Der Strom - Angela Krauß - E-Book

Der Strom E-Book

Angela Krauß

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Beschreibung

Es ist Sommer. Die Dichterin hält Mittagstisch an ihrem Platz neben dem Klavier, ihr Mäzen spielt Tennis, siebzehn Flugstunden weit weg, der Besitzer des französischen Restaurants bedient sie stets selbst. Die Oliven sind schwarz, fest und scharf. Dieser lustvolle Weltbezug steht im Gegensatz zu einer Existenz der Askese, zu der niemand Zutritt hat. Beide Lebensplätze – Tisch und Klause – befinden sich im rückwärtigen Viertel, jenem Stadtviertel, von dem es vor dreißig Jahren hieß: Die Russen sind fort. So wie die Dichterin hier Erinnerungs- und Zukunftspartikel einsammelt, bis es zu einer plötzlichen Partikelverdichtung kommt, so abrupt durchfährt sie eines Nachts ein unbekannter Strom, als sollte sie unter hohem Druck aus ihrem Körper vertrieben werden. Es ist an der Zeit, ihre Siebensachen zu packen.

In Angela Krauß` magischer Sprache entfaltet sich eine poetische Existenz, in der die Wirklichkeit vibriert – und der Traum ganz handfest erscheint.

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Seitenzahl: 65

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Angela Krauß

Der Strom

Suhrkamp

Der Strom

Eins

Es ist Sommer. Mein Mäzen spielt Tennis.

Ich halte Mittagstisch am Platz neben dem Klavier: la table de la poétesse. Die Oliven sind schwarz, fest und scharf. In La Jolla lebt mein Mäzen, Verehrer der Poesie, siebzehn Flugstunden weit weg. Ich suche die Essenz des Daseins, mehr muß er nicht von mir wissen. Er hat einen guten Aufschlag, mehr muß ich nicht von ihm wissen.

Das sind die Bedingungen. Wer jetzt zur Tür dieses kleinen, gediegenen Restaurants (drei Michelin-Sterne) hereintritt – ich hätte ihn im Blick aus der Tiefe des Raums, er mich ebenfalls –, mag auf diese Strenge nicht gefaßt sein. Ich wirke weicher, liebenswürdiger, als denke ich ans Küssen. Das ist Tarnung. Etliche frühere Leben habe ich in Höhlen verbracht. Das Licht war schwach, der Himmel fern, mein Körper zäh. Es ist an der Zeit, die Askese zu brechen. Auch wenn sie mir im Blut liegt, ich will sie bändigen. Ich bestelle fünf Gänge und dies jede Woche. Solange die Erde ihre Bahn nicht verläßt.

Vor dreißig Jahren faßte ich mit zwei Fingern den Zipfel der Tapete unter meiner Zimmerdecke und riß sie herunter, ich stieß das Fenster auf. Ich wollte fliegen. Der Mond stand über dem Bahnhofsgelände und beschien die Gerätewelt. Züge mit Kesselwaggons wurden auf die Abstellgleise geschoben, Wasserdampfwolken stiegen aus den Kesselöffnungen, aus der Stolowaja dampfte der Brodem. Es war ein unscheinbarer Eingang unter dem Lichtkegel der Straßenlampe, die Generäle schepperten mit Messern und Gabeln in den Hinterzimmern, die Soldaten patrouillierten vor der Kommandantura.

Monsieur le Patron, der dies in ein Restaurant verwandelte, bedient mich stets selbst. Er besitzt jene seltene Eleganz aus Respekt, Herzenswärme und Diskretion bis in die Bewegungen hinein, die sein Metier krönt und als nahezu ausgestorben betrachtet werden muß. Monsieur le Patron weiß, wie man lebt: wie in Frankreich. Er hatte es lange genug studiert im ersten Hotel der Stadt und wartete den rechten Zeitpunkt ab. Denn die Lebensänderung glückt nur zum rechten Zeitpunkt. Niemand kennt ihn, er liegt plötzlich in der Luft, und alles verlangt nach einer Tat. Ich riß die Tapete von den Wänden und stieß das Fenster auf. Nicht in jedes Leben legt die Weltgeschichte Kreuzungen solcher Dimension, und nicht jeder vermag sich im richtigen Moment in die richtige Richtung zu bewegen, bedacht und couragiert wie mein Patron. Was aber ist das Richtige, was war es, was wäre es gewesen! Monsieur streift lächelnd durch sein Restaurant und schließt die Augen.

Er schätzt die Kunst; mir scheint, es führt diese Menschen wie von selbst in meine Nähe. Als sei die Welt voller Seelenverwandter. Es handelt sich freilich um eine Fehlsichtigkeit, der keiner entgeht, sie verstärkt sich mit den Jahren, weshalb sich der Mensch beharrlich täuscht, was die Menschheit betrifft. Ein jeder ist Einladung für seinesgleichen, daraus ist das ganze Netz gesponnen. Irgendwo mittendrin sitze ich am Tisch der Poétesse, hoffend, daß es sich mir offenbart.

Ich bin geduldig aus Erfahrung. Der Mensch muß warten können. Heimlich, denn Warten gilt nichts. Einst hat es auch mich nach einer Tat verlangt, alle um mich herum handelten längst. Die Tat räumt augenblicklich aus dem Weg, was bremst. Doch das Gedicht steht inwendig raumfüllend da. Ich fühle es als einen atmenden Geist. Nichts, was mir geschieht, nichts, was sich ereignet, kann an ihm vorbei. Dieser Geist verleibt sich alles ein, Tag und Nacht, jahrein, jahraus. Dabei tut er so, als verlange er nichts, er möchte ignoriert werden wie ein vegetativ gesteuertes Organ. Ich verhalte mich also ruhig.

Ich darf eins nicht von ihm fordern: daß er erscheint. Das heißt: warten können. Vielleicht erscheint das Gedicht auch nie in diesem Leben, dann eben im nächsten. Wenn ich in diesem warten konnte. Monsieur le Patron streift mich mit seinem Lächeln, er wird diese letzten Konsequenzen nicht kennen. Dafür schenkt er mir seine ritterliche Empathie, die meine ganze vage Existenz umfaßt. Dies ist die kaum steigerbare Beziehung, die mir ein Mensch bieten kann. Ich weiß, sie erfordert wahre Reife und Format. Ich sollte sie nicht anders nennen als Liebe.

Es ist der Tisch neben dem Klavier: Energien fließen hier zusammen von allen Seiten des Raums, die anregend verwinkelt ausgreifen. Vom Eingang her nicht gleich überschaubar, führen sie in kleine Schluchten und Nischen, mehr angedeutete Räume, die ihre Verbindung zum Mittelpunkt nicht verlieren, der einen ganz kleinen Tanzplatz darstellen könnte, für ein einzelnes, in sich vertieftes Tangopaar, das sich dank dieser Raumsituation niemals konzentrisch eingekreist und angestarrt fühlen würde, eher schon wie von einer leicht bewegten Schleppe aus Aufmerksamkeit und Wohlgefallen umschwungen.

Die Lebenslage, die mich hierher geführt hat, sie ähnelt diesem Raum, ihre ausgreifenden Verwinkelungen reichen ins Unerreichbare. Dennoch verlieren sie sich nicht im Nichts, als sei jede Lebenslage, und sei sie schwindelerregend, gehalten in einem namenlosen Mittelpunkt.

Das Klavier, ist es in gutem Zustand? Wird es regelmäßig gespielt, vielleicht an bestimmten Tagen des Monats, oder hatte es eine große Vergangenheit und darf sich hier davon ausruhen? Wer weiß. Nicht jede Frage will eine Antwort. Ich schätze es gelegentlich, wenn die Dinge offenbleiben, ich unterlasse Nachforschungen. Die Dinge ringsum wollen manchmal vielleicht nicht gestört werden, während sie sich anordnen zu einer Komposition von Ereignissen, die das Gedicht an sich genannt werden kann. Es handelt sich dabei um nichts weniger als das Leben; ein jeder schreibt es am Tag und in der Nacht, es läßt sich in diesem Lebensgedicht herumgehen wie in einem Raum. Man mag in ihm spazieren wie in einem funkelnden vierdimensionalen Kaleidoskop, dem das Geheimnis der Symmetrien zugrunde liegt – ein Fall für den Lehrstuhl der reinen Mathematik!

Im Laufe des Lebens ist in mir die Ahnung unserer Einfalt gewachsen. Man beginnt ja immer mit dem Gegenteil; der Erstsemesterwahn hat sein Recht, zum Anfangen braucht es Hochmut, zum Aufhören Klarheit. Das lehrte mich meine Mutter. Einmal besuchten wir Monsieur le Patron. Sie hielt genau auf dem Tanzplatz inne und begann sich aufmerksam mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse zu drehen, um den Raum zu ergreifen. Sie fühlte sich unbeobachtet, wie immer. Dabei lächelte sie: was sie wahrnahm, fand ihre Zustimmung.

Mein Mäzen ist anwesend. Er leistet mir Gesellschaft, wovon niemand weiß. Vor dreißig Jahren stieß ich das Fenster auf, flog nach Westen, überquerte eine buttergelbe Wüste und bog kurz und scharf in Richtung Äquator ab. Über den Tennisplätzen des Campus von La Jolla stand der Vollmond, er stand sehr tief, ein leuchtender Ball über dem Netz, ein für die Stunde meiner Ankunft innehaltender Netzvolley genau über den zwei Seiten des Spiels. Ich war in der Mitte der Welt angekommen. Mein Mäzen, ich danke ihm, wenn mir das Lachsfilet von Monsieur le Patron auf der Zunge zergeht, begleitet vom Entzücken der Betrachtung, das dieser Wirbelpunkt des Raums, la table de la poétesse, mir beschert.

Ich hatte ihn schon bald gefunden, meinen Tisch, dabei ließ ich mich leiten wie meine Mutter. Mir ist nie entgangen, wie sie sich mit allen Poren einen Raum eratmet hat; es war ihr so wenig bewußt wie das Luftholen selbst. Sie hielt inne und hob gedankenverloren die Arme. Die langlebigsten Lektionen kommen von Menschen, auf die wir nicht mehr reagieren können. Sie hat es mir vorgeführt: Jeder Raum zielt auf den Körper, er berührt ihn kontaktlos, beide verbinden sich augenblicklich, jenseits des Verstandes. Raum und Körper sind eins. In lichten Momenten dringt diese verborgene Sensation zu einem durch, als plötzliche Erweckung, als erotischer Strom. Etwas Ekstatisches scheint im Gange zu sein. Es ist weiter nichts als das Lebendige. Man möchte tanzen, doch man denkt zuviel. So hat man schnell wieder vergessen, was das Lebendige eigentlich ist, wie es strömt, blitzt, glüht und klingt. Eine winzige Ablenkung reicht, und der Mensch erlischt, ohne es zu merken.