fragen.« Der Junge setzte sein Cap ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wollte zum Lebensmittelladen um die Ecke.« Er wedelte mit der Mütze in die Richtung des Ladens, bevor er sie wieder aufsetzte.

Jude schüttelte den Kopf. »Trotzdem danke.«

»Nicht dafür«, antwortete der Junge, wandte sich zum Gehen und blickte zurück.

»Kommst du morgen Abend?« Jude zuckte ratlos mit den Schultern. Der Junge hob resigniert die Hände. »Ich habe es dir ja auch erst – wie oft gesagt, zwölfmal? Dass meine Band endlich den Gig bekommen hat? In der Circle Bar?«

»Ach ja, richtig«, erwiderte Jude. Er stellte sich vor, wie er mit einem Haufen Fremder in der winzigen Bar zusammengepfercht wurde. »Ja, ich versuche zu kommen«, log er.

Das Grinsen des Jungen machte diesen noch mal fünf Jahre jünger, und Jude kam sich plötzlich wie eine ältere, zynischere Version seiner selbst vor. Tommy ging zum nächsten Tisch, und die lockere Sohle eines seiner Schuhe klatschte auf die Straße. Es wirkte irgendwie kläglich.

Jude seufzte und inhalierte die Vielzahl der Gerüche des Quarters: schales Bier, Moschusduft und der feuchte, dunkle Geruch des Flusses. So zu leben wie er war schwer, verborgen in den Nähten zwischen dem Leben, das er gekannt hatte, und diesem neuen Leben, das er wie eine Maske trug. Aber wegen all der Dinge, an die er nicht zu denken versuchte, gehörte Jude genau hierher.

Glaubte er jedenfalls.

Kurz darauf hatte Jude seine ersten und einzigen Kunden an diesem Tag, ein Pärchen von außerhalb. College-Kids, jedenfalls den griechischen Buchstaben auf ihren T-Shirts und den knallgrünen Plastik-Trinkbechern in ihren Händen nach zu urteilen. Sie war ein weißes Mädchen, das stundenlang in der Sonne gelegen hatte, um sich zu bräunen, und er war irgendetwas Westasiatisches, sprach aber mit einem stocklangweiligen amerikanischen Akzent. Jude vermutete, dass die beiden ein Liebespaar waren, so wie der Junge die Hand auf die Schulter des Mädchens legte und sie beide vorstellte, Mandy und Dave. Als machte die Konjunktion aus ihnen eine Einheit. Mandy schien erheblich neugieriger zu sein als ihr Begleiter. Als sie Jude fragte, was sein Schild bedeute, blickte Dave angelegentlich auf die andere Seite des Platzes, als suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit.

»Es bedeutet das, was da steht«, erwiderte Jude. »Wenn Sie etwas verloren haben, kann ich Ihnen sagen, wo es ist.«

»Wirklich, echt alles?« Mandy warf einen kurzen Blick auf Dave, ob er auch zuhörte.

»Ja«, antwortete Jude, »wirklich echt alles.« Sie schien den amüsierten Spott in seiner Stimme nicht zu bemerken, aber Dave drehte sich um und warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Das ist doch nur ein Schwindel«, erklärte er.

»Ihr erster Versuch ist kostenlos, wenn Sie nicht zufrieden sind«, sagte Jude. »Und zehn Mäuse, wenn doch.«

Daves Miene verfinsterte sich, aber Mandy setzte sich auf einen der Aluminiumstühle vor Jude.

»Komm schon, Schatz, lass es mich zumindest versuchen. Mom bringt mich um, wenn sie erfährt …« Sie warf einen berechnenden Blick in Judes Richtung. »Wenn sie erfährt, was ich verloren habe.« Dave stöhnte ungläubig, warf einen Blick auf sein Handy und verkniff sich gerade noch, mit dem Fuß auf das Pflaster zu klopfen, um seine Ungeduld zu demonstrieren. Sein ganzes Verhalten sagte Jude, dass er schon einmal über den Tisch gezogen worden war.

Aber Jude war kein Abzocker, jedenfalls nicht heute. Er hatte schon immer eine Affinität für verlorene Dinge gehabt. Bereits als Kind hatte er sagen können, dass ein Freund ein Spielzeug unter einem Sofakissen vergessen hatte, oder er hatte eine Nachbarin zu der Stelle geführt, wo ihre Katze in einem hohen Baum festsaß.

Diese Magie war ein Geschenk, das einzige von seinem Vater, den er nie kennengelernt hatte. Als er älter geworden war oder auch mehr Übung gehabt hatte – Jude wusste nicht genau, was von beidem – , war diese Affinität stärker geworden und hatte sich deutlicher herauskristallisiert. Wenn er mit den Fingerspitzen über ein Haar auf einem Kissen strich, wusste er den Namen des verschollenen Kindes, wusste, dass es fror und, einsam und hungrig, in einem Untergeschoss in Ohio eingesperrt war, obwohl es erst ein paar Tage zuvor aus seinem Zimmer verschwunden war.

Doch je komplizierter der Verlust war, desto kryptischer wurde seine Gabe. Manchmal war es schlicht unmöglich, die Empfindungen und Visionen zu entschlüsseln. Einige Dinge wollten einfach verschwunden bleiben. Häufiger jedoch funktionierte seine Magie. Diese Macht hatte schon immer in seinem innersten Wesen geschlummert und war das Fundament geworden, auf dem er sein Leben errichtet hatte. Er war der Mann gewesen, der Dinge finden konnte.

Dann kam der Hurrikan, und die Nähte rissen.

Sie rissen zwischen einer Regierung und ihren Bürgern, als die Dämme der Regierung, die errichtet worden waren, um sie zu schützen … es nicht taten. Sie teilten sich zwischen den Menschen von New Orleans und ihren Leben, und die Glücklichen von ihnen strandeten wie Pusteblumensamen, die von einem starken Wind davongetragen wurden. Die Fäden, die Gemeinschaften, Familien und Heime zusammengehalten hatten, wurden in diesem Sturm überstrapaziert. Einige fransten aus, andere zerrissen. In der Flut von verlorenen Dingen, die dem folgte, klaffte der Raum in Judes Innerstem, in dem seine Magie lebte, weit auf.

Danach stellte er fest, dass seine Macht eine offene Wunde geworden war, die nicht heilen wollte. Etwas Fundamentales an seiner Gabe hatte sich geändert, kehrte sich gegen ihn. Davor hatte er sich fokussieren und nach dem Wissen greifen müssen, das seine Magie ihm geben konnte. Danach konnte er es kaum im Zaum halten. Wie viele andere hatte er nach dem Sturm getan, was er konnte, um seine Sinne gegen all die Verluste um ihn herum abzustumpfen. Alkohol, Sex, jede Menge schlechter Entscheidungen. Es funktionierte, aber nur eine Zeit lang. Seine Macht war zu sehr Teil von ihm selbst, um verleugnet zu werden. Schließlich fand er heraus, dass er es schaffte, bei Verstand zu bleiben, gerade so, wenn er nichts und niemanden berührte. Deshalb die Handschuhe. Und wenn er alle paar Tage etwas von seiner Magie rausließ. Sechs Jahre lang hatte er so überlebt, auch wenn er das schwerlich ein Leben nennen konnte. Er hatte sein altes Leben nicht wieder aufgenommen und war unfähig, etwas Neues anzufangen. Jeder Tag war nahezu identisch mit dem davor. Er hatte sich lautlos in die Nähte verkrochen, wie eine verlorene Münze unter ein Sofakissen. Nirgendwo und niemand zu sein war besser, hatte er entschieden, als all diesen Verlust zu spüren.

Jude zog jetzt unter dem Tisch seinen Handschuh aus, und ein stechendes Kribbeln, wie wenn das Blut wieder zirkulierte, lief über seine nackte Haut. Er nahm die schlanke Hand des Mädchens in seine und konzentrierte sich auf den Gegenstand, den sie suchte. Hätte er sie nur einfach berührt, hätte er alles gesehen und gefühlt, was sie in ihrem jungen Leben verloren hatte. Selbst ein anscheinend glückliches und verwöhntes Mädchen wie sie hatte gewiss genug Verluste erlitten, um ihn vollkommen zu überfluten.

»Die Ohrringe Ihrer Mutter liegen in Ihrem Hotelzimmer«, sagte Jude.

Dave stieß ein scharfes, verbittertes Lachen aus. »Gut geraten, Sherlock!«, erklärte er. »Tolle Leistung, zu erkennen, dass wir Touristen sind. Fallen Leute wirklich auf so etwas rein?«

Judes erster Instinkt war es, Dave zu sagen, wie tief in seinen Arsch er sich seine herablassende Haltung schieben konnte, aber er verkniff es sich, um Mandys willen. Sie war ein gutes Kind. Und das war nicht nur ein erster Eindruck; Jude wusste es, spürte es durch ihre Haut. »Nicht in Ihrem Hotel hier in New Orleans.« Er blätterte mit der freien Hand durch den Atlas, schlug die Seite mit Louisiana auf, dann den Stadtplan von Baton Rouge und legte den Finger auf eine Straßenkreuzung, ohne hinzusehen. »Waren Sie irgendwann während der letzten Tage hier?« Mandy keuchte und zog hastig ihre Hand zurück, und Jude unterdrückte ein Lächeln. Er hatte es als Frage formuliert, aber er wusste, dass er richtiglag. Er wusste sogar noch mehr, den Namen des Hotels, die Zimmernummer, dass die beiden sich von einer Protestaktion einer kirchlichen Jugendgruppe vor dem Capitol Building weggeschlichen hatten, um einen sündigen Tag in der Crescent City zu verbringen. Aber wenn er zu spezifisch wurde, das hatte er ebenfalls gelernt, schlug die Haltung der Leute von fasziniert in verängstigt um. Dave zog einen Zehn-Dollar-Schein aus seiner Brieftasche und setzte sich.

»Die nächste Frage kostet zwanzig«, erklärte Jude.

Eine Viertelstunde und fünfzig Dollar später sagte Jude etwas, das zweifelhaft und vage genug war, um Daves Zynismus wieder zu erwecken. Sie verschwanden. Jude hätte sie die ganze Nacht dort halten können und all die kleinen Geheimnisse ihrer kleinen Leben auspacken können, bis sie kein Geld mehr gehabt hätten. Aber das Geld interessierte ihn nicht. Dieses erbärmliche Spiel mit den Touristen diente letztlich nur als Überdruckventil für seine Gabe.

Er war früher einmal so viel mehr gewesen als das hier.

Als er später nach und nach seine Habseligkeiten zusammenpackte, sah er, dass Mandy ihr Telefon vergessen hatte. Es ähnelte mehr einem Kinderspielzeug als einem technischen Gerät. Ein pinkfarbenes Klapphandy, das mit Strass besetzt war. Wenn sie nur jemanden kennen würde, der verloren gegangene Dinge finden kann, dachte er und lächelte zum ersten Mal seit Tagen, wie ihm schien. Kaum hatte er es angefasst, vibrierte das Telefon brummend, als hätte seine Berührung es ausgelöst. Jude klappte es erschrocken auf. Eine SMS von einer unbekannten Nummer war eingegangen.

Triff mich in einer Stunde auf einen Drink, stand da. Der übliche Ort, es ist sehr wichtig. Ich habe etwas für dich. Während er las, verzeichnete das Handy eine weitere Textnachricht mit einem erneuten Vibrieren. Gruß Regal.

Jude wollte gerade eine Antwort tippen, seufzte dann jedoch und klappte das Handy zu. Regal würde ein Nein nicht akzeptieren.

Er hatte eine Stunde Zeit, um nach Uptown zu kommen. Das wäre kein Problem gewesen, wenn er einen Wagen gehabt hätte oder auch nur einen Führerschein. Hatte er aber nicht. Den Gedanken an ein Taxi schob er ebenfalls beiseite. Wenn ihn die Straßenbahn nicht rechtzeitig dorthin brachte, musste Regal eben warten. Oder sie wartete nicht, was auch in Ordnung wäre. Ihn drängte es nicht, sie zu sehen.

Auf dem Weg aus dem Quarter legte er die fünfzig Dollar, die er Mandy und Dave abgenommen hatte, in die umgedrehten Hüte von drei Kids, die an einer Ecke eine Tapdance-Nummer vorführten. Er konnte sich einreden, dass er sich nur aus beruflicher Neugier mit Regal traf, dass er lediglich herausfinden wollte, mittels welcher Magie sie ihn über das Handy einer Fremden gefunden hatte, aber er kannte die Wahrheit. Was an ihm nagte, war die grundsätzliche Frage, warum sie sich überhaupt an ihn gewandt hatte. Was konnte so wichtig sein, dass sie ihn aufspürte? Und was konnte sie für ihn haben, was sie ihm nicht schon vor Jahren gegeben hätte? War das der Grund, warum ihm in letzter Zeit die Vergangenheit ständig im Kopf herumging?

Warum hatte sie sich bei allen Dingen, die in dieser Stadt verloren gegangen waren, die Mühe gemacht, ausgerechnet ihn aufzuspüren?

Das St. Joe’s zu betreten glich dem Abstieg in eine Höhle, in der man plötzlich eine Kapelle entdeckte. Die schlagartig kältere Luft prickelte auf Judes Haut, und all seine Härchen richteten sich auf. Dutzende von Kreuzen hingen von der Decke herunter, und keines war wie das andere. Eines war einfach und aus Holz geschnitzt, ein anderes ein dekoratives Gebilde aus Schmiedeeisen. Der staubige Geruch von jahrealtem Zigarettenrauch und der süße grüne Duft von frisch geschnittenen Minzblättern erfüllten den schmalen Raum, überzogen die zerschrammten Kirchenbänke, die hohe Bar und die Spiegel an den Wänden, die in dem dämmrigen Licht dumpf schimmerten. Hinter dem Poolbillard-Tisch im hinteren Teil des Raumes führte ein dunkler Gang an einer uralten, knirschenden Eismaschine und den Toiletten vorbei auf einen kleinen Innenhof. Aus den Lautsprechern in den hohen Ecken drang ein Song von Rebirth. Scharfe Bläsersätze pulsierten in einem ausgelassenen Beat. Die ganze Front der Bar war einmal verspiegelt gewesen, jetzt aber mit Sperrholz verbarrikadiert. Seit dem Sturm war sie verrammelt.

Jude kniff in der plötzlichen Dunkelheit die Augen zusammen. Er war vor Regal hier eingetroffen. So früh am Nachmittag hielten sich nur drei Gäste in der Bar auf. Ein Vietnamese, der auf einem Touchscreen an der Bar ein Spiel spielte, und eine junge weiße Frau mit blonden Haaren, die mit dem mürrischen Latino hinter dem Tresen redete. Der Barkeeper war damit beschäftigt, die Mojitos zuzubereiten, für die das St. Joe’s bekannt war. Seine Augen jedoch hingen an der jungen Frau, und er lächelte schwach. Sie reckte sich, ihr Hemd hob sich und enthüllte das Grübchen, wo ihr Kreuz auf ihre Pobacken traf. Jude unterdrückte eine Aufwallung von Lust. Er wandte den Blick ab und lehnte sich gegen die Bar, versuchte Distanz zu ihnen zu behalten.

Der Mann mit dem Videospiel war um die vierzig, aber von vielen Jahren des Rauchens und Trinkens vorzeitig gealtert. Er starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm, fütterte den Automaten mit Dollars und zog an seiner Zigarette, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Judes Fingerspitzen kribbelten. Unmittelbar unter seinem Brustbein durchbohrte ihn etwas Scharfes, wie ein Angelhaken, der plötzlich an einer Schnur gespannt wurde und ihn zu dem Mann zog, zu seinem Gefühl von Verlust. Der Mann nannte sich selbst »Lee«, die zweite Silbe von Willi, nicht wie Bruce Lee. Obwohl seine Eltern ihn William getauft hatten, nach seinem Vater. Lee hasste William senior und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Aber er hatte immer das Gefühl, dass er etwas verloren hatte, weil er keinen Vater hatte, den er bewundern konnte.

Jude fluchte lautlos und ballte die Hände zu Fäusten. Manchmal sickerten die Dinge trotz der Handschuhe in ihn herein, vor allem in der Nähe von Fremden. Das war ein Fehler. Er hätte nicht herkommen sollen. Zum Teufel mit Regal und dem, was sie für ihn hatte. Gerade als Jude beschloss zu verschwinden, bemerkte der Barkeeper ihn und schlurfte zu ihm. »Was darf’s sein?«, fragte er ihn mit einem kurzen Nicken. Jude bestellte ein Abita und schob sich auf einen Hocker. Dabei hielt er seine behandschuhten Hände außer Sicht unter dem Tresen.

Regal hat Zeit, bis ich mit dem Bier fertig bin, sagte er sich. Im selben Moment öffnete sich die Tür, als hätte sie ihren Auftritt genauso geplant, und da war sie, eingerahmt von dem erlöschenden Sonnenlicht.

Sie hatte eine neue Frisur. Die seidige kastanienbraune Mähne, an die er sich erinnerte und die ihr bis auf die Schultern gefallen war, war verschwunden. Sie trug die Haare jetzt kurz. Ansonsten hatte sie sich nicht verändert. Ihre tief liegenden Augen waren immer noch von diesem klaren Honigbraun. Das Lächeln auf ihren vollen Lippen schwankte immer noch zwischen amüsiert und spöttisch. Sie war eine zierliche weiße Frau, die sich mit dem Selbstbewusstsein eines mindestens doppelt so großen Menschen und mit der Geschmeidigkeit einer Person, die sich zu behaupten wusste, durch den Raum bewegte.

»Dubuisson«, begrüßte sie ihn. »Ist schon viel zu lange her.« Trotz allem, trotz der schlaflosen Nächte, seines Unbehagens, draußen in der Welt zu sein, dieses Lebens, das wieder mit seinem kollidierte, den Tentakeln des Verlustes, die sich in die Spalten seiner Entschlossenheit drängten, trotz alldem brachte ihre Stimme ihn zum Lächeln. Regal Sloan. Seine Partnerin und engste Freundin in einem Leben, das er hinter sich gelassen hatte. Oder es zumindest versuchte.

»Hey, Queens«, sagte er. Der alte Spitzname kam ihm unerwartet über die Lippen. Sie verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, aber der Barkeeper unterbrach sie mit Judes Bier. Regal bestellte sich ebenfalls eins, und sie schwiegen, während sie warteten. Als der Barkeeper zurückkehrte, griff Regal, die immer noch hinter ihm stand, über Judes Schulter nach ihrem Bier. Sie war so nah, dass er ihre Wärme spürte, ihren Atem auf seinem Hals fühlte. Jude zwang sich, nicht zurückzuzucken, als sie in seinen persönlichen Raum eindrang. Er wusste, dass sie nicht wirklich flirtete, sondern versuchte, ihm Unbehagen zu bereiten, ihn zu verunsichern. Sie faltete eine Serviette halb und zog mit ihrer Fingerspitze eine Zwei und eine Null darüber. Dann schob sie dem Barkeeper die Serviette zu, der sie, ohne zu fragen, als Zahlungsmittel akzeptierte.

»Behalte das Wechselgeld, Schätzchen«, sagte sie.

Jude trank einen Schluck Abita und genoss die prickelnde Schärfe auf seiner Zunge. Dieselbe alte Regal, dachte er und merkte erst, dass er es laut ausgesprochen hatte, als sie lachte.

»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie, »hast du mir diesen speziellen Trick beigebracht.«

»Ich habe dir alle Tricks beigebracht, die du draufhast, Grünschnabel.«

»Lässt in deinem hohen Alter dein Gedächtnis nach?« Sie nahm ihre beiden Gläser. »Reden wir hinten weiter.«

Jude nahm einen Zwanziger aus der Tasche und legte ihn auf die andere Seite des Tresens zwischen zwei Flaschen, wo der Barkeeper ihn später finden würde. Dann folgte er ihr. Das Unbehagen in seiner Magengrube brodelte wie Wasser, das gleich überkochen würde. Als er an der Blondine auf der anderen Seite der Bar vorbeiging, deren Daumen über die Tasten ihres Handys tanzten, erfüllte der metallische Geschmack von Blut seinen Mund. Großartig, dachte er. Einfach großartig.

Der nächste Raum schien zu einer völlig anderen Bar zu gehören. Terrassentische waren auf dem blanken Betonboden arrangiert, und darüber waren bunte Papierlaternen gespannt. Sie raschelten in der schwachen Brise, die der große Ventilator in der Ecke erzeugte. Er rührte die stickige Luft eher um, als dass er Linderung von der Hitze spendete. Regal stellte Judes Bier vor ihn hin und schlürfte den Schaum von ihrem eigenen. Er fragte sich, ob sie seine Handschuhe schon gesehen hatte und ob er das Glas mit nackten Fingern berühren könnte. Er war sich nicht sicher, ob er einen Handschuh unter dem Tisch ausziehen konnte, ohne dass sie es bemerkte.

»Also.« Regal leckte sich die Lippen ab. »Hast du deinen Mist auf die Reihe gekriegt, oder versteckst du dich immer noch vor dem Sturm?«

Man konnte Regal unverblümt oder taktlos nennen. Einige hatten auch rüdere Ausdrücke dafür. Einmal hatte eine Hausfrau mittleren Alters sie vor ihren beiden minderjährigen Töchtern als »großmäulige Fotze« tituliert. Jude wusste, wie sorgfältig Regal ihre bissigen Bemerkungen auswählte. Damit überrumpelte sie die Leute. Dieselbe Hausfrau hatte das jungfräuliche Menstruationsblut ihrer ältesten Tochter an eine Voodoo-Frau verkauft.

Trotzdem schmerzte es Jude, dass sie so auf seine Schwachstelle eindrosch, als wäre er irgendein Wichser, der ihr bei ihrem Job im Weg war. Und es machte ihn auch etwas wütend. Hauptsächlich jedoch bewies es ihm, dass sie mehr im Sinn hatte als einen Drink mit einem alten Freund.

»Dieser Kerl wird die Hölle erleben, wenn in seiner Abrechnung zwanzig Mäuse fehlen«, sagte er. »Ich habe diesen Trick nur benutzt, um die Arschlöcher zu bestrafen, die es verdient haben. Schwer arbeitende Barkeeper, die versuchen, Geld für ihre Miete zusammenzukratzen, passen da nicht ins System.« Er bemühte sich, ruhig zu sprechen. Es würde ihn nicht weiterbringen, wenn er jetzt die Kontrolle verlöre. Sein Temperament war noch etwas – jedenfalls hatte das Judes Mutter immer behauptet – , das er von seinem verschwundenen Vater geerbt hatte.

Sie grinste ihn genauso an wie vorhin den Barkeeper, nur schien das Grinsen diesmal beleidigend gemeint zu sein. »Du bist wirklich ein richtiger Sonnenschein, weißt du das?«

»Erstens.« Jude zählte es an den Fingern ab. »Ich weiß, dass die Blondine da draußen schon sehr bald tot sein wird, ausgesaugt von dem Vampir, der sie verhext hat. Zweitens hast du Magie an dir versteckt – so, wie es sich anfühlt, eine Waffe, irgendetwas Scharfes und Ekliges. Drittens? Es gibt eine Veränderung, etwas, das selbst den Big Boss erschüttert. Und viertens, du spielst auf Zeit. So viel weiß ich.«

Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und kniff die Augen zusammen, als könnte sie durch die Wand blicken. »Quält dich das?«

»Was, das Mädchen? Natürlich tut es das.«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich wissen, ob es dich quält, dass du die ganze Zeit so ein aufgeblasener Klugscheißer bist. Aber gut, reden wir über das Mädchen. Ich wette, du willst sie retten, stimmt’s? Ihr den Tag versüßen?« Sie grunzte angewidert. »Nicht jede Frau ist ohne ihren großen, starken Beschützer verloren, weißt du? Dein Heldenkomplex wird dich noch eines Tages tief in die Scheiße reiten, Freundchen.«

»Danke für den Tipp«, sagte er und trank einen Schluck Bier. »Dein Timing könnte allerdings besser sein.« Das Gespräch lief nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Regal wirkte angespannt, fast unsicher. Sie verspottete ihn, weil er das Mädchen retten wollte, aber sie starrte immer noch in ihre Richtung.

»Woher weißt du das alles?«, erkundigte sie sich.

»Weil ich der Sohn meines lieben alten Daddys bin, wer auch immer er war«, erwiderte er. »Einige Dinge weiß ich einfach.« Das war natürlich Blödsinn. Die Vampirwarnung durch den Blutgeschmack war nur ein Überbleibsel, ein unbeabsichtigter Nebeneffekt eines Schutzzaubers, den er vor Jahren gewirkt hatte. Alles andere, was er gesagt hatte, waren Vermutungen und raffinierte Spekulationen gewesen. Seine Zunge hatte sich schneller bewegt als sein Hirn und gehofft, einen Glückstreffer zu landen. Regal wusste etwas über seinen Vater; ihr einzureden, dass er einen Haufen Zeug wusste, von dem er eigentlich keinen blassen Schimmer hatte und das er auch gar nicht wissen konnte, war also kein allzu großes Risiko.

Sag den Leuten, du bist der uneheliche Bastard eines Gottes, und man nimmt dir ab, dass du zu so ziemlich allem fähig bist.

»Also, hör auf mit dem Vorspiel«, forderte Jude sie auf. Er beugte sich vor, und der Stuhl knarrte unter seinem Gewicht. »Mourning hat dich geschickt, um mich dazu zu bringen, wieder zurückzukehren, stimmt’s?«

»Nein.«

Jude hob eine Braue. »Also bist du einfach auf die Idee gekommen, du könntest deinen alten Kumpel Jude nach sechs Jahren mal besuchen und ein paar Bierchen mit ihm zischen?«

»Okay, ja, Mourning hat mich geschickt.« Sie biss sich auf die Lippen, sichtlich verunsichert. »Aber es ist nicht so, wie du denkst.«

»Scheiß auf Mourning.« Jude spürte, wie er die Beherrschung verlor, wie Ärger und Magie drohten, sich zu befreien, Form anzunehmen in Gestalt von Feuer und Sturm. Er hätte nicht herkommen sollen. Das war das Letzte, was er brauchte.

»Es ist nicht, was du denkst«, wiederholte sie. Regal schob zwei Finger in ihre Gesäßtasche und förderte einen Umschlag zutage, der mit rotem Wachs versiegelt war. Das Papier wirkte alt und dick, wie Pergament. Sie sah auf, dann zuckten ihre Augen zur Seite, unfähig, seinen Blick zu erwidern. »Du bist angepisst, ich hab’s kapiert. Ich wollte damit nichts zu tun haben, aber du weißt ja, wie es ist. Wenn Mourning etwas will, bittet er einen nicht gerade darum. Aber diese Nachricht ist nicht von Mourning. Ich wurde nur angeheuert, dich zu finden und sie dir auszuhändigen.«

Jude wollte erwidern, dass es ihn nicht interessierte. Dass er nichts damit zu tun haben wollte, sondern nur nach Hause gehen und trinken wollte, bis er all die unmöglichen Dinge vergaß, von denen er wusste. Dinge, die zu seinem anderen Leben gehört hatten, wie zum Beispiel Magier, die etwas aus der Dunkelheit heraufbeschwören und es zwingen konnten, ihnen zu gehorchen, oder Hoodoo-Frauen, die gegen ein Honorar Flüche wirkten und dann die doppelte Summe für das Gegenmittel verlangten. Oder Monster, die am helllichten Tag herumspazierten und so taten, als wären sie Menschen, und in der Nacht jagten. Oder Kreaturen, die nur teilweise menschlich waren oder gar nicht. Wesen, die selbst die Götter aufgegeben hatten. Doch statt irgendetwas davon zu sagen, gewann seine Neugier Oberhand.

»Dieser Umschlag tickt doch wohl nicht, oder?«

Sie lachte, aber es war ein wenig überzeugendes, fast schon verzweifeltes Lachen. Sie sagte nichts weiter, sondern hielt ihm nur den Umschlag hin, der ein bisschen zitterte, als er ihn nicht nahm.

»Wer hat ihn geschickt?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich dir das hier geben soll.« Sie schob das handgeschöpfte Bütten schließlich über den Tisch. »Und ich soll dir sagen, dass ein Gefallen eingefordert wird.«

Jude fluchte leise. Er schuldete vielen Leuten so einiges, mehr, als er je zurückzahlen konnte. Aber nur einer von ihnen würde seine Schuld einen Gefallen nennen: Dodge Renaud, der Gott des Glücks von New Orleans. Und richtig, als er den Umschlag nahm, sah er das verschlungene R in dem roten Siegelwachs.

Einfach verflucht perfekt!, dachte Jude. Er wollte einen Schluck Bier trinken, stattdessen leerte er das Glas mit einem Zug, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob Regal seine Handschuhe sah oder nicht. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass seine Hände nicht zitterten.

Sechs Jahre. Das war eine ordentliche Zeitspanne für normale menschliche Probleme, um Kater auszukurieren, die Begegnung mit ehemaligen Freundinnen zu vermeiden und um so zu tun, als wäre man mit der miesen Bezahlung für einen beschissenen Job zufrieden. Sechs lange Jahre, ohne nach der Pfeife von Göttern zu tanzen, ohne den ganzen Mist, den das mit sich brachte. Sechs Jahre lang war er abgetaucht, hatte sich mucksmäuschenstill verhalten und sich in der Naht eines langweiligen Lebens versteckt, bis er sich selbst eingeredet hatte, er sei vollkommen verschwunden, sodass er sich für den Rest seines Lebens nur mit armseligen Problemen herumschlagen musste. Er hätte es besser wissen sollen.

Sechs Jahre verstrichen in einem Wimpernschlag, wenn man ewig lebte.

KAPITELZWEI

Der Umschlag enthielt genau die Art von einfacher, kryptischer Nachricht, die Jude immer von dem Gott des Glücks erhalten hatte: eine skizzierte Karte vom Rand des benachbarten Garden Districts, vor allem die neun Straßen, die nach den Musen der griechischen Mythologie benannt waren. Nur fanden sich auf der Karte anstelle der Namen die Symbole der jeweiligen Domäne der Muse – eine Schriftrolle, eine tragische Maske, eine komische Maske, eine Flöte und ein hellrotes »X« inmitten eines Blocks, zwischen Klio und Kalliope. Das verriet ihm die Adresse, und ein Polaroid-Foto der Uhr auf dem mittleren Turm der St. Louis Cathedral zeigte ihm die Zeit: Mitternacht.

Was Judes weitere Fragen anging, das Wer, Was und Warum, so würde er erst dann mehr herausfinden, wenn er dort auftauchte. So war Dodge.

Aber wegen der Erwähnung seiner Schuld machte Jude nun einen Umweg über seine Wohnung, nachdem er ein Bombardement von Regals mit Obszönitäten gespickten Fragen ausgesessen und sie nach einem strategischen Rückzug im St. Joe’s zurückgelassen hatte. Dort holte er den Beutel, den Dodge ihm vor so langer Zeit übergeben hatte. Spiralen und Winkel von Schutzzaubern waren in das ausgebleichte braune Leder geritzt, und die zwölf Fächer im Beutel waren prall mit Magie gefüllt, sowohl mächtiger als auch belangloser Magie. Amulette, Gris-Gris-Beutel zum Bannen von Flüchen, Phiolen mit milchiger Flüssigkeit und Steine mit uralten eingeritzten Schriftzeichen. Gott allein mochte wissen, was noch darin war, da der Beutel bereits voll gewesen war, als Jude ihn von Dodge bekommen hatte. Damals hatte er geglaubt, der Inhalt des Beutels sei es wert, einem Gott einen Gefallen zu schulden. Er hatte die Kontrolle über sein eigenes Schicksal gewollt, die ihm dieser Beutel seiner Meinung nach gewährte. Jetzt war seine einzige Hoffnung, dass Dodge den Beutel zurücknehmen würde, zusammen mit dem Kram, den Jude noch hineingestopft hatte, während er in seinem Besitz gewesen war, und die Sache damit erledigt wäre.

Was Pläne anging, war dieser ziemlich mies. Macht hatte immer einen Preis, und das Kleingedruckte schloss niemals eine großzügige Rückgabevereinbarung ein. Aber mehr hatte er nicht.

Nachdem Jude zwanzig Minuten rund um den Garden District gelaufen war und die primitive Karte zurate gezogen hatte, wartete er schließlich an einem Punkt, wo sonst niemand stehen bleiben würde – auf einem kaputten Stück Bürgersteig direkt an einem Zaun, der mit dicken Kletterpflanzen überwuchert war. Auf der anderen Seite des Zaunes erhob sich ein Müllberg aus Matratzenfedern und zerbrochenen Stühlen, die die scharfen Heckflossen und geschwungenen Linien einer alten Autokarosserie unter sich begruben. Der Müll und die Schlingpflanzen verbargen fast das verfallene Gebäude, das im Hintergrund lauerte. Es war ein Einfamilienhaus, wie die meisten alten Häuser in diesem Teil der Stadt, und gerade mal ein Zimmer breit, aber dafür erstreckte es sich mehrere Zimmer weit in die Tiefe. Ein typisches Shotgun House. Die Veranda führte zum Wohnzimmer, von dort zum Schlafzimmer, zur Küche und dann wieder ins Freie. Dieses Haus jedoch war mehr eine Ruine als ein Gebäude.

Nachdem Jude einen kurzen Blick in den Hof geworfen hatte, summte die Straßenlaterne über ihm wie eine riesige Hornisse und erlosch, sodass alles in Dunkelheit getaucht war. Jude ging auf den Zaun zu, und das Prickeln auf seiner Haut sagte ihm, dass er gerade die Schwelle eines Schutzzaubers übertreten hatte. Die Luft flirrte, und wo sich vor einem Moment noch ein durchgängiger Maschendraht befunden hatte, öffnete sich jetzt ein verrostetes schmiedeeisernes Tor. Jude bewunderte die Machart des Zaubers. Er ähnelte dem Schleier, den er über seine eigene Wohnung gezogen hatte, aber während Judes Magie einfach nur das Gebäude vor der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verbarg, stieß dieser Zauber die Leute aktiv zurück. Jeder zufällige Passant würde auf die andere Straßenseite wechseln, um diesen Ort zu meiden, ohne seine Reaktion überhaupt wahrzunehmen. Selbst mit einer Einladung war er schwer zu finden gewesen.

Als Jude den Hof betrat, bewegte sich etwas in den Schatten. Es war schnell und niedrig und stürmte mit gefletschten Zähnen und wildem Gebell auf ihn zu.

Jude sagte ein Wort in einer Sprache, deren Namen er nicht kannte, und der Hund klappte die Schnauze zu. Dann legte er sich flach auf den Boden und grub sein Maul in den Dreck, jaulte einmal kurz und seufzte dann tief und ruhig. Er war ein großer, struppiger Mischling mit den hohen, spitzen Ohren eines Deutschen Schäferhunds. Jude grinste und schüttelte den Kopf. Jeder, der genug Macht hatte, um Dodges Magie zu durchschauen, wäre mit dem Hund genauso leicht fertiggeworden wie er. Falls es sich überhaupt um einen Hund handelte.

Denn zusätzlich zu allem anderen war Dodge ja auch noch ein Flachwichser.

Jude kniete sich hin, kraulte das Tier zwischen den Ohren und hoffte, dass es nicht sauer war. Trotz der Handschuhe spürte er ein tiefes Gefühl von Verlust bei der Kreatur, deshalb zog er die Hand zurück, bevor er Einzelheiten wahrnehmen konnte. Dies war ganz eindeutig kein Hund.

Jude stand auf und trat auf die verrottete Veranda. Er zögerte nur kurz, bevor er nach dem Türknauf griff. Der drehte sich, aber die Tür ging nicht auf, weil das Holz von der Feuchtigkeit aufgequollen war und im Rahmen klemmte. Jude stemmte die Schulter dagegen und stolperte mitsamt der Tür in einen dunklen, vollgestopften Raum voller Spinnweben und dem muffigen Gestank von Schimmel, der in der Nase kitzelte. Hier hatte die Entropie bereits lange gewirkt, sie hatte die Rigipsplatten bröckeln lassen, die Ziegelsteine freigelegt und eine etliche Jahre alte Schicht aus Dreck und Staub geschaffen. Jude stand in einem langen Flur und konnte kaum den Umriss der Tür am anderen Ende erkennen. Als er sie erreichte, bemühte er sich, die herumhuschenden Kreaturen zwischen dem Müll auf dem Boden zu ignorieren. Ihm fiel auf, dass die Tür erst kürzlich mit knallroter Farbe gestrichen worden war. Er zog sie auf, und sein Puls donnerte in seinen Ohren. Licht fiel in den Flur, und Jude hörte das Geräusch von Karten, die gemischt wurden, das Klirren von Eis in Gläsern. Er roch Tabakrauch und ein schwaches Aroma von Zimt.

Die Wände waren mit einer verblassten Blumentapete beklebt, die sich an den Kanten aufrollte. Die Luft in dem fensterlosen Raum war stickig und schwer und verqualmt. An der Wand zeigte eine Uhr in der Form einer Katze die Zeit an. Die hervorstehenden Augen und der gekrümmte Schwanz bewegten sich synchron. Durch das breite, zähnefletschende Grinsen wirkte die Bewegung noch unheimlicher.

In der Mitte des Raumes baumelte eine Glühbirne über dem grünen Filz eines Pokertisches. Dodge saß auf der gegenüberliegenden Seite, fett, kahlköpfig und wie immer grinsend. Sein mit Bräunungsspray behandeltes weißes Gesicht war von zu vielen Drinks gerötet. Er sah von Kopf bis Fuß aus wie der New-Orleans-Glücksgott. Seine funkelnden Augen hatten die knallig grüne Farbe von frisch gedruckten Hundert-Dollar-Scheinen, und sein Grinsen war fluoreszierend hell.

Wider besseres Wissen betrat Jude den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihm, ohne dass jemand sie berührt hätte. Er betrachtete die Spieler, während Dodge das nächste Blatt austeilte. Ein fetter Mann mit langen dürren Fingern und einer Haut in der dunkelvioletten Farbe einer Leiche. Ein Engel, mit Schwingen, so weich und weiß wie Puderzucker, und Augen, so ausdruckslos und kalt wie gefrorene Milch. Eine schwarze Frau mittleren Alters, die einen Strohhut keck schräg auf dem Kopf trug und eine Pfeife zwischen den Zähnen hielt. Und ein braunhäutiger menschlicher Körper mit einem Vogelkopf, dessen Schnabel gekrümmt war wie die Klinge einer Sichel.

Trotz alledem flößten Jude die Karten, die noch mit dem Bild nach unten auf dem Filz lagen, die meiste Angst ein. Sie lagen vor dem letzten freien Stuhl am Tisch.

Der, wie es schien, auf ihn wartete.

Jude ließ sich auf den freien Stuhl fallen, ohne die Karten vor sich zu berühren. Immerhin hatte er die Wahl. Er konnte weglaufen, betteln oder verlangen zu erfahren, was hier los war. Keine dieser Alternativen wirkte in irgendeiner Hinsicht lohnend. Mit einem Gott kam er gerade noch klar. Das hieß, vielleicht, und wahrscheinlich nicht mal das. Wäre nur Dodge hier gewesen, hätte er sich jedenfalls vormachen können, er hätte eine Chance. Aber ein ganzes Zimmer voller Götter?

»Am Arsch« beschrieb es nicht einmal annähernd.

Was auch immer Dodge geplant hatte, würde sich genauso abspielen, wie der Gott des Glücks es beabsichtigt hatte. Dennoch fühlte Jude sich sonderbarerweise ruhig. Ihm wurde klar, dass in der Kapitulation ein gewisser Friede lag.

Er sah sich am Tisch um, musterte die unmenschlichen Augen der Unsterblichen, die ihn betrachteten. Wartend. Erwartungsvoll. Sie lauerten auf seine Reaktion wie fünf Katzen auf eine Maus. Würde er kuschen? Irgendeine höfliche Grabrede murmeln? Sich betend zu Boden werfen?

Scheiß drauf!

»Wen muss man hier anbeten, um einen Drink zu bekommen?«

Gelächter lief um den Tisch. Ein dröhnender Bass vom Gott des Glücks, ein kehliges Kichern von der Frau mit der Pfeife, ein trockenes Rasseln von dem Vogelkopf-Gott. Der leichenhäutige Gott gab ein hohes, zischendes Klappern von sich wie ein Motor in seinen letzten Zügen. Genauso enervierend war das Schweigen des Engels.

Dodge förderte aus dem Nichts eine Flasche zutage und goss etwas daraus in seine Handfläche. Dann deutete er mit einer »Hier, bitte«-Bewegung in Judes Richtung. Der trank einen Schluck aus dem Glas, das in seiner Hand aufgetaucht war. Cola-Rum und ein Hauch Limone, genau das, was er bestellt hätte, wenn man ihn gefragt hätte. Die anderen Götter hatten ihre Getränke bereits neben sich stehen, wie Jude mit einem kurzen Blick registrierte. Wie lange sie wohl auf mich gewartet haben?

»Hat noch jemand einen letzten Wunsch?« Dodges tiefe Stimme klang außerordentlich liebenswürdig. Er warf den Spielern der Reihe nach einen scharfen, gerissenen Blick zu. »Prächtig«, verkündete er, als niemand antwortete. »Fangen wir an.«

Er legte den Stapel auf den Filz und nahm sein eigenes Blatt hoch. Routiniert fächerte er es auf und steckte die Karten um, während er weiterredete. »Heute Abend spielen wir Schicksal. Nichts Wildes, alles offen. Reichtum sticht Unheil. Nebenwetten sind bindend, also stimmt sie vor dem nächsten Blatt ab. Der Letzte kassiert alles. Hohe und niedrige Blinds variieren bei jeder Hand, je nach Dealer.« Er nickte dem Gott zu seiner Linken zu, dem mit der Leichenhaut. »Scarpelli, du bietest als Erster.«

Scarpelli senkte bestätigend den Kopf und fletschte die Zähne, was wohl ein Lächeln sein sollte. Seine gelben Schneidezähne waren lang und scharf. Jude trank noch einen Schluck, um den plötzlichen Blutgeschmack aus seinem Mund zu spülen. Ein Vampir. Es wird immer besser. Die knochigen Finger nahmen ein paar Brocken von einem Stapel, der in Judes Augen wie zerbrochenes China-Porzellan aussah, und warfen sie auf die Mitte des Tisches. Auf jede Scherbe war ein einzelnes stilisiertes Bild geätzt. Sie klickten aneinander, wie Würfel, bis sie schließlich zur Ruhe kamen. Es waren Zähne, das sah Jude jetzt. Menschliche Zähne.

Er war dran.

Die Aufmerksamkeit sämtlicher Gottheiten in dem Zimmer richtete sich auf Jude, so unfehlbar und unerbittlich wie die Strömung des Mississippi. Er hatte ebenfalls einen Haufen vor sich liegen, Münzen, groß und bunt und mit verschiedensten Motiven geprägt: Mardi-Gras-Dublonen aus Aluminium. Jude tat das Einzige, was er tun konnte – er schob seine Karten in die Mitte des Tisches. Dodges Worte über das Spiel hatten ihm klargemacht, dass er nicht annähernd genug davon verstand, um mitzuspielen. »Ich steige aus.« Angesichts der göttlichen Blicke, die auf ihm ruhten, wirkte die ganze Welt etwas gepresst, wie der letzte Atemzug, den ein Sterbender aus seiner Lunge drückt. Nach gefühlt mehreren Stunden nahmen sie endlich ihre scharfen Blicke von ihm.

»Du hast wirklich Eier, Kleiner.« Dodge lachte und paffte an seiner Zigarre. »Du wirfst nicht mal einen Blick in dein Blatt?«

Jude zuckte mit einer Achsel und bemühte sich, den Anschein zu erwecken, er wüsste genau, was er tat. Er trank noch einen Schluck Cuba Libre, einen tiefen Schluck, der ihm süß und heiß die Kehle hinunterlief und sich wie eine brennende Blüte in seinem Magen öffnete. Sie spielten eine Art von Poker, was bedeutete, dass Jude nur zwei Runden Zeit hatte, um herauszufinden, wie der Hase lief, bevor er ein bisschen Fleisch ins Spiel werfen musste. Er bedauerte die Metapher in dem Moment, in dem sie ihm einfiel. Denn bei diesem Spiel könnte das tatsächlich wahr werden.

Dodge räusperte sich. »Du bist dran, Flattermann«, sagte er und grinste über das ganze Gesicht. »Aber du stehst ja drüber, ist es nicht so?« Der Engel runzelte die Stirn, und der Vampir lachte. Es klang, als kratzten rostige Nägel über Judes Haut. Der Engel schob seine Karten einen Zentimeter weit in die Mitte des Tisches und schaffte es, dabei hochmütig auszusehen.

»Flattermann hat die Flatter!« Scarpellis hohe Stimme zitterte, und er lachte über seinen eigenen Witz.

»Warum könnt ihr einfach nie richtig spielen?«, sagte die Frau neben dem Engel. Sie hatte einen starken karibischen Akzent und redete in einem melodischen Singsang.

»Was kümmert dich das?« Scarpellis Stimme blieb leise, aber er kaschierte seinen drohenden Ton nicht. »Glaubst du, dass diese reinen Hände sich jemals für dich schmutzig machen würden, Pops?«

Jude warf einen Blick auf die Frau neben dem Engel, und anstelle der Menschenfrau von vorhin sah er jetzt den Gott, der sie benutzt hatte – einen schlanken, runzligen alten Mann mit tiefen Lachfalten in seiner ockerfarbenen Haut. Pops, dachte er. Wie in Papa Legba, dem Loa zwischen der göttlichen und menschlichen Welt? Er muss es sein. Was wäre das für eine Party ohne ein bisschen Voodoo?

»Ich habe den Eindruck, dass wir alle Dreck an den Händen haben, stimmt’s?« Legba grinste um die Pfeife in seinem Mund herum. Jude blinzelte und sah wieder die Frau. Sie tauschte zwei Karten, schien zu mögen, was sie sah, und legte einen kleinen Lederbeutel zwischen Scarpellis Zähne-Einsatz.

Den letzten Gott erkannte Jude, so wie jeder New Orleaner es getan hätte, von dem Mardi-Gras-Umzug, der seinen Namen und sein Bild benutzte: Thoth, der altägyptische Gott der Schriftgelehrten. Er trug ein Jazzfestival-T-Shirt, dessen weiter Halsausschnitt zeigte, wo sein dünner gefiederter Ibis-Hals in menschliche Haut überging. Er hielt die Karten verdeckt in seinen dicken, fleischigen Händen, und seine Vogelaugen zuckten hinter einer runden Brille hin und her. Er stieg auch aus.

Dodge warf seine Karten ebenfalls auf den Tisch, nachdem Thoth seine hingelegt hatte. »Ich gebe mir selbst immer nur Dreck.« Er lachte.

Als die Götter sich ihr jeweiliges Blatt zeigten, hob Jude sein Glas an die Lippen. Es überraschte ihn, dass er es hielt und dass es frisch gefüllt war. Sein Gesicht war heiß und taub. Wie viel hatte er bereits getrunken? Ein verdammt cleverer Trick. Er reckte sich und schob das Glas eine Armlänge von sich weg, sodass er es nicht einfach nehmen konnte, ohne es zu wollen. Es würde schon mit wachem Geist schwierig genug werden, dieses Spiel zu überleben.

Er betrachtete die Karten, die über den Tisch glitten, und verstand die Regeln des Spiels nur sehr vage. Sie benutzten Tarotkarten. Schwerter und Stäbe statt Pik und Kreuz, Münzen und Kelche statt Karo und Herz. Die Bilder, das hatte er von den Kartenlegern im Quarter gelernt, waren männlich und weiblich; die jeweilige Farbe stand für eines der vier Elemente. Der Rest war ihm zu hoch. Er hatte nie genug aufgepasst, um herauszufinden, was die anderen Karten bedeuteten und welche Kombinationen ein gutes oder ein schlechtes Schicksal darstellten.

Legba gewann die erste Hand, der Vampir die zweite, und Jude stieg immer wieder aus und fand immer wieder sein Glas in der Hand. Die Karten wurden zum dritten Mal verteilt, und erneut richteten die Götter ihre Blicke auf Jude. Ihre Aufmerksamkeit drückte mit dem Gewicht von tonnenweise Erde auf ihn.

Sein Einsatz.

Jude verteilte die Dublonen in einem Fächer vor sich. Er war sicher, dass sie mehr als nur Geld repräsentierten. Die Götter spielten immer um die höchsten Einsätze. Jede Dublone, die er berührte, schickte trotz seiner Handschuhe einen Impuls durch seine Fingerspitzen, wie das Knistern statischer Elektrizität. Er hatte immer noch keine Ahnung, was die Karten bedeuteten, und wusste nicht einmal, worum er eigentlich spielte. Scheiß drauf, dachte er. Dodge hat die Karten wahrscheinlich ohnehin gezinkt.

Er entschied sich für die Münze mit einem stilisierten Herzen und warf sie in die Mitte des Tisches.

»Bin dabei«, sagte er. Dann lachten die Götter, alle. Über ihn.

Scham und der Verdacht, dass er nicht mehr so nüchtern war, wie er glaubte, brannten wie Eiswasser in seinen Adern. Dodge rollte die Zigarre zwischen den Fingerspitzen und starrte auf die glühende Spitze. Er war der einzige Gott, der nicht lachte.

»Dein Einsatz ist zu niedrig, Zuckerschnecke.« Scarpellis höhnische Stimme klang sadistisch. »Ein Herz. Was wollen wir mit einem gebrochenen kleinen Ding wie dem da?« Sein Blick aus blutunterlaufenen Augen richtete sich von Jude auf Dodge, und nach einem kurzen Moment schnalzte er mit der Zunge. »Wenn du es ihm nicht sagst, übernehme ich das mit größtem Vergnügen.«

Dodge antwortete, ohne von der eindringlichen Musterung seiner Zigarre hochzublicken. »Ein zu kleiner Einsatz bedeutet, dass du die Entscheidung verwirkt hast. Das ist die Regel.«

Der Vampir kicherte, dunkel und drohend. Dann spreizte er die dürren Finger über die Haut seines dunklen, fleckigen Gesichts, eine unheimliche Parodie eines Spiegels. »Ich will dein Blut, natürlich. Bis auf den letzten Tropfen.« Eine Dublone mit einem roten Tropfen stellte sich auf die Seite und rollte neben die, die Jude auf den Tisch geworfen hatte.

Dodge sagte etwas, das wie »Hey« klang, nur kürzer, fast wie ein lautes Ausatmen, und der Engel schloss nachdenklich die Augen. Als seine Lippen sich bewegten, klangen seine Worte für Jude so, als hätte er sie selbst ausgesprochen, ein Schrei, der durch eine leere Kathedrale hallte. »Der Herr verlangt seinen Glauben«, sagte der Engel. Eine weitere Münze von Judes Stapel machte sich auf ihre wacklige Reise über den Tisch zu den beiden ersten.

Jude warf einen Blick auf die Karten, die er verdeckt auf den Tisch gelegt hatte. Etwas in ihm wollte lachen. Die ganze Sache war einfach zu surreal. Alles hier hing von einer Pokerrunde ab, deren Regeln nicht den geringsten Sinn machten. Es musste ein Witz sein. Er konnte nur leider nicht herausfinden, ob er das Publikum war oder die Pointe.

»Ich nehme seine Stimme«, sagte Legba. Jude sah wieder den Loa und nicht die Frau, in die er gefahren war. Sein freundliches Lächeln war jetzt verzerrt und gierig. Und noch eine Münze.

Thoth richtete den Blick eines glasigen Vogelauges auf Jude und stieß einen möwenartigen Schrei aus. Es schien keine Rolle zu spielen, dass Jude nicht wusste, was Thoth verlangte, weil der Tisch es wusste. Judes letzte Münze rollte davon.

Dodge spielte nachdenklich mit seinen Karten und starrte ins Nichts. Der Augenblick zog sich hin, und Jude war plötzlich nicht mehr nach Lachen zumute. Seine Gliedmaßen waren wie betäubt und bleischwer, seine Lunge wollte keine Luft aufnehmen, so als atmete er durch einen Strohhalm. Schweiß drang ihm aus jeder Pore. Er konnte es nicht mehr ertragen, die Götter anzusehen, ihre Zähne und ihre Augen waren viel zu hell, während etwas Dunkles, Ekliges durch die Schatten glitt. Vielleicht waren es auch die Schatten selbst, die sich bewegten und in denen etwas lauerte, dem er sich nicht stellen konnte.

»Ich will sehen«, erklärte Dodge schließlich. Einer nach dem anderen legten die Götter ihre Einsätze auf den Stapel mit Münzen. Sie begruben ihn förmlich mit ihren eigenen Einsätzen, mit Zähnen, Federn, Papierfetzen und Schlangenschuppen. Es fühlte sich an, als öffnete sich in Judes Bauch ein Loch. Natürlich wollten sie spielen. Er hatte jetzt sein Fleisch ins Spiel gebracht, und alle wollten einen Happen kosten.

Legba legte seine Karten auf den Tisch. Es war eine unsinnige Pokerhand aus gemischten Farben und Tarotsymbolen. Die anderen Götter folgten seinem Beispiel unter beifälligem Gemurmel oder enttäuschtem Seufzen. Einige der Bilder kamen Jude vertraut vor, Gesichter von Leuten, die er schon einmal gesehen hatte. Der Kassierer in dem Laden, wo er seine Lebensmittel kaufte, ein ehemaliger Profisportler, der jetzt Gebrauchtwagen verkaufte, der örtliche Meteorologe, der nach dem Sturm gebrochen war. Dodge drehte seine Karten eine nach der anderen um: die Königin der Münzen, die Königin der Schwerter, die Hohepriesterin, die Königin der Stäbe und die Königin der Kelche – und jede Einzelne von ihnen trug Regal Sloans Gesichtszüge.

Der Vampir gab einen angewiderten Laut von sich und warf seine Karten in die Mitte des Tisches, ohne sie umzudrehen. Seine Reaktion und das selbstgefällige Grinsen des Gottes des Wohlstands ließen Jude vermuten, dass diese Hand unabhängig von Regals Schicksal für Dodge den Sieg bedeutete.

Jude fuhr mit dem Daumen über den Rand einer seiner Karten. Er hatte sie immer noch nicht angesehen. Welche Rolle spielte das auch? Es war nur wichtig, was ihm als Nächstes widerfahren würde. Und er bezweifelte, dass es so einfach sein würde wie die Rückzahlung einer Schuld. Was auch immer diese Karten zeigten, sie würden sein Schicksal entscheiden. Die Götter hatten jeder etwas von ihm verlangt. Wenn sie den Topf teilten, mussten sie ihn zerreißen. Das beste Szenario war, dass nur eine dieser Gottheiten ihn besitzen würde, und zwar mit Haut und Haaren.

Jude beugte sich vor, nahm seine Karten hoch und ergriff sein Glas. »Wie es in dem Song so schön heißt«, murmelte er, »›Trink einen Schluck Gift, bevor du stirbst.‹« Er leerte das Glas in einem einzigen brennenden Schluck, seufzte in einer Mischung aus Vergnügen und Schmerz und deckte, mit einem Zwinkern in Dodges Richtung, seine Karten auf. Einen Moment traute er seinen Augen nicht.

Die Karten waren blank.

Der Engel zischte wie eine Katze, die man in die Ecke gedrängt hatte, Legba fluchte in einer Sprache, die er nicht kannte, und der Vampir lachte und lachte und lachte. Jude hatte keine Ahnung, was diese Karten bedeuteten, aber was auch immer es war, es waren die Karten eines toten Mannes.

Er stand auf und taumelte, Furcht und Schnaps raubten ihm das Gleichgewicht. Er riss seinen Beutel von der Rückenlehne des Stuhls und stieß ihn dabei um. Fast wäre er ihm auf den Boden gefolgt. Die Götter beobachteten ihn einfach nur und warteten. Er wich langsam zurück und griff hinter sich nach der Tür. Sie hatten sich immer noch nicht bewegt. Er fand den Knauf und drehte ihn, spürte, wie sich die Tür in seinem Rücken öffnete, und dann stürzte er. Der Boden schien aus der Welt zu fallen.

Er fiel und fiel in schwankende, vollkommene Dunkelheit, in einen Schatten, der ihn ganz und gar verschlang.

Sein Bewusstsein und das Licht kehrten unvermittelt zurück. Jude hatte sich in seine schweißnassen Laken verwickelt, seine Muskeln schmerzten, und er atmete schnell und keuchend. Sein Herz hämmerte, er versuchte ruhiger zu werden, versuchte sich einzureden, dass es nur ein Albtraum gewesen sei, obwohl er wusste, dass er sich belog. Schließlich lag er da und beobachtete die langsamen Umdrehungen des Deckenventilators, während das Morgengrauen den Raum um ihn herum Stück für Stück erhellte. Er dachte an Dodge und Regal und Mourning, an die Nähte, wo die Welten kollidierten. Er lag dort und versuchte das Unmögliche von der Realität zu trennen. Das Treffen mit Regal in der Bar, das Kartenspiel, die Einsätze, die jeder der Götter von ihm verlangt hatte, gingen ihm im Kopf herum. Vergeblich versuchte er sich einzureden, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war.

Er blieb dort liegen, bis sein Telefon so lange klingelte, dass er schon aus Notwehr rangehen musste. Regal war dran. Dodge war ermordet worden.

KAPITELDREI

Nephilim – so heißen die gigantengleichen Kinder der himmlischen Söhne Gottes und der irdischen Töchter der Menschen. Die Folgen der Lust eines Vampirs auf eine menschliche Frau nennen wir Dhampir. Das uralte Ägypten hatte den Baumeister Imhotep aufzuweisen, den Sohn einer Sterblichen und des Schöpfergottes Ptah. Indien konnte Arjuna aufweisen, den Sohn der menschlichen Königin Kunti und Indras, des Himmelsgottes, der über Blitz und Donner befahl. Die Waliser hatten Cú Chulainn, den Hund des Culann. Und es gab Phaeton, der den Streitwagen seines Vaters Helios zerstörte. Gilgamesh, der die Mauern um Uruk errichtete. Theseus und der Minotaurus kämpften im Labyrinth; der eine wurde vom Meer gezeugt, und der andere war von der Sonne herabgestiegen. Es sind Helden und Monstren, Produkte von Lust oder Zufall, Gnade oder Schicksal. Sie alle sind Halbgötter – die Macht einer Gottheit, gefangen in dem zerbrechlichen Leben eines Sterblichen. Immer sind sie größer als jene um sie herum und immer schwächer als das, was sie werden könnten.

Selbst nach einer langen heißen Dusche und einem halben Becher Kaffee stolperte Jude immer noch im Griff eines schrecklichen Katers durch seine Wohnung. Ein Kater, der ihn hätte beten lassen, wenn nicht der einzige Gott, mit dem er einigermaßen auf Du und Du stand, gerade gestorben wäre. Während er sich Jeans, ein verschlissenes Saints-T-Shirt und ein Sakko aus einem Trödelladen anzog, wurde ihm klar, dass er keinerlei Erinnerung daran hatte, wie er in der Nacht zuvor nach Hause gekommen war. Zwischen der Flucht aus Dodges Spielzimmer und dem Aufwachen in seinem eigenen Bett war nichts als ein leerer Raum. Genauso blank wie die Karten, die er aufgedeckt hatte. Was für eine Bestimmung sollte er mit leeren Karten erfüllen? Bedeuteten sie grenzenloses Potenzial oder gar keine Zukunft? War es eine Siegerhand oder ein Verliererblatt? Und wo sollte er ansetzen, um das herauszubekommen?

Mourning könnte es wissen.

Fetzen stiegen aus dem Dunkel hoch, wie einzelne Bilder, die aus einem Film geschnitten worden waren. Vampire. Karten, Dublonen. Engel, ein Voodoo-Loa und Götter. Und alle waren gierig. Jude begann ernsthaft über die vielen Vorteile vom Weg des Feiglings nachzudenken – die entschlossene und lebensrettende Flucht.

Er könnte ein paar Sachen einpacken, den nächsten Geldautomaten verhexen, dass er ihm sein gesamtes Bargeld ausspuckte, und einfach verschwinden. Scheiß auf Dodge, Scheiß auf Regal und Scheiß auf Mourning, Scheiß auf diese ganze verlorene, zerstörte Stadt. Er sollte den Bann brechen, den New Orleans noch über ihn hatte, und verduften, etwas, das er schon vor sechs Jahren hätte tun sollen, als alles sich rapide verschlechtert hatte. Er war einmal weggegangen, und er hätte einfach weitergehen sollen. Er hätte rennen sollen. Er hätte es schaffen können. Aber heute war nicht vor sechs Jahren. Wenn man angesichts eines Mordes flüchtete, des Mordes an einem Gott, würde das auf jede nur erdenkliche Art in den Augen aller möglichen Leute verdammt falsch aussehen.

Er fand den magischen Beutel unter seiner zerknitterten Kleidung von der Nacht zuvor und machte sich daran, den Inhalt zu durchwühlen, auf der Suche nach einem Mittel gegen seinen Kater oder einem Fluchtplan, je nachdem, auf welche Magie seine Finger zuerst stießen. Im nächsten Moment kündigte das Summen des hübschen pinken Handys, das Mandy, der Touristin, gehörte, eine neue Textnachricht an. Er kannte ihren Inhalt, noch bevor er sie las. Regal parkte unten auf der Straße und wartete auf ihn.

Er könnte irgendwo in die Karibik flüchten. Blaues Wasser und heißer weißer Sand. Rum und einheimische Mädchen und eine gemächliche, lange Talfahrt ins Vergessen. Geh nach Zihuatanejo, sagte er sich. Wie Andy Dufresne in Die Verurteilten. Allerdings war nicht einmal ein verlassener Strand mitten im Nichts weit genug weg, um Mourning zu entkommen. Auf dieser Seite des Grabes konnte sich Jude nirgends vor ihm verstecken.

Vielleicht nicht einmal auf der anderen Seite.

Regal sagte nichts, als Jude sich auf den Beifahrersitz schob, und wartete kaum, bis er die Tür geschlossen hatte, bevor sie Gas gab und stadteinwärts fuhr. Er suchte nach einer wirklich cleveren Bemerkung, aber er brauchte einfach noch ein paar Stunden Schlaf, bevor er irgendetwas auch nur halbwegs Geistreiches von sich geben konnte. Regal schien ebenfalls nicht in sonderlich gesprächiger Stimmung zu sein. Sie kaute an einem Daumennagel und fluchte über jede noch so kleine Verzögerung im Straßenverkehr.