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Ein mysteriöser Mordfall erschüttert das bayerische Städtchen St. Florian: Gustav Tiegelmeier, Chef und Eigentümer eines renommierten Klosterhotels, wird tot in seinem Büro aufgefunden. Amy Craig, Münchner Kriminalhauptkommissarin mit indianischen Wurzeln, sieht sich mit einer makabren Inszenierung konfrontiert: Der tote Hotelier ist mit einer Mönchskutte bekleidet, sein brutal zugerichteter Körper weist die eingeritzten Bezeichnungen vierer Todsünden auf. Als wenige Tage später sein Sohn auf dieselbe schaurige Weise ermordet im Weinkeller des Hotels aufgefunden wird, ist Amy klar: Der Mörder befindet sich auf einem sorgfältig geplanten Rachefeldzug. Doch wer ist sein nächstes Opfer? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2016
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mit
Amy Craig
Für meine Eltern
Liebe Ele,
liebe Anna, Anni, Barbara und Gitti,
Ihr habt mich begleitet, motiviert und an mich geglaubt.
Ich danke Euch dafür.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Amy fuhr mit ihrem Auto durch das große, schwere Holztor, das mit alten schmiedeeisernen Beschlägen besetzt war. Das Tor war der einzige Durchgang in der Klostermauer, durch den man mit einem Fahrzeug zum Kloster und somit zum Hotel gelangen konnte. Die Mauer umringte das imposante Klostergebäude vollständig, das auf einem Hügel oberhalb des kleinen Dorfes St. Florian lag. Das Kloster St. Florian hatte dem später entstandenen Ort seinen Namen gegeben.
Amy hatte die große Anlage, die förmlich auf dem Hügel thronte, schon von Weitem gesehen. Sie wusste so gut wie nichts von diesem Ort, der in einem kleinen unbedeutenden Tal lag und einem das Gefühl vermittelte, nahezu am Ende der Welt zu sein. Dabei war er nur eine Autostunde von München entfernt.
Das ehemalige Kloster war heute ein renommiertes Hotel mit fünf Sternen. Dass sie als Kriminalhauptkommissarin am Abend an diesen Ort gerufen wurde, konnte nichts Gutes bedeuten. Und so war es auch.
Sie stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz vor dem Hoteleingang ab, stieg aus und ging auf die große gläserne Flügeltür zu, auf der in großen goldenen Buchstaben Hotel Kloster St. Florian und Familienbetrieb Tiegelmeier seit 1949 zu lesen war. Unter dem letzten Schriftzug leuchteten fünf goldene Sterne. Das Gebäude und die Klostermauer waren weiß gestrichen, ebenso wie die Rahmen der großen in klarer und präziser Ordnung angelegten Sprossenfenster. Die Fenster gaben der gewaltigen, sich auf drei Etagen auftürmenden Fassade eine gewisse Leichtigkeit. Das grobe Kopfsteinpflaster aus Natursteinen zwischen der Klostermauer und dem Gebäude war vermutlich so alt wie die gesamte Anlage. Abgesehen von den kleinen Grasbüscheln und anderem Unkraut, das wie überall unverwüstlich zwischen den Pflastersteinen wuchs, war ein großer Strauch, der links vom Holztor an der Klostermauer emporrankte, die einzige Grünpflanze, die zu sehen war.
Ein Page öffnete Amy die Flügeltür, hieß sie im Hotel Kloster St. Florian herzlich willkommen und wünschte ihr einen angenehmen Aufenthalt. Er fragte sie höflich, ob er sich um ihr Gepäck kümmern dürfe, was Amy ebenso freundlich für den Moment verneinte. Sie bedankte sich und betrat den Eingangsbereich des Hotels. Es war eine Art vorgelagertes Entree, nicht besonders groß, mit drei kleineren Tischen, an denen jeweils zwei Stühle standen, und einer kleinen Rezeption, die nicht besetzt war. Die Wände aus Natursteinen, der Boden aus Sandsteinplatten, die alten edlen Möbel und das dezente Licht vermittelten dem Gast bereits hier ein Gefühl von Harmonie und Wohnlichkeit. Allerdings kam auch die Gediegenheit des 5-Sterne-Standards bereits hier klar zum Ausdruck. Amy vermutete, dass dieser Bereich für wartende, ankommende oder abreisende Gäste vorgesehen war.
Auf einem schlichten roten Läufer, den nur an den seitlichen Rändern ein dezentes eingewebtes Muster säumte, ging sie weiter durch einen breiten Gang, der laut einem im Entree befindlichen Wegweiser zur eigentlichen Rezeption führte. Der Läufer bedeckte den Sandsteinplattenboden, der sich fortsetzte, und die Wände waren mit Halbsäulen besetzt, die ein Kreuzgewölbe trugen.
Amy war bereits jetzt von diesem Gebäude fasziniert und hätte es stundenlang erkunden können, wenn sie nicht wegen eines Verbrechens gerufen worden wäre. Am Ende des Gangs tat sich vor ihr eine beeindruckende großräumige Eingangshalle auf, in der sich die eigentliche Rezeption befand. Hier wurden die Halbsäulen von freistehenden Säulen abgelöst, die wiederum das sich fortsetzende Kreuzgewölbe trugen. Die Säulen übernahmen in der großen Halle geschickt die Funktion von Raumteilern. An der übrigen Decke rechts und links des Kreuzgewölbes waren mächtige tragende Holzbalken in einem Abstand von etwa einem Meter angebracht. Zwischen den Balken war die Decke mit dunklem Holz vertäfelt. Die Bodenplatten unterhalb des Kreuzgewölbes waren wie im Entree und im Gang aus hellem Sandstein. Den dunklen Parkettboden, der im Rest des Raumes verlegt war, zierten gemusterte Teppiche und Läufer, die in dem Rot des Läufers im Gang gehalten waren. Die Fenster ließen trotz ihrer Größe nicht genügend Licht in diesen weitläufigen Eingangsbereich. Stilsicher eingesetzte und in der Deckenvertäfelung versenkte Strahler und eine Unmenge an brennenden Kerzen glichen dies aus. Das fehlende Tageslicht empfand Amy nicht als störend. Im Gegenteil, die Strahler und die Kerzen gaben dem Raum ein warmes, angenehmes Licht. Es war ruhig in der Eingangshalle. An der Rezeption sah Amy einen Angestellten, der damit beschäftigt war, Papiere zu sortieren.
An die rechte Säulenreihe schloss sich ein Café mit einer Bar an. Kleine runde und eckige Tische mit gepolsterten Stühlen, Clubsesseln und Sitzbänken boten Platz für etwa einhundert Personen. Die Bar war zu diesem Zeitpunkt nahezu leer, und der Kellner vertrieb sich die Zeit damit, Gläser zu polieren. Weitere Sitzmöglichkeiten für die Gäste befanden sich links von der Säulenreihe in Form von Sitzgruppen aus Polstersesseln und Couchs. Von diesem Aufenthaltsbereich führten links von Amy drei Türen in separate Räume.
In einer der Polstergruppen saß eine junge bleiche Frau, die auf Amy einen verstörten Eindruck machte. Vermutlich war es die Mitarbeiterin des Hotels, die den Toten gefunden hatte. Dies war aus der Meldung des Beamten der hiesigen Polizeistation hervorgegangen. Zwei Sitzgruppen weiter sah Amy drei Männer, die sich leise unterhielten.
Vor der ersten Tür links von Amy stand ein uniformierter Polizeibeamter. Somit erübrigte sich ihr Weg quer durch die Halle zur Rezeption und sie ging direkt auf ihn zu. Sie vermutete, dass es sich um den Kollegen der hiesigen Ortspolizei namens Hannes Gruber handelte, der ihre Dienststelle über den Vorfall informiert hatte.
„Guten Abend. Herr Gruber, nehme ich an“, begrüßte Amy ihn.
„Jawohl, der bin ich, guten Abend“, antwortete er und bevor er fragen konnte, stellte Amy sich ihm vor.
„Amy Craig, Kriminalhauptkommissarin aus München, es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Gruber.“
„Ganz meinerseits.“ Hannes Gruber musterte Amy noch immer etwas überrascht. Nicht, dass Amy einem Paradiesvogel glich oder sich sonst durch irgendwelche auffälligen Accessoires in Szene setzte. Es war wohl vielmehr ihre geringe Körpergröße von einem Meter fünfzig, die noch dazu durch ihre sehr zierliche Figur gefühlt um mindestens zwei Zentimeter verringert wurde. Sie hatte ihr dichtes langes schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengebunden und hochgesteckt. Man musste Hannes Gruber zugutehalten, dass er mit seinen ein Meter und neunzig auf Amy hinuntersehen musste. Ein weiterer Umstand, der ihrer Körpergröße nicht zuträglich war. Hannes Gruber besaß eine füllige Statur und hatte graumeliertes kurzes und von Natur aus lockiges Haar. Er sah stets etwas unordentlich um seinen Kopf herum aus und das ständige Auf- und Absetzen der Polizeimütze wirbelte seine Locken zusätzlich durcheinander.
Amy kam direkt zur Sache.
„Wo ist die Leiche?“, fragte sie ihn. Der Ortspolizist öffnete die Tür, die sich in seinem Rücken befand.
„Hier drin, der Chef des Hotels, Gustav Tiegelmeier“, antwortete er kurz und knapp, ließ Amy vorbei und schloss die Tür wieder, als Amy den Raum betreten hatte.
Ein überdimensionaler Kristalllüster schwebte bedrohlich über dem Toten, der in der Mitte des Raumes auf dem Boden lag. Nicht, dass der Kronleuchter dem Toten noch etwas hätte anhaben können. Allerdings wären alle Tatortspuren zunichte gemacht, würde er von der Decke stürzen.
Amy trat neben den Toten. Er lag auf dem Rücken und war übel zugerichtet. Das Gesicht war von Schlägen gezeichnet. Am Hals konnte Amy Strangulationsmale erkennen, die vermutlich von einem Seil oder einer Schnur herrührten. Seine Bekleidung war augenscheinlich nicht sein tägliches Outfit. Er trug eine schwarze Mönchskutte, die bis an seine Fußknöchel reichte. Sie war in der Taille mit einem schwarzen Ledergürtel zusammengerafft. An den bloßen Füßen trug er Sandalen, Mönchssandalen, um genau zu sein. Im Brustbereich drang von innen Blut durch die Kutte, was auf weitere Verletzungen hinwies. Die Arme lagen ausgestreckt rechts und links neben dem Körper. Er hatte die Augen geschlossen und der Gesichtsausdruck war entspannt. Im direkten Umkreis des Toten konnte Amy keine Blutspuren sehen. Sie sah sich in dem Zimmer um. Alles schien an seinem Platz zu sein und Spuren eines Kampfes waren nicht vorhanden. Auf den ersten Blick konnte sie nirgends die Kleidung entdecken, die der Tote vermutlich vor der Tat getragen hatte.
Gustav Tiegelmeier war vor wenigen Tagen sechsundsechzig Jahre alt geworden und war neben der Tatsache, dass er Chef des Hotels war, auch dessen Besitzer. Er kam am 19. Juni 2015 in seinem Büro gewaltsam zu Tode. Die Tat geschah am frühen Abend. Eine Angestellte fand den Toten um neunzehn Uhr fünfundvierzig.
Amy war von den aus München angeforderten Beamten als Erste am Tatort. Sie sah sich genauer in dem Büro um, während sie auf die Gerichtsmedizinerin und die Spurensicherung wartete. Der Raum war dunkel und hatte etwas Bedrückendes. Bücherregale aus dunklem Eichenholz, die bis unter die Decke reichten, befanden sich an allen vier Wänden. An der Wand, die zur Außenfassade des Klosters gehörte, waren die Bücherregale elegant um zwei Fenster herum angebracht. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine Lücke von etwa drei Metern zwischen den Regalen. Schwere Eichenmöbel und Ledersessel, die auf einem ebenfalls dunklen Boden aus breiten Eichendielen standen, ließen in diesem Raum kaum Platz für viel Bewegung, geschweige denn eine freundliche Atmosphäre. Amy entdeckte kein persönliches Utensil wie zum Beispiel Familienfotos oder irgendwelche Erinnerungsstücke. Sie sah sich die riesigen Bücherregale genauer an, die bis auf wenige Lücken mit Büchern gefüllt waren. Den Einbänden nach zu urteilen waren viele ältere Exemplare darunter. Gerne hätte Amy den Toten gefragt, ob er alle diese Bücher gelesen hatte, zu spät. Der Schreibtisch war in dem Büro so positioniert, dass jeder Eintretende direkt auf ihn zuging. In dem Bereich zwischen Eingangstür und Schreibtisch lag der Tote, die Füße zeigten zur Tür. Hinter dem Kopf des Toten stand ein großes Kruzifix, das an den Schreibtisch gelehnt war. Es war zu vermuten, dass es dort nicht hingehörte. Amy blickte auf die Wand hinter dem Schreibtisch. Das Kruzifix musste dort zwischen den Regalen seinen eigentlichen Platz gehabt haben, sofern der Täter es nicht mitgebracht hatte. Dies war allerdings aufgrund der Größe und des Gewichts eher unwahrscheinlich. Sie ging näher an die Wand heran und entdeckte einen wuchtigen leeren Haken. Hier musste das Kruzifix gehangen haben.
Es klopfte an der Tür, die sich im gleichen Moment langsam öffnete, und der Ortspolizist kam herein.
„Entschuldigen Sie, Frau Craig, brauchen Sie mich noch?“
„Ja, ich würde gerne nachher noch mit Ihnen reden, wenn Sie Zeit haben. Ich denke, meine Kolleginnen und Kollegen aus München werden jeden Moment eintreffen, um die Spuren aufzunehmen. Das würde ich gerne noch abwarten.“ „Dann warte ich in der Eingangshalle auf Sie“, antwortete er und ein erstes vorsichtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Wenn Sie hinausgehen, Herr Gruber, sagen Sie bitte der jungen Frau, die den Toten gefunden hat und den übrigen möglichen Zeugen, dass ich gleich noch zu ihnen komme, danke.“
„Wird gemacht“, sagte er und verschwand wieder.
Nur wenige Minuten später trafen die Spurensicherung und die Gerichtsmedizinerin ein. Nach einer knappen, aber herzlichen Begrüßung nahmen sie ihre Arbeit auf. Amy interessierte sich besonders für die erste Einschätzung der Pathologin. Sie arbeiteten bereits seit einigen Jahren zusammen und Amy hatte sich immer auf ihre ersten Einschätzungen und ihre später folgenden detaillierten Berichte verlassen können. Mit ihren knapp zwanzig Dienstjahren gab es kaum noch etwas, was die Pathologin Lea Vogler noch nicht gesehen hatte, und zur Freude ihrer Kolleginnen und Kollegen blieb sie in jeder Situation die Ruhe selbst.
„Das meiste wirst du selber schon erkannt haben, Amy“, bemerkte die Pathologin. „Dich interessiert natürlich wie immer der Zeitpunkt des Todes.“ Sie blickte zu Amy auf, die ihre Vermutung mit einem ausgeprägten Nicken bestätigte. Nach der ersten Ansicht der Leiche drehte Lea Vogler den Toten auf die Seite. An dessen Hinterkopf zeigte sich eine blutende Wunde und auch am Rücken waren an der Kutte von innen her Blutspuren durchgedrungen.
„Kein schöner Tod, den der Herr erleiden musste, er musste einiges über sich ergehen lassen. Also hier meine erste Einschätzung. Der Tod ist vermutlich durch die Strangulation herbeigeführt worden. Die Wunde am Hinterkopf ist auf den ersten Blick nicht tief genug, als dass sie als Todesursache infrage käme. Alle übrigen Verletzungen, den Schlag auf den Kopf eingeschlossen, scheinen ihm vor der Strangulation beigebracht worden zu sein. Wichtig ist vielleicht noch, dass ich bisher noch keine Abwehrverletzungen erkennen konnte. Was die Ursache für die Blutspuren an der Kutte im Brust- und Rückenbereich angeht, dazu kann ich dir erst später etwas Genaueres sagen. Der Tote ist nach Eintritt des Todes nicht mehr bewegt worden, somit ist der Fundort auch der Tatort. Der Todeszeitpunkt dürfte zwischen halb sieben und halb acht liegen.“
„Vielen Dank, Lea, das ist schon mehr, als ich erwartet hatte.“
„Frau Craig, wenn Sie bitte einmal schauen wollen“, rief ein Kollege aus dem hinteren Teil des Raumes.
„Schick mir deinen Bericht bitte per Mail. Ich werde heute Nacht hier im Hotel bleiben“, bat Amy die Gerichtsmedizinerin und wandte sich dem Kollegen zu.
Dieser hatte eine Geheimtür entdeckt, die in einer der Regalwände versteckt war. Durch diese Tür gelangte man in einen angrenzenden fensterlosen Raum von etwa zwölf Quadratmetern Größe. Die Wände waren vollständig mit Holz vertäfelt, die Decke weiß gestrichen und der Boden war aus den gleichen Sandsteinplatten wie im Entree und im Gang. Ein kleiner einfacher Tisch mit einem Holzstuhl, ein unansehnlicher eintüriger Schrank und zwei kleine leere Bücherregale waren die gesamte Ausstattung. Im Vergleich zu den übrigen Möbeln, die Amy bereits gesehen hatte, sahen diese billig aus. In einer Ecke des Raumes lagen Kleidungsstücke auf dem Boden, auf denen Blutspuren zu erkennen waren. Vermutlich waren es die Kleider des Toten, die er vor der Tat getragen hatte. Amy öffnete den eintürigen Schrank. Bis auf zwei leere Kleiderbügel, die an einer Kleiderstange hingen, befand sich nichts darin. Sie ging die Wände entlang und klopfte die Vertäfelung ab. Sie konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Noch eine Geheimtür zu finden, wäre doch etwas gewesen.
„Bitte sehen Sie sich die Wände noch einmal genau an. Vielleicht ist auch in diesem Raum ein Geheimzugang versteckt“, bat sie die Kollegen. „Und die Kleidung geht mit ins Labor.“ Sie ging zurück in das Büro des Toten.
„Wir haben in dem versteckten Raum Kleider mit Blutspuren gefunden. Es werden wohl die sein, die der Tote vorher getragen hat“, informierte Amy die Gerichtsmedizinerin. „Sie gehen direkt mit ins Labor. Hast du noch etwas entdeckt?“
„Nein, tut mir leid, Amy, du wirst auf den Bericht warten müssen. Ich fange sofort an, sobald ich wieder in München bin“, versprach die Pathologin. Sie hatte ihre Arbeit am Tatort abgeschlossen und gab den Kollegen ein Zeichen, dass sie die Leiche mitnehmen konnten. Danach verließ sie das Büro.
Amy stand den Kollegen der Spurensicherung mehr im Weg, als dass sie nützlich war, und beschloss daher, sich das Büro später in Ruhe anzusehen, wenn es wieder frei war. Sie ging vor die Tür und ließ ihre Augen durch die große Halle schweifen auf der Suche nach Hannes Gruber. Er stand neben einer der Säulen.
„Herr Gruber“, rief Amy mit gedämpfter Stimme. Er hatte sie gehört und kam zu ihr.
„Herr Gruber, sagen Sie mir bitte, wer die Zeugen sind, die auf mich warten.“
„Die junge Frau ist Sandra Huber. Sie arbeitet als Serviceangestellte im Restaurant und hat die Leiche gefunden, wie ich Ihrem Kollegen in München bereits am Telefon sagte. Der Herr in dem dunklen Anzug dort drüben ist Hubertus Tiegelmeier, der Juniorchef des Hotels und Sohn des Toten. Die zwei anderen Herren, die bei ihm sitzen, sind von auswärts. Sie hatten eine Besprechung im Büro des Juniorchefs, als Sandra Huber den Toten fand. Das Büro des Juniorchefs liegt hinter der Rezeption, bis dorthin konnten sie ihre Schreie hören.“
„Während ich die Gespräche führe, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mit dem Rezeptionisten und dem Angestellten hinter der Bar reden würden. Fragen Sie, ob jemand von ihnen etwas gesehen oder gehört hat, vor allem zwischen halb sieben und halb acht Uhr. Wenn Sie dann noch Zeit haben, treffen wir uns in der Bar, einverstanden?“
„Selbstverständlich, gerne, Frau Craig.“
„Guten Abend Frau Huber, mein Name ist Amy Craig, Kriminalhauptkommissarin aus München“, sprach Amy die junge Frau mit ruhiger Stimme an. Sandra Huber blickte auf und erwiderte den Gruß. Sie war eine zierliche junge Frau, etwa Anfang zwanzig mit schulterlangen blonden Haaren. Sie war bleich und ihre blaugrauen Augen waren verweint und sahen leer aus. Der Schreck steckte ihr noch in den Gliedern und nervös nestelten ihre Finger an dem Saum der schwarzen Strickjacke herum, die sie trug.
„Meinen Sie, Sie können mir einige Fragen beantworten?“, fragte Amy. Die junge Frau nickte und kämpfte mit den Tränen.
„Wann haben Sie heute Ihren Dienst begonnen?“
„Um viertel vor drei bin ich gekommen und mein Dienst beginnt um drei, also um fünfzehn Uhr.“
„Was ist danach passiert?“
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als die Bürotür aufging und die Beamten die Leiche abtransportierten. Die junge Frau brach erneut in Tränen aus, und die drei Männer erhoben sich von ihren Plätzen. Es dauerte einige Minuten, bis sich Sandra Huber wieder beruhigt hatte und auf die Frage von Amy antworten konnte.
„Zuerst war alles wie immer. Ich habe bei den Vorbereitungen für das Abendessen geholfen und bin dann in die Küche gegangen. Ich hatte heute Chefdienst.“
„Was heißt Chefdienst?“
„Der Seniorchef kam jeden Tag außer sonntags gegen sechzehn Uhr in sein Büro, um zu arbeiten. Pünktlich um halb sieben muss der Chefdienst ihm das Abendessen servieren und pünktlich um viertel vor acht das Geschirr wieder abräumen. Heute war ich an der Reihe. Herr Tiegelmeier hasste Unpünktlichkeit und niemand hätte es gewagt, diese Zeiten nicht einzuhalten. Genau um Viertel vor acht klopfte ich an seine Bürotür, um das Tablett vom Abendessen zu holen. Er gab keine Antwort. Danach habe ich noch zwei weitere Male und etwas lauter geklopft. Als ich wieder nichts gehört habe, öffnete ich ganz vorsichtig die Tür. Zuerst habe ich nur das große Kreuz vor dem Schreibtisch gesehen und dann sah ich Herrn Tiegelmeier auf dem Boden liegen. Es war Blut in seinem Gesicht und er war so eigenartig gekleidet. Dann weiß ich nur noch, dass ich laut geschrien habe“, sie begann erneut zu weinen und konnte nicht weitersprechen. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und fuhr fort: „Benno kam zu mir und dann auch gleich der Juniorchef mit den zwei Herren. Sie fragten, was passiert sei, und ich konnte nur mit dem Finger auf die Tür zeigen. Der Juniorchef und die zwei Herren sind dann in das Büro gegangen. Benno ist bei mir geblieben, hat mich in den Arm genommen und versucht, mich zu beruhigen. Danach hat er mich zu diesem Sessel geführt. Seitdem sitze ich hier.“
„Ist Ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen, als Sie das Essen serviert haben? Oder war der Seniorchef anders als sonst?“
„Es war alles wie immer. Als ich das Essen bringen wollte, habe ich geklopft und er hat „Herein!“ gerufen. Ich habe das Tablett auf den Tisch bei den Ledersesseln gestellt und bin wieder gegangen. Er hat nie etwas gesagt, keinen Gruß und auch nicht danke.“
„Saß Herr Tiegelmeier hinter seinem Schreibtisch, als Sie das Essen gebracht haben?“
„Ja, er saß hinter dem Schreibtisch und blätterte in einem Aktenordner, den er vor sich liegen hatte.“
„War er allein in seinem Büro?“
„Ich habe niemand anderen gesehen.“
„Und im Büro selbst war dort etwas anders als sonst?“, hakte Amy weiter nach.
„Mir ist nichts aufgefallen. Das Kreuz hing noch an der Wand hinter dem Schreibtisch, als ich das Essen gebracht habe. Das weiß ich genau.“
„Noch eine letzte Frage, dann lasse ich Sie für heute in Ruhe. Ist Ihnen in der Eingangshalle etwas aufgefallen, als Sie die beiden Male zum Büro gegangen sind?“
Die junge Frau überlegte einen Moment.
„Nein, ich habe niemanden gesehen, außer Benno und Sepp. Wir haben im Moment nicht so viele Gäste. Um viertel vor acht sind die meisten von ihnen bereits im Restaurant.“
„Wer ist Sepp?“
„Das ist unser Oberkellner an der Bar, der Sepp Obermeier. Er fängt um sechzehn Uhr seinen Spätdienst an“, erklärte die junge Frau.
„Und wer ist Benno?“
„Benno ist an der Rezeption, er heißt Tischler mit Nachnamen und macht fast nur die Nachtschicht.“
„Vielen Dank, Frau Huber, Sie haben mir sehr geholfen. Eventuell komme ich morgen oder in den nächsten Tagen noch einmal auf Sie zu. Bitte sagen Sie im Moment noch niemandem etwas darüber, wie Sie Herrn Tiegelmeier aufgefunden haben. Gibt es jemanden, der Sie nach Hause begleiten kann?“
„Eine Kollegin von mir hat gleich Dienstschluss. Sie nimmt mich mit und bleibt heute bei mir. Ich werde nichts davon erzählen, Frau Craig“, versprach sie. Amy verabschiedete sich und wandte sich den Herren zu.
„Guten Abend meine Herren, Amy Craig ist mein Name und ich bin von der Kriminalpolizei München.“ Sie gab Herrn Tiegelmeier Junior die Hand und kondolierte ihm.
„Vielen Dank, Frau Craig.“ Er war aufgestanden und stellte Amy die anderen zwei Herren vor: „Das sind Herr Gerber und Herr Brandel, Hoteliers aus den benachbarten Gemeinden. Wir hatten eine Besprechung, als…“, ihm stockte der Atem. Einige Augenblicke später fuhr er fort: „… als wir die Schreie von Frau Huber hörten.“
„Setzen Sie sich doch bitte wieder, Herr Tiegelmeier. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn das möglich ist. Ist es Ihnen recht, wenn Ihre Geschäftspartner bei dem Gespräch anwesend sind?“
„Ja das ist kein Problem, fragen Sie bitte.“
„Wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal lebend gesehen?“
„Es war heute vor dem Mittag, kurz bevor er nach Hause fuhr. Den frühen Nachmittag hat mein Vater immer in dem Haus meiner Eltern unten im Dorf verbracht. Gegen sechzehn Uhr kam er dann zurück und arbeitete oft bis spät abends in seinem Büro.“
„Das hat er jeden Tag so gemacht, auch am Wochenende?“ Amy wollte sich von ihm die Aussage der jungen Frau bestätigen lassen.
„Bis auf den Sonntag hat er es jeden Tag so gemacht. Außer er wäre verreist gewesen, natürlich“, präzisierte er seine Angaben.
„Ist Ihnen heute oder in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? War Ihr Vater anders als sonst?“
„Nein, das kann ich nicht sagen. Er war wie immer, eher ruhiger.“
„Gab es einen Grund dafür, dass er ruhiger war?“
„Das Hotel ist zurzeit nicht voll ausgelastet. Der Juni ist immer ein ruhiger Monat, auch für uns.“
„Ist Ihnen im Hotel etwas merkwürdig erschienen? Sind Ihnen Personen aufgefallen, die Sie nicht kennen?“
„Unser Personal ist sehr aufmerksam, Frau Craig. Fremde Personen werden direkt angesprochen. In der Regel sind es anreisende Gäste. Mir ist nicht berichtet worden, dass etwas vorgefallen wäre.“
„Wie lange steht Ihr Personal täglich vor dem Hoteleingang?“
„Die Pagen stehen von acht Uhr am Morgen bis um acht Uhr am Abend dort.“
„Gab es Probleme mit jemandem vom Personal in der letzten Zeit?“
„Nein, abgesehen von kleineren Disputen, die es immer wieder gibt, war es ruhig.“
„Vielen Dank, das ist für heute schon alles. Ich möchte Sie bitten, nichts über die Auffindsituation Ihres Vaters nach außen dringen zu lassen, bitte auch nicht zu den Angestellten. Das gilt auch für Sie, Herr Brandel und Herr Gerber. Danke. Herr Tiegelmeier, mit Ihnen würde ich morgen gerne noch einmal sprechen. Ich werde hier im Hotel bleiben und wenn es Ihnen recht ist, im Laufe des Tages an der Rezeption nach Ihnen fragen.“ Damit beendete Amy das Gespräch und verließ die Herren nach einem zustimmenden Nicken von Hubertus Tiegelmeier.
Amy trat hinaus vor das Hotel und suchte in der bereits hereingebrochenen Dunkelheit ihr Auto. Es war eine klare Nacht und die frische Luft tat ihr gut. Sie holte ihre kleine Reisetasche, die sie immer mit den notwendigen Übernachtungsutensilien und einigen Kleidungsstücken bei sich hatte, und ihre Aktentasche mit ihrem Laptop. Da das Hotel nicht ausgebucht war, sollte es kein Problem sein, noch ein Zimmer zu bekommen. Es war schon spät und machte keinen Sinn, dass sie noch nach München zurückfuhr. Sie blieb noch einen Moment vor dem Hotel stehen. Die Sterne und der abnehmende Halbmond wirkten beruhigend und entspannend auf sie.
Wieder in der Eingangshalle ging sie zur Rezeption. Der Nachtportier begrüßte sie mit „Frau Kriminalhauptkommissarin“. Das musste er von Hannes Gruber gehört haben.
„Guten Abend Herr Tischler“, erwiderte Amy, und noch bevor sie weiterreden konnte, bot Benno Tischler an, jederzeit für Fragen zur Verfügung zu stehen, und versicherte, in den nächsten Tagen besonders aufmerksam zu sein. Als Amy wieder zu Wort kam, bedankte sie sich, bat um ein Zimmer, checkte ein und bekam ihren Zimmerschlüssel.
„Es ist ein besonders schönes Zimmer“, flüsterte der Portier ihr zu und wünschte ihr eine angenehme Nachtruhe.
Amy setzte sich in der Bar an einen der kleinen, runden Tische. Von Hannes Gruber war noch nichts zu sehen, aber er würde sicher bald auftauchen. Unterdessen kam der Oberkellner, stellte sich mit Sepp Obermeier vor und nahm Amys Bestellung entgegen. Sie brauchte als Erstes unbedingt einen starken Kaffee.
Auf ihrem Laptop waren noch keine Berichte der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin eingegangen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie wieder einmal zu ungeduldig war. In diesem Moment kam Hannes Gruber an ihren Tisch und setzte sich, nachdem Amy ihn dazu aufgefordert hatte.
„Sie sehen richtig munter aus, Herr Gruber. Noch keine Spur von Müdigkeit?“
„Bis jetzt geht es noch. Wahrscheinlich ist es das Adrenalin. Es ist mein erster Mordfall hier in St. Florian.“
„Was hat Ihre Befragung von Sepp Obermeier und Benno Tischler ergeben?“
„Nichts. Nach ihren Aussagen war alles wie immer. Der Seniorchef verhielt sich nicht anders als sonst. In der Eingangshalle war es ruhig und nur wenige Gäste waren unterwegs. Es hat niemand nach dem Seniorchef gefragt und dem Portier ist nicht aufgefallen, dass jemand das Büro betreten hat außer Sandra Huber. Fremde Personen haben sie in der Eingangshalle auch keine gesehen. Da muss man sich fast fragen, ob der Mörder unsichtbar war“, scherzte der Ortspolizist am Ende seiner Ausführungen.
„Die Befragung von Frau Huber und den drei Herren hat ebenfalls nichts ergeben. Sicher ist jedoch, dass jemand, und ich gehe mal davon aus, dass es kein Geist war, in das Büro des Seniorchefs gelangt ist und den Mord begangen hat. Aber bevor wir weiterreden, Herr Gruber, würde ich Ihnen gerne das Du anbieten, wenn Sie damit einverstanden sind. Nach meiner Erfahrung erleichtert es die Zusammenarbeit und die Kommunikation“, schlug Amy ihm ohne Umschweife vor und sah in das Gesicht eines etwas verdutzten Ortspolizisten.
„Danke, gerne, Frau Craig, ich meine Amy“, sagte er und fühlte sich ein wenig geehrt.
„Hannes, wie lange bist du schon Ortspolizist hier in St. Florian?“
„Jetzt am ersten Juli werden es fünfzehn Jahre“, antwortete er stolz.
„Das ist eine lange Zeit und gut für mich. Dann kannst du mir bestimmt einiges über die Familie Tiegelmeier erzählen, nehme ich an.“
„Das kann ich. Ich bin sogar in St. Florian geboren. Bis ich mit achtzehn Jahren zur Polizeischule gegangen bin, habe ich im Dorf gewohnt. Zurückgekommen bin ich vor fünfzehn Jahren, als ich die Stelle des Dorfpolizisten übernommen habe. Was möchtest du wissen?“
„Du kannst gerne etwas weiter ausholen. Umso besser kann ich mir ein Bild von dem Toten, seiner Familie und seinem Leben machen.“
Hannes überlegte einen Moment und begann zu erzählen: „Ich kannte bereits die Eltern des Toten. Sie waren ein liebenswürdiges und bescheidenes Ehepaar und führten das Hotel mit Hingabe und Herzblut. Das Personal schätzte besonders ihre Herzlichkeit und Offenheit und das Vertrauen, was sie ihnen entgegenbrachten. Dieses gute Arbeitsklima spürten natürlich auch die Gäste, und das Hotel lief bestens. Bei den Dorfbewohnern waren der Josef und seine Frau hoch angesehen und beliebt. Sie hatten zwei Söhne, den jüngeren Sohn Gustav und den Fritz, den älteren. Der Fritz kam vor gut dreißig Jahren bei einem Bergunfall ums Leben. Das war damals ein schwerer Schlag für den Josef und seine Frau gewesen. Er sollte eigentlich die Nachfolge von Josef antreten und hätte das Hotel sicher in seinem Sinne weitergeführt. Sie haben sich nie wirklich von diesem Schicksalsschlag erholt. Josef hat die Leitung des Hotels nur zwei Jahre nach dem tragischen Unfall an Gustav übertragen, ich glaube, es war im Jahr 1984. Von diesem Tag an, wehte ein anderer Wind im Hotel. Gustav war, obwohl er vorher nur wenig im Hotel mitgeholfen hatte, bekannt für seine Strenge, seinen Hochmut und seine Unbeherrschtheit. Das wurde mit der Übernahme der Leitung leider nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Für die Eltern war es schwer, mit ansehen zu müssen, wie er das Hotel führte und vor allem, wie er mit dem Personal umging. Josef und seine Frau versuchten ihn auf einen anderen, einen besseren Weg zu bringen. Doch sie merkten bald, dass sie keinen Einfluss auf ihn hatten. In meinen Augen haben sie damals das einzig Richtige getan. Sie zogen weg aus St. Florian und gingen nach Salzburg. Ihre Besuche in St. Florian wurden rasch weniger, bis man sie gar nicht mehr hier sah. Als Hotelchef wurde Gustav automatisch in den Gemeinderat gewählt. Die anschließende Politik und die Entscheidungen des Gemeinderates von St. Florian wurden von der Bevölkerung nur noch selten gutgeheißen. Jeder wusste, dass Gustav dafür verantwortlich war und nur seine eigenen Interessen durchsetzen wollte. Er wurde damals der Schattenbürgermeister genannt. Bei den Gästen im Hotel zeigte er sich immer von seiner charmanten Seite, aber das wirkte bei allen, die ihn kannten, stets aufgesetzt und falsch. Leider kann ich nichts Positives über ihn berichten, auch nicht was sein Familienleben angeht. Seine Frau Maria bekam ebenfalls seine Herrschsucht und seine Wutausbrüche zu spüren. Dennoch stand sie all die Jahre hinter ihm, das muss man sagen. Gemeinsam haben sie, wie du schon weißt, ihren Sohn Hubertus, einen zweiten Sohn, den Jakob, und ihre Tochter Brigitte. Brigitte ist seit acht Jahren eine verheiratete Harter. Sie hat dem Vater schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Das erfährt man hier alles beim Bäcker im Dorf und auf den Dorffesten wird auch immer gerne und viel über die Leute geredet, musst du wissen. Sie und ihr Mann haben zwei Kinder, den sechsjährigen Lukas und die vierjährige Lena Maria. Ihr Mann ist Architekt und hat mit der Hotelbranche nichts am Hut. Sie sind häufiger im Dorf bei der Mutter, aber nur, wenn Gustav nicht dort war. Jakob ist der jüngere Sohn von Gustav. Er schlägt vollkommen aus der Reihe. Im Ort und auch hier im Kloster ist er verschrien als Taugenichts und Weiberheld und hat im Hotel noch nie Hand angelegt. Aber das Geld aus dem Fenster werfen kann er gut. Drei Ausbildungen hat er angefangen und keine davon abgeschlossen. Ab und an kommt er noch kurz auf einen Besuch hierher, die meiste Zeit verbringt er allerdings in München, Salzburg oder Wien. Was er dort treibt, kann ich dir nicht sagen, man hört nur so einiges. Bleibt noch Hubertus. Er ist der Nachfolger von Gustav und außerordentlich um das Hotel bemüht. Mit ihm als Hotelchef wird sich wieder einiges zum Besseren wenden. Vor zwei Jahren hat Gustav ihm ganz offiziell einen Teil der Leitung abgetreten. Doch die Realität sah anders aus. Hubertus konnte nach wie vor nichts selbständig entscheiden oder veranlassen. Für alles musste er seinen Vater fragen und obendrein die ständigen Zurechtweisungen ertragen.“ Hannes hielt einen Moment inne.
„Das heißt, du kannst dir einige Personen vorstellen, die einen Grund gehabt hätten, dem Seniorchef nach dem Leben zu trachten?“
„Da müsste ich noch einmal in Ruhe nachdenken, Amy. Viele mochten ihn wirklich nicht, aber gerade umbringen und dann noch auf diese Art und Weise. Lass mich eine Nacht darüber schlafen. Möchtest du noch mehr wissen?“
„Nein, das ist gut so weit, danke Hannes. Aber wenn du Zeit und Lust hast, was weißt du über die Geschichte des Klosters? Das würde mich auch noch interessieren.“
„Du meinst die ganze Geschichte, von Anfang an?“
„Alles, was du weißt, gerne.“
Hannes trank noch einen Schluck Kaffee und zu Amys Erstaunen begann er seine Erzählung wirklich mit dem Gründungsjahr des Klosters.
„Im Jahr 1220 kam in unser bis dahin unberührtes Tal eine Gruppe von Mönchen und errichtete eine kleine Siedlung, dort, wo jetzt das Dorf steht. Sie begannen hier auf dem Hügel das erste Kloster zu bauen. Natürlich war es wesentlich kleiner als heute und sie errichteten neben dem Klostergebäude noch zwei weitere kleinere Gebäude. Man geht davon aus, dass sie eines davon als Werkstatt und das andere als Stall für ihr Vieh nutzten. Sie verließen ihre Siedlung nach der Fertigstellung des Klostergebäudes und zogen auf den Hügel. Aus alten Aufzeichnungen geht hervor, dass sie noch weitere zwei Jahre brauchten, bis das erste Kloster St. Florian inklusive der Kirche fertig gestellt war. Sie waren zunächst alleine hier im Tal, bis sich etwa 100 Jahre später einige Städter hier niederließen. In Anlehnung an das Kloster nannten die Siedler ihr neu entstandenes Dorf St. Florian. Die Mönche hatten das Land um den Hügel herum landwirtschaftlich nutzbar gemacht und Weiden für ihr Vieh eingezäunt. Dennoch blieb auch für die Siedler genug Land übrig. Durch die Siedlung wurde das Kloster bekannter und so stieg die Zahl der jungen Männer, die in den Orden eintreten wollten. Das Klostergebäude wurde schnell zu klein und es wurde ein neues errichtet. In der nun fast 800-jährigen Geschichte wurde das Hauptgebäude insgesamt viermal abgerissen und jeweils größer wieder aufgebaut. Das heutige vierflügelige Gebäude und die Kirche wurden nach zehnjähriger Bauzeit 1721 fertiggestellt. Dazu gehörten auch wie bei dem ersten Kloster Stallungen und eine große Werkstatt, die entlang der südlichen Mauer angebaut waren. Als der Konvent dann immer kleiner wurde und die Gebäude ungenutzt blieben, verfielen sie mit den Jahren. Der Vorgänger des letzten Abts hat sie dann abreißen lassen. Die Klostermauer entstand bereits direkt nach dem zweiten Bau. Da mit den Siedlern auch vermehrt Fremde in das Tal kamen, wollten sich die Mönche mit ihr vor Dieben und Überfällen schützen. Die Brüder lebten von den Erträgen aus ihrer Viehzucht und der Landwirtschaft. Als das Dorf größer wurde, verkauften sie die überschüssigen Erträge an die Bewohner. Später übernahmen sie den Schulunterricht für die Kinder aus dem Dorf und natürlich auch alle priesterlichen Aufgaben für die Bürger von St. Florian. Alles gegen Bezahlung versteht sich, denn anders als bei anderen Männerorden werden die einzelnen Klöster der Benediktiner autonom geführt. Die Mönche müssen für ihren Unterhalt selber aufkommen und erhalten keine regelmäßige Unterstützung durch eine übergeordnete Benediktinerorganisation. Somit war die Entstehung des Dorfes für die Mönche von St. Florian ein Segen, weil es ihnen ihre Einnahmen sicherte. Wie bei fast allen anderen Klöstern auch ging die Zahl der Mönche in St. Florian gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zurück. Die alten Mönche starben und der Nachwuchs blieb aus. Waren anfangs noch Rücklagen aus den guten Jahren vorhanden, wurde die Überalterung bald zu einem existenziellen Problem für die Mönche. Aus diesem Grund veräußerten sie als Erstes ihre Ländereien an die Landwirte im Dorf. Von dem Geld, das sie dafür bekamen, konnten sie einige Jahre leben. Um dauerhafte und regelmäßige Einkünfte zu sichern, verpachteten sie 1930 drei Flügel des Hauptgebäudes. Durch den Rückgang der Eintritte in den Orden stand dieser Teil des Gebäudes bereits leer. Ein Städter hatte die erste Pacht übernommen und richtete dort ein Erholungsheim für Kinder ein. Das Heim lief wohl nie wirklich gut und wurde bereits 1938 wieder geschlossen. Danach blieben die drei Flügel für mehrere Jahre ungenutzt. Für die Mönche war dies eine schwierige Zeit in der sie von den Dorfbewohnern unterstützt wurden, obwohl diese während des Krieges auch nicht viel hatten. 1949 hat Josef Tiegelmeier die Pacht übernommen und den Mönchen zwanzig Jahre später die drei Gebäudeflügel abgekauft. Innerhalb von nur zwei Jahren war der Umbau abgeschlossen und das Hotel wurde 1951 eröffnet. In dem Vertrag wurde verankert, dass die historischen Bauelemente nicht zerstört werden durften. Dazu gehören zum Beispiel die Säulen mit den Kreuzgewölben, die alten Sandsteinböden, die Holzböden und die historischen Decken. Wände durften im Gebäude versetzt oder herausgenommen werden, die Gebäudehülle war allerdings auch von allen Veränderungen ausgeschlossen. Das Hotel florierte von Beginn an, hat mittlerweile fünf Sterne und ist über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Josef Tiegelmeier hat mit den Mönchen gelebt. Gustav Tiegelmeier hat, wie sollte es auch anders sein, gegen die Mönche gelebt. Mitte 2008 wurde den Mönchen nach einem Beschluss des Gemeinderats der Friedhof weggenommen. Der Friedhof lag im Innenhof des Klosters und der Innenhof wurde gemäß diesem Beschluss dem Hotel zugesprochen. Eine üble Sache damals. Das ganze Dorf war entrüstet. Nur kurze Zeit später stimmten die Mönche dem Verkauf des letzten Flügels, des Ostflügels zu. Noch bevor der Kaufvertrag unterschrieben war, siedelten die letzten sechs Brüder Ende des gleichen Jahres um in das Kloster St. Benedikt. Dies, obwohl im Vertrag das Wohnrecht auf Lebenszeit für die Mönche verankert war. Doch in diesem Fall war es die Entscheidung der Mönche gewesen und es war somit rechtskräftig. Gustav hatte sie regelrecht hinausgetrieben und seinem schlechten Ruf einmal mehr alle Ehre gemacht. Für die Dorfbevölkerung war das Kloster ohne Mönche fast nicht vorstellbar und wenn Gustav bis zu dem Zeitpunkt überhaupt noch Sympathien gehabt hatte, waren sie damit endgültig verspielt. Als die Mönche gegangen waren, brauchte Gustav die Umbaupläne nur noch aus seiner Schublade zu ziehen. Er hatte auf diesen Tag hingearbeitet und schon alles vorbereitet. Die gesamten Umbauarbeiten im Ostflügel haben nicht einmal ein Jahr gedauert. Ich habe die Mönche selber noch gekannt, also nur vom Sehen. Zwar bin ich nie in die Klosterkirche gegangen, aber als Kind habe ich sie ab und an bei ihren Einkäufen im Dorf gesehen. Die letzten Jahre, bevor sie nach St. Benedikt gegangen sind, hat man sie aber nur noch sehr selten im Dorf angetroffen.“
Hannes machte eine Pause und trank von seinem Kaffee.
„Da bin ich aber wirklich beeindruckt, Hannes. Wenn ich das im Internet hätte recherchieren müssen, hätte ich deutlich länger dafür gebraucht, ich danke dir. Die Geschichten dieser alten Gebäude sind immer wieder faszinierend, wie die Gebäude selbst. Manchmal wünschte ich mir, die Mauern könnten erzählen, was alles in ihnen passiert ist“, sagte Amy etwas nachdenklich.
„Ja, da kann ich dir nur zustimmen. Ich habe mich vor einigen Jahren intensiv mit der Geschichte des Klosters befasst und es ist tatsächlich noch etwas hängen geblieben, ich bin selber erstaunt“, freute sich Hannes über das Lob von Amy.
Einen Moment saßen sie beieinander, ohne dass jemand etwas sagte. Amy hatte sich das Erzählte noch einmal durch den Kopf gehen lassen und brach das Schweigen.
„Es scheint ja wirklich niemanden zu geben, dem der Seniorchef fehlen wird, oder kennst du jemanden, von seiner Ehefrau einmal abgesehen?“
„Da hast du recht, ich kenne niemanden. Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Erleichterung wirst du schon in den nächsten Tagen beim Personal feststellen können, wenn die Mitarbeitenden den ersten Schock überwunden haben. Aber auch in der Gemeinde wird ihm keiner eine Träne nachweinen und vermutlich auch viele seiner sogenannten Geschäftspartner nicht. Für den Hubertus freut es mich. Er hat den Charakter von seinem Großvater geerbt und wird wieder Harmonie und Menschlichkeit in diese Mauern bringen, das ist gut so.“
„Wahrscheinlich werde ich noch einiges mehr hören, wenn ich mit den Angestellten rede.“
„Du solltest mit dem Sepp reden, er ist schon mehr als fünfundzwanzig Jahre im Hotel. Als Oberkellner hinter der Bar hört er so einiges und mancher schüttet ihm nach einigen Gläsern sein Herz aus.“
Amy spürte schon längere Zeit, dass sie beobachtet und belauscht wurden. Sie ließ absichtlich ihren Kaffeelöffel auf den Boden fallen und versuchte etwas zu erkennen, als sie sich nach dem Löffel bückte und den Blick dabei nach hinten werfen konnte. Gerade hatte Hannes ihn erwähnt und schon war er da, Sepp, der Oberkellner. Der hatte also seine Ohren auch dort, wo ihm kein Gesprächspartner gegenübersaß. Gut zu wissen, dachte Amy.
Ihr Laptop meldete in diesem Moment den Eingang einer Nachricht. Amy sah nach und fand die ersten Ergebnisse der Spurensicherung und von Lea Vogler.
„Die ersten Ergebnisse aus München sind da, Hannes. Die kann ich dir aber leider hier nicht mitteilen, da jemand hinter der Säule steht und uns belauscht“, sagte Amy bewusst laut und sah in das überraschte Gesicht von Hannes, der sich instinktiv zu allen Seiten hin umsah, aber niemanden ausmachen konnte. Kaum hatte Amy ihren Satz beendet, hörte sie Schritte, die sich für ihre Ohren nicht leise genug von der etwa fünf Meter hinter ihr stehenden Säule entfernten.
„Jetzt ist der Lauscher weg“, sagte sie schmunzelnd zu Hannes.
Amy hatte auf dem Bildschirm ihres Laptops die bereits weit fortgeschrittene Zeit gesehen.
„Hannes, es ist schon nach Mitternacht. Ich glaube, die Ergebnisse sehen wir uns an, wenn wir wach und ausgeschlafen sind.“
„Ja das ist wohl besser. Jetzt merke ich auch, dass ich müde werde“, antwortete Hannes und musste im gleichen Moment gähnen. Es war ein langer Tag gewesen.
Amy saß in ihrem Bett und hätte nicht einschlafen können, bevor sie die Resultate aus München nicht wenigstens überflogen hatte.
Die Aussagen zum Tathergang brachten zunächst keine großen Überraschungen. Gustav Tiegelmeier saß auf seinem Schreibtischstuhl, als er einen Schlag auf den Hinterkopf bekam. Blutspuren an der Rückenlehne seines Schreibtischstuhls und an seiner normalen Kleidung belegten dies. Vermutlich wurde durch diesen Schlag eine kurze Bewusstlosigkeit herbeigeführt. Womit der Schlag ausgeführt wurde, war noch unklar. Die Form und Größe der Wunde sowie kleine Holzsplitter darin ließen auf einen kantigen hölzernen Gegenstand schließen. Dem Opfer wurde danach ein Mundknebel angelegt, der zu Druckstellen und Rissen in den Mundwinkeln geführt hatte. Nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war Gustav Tiegelmeier die Schritte bis vor den Schreibtisch selbständig gegangen. Dafür sprach das Fehlen von Schleifspuren auf dem Boden. Zeitgleich waren ihm die Faustschläge in sein Gesicht zugefügt worden, die ihn zu Boden warfen. Sturzmarken an der rechten Schulter, dem rechten Ellenbogen und der rechten Hüftseite belegten dies. Bei dem Sturz schlug er mit dem Kopf auf dem Boden auf, was zu einer erneuten Bewusstlosigkeit geführt hatte. Auf dem Boden liegend wurden ihm seine Kleider ausgezogen. Um dies zu erleichtern, hatte der Täter sämtliche Kleidungsstücke der Länge nach aufgeschnitten. Er hatte dafür die Schere vom Schreibtisch benutzt, an der noch einzelne Faserspuren sichergestellt werden konnten. Auf die entblößte Brust hatte der Täter mit einem Skalpell oder einem sehr scharfen Messer die Worte „Superbia“ und „Gula“ eingeritzt.
Amy las die Begriffe noch einmal und im gleichen Moment lief vor ihren Augen ein Film ab, der einen ihrer früheren Fälle betraf. Die sieben Todsünden – und SUPERBIA und GULA waren zwei davon. Amy schob den Gedanken beiseite und las weiter.
Auf dem Rücken waren auf gleiche Weise die Worte AVARITIA und IRA tief in die Haut geritzt. Lea Vogler ging davon aus, dass das Opfer das Bewusstsein nicht wiedererlangt hatte und somit diese Verletzungen nicht bewusst erleiden musste. Danach wurden dem Opfer die Mönchskutte und die Sandalen angezogen sowie der Gürtel umgeschnallt. Durch die anschließende Strangulation wurde der Tod von Gustav Tiegelmeier herbeigeführt. Für die Strangulation hatte der Täter ein Hanfseil mit etwa einem Zentimeter Durchmesser benutzt, was Faserspuren in den Wunden am Hals belegten. Der Körper des Toten wurde anschließend in die Position gebracht, in der er aufgefunden wurde. Der Todeszeitpunkt lag nach Berücksichtigung aller Ergebnisse zwischen neunzehn Uhr fünfzehn und neunzehn Uhr dreißig. Zwischen dem Schlag auf den Hinterkopf und der Strangulation lag eine Zeitspanne von mindestens zwanzig Minuten. An den Kleidungsstücken und am Körper des Toten hatte Lea keine fremden DNA-Spuren gefunden. Auch in unmittelbarer Nähe des Toten konnten keine Beweismittel sichergestellt werden.
Die vollumfängliche Auswertung aller Spuren aus dem Büro und dem hinteren kleinen Raum durch die Spurensicherung war noch nicht abgeschlossen. Der entsprechende Bericht würde folgen.
Amy atmete tief durch. In ihrem früheren Fall hatte ein, wie sich später herausstellte, schizophrener junger Mann für jede der sieben Todsünden, die er bewusst begangen hatte, aus einem religiösen Wahn heraus als Akt der Buße einen Menschen umgebracht. Amy suchte in ihrem Laptop die Unterlagen zu diesem Fall und hatte sie schnell gefunden. In ihren persönlichen Aufzeichnungen fand sie die Ergebnisse ihrer damaligen Recherchen zu den sieben Todsünden.
SUPERBIA für Hochmut, Eitelkeit und Übermut
GULA für Völlerei, Maßlosigkeit und Selbstsucht
AVARITIA für Geiz und Habgier
IRA für Zorn, Wut und Rachsucht
LUXURIA für Wollust, Genusssucht, Ausschweifung und Begehren
INVIDIA für Neid, Eifersucht und Missgunst
ACEDIA für Faulheit, Ignoranz, Feigheit und Trägheit des Herzens
Amy hatte sich seinerzeit intensiv mit diesem Thema beschäftigt und viel darüber gelesen. Neben dem Begriff der Todsünden, den die Theologie ablehnte, war der Begriff Hauptsünden, vor allem durch die katholische Kirche, eine gängige Bezeichnung. Der Ursprung lag im vierten Jahrhundert, als acht negative Eigenschaften oder Laster benannt wurden, denen Mönche verfielen. Aus den negativen Eigenschaften entwickelten sich die Haupt- oder Todsünden, wobei diese sich in der Zusammenstellung über die Jahre hinweg geändert hatten. Die Schwere der Sünde wurde später davon abhängig gemacht, ob sie bei klarem Verstand und in voller Absicht begangen worden war.
Für Amy war klar, dass ihr Täter die Bezeichnung Todsünde bevorzugte. Gustav Tiegelmeier hatte vermutlich in den Augen des Mörders die Sünden begangen, die er ihm in die Haut eingeritzt hatte, und war am Ende mit dem Tod bestraft worden.
Obwohl die Zeit mittlerweile bis weit nach Mitternacht fortgeschritten war, verspürte Amy nicht einmal einen Hauch von Müdigkeit. Ihr gingen zu viele Gedanken durch den Kopf.
Die Todsünden zusammen mit dem Mönchsgewand, den Mönchssandalen und dem großen Kreuz, das an den Schreibtisch gelehnt war, ließen den Fall in einem anderen Licht erscheinen. Ein religiöser Hintergrund und ein Täter, der sich als Rächer sah, rückten plötzlich an die erste Stelle. Ohne die eingeritzten Todsünden hätte sie nicht ausgeschlossen, dass der Täter möglicherweise eine falsche Fährte legen wollte. Aber aufgrund der neuen Fakten war sie sich sicher, diese Überlegung ausschließen zu können.
Als Erstes musste sie sich bis ins letzte Detail mit der Geschichte des Klosters und der Rolle von Gustav Tiegelmeier in dem jüngeren Teil dieser Geschichte befassen. Dazu gehörten auch die letzten sechs Mönche von St. Florian. Hannes hatte während seiner Ausführungen bereits deutlich gemacht, dass der Tote keine rühmliche Rolle im Zusammenleben mit den Mönchen gespielt haben musste.
Amy öffnete die Augen und brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Irgendwann musste sie wohl doch eingeschlafen sein. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war sieben, draußen war es bereits hell und es schien ein sonniger Tag zu werden. Sie fühlte sich ausgeruht und fit, trotz der kurzen Nacht. Der Balkon an ihrem Zimmer und die Kaffeemaschine, die auf dem kleinen Sideboard stand, waren genau das, was sie jetzt brauchte. Sie zog sich ihren Jogginganzug an, ließ sich eine Tasse Kaffee heraus, stopfte sich ihre kleine Pfeife und setzte sich auf einen der zwei Stühle, die auf dem Balkon standen. Zwischen den Stühlen stand ein kleiner Tisch für ihre Kaffeetasse und den Aschenbecher. Der Balkon lag zum Innenhof hinaus. Jetzt sah Amy zum ersten Mal die enormen Ausmaße des Klostergebäudes. Es war im Rechteck gebaut und die einzelnen Flügel waren sicher zwischen achtzig und einhundertzwanzig Meter lang. Nord- und Südflügel waren länger als der Ost- und Westflügel. Einmal mehr war Amy tief beeindruckt von den Leistungen der Baumeister in der damaligen Zeit. Neben dem Erdgeschoss hatte das Kloster zwei weitere Etagen, in denen ausschließlich Gästezimmer untergebracht waren. Wie die Zellen der Mönche lagen diese zum Innenhof. Die breiten hellen Gänge zu den Zimmern befanden sich außen und erlaubten in der zweiten Etage die Sicht über die Klostermauer hinweg in das Tal und auf das Dorf. Diese Aussicht konnten auch die Gäste genießen, die ihre Zimmer in den Erkern des zweiten Stocks hatten. Die Erker waren zur Erreichung der Symmetrie des gesamten Gebäudes an drei der äußeren Ecken angebaut worden. Sie hoben sich gleichermaßen von den Längsflügeln ab wie die Kirche.
Nach der sternenklaren Nacht war es etwas kühl. Der Innenhof lag noch im Schatten, aber bald schon würde die Sonne hoch genug stehen, um ihn zu erwärmen. Amy erinnerte sich an Hannes’ Ausführungen. Sie sah über die Balkonbrüstung in den Innenhof hinunter. Wo bis vor wenigen Jahren noch die Gräber der verstorbenen Mönche waren, befanden sich heute ein gepflegter Rasen und akkurat angelegte Blumenbeete. Auf schmalen Wegen konnte man durch die Anlage gehen und auf kleinen Bänken ausruhen.
Amy hatte ihr Zimmer in der ersten Etage im Nordflügel über der Rezeption. Gegenüber, im Erdgeschoss des Südflügels, befand sich ein Zugang zum Innenhof. Ein kurzer schmaler Weg führte von dort aus zu einem großen Kräuterbeet. Sie versuchte sich zu orientieren. Aber eigentlich lag es auf der Hand, dass sich im Erdgeschoss des Südflügels die Küche befinden musste. Im unteren Geschoss des Westflügels war das Restaurant untergebracht, und der Serviceraum lag im Übergang vom West- in den Südflügel. Von ihm aus hatten die Kellner direkten Zugang in die Küche. Amy lehnte sich noch etwas weiter über die Balkonbrüstung und sah, dass in der Mitte der übrigen Gebäudeflügel auch jeweils eine Tür den Zugang zum Innenhof ermöglichte. Absolute Symmetrie eben, dachte sie. Genüsslich trank sie ihren Kaffee und rauchte ihre Pfeife. Das brauchte sie jetzt, um gut in den Tag zu starten. Danach konnte fast alles passieren.
Nach einer ausgedehnten Dusche zog Amy sich an und verließ ihr Zimmer. Jetzt bei Tageslicht konnte sie sich die Flure genauer ansehen. Die Wände waren wie die Außenmauern weiß gestrichen und der mit breiten weichen Läufern bedeckte Boden war aus rötlichen Sandsteinplatten. Zwischen den einzelnen Zimmertüren schmückten historische Schränke und Vitrinen die langen Gänge. Auf den Fensterbänken waren wie in der Eingangshalle dicke weiße Kerzen abgestellt, die in der vergangenen Nacht gebrannt hatten, als Amy auf ihr Zimmer gegangen war. Über eine breite Treppe, die sich neben dem Nord-Ost-Erker befand, gelangte Amy in das Erdgeschoss. Sie ging einige Schritte durch den Nordflügel, der in den Aufenthaltsbereich mit den Polstermöbeln überging, und erreichte die Eingangshalle. Es war sehr ruhig im Hotel. Nicht ein Gast war ihr bisher begegnet. Der Nachtportier schien seinen Dienst beendet zu haben. Eine junge Frau stand hinter der Rezeption und wünschte Amy einen guten Morgen. Amy erwiderte den Gruß und ging weiter in Richtung Restaurant. Es waren nur drei Tische mit Gästen besetzt und ein Kellner erklärte Amy, dass die Tischwahl am Morgen frei sei. Sie setzte sich an den Tisch in der äußersten südwestlichen Ecke des Speisesaals direkt am Fenster. Von dort aus konnte sie den ganzen Saal überblicken. Sie liebte es, Menschen zu beobachten und ihre Verhaltensweisen zu studieren. Der Speisesaal nahm beinahe die gesamte Länge des Westflügels ein. Bei den Umbauarbeiten waren alle Zwischenwände entfernt und der Flur von der Außen- auf die Innenseite verlegt worden. Durch die Fenster, die das Restaurant hell und freundlich machten, blickten die Gäste in den Klosterhof und auf die Klostermauer. An der Gipsdecke, die mit Ornamenten verziert war, hingen zwölf Kristalllüster, die allerdings nicht so bedrohlich wirkten wie der im Büro des Seniorchefs. Auf dem roten Teppichboden standen rechteckige, weiß eingedeckte Tische. Die Polster der Stühle waren in dem gleichen Rot gehalten wie der Teppichboden. Auf die Wände war Strukturputz aufgetragen, der weiß gestrichen war. In gleichmäßigen Abständen angebrachte Wandleuchten, die dem Design der Lüster entsprachen, waren der einzige Wandschmuck.
Der Kellner brachte Amy den Kaffee. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, stand sie auf. Nur wenige Meter von ihrem Tisch entfernt befand sich der Durchgang in den angrenzenden Raum, in dem das Frühstücksbuffet aufgebaut war. Der Raum lag direkt gegenüber vom Serviceraum. Auf Tischen, die an den Wänden standen, waren die unterschiedlichsten Köstlichkeiten angerichtet. Eine zweiflügelige Glastür unterbrach das Buffet. Interessiert sah Amy durch eine der Glastüren und entdeckte einen großen Saal. Er lag im Süd-West-Erker und war bestückt mit großen runden Tischen für jeweils mindestens zehn Personen. Auch diese Tische waren weiß eingedeckt und boten Platz für weitere hundert Gäste. Amy vermutete, dass dort Bankette, Familienfeiern oder große Gesellschaften abgehalten wurden. Der Raum war sehr stilvoll eingerichtet und die vielen Fenster des Erkers durchfluteten ihn mit Tageslicht. Josef Tiegelmeier hatte bei den Umbauarbeiten 1949 wirklich an alles gedacht und die Räumlichkeiten optimal genutzt.
Das laute Knurren ihres Magens erinnerte sie daran, dass sie eigentlich frühstücken wollte. Hunger hatte sie ausreichend, weil das Abendessen am Tag zuvor ausgefallen war. Zunächst ging sie an den Tischen vorbei, um zu sehen, was es alles gab. Sie hatte selten ein so reich bestücktes Frühstücksbuffet gesehen. Alleine die verschiedenen Brotsorten erinnerten eher an eine Bäckerei als an ein Buffet. Frisches Obst und Gemüse, Müslizutaten und die Auswahl an Käse und Aufschnitt machten einem die Wahl nicht leicht. Außerdem gab es frische Kräuter, die sicher aus dem Beet im Innenhof stammten. Wem das noch immer nicht ausreichte, der bestellte sich aus einer Frühstückskarte, die alleine auf zwei Seiten nur Ei-Variationen enthielt, kleine warme Gerichte. Das Restaurant hatte sich in der Zwischenzeit gut gefüllt. Es war ein gemischtes Publikum. Alle Altersklassen waren vertreten, Familien mit kleinen Kindern, ältere und jüngere Paare und Alleinreisende. Amy hatte sich von allem nur ein bisschen aufgetan, um möglichst viel probieren zu können. Dennoch hatte sie bald so viel gegessen, dass sie kapitulieren musste. Während sie langsam ihre letzte Tasse Kaffee trankt, beobachtete sie das Hotelpersonal. Trotz der wenigen Gäste hatte sie mittlerweile zwölf verschiedene Personen ausgemacht, die die Gäste bedienten. Höflich, aufmerksam und freundlich nahmen sie jeden Wunsch entgegen. Ihnen war nicht anzumerken, dass ihr Chef am Vorabend gewaltsam zu Tode gekommen war. Drei Tische entfernt von Amy hatte eine Dame den Kellner gefragt, was am Tag zuvor passiert sei. Professionell verwies der junge Mann auf seine fehlende Kompetenz, darüber Auskunft zu geben, entschuldigte sich und war dabei so charmant, dass er eine verständnisvolle Dame zurückließ. Auch da zeigen sich die fünf Sterne, dachte Amy.
Ihr erster Weg nach dem Frühstück führte sie zur Rezeption. Sie fragte nach dem Hotelmanager, da sie davon ausging, dass der Juniorchef noch nicht im Haus war. Nur wenige Augenblicke später stellte sich ihr der Hotelmanager Peter Fischer vor. Ein groß gewachsener, schlanker, noch recht junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren stand vor ihr. Die dunkelbraunen Augen sahen Amy durch eine Brille mit extrem dicken Gläsern an. Der anthrazitfarbene Anzug kleidete ihn sehr gut, und eine rote Krawatte sorgte für einen auflockernden Farbtupfer. Peter Fischer wusste bereits, was geschehen war und war über die Anwesenheit von Amy informiert worden, womit sich die Vorstellung von Amys Seite erübrigte.
„Herr Fischer, ich habe eine Bitte an Sie. Ich werde die nächsten Tage hier im Hotel bleiben. Könnten Sie mir einen Raum zur Verfügung stellen, den ich während der Zeit meiner Ermittlungen als Büro nutzen kann? Es würde mir vieles erleichtern.“
„Das lässt sich bestimmt einrichten, Frau Craig. Was benötigen Sie an Mobiliar?“
„Einen Schreibtisch oder einen einfachen Tisch mit einem Stuhl und zusätzlich zwei Stühle mit einem kleinen Tisch, das wäre schon alles.“
„Spätestens in zwei Stunden steht der Raum für Sie bereit“, versicherte der Hotelmanager.