Der Sturm - Jane Harper - E-Book + Hörbuch

Der Sturm Hörbuch

Jane Harper

5,0

Beschreibung

»Ein Meisterwerk.« Booklist.

Ein Sturm hat Kierans Lebens vor zwölf Jahren von einem Tag auf den anderen verändert: Ein Mädchen verschwand spurlos in der See, sein Bruder kam durch seine Schuld ums Leben. Als er nun in seinen Heimatort auf die australische Insel Tasmanien zurückkehrt, spürt er die Schuld noch immer. Nun aber hat er mit seiner Freundin Mia ein Kind und glaubt, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Kurz nach seiner Rückkehr jedoch wird am Strand eine tote Frau gefunden – und plötzlich brechen alte Wunden wieder auf. Bald wird Kieran klar, dass dieser Mord mit ihm zu tun hat – und mit all dem, was während des Sturms vor zwölf Jahren geschah und niemals wirklich ans Tageslicht kam ... 


Ein internationaler Bestseller – Platz 2 der New-York-Times-Bestsellerliste.
Packend und hochemotional erzählt – und mit einem einzigartigen Schauplatz: die Küste Australiens.

»Jane Harper ist für Australien das, was Tana French für Irland ist: eine Schriftstellerin, deren psychologisch reiche Handlungen mit einem tiefen Verständnis für den Schauplatz einhergehen.« The Washington Post.

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Zeit:11 Std. 51 min

Sprecher:Sascha Tschorn

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Tolles, spannendes Buch, das ich gar nicht mehr weg legen wollte. Sympathische Charaktere, super Story. Auf jeden Fall eine Empfehlung. 👍
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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

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Cover for EPUB

Über das Buch

Die Überlebenden, drei große, eiserne Figuren, die sich auf einem Felsen über dem Meer erheben, sind das Wahrzeichen seines Heimatsortes in Tasmanien. Eigentlich sollen die Figuren an ein Schiffsunglück erinnern, für den dreißigjährigen Kiernan sind sie jedoch das Symbol, dass auch er ein Überlebender ist. Vor zwölf Jahren hat er Evelyn Bay verlassen, nachdem in einem verheerenden Sturm sein Bruder Finn ums Lebens gekommen war – seinetwegen, weil Finn ihn hatte retten wollen. Nun ist Kieran zurückgekehrt, um seiner Mutter zu helfen, seinen dementen Vater in einem Heim unterzubringen. Trotz der Sorge um den Vater hat Kieran sich auf das Wiedersehen gefreut. Er ist mit Mia zusammen, die ihm Halt gibt, und hat mit ihr eine kleine Tochter. Doch kaum ist er zurück und hat sich zum ersten Mal mit alten Freunden getroffen, wird Bronte, eine junge Künstlerin, die als Kellnerin arbeitet, am Strand ermordet aufgefunden. Nicht weit von der Stelle, an der vor zwölf Jahren ein Mädchen verschwand. Plötzlich brechen alte Wunden wieder auf. Denn offenbar hat Bronte etwas herausgefunden, was während des Sturms geschah und das mit Finns Tod und dem verschwundenen Mädchen zu tun hat.

Über Jane Harper

Jane Harper wurde 1980 in Manchester geboren, lebt aber schon lange in Melbourne, Australien. Sie war Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Thrillern begann. Gleich mit ihrem Debütroman »Hitze« gewann sie neben zahlreichen anderen Preisen auch den wichtigsten britischen Krimipreis, den »Gold Dagger«.  

Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 1980-er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.

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Jane Harper

Der Sturm

Thriller

Aus dem Englischen von Matthias Frings

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Impressum

Wer von diesem Thriller begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Sie wäre – fast – eine der Überlebenden gewesen.

Sie stand da, Konturen vom schwachen Licht hervorgehoben, mit dem Rücken zum Salzwasser, das ihre Füße umspielte. Dann bewegte sie sich. Nur eine unmerkliche Verlagerung des Gewichts, ein Ein- und Ausatmen, aber lange genug, um die Illusion zu zerstören, bevor sie sich vollständig verfestigt hatte.

Sie schaute immer noch in die Ferne, ihr Augenmerk auf etwas gerichtet, das er in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte. Irgendwo brach sich eine Welle, und Salzwasser brandete an, frisch und kalt gegen seine eigenen Beine, während es weiß um ihre nackten Waden schäumte. Er beobachtete, wie sie mit der freien Hand ihren Rock schürzte. Die Luft war von feinem Sprühnebel erfüllt, und das T-Shirt klebte an ihrem Rücken und ihrer Taille.

Die nächste Welle nahte, und diesmal war der Sog so stark, dass er einen Schritt nach vorne machte. Sie nahm keine Notiz davon. Ihr Kopf war geneigt, das Silber ihrer Halskette glänzte vor ihrem Schlüsselbein, als sie sich vorbeugte, um etwas im Wasser in Augenschein zu nehmen. Als die Welle wieder zurückwich, ließ sie den Rocksaum los und hob eine Hand, um den Pferdeschwanz nach hinten zu werfen, der ihr über die Schulter gefallen war. Er war schwer von der Gischt. Eine einzelne Haarsträhne hatte sich in ihrem Mundwinkel verfangen, und sie befreite sie, indem sie sich mit den Fingerspitzen über die Lippen fuhr. Ein Gefühl der Beklemmung machte sich in seiner Brust und seinen Schultern breit.

Wenn du es tun willst …

Der Gedanke wie ein Flüstern unter dem Rauschen der nächsten Welle. Der Sog erfasste ihn wieder. Er kämpfte dagegen an, kurz, trat dann einen weiteren Schritt auf sie zu.

Sie hörte ihn nun oder spürte ihn zumindest. Eine Störung des natürlichen Rhythmus, der sie umgab.

Wenn du es tun willst …

Sie sah auf. Er sog die kalte, salzige Luft ein.

Dann tu es jetzt.

Kapitel 1

Kieran hoffte, dass die Betäubung rasch einsetzen würde. Das eisige Brennen des Meerwassers ließ meistens schnell nach, aber während die Minuten verstrichen, fror er immer noch. Er wappnete sich, als eine neue Welle gegen seine Haut brandete.

Das Wasser war gar nicht mal so unangenehm, sagte er sich, nicht in diesen letzten Sommertagen mit einer Nachmittagssonne, die sich anstrengte, ihm das Schneidende zu nehmen. Eher Gänsehaut als Unterkühlung. Kieran wusste, dass er weitaus kälteres Wasser als dieses schon »angenehm« genannt hatte.

Allerdings immer nur hier in Tasmanien, wo Meerestemperaturen relativ waren. Vieles in dem kleinen Inselstaat war relativ.

Sydney – die Stimme in seinem Kopf hörte sich verdächtig nach seiner Mutter an – hat dich verdorben.

Vielleicht. Aber das eigentliche Problem war, dass er, anstatt mit aufgeblähter Brust durch das Blau zu jagen, tosendes Wasser um die Ohren und nichts als Hunderte Kilometer wogende See bis zum nächsten Flecken Land, ganz brav hier stand, hüfttief, drei Meter vom Strand entfernt.

Seine Tochter lag eingehüllt in ein trockenes Handtuch wie betrunken von ihrer Milch an seiner nackten Brust. Ein winziger Sonnenhut schützte ihre Augen, während sie döste. Mit ihren drei Monaten wurde Audrey langsam schwer. Er verlagerte ihr Gewicht und blickte, das leichte Ziehen in den Schultern und die Kälte an den Beinen ignorierend, auf den Horizont und ließ sie schlafen.

Audrey war nicht die Einzige, die tief und fest schlief. Am Strand sah Kieran seine Freundin, die voll bekleidet flach auf dem Rücken lag, einen Arm über die Augen gelegt, den Mund leicht geöffnet. Mias Kopf lag auf einem zusammengerollten Handtuch, das Haar im Sand zu einem großen dunklen Fächer ausgebreitet. Dieser Tage konnte sie überall schlafen, genau wie er.

Sonst war fast niemand in der Nähe. Ein ihm unbekanntes Teenagerpärchen war vor einer Weile barfuß und händchenhaltend vorbeiflaniert, und eine junge Frau sammelte etwas weiter entfernt Strandgut, seit sie eingetrudelt waren. Im Hochsommer gab es fast doppelt so viele Urlauber wie die neunhundert Einheimischen, aber inzwischen waren nahezu alle abgereist. Der Alltag rief sie zurück aufs Festland und darüber hinaus.

»Hey!«

Eine vertraute Stimme veranlasste Kieran, sich umzudrehen. Ein Mann näherte sich auf einem der Trampelpfade, die eine Reihe von verwitterten Strandhäusern mit dem Sandstrand verbanden. Er grinste, während er einen abgenutzten Rucksack höher auf seine Schulter hievte. Zu seinen Füßen tollte ein ausgewachsener Hund von unbestimmbarer Rasse, dessen Größe und struppiges goldbraunes Haar ihn beunruhigend wie sein Herrchen aussehen ließen.

Kieran watete aus dem Wasser und ging Ash McDonald auf dem Sand entgegen, wobei er sich so drehte, dass Ash das Baby an seiner Brust sehen konnte.

»Verdammte Scheiße.« Mit einem schwieligen Finger schob Ash eine Ecke des Handtuchs beiseite und beugte sein unrasiertes Gesicht hinab, um einen Blick auf Audrey zu werfen.

»Also, die ist viel zu hübsch, um deine Tochter zu sein, Kumpel, aber trotzdem Glückwunsch.« Ash richtete sich auf und blinzelte Mia zu, die aufgewacht war und sich den Sand vom Rock schlug, während sie sich zu ihnen gesellte. »Ich mache nur Spaß. Sie ist wunderhübsch.«

»Danke, Ash.« Mia unterdrückte ein Gähnen, während sie sich vorbeugte, um ihn auf die Wange zu küssen und seinen Hund zu tätscheln. »Hallo, Shifty.«

Ash wies mit dem Kopf auf Kierans Shorts. »Wie ist das Wasser?«

»Ganz nett.«

»Die guten alten Tage wieder aufleben lassen, was?«

Kieran lächelte. »Eher einfach nur schwimmen.«

Kieran wusste nicht, wie viele Stunden er als Teenager zusammen mit Ash hüfttief im Ozean verbracht hatte, um sich am Tag nach einem Fußballspiel zu erholen und darauf zu warten, dass das eisige Wasser seine angeblichen Wunder vollbrachte. Viele Stunden, jedenfalls.

Ash war eines der Sommergesichter gewesen, die jahrelang immer mal wieder in Evelyn Bay auftauchten. Doch seit er fünfzehn war, gehörte er zum Inventar, nachdem es seine Mutter nach ihrer Scheidung wieder in ihre Heimatstadt verschlagen hatte.

Damals hatte Kieran nicht viel über Ash gewusst, nur, dass er aus einer Bergarbeiterstadt im Westen des Staates kam, wo man so hartgesotten war, dass das örtliche Fußballteam nicht auf Gras, sondern auf Schotter spielte.

Angesichts dessen hätte Kieran wohl nicht so perplex sein dürfen, wie er es war, als Ash beim Training auftauchte und Kieran zum ersten Mal im Leben bei den Schnelligkeitsübungen nicht automatisch gewann, sein Rang als Torschützenkönig in Gefahr geriet, und er bei taktischen Manövern, die er jahrelang unangefochten dominiert hatte, nicht mehr konkurrenzlos war. Einige Wochen hatte er darauf verschwendet, angefressen zu sein, war häufiger im Fitnessstudio und auf dem Spielfeld gewesen, nur um erneut angefressen zu sein, als er dort auf Ash traf, der genau dasselbe tat.

Die Saison war schon halb vorüber, als Kieran spät an den Strand gekommen und ins Wasser gewatet war, nur, um zufällig neben Ash zu stehen. Nicht willens, derjenige zu sein, der sich einen anderen Platz suchte, hatte Kieran die Arme verschränkt und stur aufs Meer geblickt. Den ganzen Rest der Saison hatten sie schweigend nebeneinandergestanden. Unsichtbar irgendwo im Norden lag das Festland Australiens, weiter im Süden die Antarktis. Vor ihnen bis zum Horizont nichts.

»Hab so viele persönliche Bestmarken geknackt wie bei meinem alten Club das ganze Jahr nicht.«

Ashs Stimme hatte Kieran überrascht. Er hatte dem anderen Jungen, der manchmal einen Hauch stärker oder schneller war, nicht einmal einen flüchtigen Blick zugeworfen. Ash nahm die Augen nicht vom Wasser, als er weitersprach.

»War ziemlich gut, eigentlich.«

Und verdammt, war Kieran mit einer Mischung aus Ärger und Wertschätzung aufgegangen, der Kerl hatte recht. Es war gut. Kieran war nie besser gewesen als beim Wettrennen mit diesem Arschloch. Der Coach hatte das Training beendet, und Kieran verfolgte, wie Ash sich aufmachte, zurück zum Strand zu waten.

»Hey, warte mal eine Sekunde.«

Ash war stehen geblieben. Und von da an gab es nicht mehr viel zu sagen.

Heute spielte keiner von ihnen mehr regelmäßig Fußball, aber fast anderthalb Dekaden später war Kieran mindestens so fit wie damals, und sein Job als Sportphysiotherapeut brachte es mit sich, dass nun er es war, der Menschen ermunterte, in eisig kaltem Salzwasser zu stehen. Ähnlich fit sah auch Ash aus, dachte Kieran. Sein Betrieb für Landschaftsbau trug ihm das gesunde Aussehen eines Naturburschen ein, das einem das Hantieren mit Säcken voller Mutterboden und gefällten Bäumen verlieh.

»Seit wann bist du zurück?« Ash warf seinen Rucksack auf den Sand, und Kieran hörte Werkzeug darin klappern.

»Seit ein paar Stunden.«

Kieran und Mia waren nur so lange im Haus seiner Eltern geblieben, wie die Höflichkeit es verlangte, bevor sie sich mit dem Bedürfnis nach etwas frischer Luft entschuldigt hatten. Von seinem Standpunkt aus konnte er immer noch ihre hintere Veranda sehen, wo lediglich ein weißer Zaun das Grundstück vom Strand trennte. Wenn Kieran daran dachte, ins Haus zurückzukehren, befiel ihn augenblicklich Klaustrophobie.

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte Ash. »Hab ihn seit Wochen nicht gesehen.«

»Nicht so gut.« Kieran fragte sich, ob er mehr sagen musste, aber nein, natürlich nickte Ash bereits. In einem Ort wie Evelyn Bay wusste jeder über jeden Bescheid. Wahrscheinlich besser als Kieran selbst. Er hatte seinen Vater seit anderthalb Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen, das letzte Mal, als Brian noch gesund genug war, um hoch nach Sydney zu fliegen. Schon damals war er häufig verwirrt gewesen, und Kierans Mutter Verity hatte die meiste Zeit ihres Besuchs damit verbracht, ihm geduldig alles zu erklären. Als Audrey vor drei Monaten zur Welt gekommen war, hatte Verity alleine die Reise unternommen, um ihr erstes Enkelkind zu begutachten.

Trotz dieses rot blinkenden Warnzeichens war Kieran seit seiner Ankunft immer noch entgeistert, von dieser leeren Hülle namens Brian Elliott begrüßt zu werden. Kieran wusste nicht genau, ob es mit seinem Vater so rasch bergab gegangen war oder ob er es nur nicht hatte wahrhaben wollen. Wie auch immer, mit nur sechsundsechzig hatte seinen Vater die Demenz voll im Griff.

»Wann findet der Umzug statt?« Ash ließ seinen Blick zum Haus von Kierans Eltern schweifen.

»In ein paar Wochen.« Die Pflegeeinrichtung in Hobart erwartete seinen Vater. »Wir haben überlegt, dass Mum wahrscheinlich etwas Hilfe beim Ausmisten brauchen kann.«

»Und was wird sie tun? Sie zieht doch nicht mit ein, oder?«

»Nein.« Kieran stellte sich Verity vor, die mit vierundsechzig problemlos als zehn Jahre jünger durchging und immer noch fast täglich joggte und Fahrrad fuhr. »Sie hat eine kleine Wohnung in der Nähe des Pflegeheims gefunden.«

»Gut, das ist …« Ash fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und suchte nach einem Wort. »… bequem.«

»Ja.« Kieran hoffte es, weil er ziemlich sicher war, dass Verity es verabscheuen würde.

Ash dachte kurz nach. »Pass auf, sag Verity, sie soll mir Bescheid geben, bevor das Haus auf den Markt kommt. Ich werde in ihrem Garten klar Schiff machen. Umsonst natürlich.«

»Wirklich? Danke, Kumpel.«

»Dafür nicht. Ist eine beschissene Situation.«

Es war beschissen. Kieran hatte es gewusst. Er hätte früher kommen sollen.

»Wie lange ist es her, seit du zuletzt hier warst?«, fragte Ash, als hätte er seine Gedanken gelesen.

»Zwei Jahre?«

»Länger, glaube ich«, sagte Ash, während Mia schon den Kopf schüttelte.

»Es waren fast drei«, sagte sie und wandte sich an Ash. »Wie geht es Olivia? Ich habe ihr eine Mail geschickt, dass wir eine Woche lang hier sind.«

»Es geht ihr gut, sie will euch auf jeden Fall treffen.« Ash griff nach seinem Handy. »Lass mich nachsehen, ob sie gerade in der Nähe ist. Sie wohnt da drüben. Fisherman’s Cottage.« Er wies mit dem Kopf auf eine Reihe von Holzhäusern entlang des Strandes.

»Ach ja?« Kieran konnte den flachen Bungalow etwa zwölf Häuser hinter dem Haus seiner Eltern ausmachen. Cottage war ein etwas zu poetischer Name. Wie nahezu alle Häuser im Ort – merkwürdigerweise sogar die neueren – schrie es nach Sechziger-Jahre-Architektur. »Wie lange hat sie es schon gemietet?«

»Anderthalb Jahre oder so. Seit sie hierher zurückgezogen ist auf jeden Fall.«

Während Ash die Nummer seiner Freundin wählte, versuchte Kieran sich vorzustellen, wie Olivia Birch mit dreißig aussehen würde. Er hatte sie nicht gesehen seit – er versuchte sich zu erinnern – seit Jahren jedenfalls, also war ihr Bild in seinem Kopf immer noch das der Achtzehnjährigen. Groß, schlank und geschmeidig war sie gewesen, mit einem Auftreten, das Erwachsene als »klassische Schönheit« bezeichneten und Jungs als »heiß«. Am Strand war sie Stammgast gewesen, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, den sie ungeduldig nach hinten warf, wenn sie den Reißverschluss ihres Neoprenanzugs schloss. Groß würde sie natürlich immer noch sein und hübsch wohl auch. Mädchen wie Olivia hielten sich gut.

Ash presste das Telefon ans Ohr, überprüfte dann den Bildschirm und legte mit einem kleinen Kopfschütteln auf. Er hob den Kopf und brüllte zu Kierans Überraschung: »Hey! Bronte!«

Die junge Frau hatte mit dem Muschelsuchen aufgehört und hockte in der Nähe der Brandung, wo sie ihre Kamera auf irgendetwas im Sand gerichtet hielt. Bei Ashs Ruf sah sie auf und erhob sich mit im Wind flatterndem Rock.

»Livs Mitbewohnerin«, sagte Ash zu Kieran und Mia, bevor er auf ihr Strandhaus wies und erneut die Stimme erhob: »Ist Olivia zu Hause?«

Das Mädchen – Bronte, wie Kieran annahm – schüttelte den Kopf, eine demonstrativ vergrößerte Geste über die Entfernung hinweg. Nein. Sie sahen es eher, als dass sie es hörten, während ihre Stimme im Wind verwehte.

Ash formte die Hände zum Trichter: »Wo ist sie?«

Ein Schulterzucken. Keine Ahnung.

»Nun ja.« Ash wandte sich wieder seinem Telefon zu und runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht. Aber wisst ihr, was? Sie arbeitet heute Abend. Lasst uns alle auf einen Drink gehen. Wir sehen sie dann dort.«

»Liv arbeitet immer noch im Surf and Turf?« Mia versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, was ihr nicht gelang.

»Ja«, sagte Ash. »Momentan noch, jedenfalls. Also, wann heute Abend? So gegen acht?«

»Weiß nicht, Kumpel.« Kieran wies auf Audrey in seinem Tragetuch, die gerade unter ihrem Sonnenhut aufgewacht war. »Wir haben die Kleine, also …«

»Dafür gibt es doch Großmütter, oder?« Ash schrieb schon eine SMS. »Ich schreibe Liv, dass wir kommen. Bringt auch Sean mit.«

Kieran und Mia wechselten einen Blick, mit dem sie ein stillschweigendes Gespräch führten, das mit dem kaum sichtbaren Nicken beider endete. Sie würden mitgehen.

»Okay.« Als Ash zu Ende getippt hatte, hievte er seinen Rucksack hoch und schwang ihn sich über die Schulter. »Ich muss mal wieder zur Arbeit. Bis später dann.« Er beugte sich zu Audrey hinab. »Du allerdings nicht, Kleines. Du verbringst ein paar schöne Stunden bei Omi.«

Audrey wandte den Kopf, um ihn anzuschauen, und der Wind fuhr unter ihren Hut und wehte ihn fort. Kieran und Ash griffen beide danach, aber er flatterte schon über den Strand, bevor sie sich überhaupt bewegt hatten. Ash legte wieder die Hände um den Mund.

»Bronte!«

Die junge Frau stand nun knietief im Wasser und betrachtete etwas Seegras, das sie in der Hand hielt. Ihr Stoffbeutel lag sicher im Sand. Beim Klang von Ashs Stimme hob sie mit einer ebenso ungeduldigen wie nachsichtigen Miene den Kopf.

Was nun schon wieder?

Sie sah, wie Audreys Babyhütchen das Ufer entlang flatterte, und ließ das Seegras fallen. Sie rannte dem Hütchen hinterher, wobei sie mit einer Hand ihren Rock über den Knien zusammenraffte, als sie durch das Wasser planschte, während weißer Schaum um ihre Beine spielte. Sie hatte es fast erhascht, als eine Brise das Hütchen erfasste und fortwehte, hinaus aufs Meer und außer Reichweite.

Kieran beobachtete, wie Bronte innehielt, weil sie die Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens einsah. Sie ließ ihren Rock los, wobei der Saum fast das Wasser streifte, und fuhr sich abwesend mit einer Hand über den Nacken, nachdem sie ein Büschel ihrer verwuschelten blonden Haare mit der anderen angehoben hatte.

»Worauf wartest du?« Ash grinste. »Schwimm raus!«

Sie lachte und rief etwas wie Schwimm du doch! zurück.

»Sei nicht so verdammt selbstsüchtig, Bronte. Du bist doch schon halb drin.«

Sie ließ ihr Haar fallen und zeigte ihm den Stinkefinger.

Ash lachte und wandte sich ab, weil das Telefon in seiner Hand klingelte. Er schaute auf den Bildschirm, sagte aber nichts.

Kieran blickte dem Hütchen hinterher, das durch die Brandung hopste.

»Nun ja.« Mia streckte die Arme aus und nahm Audrey entgegen. »Das können wir wohl vergessen, Sweetheart. Tut mir leid.«

Audrey hob ihren pummeligen Arm und griff nach dem Halsschmuck ihrer Mutter. Sie zog mit der Faust an der silbernen Kette, während sie alle dem Hütchen hinterherblickten, das erst einmal, dann zweimal ins Wasser tauchte, bevor es von der See verschlungen wurde.

Kapitel 2

Das Surf and Turf sah genauso aus wie vor drei Jahren, vor zehn Jahren sogar. Eine ganze Seitenwand des rustikalen Hauses war immer noch mit dem Umriss eines gigantischen Krebses verziert, der komplett aus sonnengebleichten Muscheln bestand, die man auf die Wand geklebt hatte. Ein handgemaltes Schild am Eingang verkündete: Hier herein für Fisch von dort, dazu ein krakeliger Pfeil, der auf den nur einen Steinwurf entfernten Ozean wies.

Kieran und Mia schlossen den Reißverschluss ihrer Jacken, die zu Hause in Sydney kaum Gelegenheit gehabt hatten, den heimischen Schrank zu verlassen, und überquerten die Strandstraße, ohne nach rechts und links zu sehen. Die Hauptstraße von Evelyn Bay verbreitete das Flair einer Geisterstadt, was Kieran stets mit dem Ende des Sommers assoziiert hatte. Die Parkplätze, zur Saison so begehrt, dass um sie gekämpft wurde, waren leer und nutzlos. Sämtliche Geschäfte, sogar der kleine Supermarkt, waren bereits dicht, und die ausgeräumten Schaufenster bewiesen, dass mehr als ein Geschäft schon vor der Nebensaison die Pforten geschlossen hatte. So war es nicht immer gewesen. Evelyn Bay lag zwischen urtümlichen Wäldern und dem Meer, und sein Kapital waren Fischfang und Forstwirtschaft gewesen, als Kierans Eltern vor vierzig Jahren hierhergezogen waren. Nun fuhr die nächste Generation im Sommer Boote zur Delphinsichtung und balgte sich im Winter um Arbeit und Gelegenheitsjobs. Oder sie verließ die Stadt gleich ganz.

Das Surf and Turf war gut besucht, was zu dieser Abendstunde und in dieser Jahreszeit hieß, dass eine Handvoll Kunden sich an einem halben Dutzend Tische niedergelassen hatte. Niemand achtete sonderlich auf Kieran, als sie eintraten. Er hatte das auch nicht erwartet – zwölf Jahre war eine lange Zeit, und die wenigen Leute, die eine brennende Sehnsucht verspürten abzuhauen, hatten es zumeist getan –, aber er war dennoch ein wenig erleichtert.

Ein paar junge Typen, die Kieran nicht kannte, tranken etwas auf der Terrasse. Sie gaben vor, am frühen Abend in ihren T-Shirts nicht zu frieren, und er freute sich, als er sah, dass Ash drinnen schon einen Tisch ein wenig abseits besetzt hatte. Ash hielt ein Bier in der einen Hand, sein Telefon in der anderen und legte beides auf den Tisch, als er sie kommen sah.

»Verity hat euch das Baby abgenommen, was? Gut gemacht.«

Kieran nickte. Seine Mutter hatte sich nicht beklagt. Sie hatte einfach nur ein paar halb gefüllte Umzugskisten zur Seite geschoben, bevor sie sich zusammen mit Mann und Enkelkind auf der Couch für einen Abend mit wenig anregender Konversation und viel Aufmerksamkeitsbedürfnis niederließ. Kieran und Mia hatten Blicke voller Schuldgefühl gewechselt und sich unschlüssig im Flur aufgehalten, um ihre Schuhe anzuziehen und nach ihren Handys zu kramen, als Verity sich von der Couch erhob und ihnen höchstpersönlich die Tür öffnete. Sie rollte die Augen, während beide an ihr vorbei in die Abendluft traten.

Ashs Telefon klingelte, und er studierte die Anzeige. »Sean ist unterwegs. Er musste noch irgendwas am Boot reparieren.«

»Was Ernstes?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich glaube, er arbeitet momentan einfach nur mit Hochdruck.« Ash trank einen Schluck Bier. »Sogar Liv sagte …«

»Was sagte ich?« In der auffälligen Uniform des Surf and Turf – orangefarbenes T-Shirt und Rock – und mit Block und Stift in der Hand, trat eine Kellnerin an ihren Tisch. Sie wartete Ashs Antwort nicht ab, sondern lief stattdessen um den Tisch herum. »Du meine Güte, Mia, hallo.«

Olivia Birch streckte die Arme aus, um Mia zu begrüßen, die schon aufgesprungen war. Die beiden Frauen umarmten sich, lehnten sich dann zurück, um sich ausgiebig zu betrachten.

Kieran hatte richtig vermutet. Mehr als zehn Jahre nach Schulabschluss und selbst in grellem Orange war Olivia mit ihrem dichten, hochgesteckten Haar, das nach der Hälfte der Schicht langsam in sich zusammenfiel, zweifelsohne die attraktivste Frau im Raum.

»Hi, Kieran«, sagte sie über die Schulter seiner Freundin hinweg.

»Tag, Liv.«

Sie sah aus, als wolle sie noch etwas sagen, ließ dann aber nur Mia los und hob das Schreibblöckchen an. »Na dann, Getränke?«

»Liv, vielen Dank für das Kleidchen, das du Audrey geschickt hast«, sagte Mia, als Olivia mit einem Tablett zurückkehrte. »Ich habe ein Foto …«

Sie zückte ihr Handy, und Olivia stellte das Tablett ab, um einen Blick darauf zu werfen.

»Gott, die ist so süß. Wo ist sie überhaupt? Bei Verity?«

»Ja«, sagte Mia. »Wir sind die ganze Woche hier. Ich bringe sie mal vorbei.«

»Bitte. Oder schau bei mir zu Hause vorbei. Ich wohne nur ein paar Türen weiter.«

»Ja«, sagte Ash. »Wir haben deine Mitbewohnerin schon getroffen.«

»Bronte?«

Olivia warf einen Blick in den Gastraum, und erst jetzt bemerkte Kieran das Mädchen vom Strand, das ebenfalls T-Shirt und Rock in Orange trug. Sie war jünger, als er angenommen hatte, erst einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Sie war klein mit einem herzförmigen Gesicht und großen Augen, was ihr etwas Puppenhaftes verlieh. Ihr Haar war jetzt nach hinten gebunden, und Kieran sah, dass die Farbe, die am Strand einfach nur dunkelblond ausgesehen hatte, in Wahrheit von kunstvollen Highlights stammte, wie sie auf den Straßen von Sydney zu sehen waren, was in dieser Umgebung jedoch übermäßig aufgeputzt wirkte.

Bronte servierte einem Mann ein Glas Rotwein, der allein an einem Ecktisch saß und auf den Bildschirm seines Laptops starrte. Sie machte eine kaum zu vernehmende Bemerkung, als sie das Glas auf einen Pappuntersetzer stellte, und der Mann lächelte unbewusst. Er ließ sich nach hinten fallen, nahm die Schultern zurück und nippte. Pantomimisch zeigte er mit gespielter Verzweiflung, wie das Glas auf die Tastatur kippt, und beide lachten. Bronte machte kehrt, und der Mann setzte sein Glas vorsichtig ab, wobei er der jungen Kellnerin über den Laptop hinweg hinterherblickte, als sie sich ihren Weg um die Tische bahnte.

»Sie ist nicht von hier, oder?«, fragte Kieran.

»Nein.« Olivia schüttelte den Kopf. »Sie ist nur für den Sommer hier.«

Als würden ihr die Ohren klingen, suchte Bronte den Blick von Olivia, bevor sie Kieran und Mia wahrnahm. Ein erkennendes Lächeln, und sie machte mit dem Finger eine Wartet-mal-eine-Sekunde-Geste. Sie verschwand durch die Schwingtür mit der Aufschrift Staff Only und kam Sekunden später mit einer verbeulten Pappschachtel zurück, auf die jemand Fundstücke gekritzelt hatte.

»Nicht dasselbe, ich weiß«, sagte Bronte, als sie zu ihnen kam. »Aber vielleicht braucht ihr dann kein neues zu kaufen.«

Sie drückte Mia den Karton in die Hand. Darin erkannte Kieran Dutzende von Babyhütchen in den unterschiedlichsten Formen und Farben, einige davon wie neu.

»An manchen Tagen haben wir bis zu fünf davon gefunden. Wenn also eins davon passt, könnt ihr es gerne haben.« Bronte fischte einen kleinen Hut mit Blumenmuster heraus, an dem noch das Preisschild baumelte. »Jetzt fragt sowieso niemand mehr danach.«

»Vielen lieben Dank«, sagte Mia und durchwühlte die Kiste, während sie sich und Kieran vorstellte. »Das ist sehr aufmerksam.«

»Schlechtes Gewissen?« Ash grinste, als er einen Schluck Bier trank. »Was, Bronte? Wiedergutmachung, nachdem du uns vorhin so schmählich im Stich gelassen hast.«

»Zieh Leine. Das Wasser war eiskalt.« Brontes Gelächter verlor sich unter Olivias kühlem Blick, und sie setzte zu der Geschichte an, wie sie sich allein am Strand vergnügt hatte, als Kieran und Mia dort aufgetaucht waren und Ash schließlich ankam, wobei sie mit dem bunten Sonnenhütchen spielte. Der Vorfall hörte sich in der Nacherzählung etwas unbeholfen an.

»Ah«, war Olivias einziger Kommentar, als Bronte zum Ende kam.

Bronte schöpfte kaum Atem, bevor sie sich an Kieran wandte. »Verity ist also deine Mutter, oder? Sie ist sehr nett. Vor ein paar Wochen hat sie ihren Schuppen aufgeräumt und mir Draht für diese kleinen Skulpturen geschenkt, mit denen ich herumexperimentiere. Am Ende habe ich ihr geholfen, und sie hat mir allerlei nützlichen Kram überlassen.«

»Bist du Künstlerin?«, fragte Kieran.

»Ja. Nun …« Bronte stockte, als Olivia, die sich gegen Ashs Stuhl lehnte, ihr Gewicht verlagerte.

»Kunststudentin. Ich bin an der Uni in Canberra.«

»Cool, was für eine Art Kunst?«

»Alles Mögliche, ich habe noch nicht entschieden, worauf ich mich konzentrieren will. Aber ich möchte in diesem Semester eine große Serie zum Thema Küste machen, also fand ich, das hier wäre ein guter Ort, um …« Sie machte eine ausholende Bewegung. »… sich inspirieren zu lassen.«

Sogar Kieran fiel auf, wie es um Olivias Mund zuckte. Bronte, plötzlich befangen, rollte nervös mit den Augen. Sie wurde von einem Ruf aus der Durchreiche gerettet und eilte fort, ohne ihre Erleichterung verbergen zu können.

Olivia warf Ash einen bösen Blick zu und reagierte damit auf etwas, was Kieran nicht mitbekommen hatte. »Was?«, fragte sie.

Ash sah auf. »Nichts.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, Liv.«

Als Olivia nicht antwortete, streckte Ash die Arme aus und zog sie an sich.

»Nun komm schon. Ist sie wirklich so wichtig?« Ash grinste Olivia an, bis sie schließlich zurücklächelte. »Lass dich nicht so auf die Palme bringen.«

»Ja, ich weiß.« Leicht beschämt zuckte Liv die Schultern und wandte sich an Kieran und Mia. »Aber sie ist nur Studentin. Genau wie ich. Und wenn ihr das nicht passt, kann sie sagen, dass sie Kellnerin ist, ebenfalls wie ich, aber Künstlerin ist sie so wenig wie ich Stadtplanerin. Was ich nun einmal nicht mehr bin, wie man sieht. Ich finde es einfach unaufrichtig, herumzulaufen und etwas zu behaupten, was man nicht ist.«

Mia nickte mitfühlend. Sie legte ein paar Babyhütchen auf den Tisch und schob den Karton beiseite. »Gibt es hier nichts, was deinen Talenten besser entspricht, Liv?«

»Nicht wirklich. Ich meine, bei der Firma in Melbourne war ich mit dem Planungsrecht für Gebäude mit mehr als zwölf Geschossen beschäftigt – wofür hier der Bedarf ziemlich gegen null geht.«

Da hat sie wohl recht, dachte Kieran. Das höchste Gebäude in Evelyn Bay war das ehemalige Captain’s Quarters im alten Kolonialviertel des Ortes. Das denkmalgeschützte Gebäude aus Sandstein war ein Bed and Breakfast und besaß ein Obergeschoss.

»Aber ich wusste, dass es so sein würde«, fuhr Olivia fort. »Als mir klar wurde, dass ich zurückehren muss, habe ich mich online für einen Masterlehrgang eingeschrieben, wenigstens das. Der Versuch, einen Fuß in der Tür zu halten. Wozu auch immer das gut sein mag.«

Das klang nicht gerade optimistisch.

»Wie geht es denn deiner Mutter?«, fragte Mia.

Olivia zuckte die Schultern. »Es geht ihr gut. Ziemlich gut. Sie ist froh, dass ich zurück bin. Sie hätte gerne, dass ich bei ihr wohne, aber das kommt nicht infrage. Nach fünf Minuten wäre ich reif fürs Irrenhaus. Obwohl …« Sie sahen nun, wie Bronte auf der Veranda die Tische abwischte, wobei der Wind ihr die Haare ins Gesicht blies. Olivia lächelte und sagte, um die Stimmung aufzuhellen. »Vom Regen in die Traufe.«

Mia lachte. »Ist Bronte wirklich so schlimm?«

»Nein, um der Wahrheit die Ehre zu geben, das ist sie nicht. Bronte ist nur …« Olivia verfolgte, wie die beiden jungen Männer, die in ihren T-Shirts froren, mit der jungen Kellnerin zu flirten versuchten. Sie lachte, zuckte die Schultern und wischte weiter Tische. »… jung. Ich meine, sie hatte wirklich keine Ahnung, dass man die Sperrmüllabfuhr beauftragen muss. Sie hat die Überbleibsel ihrer Kunst einfach neben unsere Mülltonne gestellt und erwartet, dass sie schon von allein verschwinden. Es ist, als wäre …«

Sie hielt inne. Ash legte eine Hand auf ihre Taille.

»Bald ist sie weg«, sagte er. »Wie lange noch? Drei Wochen?«

»Zwei Wochen, fünf Tage.«

»Na, siehst du. Die Augen stur nach vorn gerichtet.« Er grinste. »Bevor du dich versiehst, wirst du wieder nackt durchs Haus laufen können. Du wirst es lieben.«

»Ich werde es lieben, nicht mehr ständig um ihren Anteil an unseren Rechnungen betteln zu müssen. Oh …« Olivia blickte hinüber zum Gastraum. »Einen Augenblick. Darum sollte ich mich besser kümmern.«

Die T-Shirt-Jungs mit ihren inzwischen blau gefrorenen Armen hatten sich ihre Niederlage eingestehen müssen und waren nach innen gekommen, um zu zahlen. Kieran beobachtete interessiert, wie Ashs Augen Olivia den ganzen Weg zur Kasse folgten. Er hatte Ash und Olivia nie als Paar erlebt. Sie verhielten sich nicht ganz, wie er sich das vorgestellt hatte, aber andererseits hatte er sie sich nie zusammen vorgestellt. Ash offensichtlich schon. Kieran wäre erstaunt, wenn nicht sämtliche Jungs im Ort schon einmal daran gedacht hätten, mit Liv Birch zusammen zu sein.

Als er nach seinem Drink griff, spürte Kieran es, bevor er es sah: das prickelnde Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte seinen Kopf nicht, ließ lediglich die Augen langsam durch den Raum wandern. Er brauchte ein paar Sekunden, um die Quelle aufzuspüren, doch als es ihm gelang, wurde ihm bang ums Herz.

Der Junge – inzwischen eher ein Mann – stand hinter der Durchreiche zur Küche. Er war breitschultrig, trug eine fettverschmierte Schürze, und sein Gesichtsausdruck ließ Kieran wünschen, ganz weit weg zu sein.

Von Größe und Haltung her hätte er Mitte zwanzig sein können, aber Kieran wusste genau, dass er neunzehn war. Er trug ein Namenschild, das zu klein war, um es lesen zu können, aber Kieran benötigte es sowieso nicht. Liam Gilroy.

Kieran atmete einmal tief durch und zwang sich, Augenkontakt aufzunehmen. Liam gab sofort vor, in eine andere Richtung zu blicken, und wandte sich dann seinem Herd zu. Kieran wartete auf ein Gefühl der Erleichterung, das sich aber nicht einstellte. Es würde keinen Ärger geben, aber der Raum fühlte sich mit einem Mal stickig an. Kieran sah nach, ob Mia den Blickwechsel mitbekommen hatte, doch sie war damit beschäftigt, einen losen Faden aus einem der Hütchen zu ziehen, ohne die Naht aufzuriffeln. Er erhob sich etwas zu schnell, und sein Stuhl kratzte laut über den Boden.

»Bin gleich wieder zurück.«

Ash und Mia blickten unverzüglich hoch, beide mit einem flehentlichen Lass-mich-nicht-allein-Ausdruck im Gesicht. In größerer Gesellschaft kamen sie miteinander klar, hatten sich aber, wenn sie allein waren, wenig zu sagen. Kieran wusste das. Aber es ging nicht anders.

Er ließ die beiden mit ihrem etwas angestrengten Lächeln sitzen und ging auf kürzestem Weg zur Toilette. Niemand sonst war dort, und er stand eine Weile einfach nur so da. Die Spiegel über den Waschbecken waren verschmiert, und das grelle Toilettenlicht ließ ihn älter aussehen als seine dreißig Jahre. In diesen Tagen war er immer müde. Der Schlafentzug seit Audreys Geburt war brutal. Er wusch sich gründlich die Hände und wägte ab, ob Mia und er abhauen konnten, bevor Sean eintraf. Wahrscheinlich. Er und Sean kannten sich lange genug, dass er sich das erlauben durfte. Gleichzeitig jedoch ging es ihm gegen den Strich.

Mia verstand das nicht.

»Männerfreundschaften sind so kurios, ihr haltet kaum Kontakt«, hatte sie gesagt, als sie für die Heimreise packten.

»Tun wir schon. Wir sehen uns jedes Mal, wenn ich da bin.«

»Aber dazwischen, meine ich. Da lasst ihr nichts voneinander hören.«

Das stimmte. Kieran hatte erst durch Mia von der Sache zwischen Ash und Olivia erfahren, die es ihrerseits aus einer ihrer, drei, vier E-Mails wusste, die sie im Jahr mit Olivia wechselte, um auf dem Laufenden zu bleiben.

»Ist wohl richtig«, hatte er gesagt. »Haut aber auch so hin.«

Und das stimmte. Kieran hatte damit nie Probleme, weil die drei, wenn sie sich sahen, einfach da wieder ansetzten, wo sie aufgehört hatten. Der Hauptgrund war aber, dass, wäre ihre Freundschaft in die Brüche gegangen, dies vor zwölf Jahren passiert wäre. Kieran drehte den Wasserhahn zu und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Wenn sie in der Lage gewesen waren, das zu überstehen – diese wirklich dunkle Zeit der Schuldvorwürfe und Abrechnungen –, konnten sie gewiss ein paar Jahre mit lediglich sporadischen Textnachrichten leben.

Kieran trocknete sich die Hände, checkte sein Handy und öffnete die Tür. Er war kaum in den engen Vorraum getreten, der die Toiletten vom Gastraum trennte, als er aus der Küche eine vertraute Stimme hörte. Die Worte wurden vom Surren einer Abzugshaube gedämpft, waren aber deutlich genug, um ihn innehalten zu lassen. Kieran stand ganz still da, denn ein sechster Sinn, den er über die Jahre verfeinert hatte, sagte ihm, dass das Gespräch sich um ihn drehte.

»Wenn es nach mir ginge, dürfte der hier gar nicht rein.« Liam klang stocksauer.

Ein höfliches Mädchenlachen. »Na ja, soweit ich weiß, geht hier nichts nach uns.« Es war Bronte, die das sagte. »Davon abgesehen scheint er ganz in Ordnung zu sein.«

»Und woher willst du das wissen?«

Bronte wirkte befremdet. »Weiß ich nicht, wirklich …«

»Du weißt nichts über ihn.«

»Wahrscheinlich nicht. Ich habe nur …«

»Was?«

»Ich verstehe nicht, warum du dich so über ihn aufregst.«

»Nein?«

Kieran wurde klar, dass er den Atem anhielt. Er atmete aus. Was als Nächstes kam, würde keine Überraschung sein.

»Nun, wie auch immer.« Liams Stimme klang hart. »Aber wie ich es sehe – wenn du jemanden umbringst, hast du alle Scheiße, die du abkriegst, voll verdient.«

Kapitel 3

Es war eine glückliche Fügung, dass Sean am Tisch saß, als Kieran in den hell erleuchteten Gastraum zurückkehrte, sonst hätte er Mias Hand genommen, Ash kurz auf Wiedersehen gesagt, und sie wären verschwunden. Er erwog diese Möglichkeit immer noch, als Sean sich mit einem breiten Lächeln erhob, um ihn zu begrüßen.

»Gut, dich zu sehen, Kumpel. Tut mir leid, bin spät dran. Du weißt ja, wie es ist, wenn die Saison zu Ende geht.« Sean zog seinen Stuhl heran, um sich neben den von Kieran zu hocken, und kurz darauf nahm auch Kieran Platz. »Ich bin froh, dass ihr noch da seid. Ich hatte Angst, frisch gebackene Eltern würden um diese Uhrzeit schon ihr Nickerchen machen.«

»Ja.« Kieran spürte, wie Mia ihn aufmerksam musterte. Er räusperte sich und versuchte sich daran zu erinnern, wie seine normale Stimme klang. »Na ja, normalerweise schon, aber …«

»Lass mich raten: Aber Ash hat dich gedrängt, trotzdem zu kommen.« Sean nickte wissend und hob die Hand. »Alles klar.«

Kierans Lächeln war diesmal echt. »Aber wir wollten hallo sagen, Kumpel.«

Er meinte es ehrlich. Kieran konnte sich nicht daran erinnern, Sean nicht als besten Freund gehabt zu haben. Sean war immer da gewesen. Es gab Fotos von ihnen als Kleinkinder bei ihren ersten Geburtstagspartys, und eine von Kierans ersten Erinnerungen waren sie beide am Strand – die Jungs buddelten Löcher im Sand und bespritzten sich mit Wasser, während ihre Eltern miteinander plauderten.

Sean hatte sich von einem ruhigen, dünnen Hippiejungen in einen nachdenklichen, langgliedrigen, umweltbewussten Mann verwandelt, der am glücklichsten war, wenn er sich auf dem Wasser befand und vom Deck eines Bootes aus den schwankenden Horizont betrachten konnte. Seine Haare waren immer noch kurz genug, dass er nur mit der Hand darüberfahren musste, damit sie trockneten, und er wirkte stets ein wenig so, als wäre er erst vor wenigen Augenblicken frisch aus dem Meer gestiegen und hätte sich irgendetwas zum Anziehen übergeworfen.

Er war nicht mehr derselbe wie zu der Zeit, die für Kieran einfach nur vorher war, aber das war keiner von ihnen. Weder Mia, Ash, Olivia, Olivias Mutter, Kierans Eltern, Liam. Noch Kieran selbst natürlich. Niemand hatte den Sturm unbeschadet überstanden.

Kieran warf einen Blick zur Durchreiche. Wenigstens war Liam nicht mehr zu sehen. Er lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

»Hey, niemand ist hier zu irgendwas gedrängt worden«, verkündete Ash. »In Kierans Namen bin ich beleidigt. Er und Mia sind aus freien Stücken hier.«

Während er sprach, nahm Ash Augenkontakt mit Bronte auf und signalisierte ihr, eine weitere Runde Getränke zu bringen. Sie hob den Daumen, und er zwinkerte ihr zu. Ihr Blick verhakte sich mit dem von Kieran, und der versuchte, ihre Reaktion auf ihr Gespräch mit Liam in der Küche abzuschätzen. Neugier? Verachtung? Sie wandte sich ab, bevor er zu einem Ergebnis kam.

»Ich behaupte doch gar nichts anderes.« Sean lächelte immer noch, während er auf Ash zeigte. »Aber es ist schon lustig, wie oft der freie Wille der anderen genau mit dem übereinstimmt, was du möchtest, mein Lieber.« Er grinste Kieran an, der Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. »Passiert zu Hause die ganze Zeit.«

Kieran wusste nicht, was er sagen sollte, und war erleichtert, als Mia übernahm. »Wo wohnt ihr beiden jetzt?«, fragte sie. »Immer noch draußen beim Yachthafen?«

Ash nickte. »Ja, selbes Haus. Ist noch viel zu reparieren, liegt aber für uns beide günstig zur Arbeit.«

Kieran stellte sich das weitläufige Strandhaus vor, das Ash und Sean sich schon seit sechs Jahren teilten. Immer schon etwas baufällig, konnte man bei der Lage nicht meckern, und es war besser als das kleine, noch baufälligere Haus, dass sie sich davor geteilt hatten.

Mia wandte sich an Sean. »Apropos: Wie laufen die Geschäfte? Wir haben dich da draußen gesehen oder zumindest dein Boot.«

Nachdem Ash am Nachmittag vom Strand aufgebrochen war, hatten Kieran und Mia einander angeschaut und waren dann hinüber zum Haus seiner Eltern gelaufen, wo ein Berg Umzugskisten auf sie wartete.

»Wir gehen besser zurück«, hatte Mia gesagt.

Kieran hatte einen Blick auf ihr Baby geworfen. »Oder wir könnten Audrey die Sehenswürdigkeiten von Evelyn Bay zeigen. Sie ist zum ersten Mal hier.«

»Was hast du im Sinn?«

»Der Aussichtspunkt?«

Mia hatte mit den Schultern gezuckt. »Wie du willst. Du bist derjenige, der unsere Tochter die Klippen hochschleppen muss.«

»Keine Sorge.« Kieran war in sein T-Shirt geschlüpft und hatte den Sand vom Tragetuch gewischt, bevor er es anlegte. »Passt schon.«

In Wahrheit war der Trampelpfad, der sich nach oben wand, mit dem zusätzlichen Gewicht um die Brust anstrengender gewesen, als er ihn in Erinnerung hatte. Auf halben Weg hatten sie das Tor passiert, das zum örtlichen Friedhof führte, bevor der Pfad schmaler und steiler wurde. Kieran war froh gewesen, oben angekommen zu sein. Zwölf Jahre zuvor war der Beobachtungsposten für den Walfang kaum mehr gewesen als eine flache Rodung mit einem verwitterten Schild und dem Hinweis, dass es vielleicht nicht die beste Idee sei, auf den Klippen herumzuturnen, aber hey, leben und leben lassen.

Inzwischen war der Aussichtspunkt ein kleiner, jedoch herausgeputzter Bereich, der von einem Drahtzaun umgeben war, gekrönt von einem hölzernen Geländer in Hüfthöhe. Neben laminierten Schautafeln, die über die Muster der Walwanderungen und die Nistgebiete der Seeschwalben informierten, warnte eine klar lesbare Ankündigung Unbefugte, dass Kletterpartien auf den Klippen mit $ 500 bestraft wurden.

Niemand sonst war dort oben gewesen. Kieran hatte sich zu Mia auf eine Bank gesellt, die ebenfalls erst in den letzten Jahren aufgestellt worden war, und mit ihr aufs Meer geschaut, während der Wind ihr Haar zauste. Das Wasser, das tausend unterschiedliche sprudelnde Farbschattierungen annehmen konnte, war an diesem Nachmittag ein wogendes Feld in stumpfem Graugrün. Etwas weiter draußen ankerte ein Katamaran und schwankte sacht in den Wellen. Seans Boot, die Nautilus Blue.

»Ist er unten?« Mia kniff die Augen zusammen und suchte das Deck ab.

»Sieht so aus.« Kieran konnte die gehisste Taucherflagge erkennen, die flatternd ihre Botschaft verkündete: Taucher unten.

Kieran hatte die Wasseroberfläche nach einem dunklen Taucheranzug abgesucht, einem Kopf zwischen den Wellen, aber die Oberfläche war unbewegt. Er hatte nicht ernsthaft erwartet, Sean zu sehen. Das Wrack der fluchbeladenen SSMary Minerva lag fünfunddreißig Meter unter der Wasseroberfläche. Sean konnte eine ganze Weile unten sein. Das Denkmal, das an die vierundfünfzig Passagiere und Mannschaftsmitglieder erinnerte, die vor fast einem Jahrhundert hier ihr Leben verloren hatten, stand auf einem Felsvorsprung und war dem Ort des Untergangs zugewandt.

Es hieß, es sei bei jedem Wetter vom Wasser wie vom Land aus zu sehen. Das stimmte nicht, wusste Kieran, der nicht umhin kam, daran mit einem Schuss Bitterkeit zu denken, jedes Mal, wenn er es sah. Nicht bei jedem Wetter. Dennoch schienen die Leute es zu mögen. Und das war mehr Würdigung, als die meisten Schiffswracks erfuhren. Die tasmanische See war berüchtigt dafür, mehr als tausend Schiffe gefordert zu haben, deren rostige Skelette langsam verrotteten und die das Meer rund um die Insel in einen Unterwasserfriedhof verwandelt hatten.

»Die Geschäfte laufen gut, danke«, sagte Sean gerade und erhob die Stimme wegen der Geräuschkulisse im Surf and Turf. »Viel zu tun in diesem Sommer, was hilft. Bin allerdings auch froh, wenn es vorbei ist.«

»Endlich Zeit fürs Vergnügen?«, sagte Kieran.

»Ja.« Sean lächelte. »Der nächste Auftrag steht erst in ein paar Wochen an. Eine Gruppe aus Norwegen.«

»Alles einsatzbereit?«

»So gut wie.«

In dem Geschäft war dies immer eine besonders arbeitsreiche Zeit, erinnerte Kieran sich, und daran würde sich nichts geändert haben. Sean würde den ganzen Sommer über Touristen zum Fischen und Schnorcheln und zu einfachen Tauchgängen in nicht allzu großer Tiefe begleiten. Geld konnte man nur machen, wenn genügend Kundschaft da war. Wenn der Herbst nahte und die Algen verschwanden, die das Wasser im Sommer verdunkelten, kamen die ernsthaft interessierten Taucher von überall auf der Welt, um die wenigen Monate auszunutzen, in denen die Sicht unter Wasser hervorragend war, und Sean konnte das tun, was er am liebsten tat: tief tauchen.

Die Mary Minerva war eines der wenigen zugänglichen Schiffwracks in diesem Staat, aber es war nur für Taucher geeignet, die wussten, was sie taten. Und Taucher, die wussten, was sie taten, wollten sich die Erfahrung nicht durch suboptimale Rahmenbedingungen versauen lassen, also war die Zeitspanne begrenzt. Ab Juli waren die winterlichen Bedingungen des Meeres so trügerisch, dass man das Wrack unmöglich erreichen konnte, und die Mary Minerva würde ein weiteres Jahr einsam unter Wasser liegen.

»Ich wollte mit den Sicherheitsüberprüfungen eigentlich schon weiter sein«, erklärte Sean. »Die Norweger möchten sich den Maschinenraum ansehen, aber in diesem Jahr ist das fraglich. Mir schmeckt diese von Norden hereinziehende Wand gar nicht. Ich muss zuerst selbst rein und mich umsehen, aber ich glaube, meine gute Tauchlampe ist irgendwo über Bord gegangen.«

»Ich habe sie den Mädchen geliehen.« Ash hob den Kopf von seinem Handy.

»Meine gelbe Tauchlampe? Die wasserfeste?«

»Ja. Tut mir leid, ich dachte, ich hätte es dir gesagt.«

Sean kniff die Augen zusammen. »Diese Lampe suche ich seit Wochen. Ich wollte mir schon eine neue kaufen.«

Ash sah Seans Gesicht und musste lachen. »Hab dich nicht so. Ich dachte, ich hätte es dir erzählt. Davon abgesehen brauchten die beiden eine. Sie hatten nur eine beschissene kleine.«

»Die war teuer.« Sean wirkte immer noch leicht vergrätzt. »Und man soll sie an Land nicht so lange benutzen. Die Birne kann zu heiß werden. Hey, Liv«, sagte er, als Olivia mit dem Getränketablett kam, »braucht ihr Mädels noch meine Tauchlampe? Die gelbe?«

»Oh.« Sie servierte und klemmte sich anschließend das Tablett unter den Arm. »Ich brauchte sie sowieso nicht, das war Bronte.«

Sean runzelte die Stirn. »Wozu?«

Olivia zögerte. Bronte stapelte an der Bar außer Hörweite Gläser. »Sie dachte, sie hätte nachts Geräusche hinter dem Haus gehört.«

»Wirklich?« Mia zog die Augenbrauen hoch. »Auf dem Stück, das zum Strand führt?

»Ja«, sagte Olivia. »Ich meine, wenn deine Mitbewohnerin dir so etwas erzählt, nimmst du das natürlich ernst, aber …« Sie lehnte sich an den Tisch und spielte gedankenverloren mit ihrer Halskette. »Guck mal, ich sage nicht, dass sie nicht geglaubt hat, etwas zu hören, aber ich wohne dort seit zwei Jahren und habe nie irgendwelche Probleme gehabt. Sogar im Sommer, wenn es am Strand zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen gibt.« Olivia blickte Ash an. »Du hast auch nichts gehört, oder, als du da warst?«

Ash schüttelte den Kopf. »Hab mich mal umgeschaut, nur für den Fall, bei all den Touristen. War aber nichts. Ich meine, der Schuppen steht immer offen, aber es fehlte nichts. Wahrscheinlich war es ein Hund.«

Mia legte die Stirn in Falten. »Trotzdem merkwürdig.«

»Stimmt«, sagte Olivia. »Es war eine Zeit lang ziemlich beunruhigend. Aber das Fenster in Brontes Zimmer geht aufs Meer raus, und du weißt, wie es sich anhören kann mit dem Wind und dem Wasser. Besonders, wenn man damit nicht groß geworden ist.«

Sie nickten alle.

»Wie auch immer.« Olivia zuckte mit den Schultern und wandte sich an Sean. »Bronte hat es seit ein paar Wochen nicht mehr erwähnt, also denke ich …« Sie hielt inne und wandte sich an Bronte, als diese vorbeilief: »Bronte, du brauchst die gelbe Lampe nicht mehr, oder?«

Bronte blieb stehen, etwas peinlich berührt, als sie merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. »Nein. Ich brauche sie nicht mehr.«

»Sicher?«, fragte Sean. »Wenn du dir Sorgen wegen irgendwelcher Geräusche vom Strand her machst, habe ich noch eine andere, und du …«

»Nein, ist schon okay. Aber vielen Dank. Alles in Ordnung.«

»Hast du rausgekriegt, was das für Geräusche waren?«, fragte Olivia überrascht.

»Ich …« Brontes Blick wanderte kurz zu Kieran, und ihre Augen trafen sich lange genug, dass er ihren Gesichtsausdruck registrierte. Unangenehm berührt, ganz eindeutig. Vielleicht ein Hauch von Mitleid? Das wäre ebenfalls nicht ganz neu. Aus der Küche kam das Geräusch einer klappernden Pfanne, und Bronte kniff die Augen zusammen. Sie blickte wieder Olivia an. »Ja, ich bin ziemlich sicher, dass es nichts war, worüber man sich Sorgen machen muss. Ich habe mir einfach nur etwas eingebildet.«

Sie drehte sich um und ging zurück in die Küche. Kieran sah, wie Liam sich aus der Durchreiche lehnte. Als sie sich näherte, murmelte er etwas, und beide warfen einen kurzen Blick auf Kieran.

Wie ich es sehe – wenn du jemanden umbringst, hast du alle Scheiße, die du abkriegst, voll verdient.

Kieran erinnerte sich an Liams unmissverständliche Worte, die er aus der Küche vernommen hatte.

Stille war eingetreten, nur ein Industrieventilator surrte grimmig. Kieran hatte versucht, sich loszureißen. Geh zurück an den Tisch, hatte er sich gesagt. Geh zurück zu Mia und Ash. Du musst dir das nicht anhören. Er war stehen geblieben, ein wenig außer Sichtweite.

»Wie bitte? Der Typ mit dem Baby?«, hatte Bronte schließlich gefragt. »Dieser Typ? Der hat jemanden getötet?«

Wenigstens scheint sie Zweifel daran zu haben, hatte Kieran gedacht. Zu Unrecht, aber immerhin.

»Ja.« Liam war jetzt sauer. »Zwei Menschen, um genau zu sein. Einer davon war mein Vater.«

»Scheiße, wirklich?« Verblüfftes Schweigen. »Mein Gott, was ist passiert? Nein, tut mir leid, du musst nicht …«

»Schon in Ordnung. Ich meine, es ist nicht in Ordnung, natürlich, aber es ist jetzt zwölf Jahre her.«

»Es tut mir so leid, Liam.« Bronte klang, als ob sie es ernst meinte. »Ich war nur überrascht. Er sieht so … normal aus. Weiß seine Partnerin es?«

»Ja, natürlich. Die ist hier zur Schule gegangen, als es passierte. Es war am Tag des Sturms.«

Kieran konnte das Unverständnis in Brontes Schweigen hören.

»Nicht so wichtig«, fuhr Liam fort. »Es gab diesen großen Sturm, der schlimmste seit achtzig Jahren. Aber alle, die hier waren, erinnern sich daran, und alle wissen, was er getan hat. Sie könnten es dir alle erzählen.«

»Was ist mit deinem Onkel?«

»Sean?«, fragte Liam. »Was soll mit ihm sein?«

»Ich dachte, Olivia hätte gesagt, dass Sean vorbeikommt und dass sie alle was trinken, also …«

»Oh, ja.« Liam lachte bitter auf. »Sind alles gute Freunde.«

»Aber …« Bronte war immer noch durcheinander. »… waren Sean und dein Dad nicht Brüder, oder seid ihr durch Heirat miteinander verwandt, oder …?

»Ja, mein Dad war Seans älterer Bruder.« Kieran stellte sich vor, wie Liam den Kopf schüttelte. »Aber Sean hat … ich weiß nicht … ihm vergeben.«

»Und alle wissen das?«, fragte Bronte.

»Die meisten.«

»Aber …« Eine lange Pause. »Ich meine, warum tut dann jeder so, als wäre nichts passiert?«

»Aus demselben Grund, aus dem Sean immer noch mit ihm befreundet ist. Der Kerl tut den Leuten leid. Nicht, dass es ihnen leid tun sollte«, sagte Liam nachdrücklich, »aber so ist es nun mal. Weil das Arschloch es auch noch fertiggebracht hat, seinen eigenen Bruder umzubringen.«

Kapitel 4

Wenn Evelyn Bay vorher schon ruhig gewesen war, wirkte es gänzlich ausgestorben, als Kieran, Mia und Sean in die Nachtluft traten. Sie waren bis zum Feierabend geblieben, als Bronte schon systematisch die Tische um sie herum abräumte, während die Kundschaft nach und nach aufbrach.

Um Punkt elf hatte der Manager sich die Hände an der Schürze abgewischt, die grellen Putzlichter eingeschaltet und die Musik abgedreht. Er war aus der Küche gekommen, hatte mit den Fingern geschnipst, auf die Abstellkammer gewiesen und etwas durch die Servierklappe in die Küche gerufen. Liam war daraufhin erschienen und hatte missmutig mit Eimer und Wischmopp geklappert. Mit gesenktem Kopf goss er Wasser auf den Boden, wobei er linkisch die Schultern hochzog.

Während Kieran an der Kasse wartete, um zu zahlen, hatte es eine Weile gedauert, bis er begriff, dass Liam das schmutzige Wasser absichtlich vor seine Füße trieb. Es war eine so hilflose Geste, dass er Kieran geradezu leidtat. Er machte sich nicht mal die Mühe, einen Schritt beiseitezutreten, sondern ließ das Seifenwasser einfach über die Kacheln fließen und sich um seine Schuhsohlen sammeln. Gott, wenn der Typ es so dringend brauchte, bitte schön.

Sean hatte sich das Treiben eine Weile angeschaut, wobei seine Augen von Liam zu Kieran und zurück wanderten, bevor er sich erhob. Er schlenderte zu seinem Neffen hinüber, legte ihm eine Hand auf den Rücken und sagte etwas in beruhigendem Ton. Liam hatte weiter Wasser auf den Boden gespritzt, bis Sean einen Arm ausstreckte und den Mopp einfach festhielt. Sean war kleiner und schmaler als sein breitschultriger Neffe, aber in diesem Moment hatte Liam ausgesehen wie ein Kind. Sean beugte sich wieder vor und redete mit derselben beruhigenden Stimme auf ihn ein. Schließlich nickte sein Neffe. Sean richtete sich auf und gab Liam einen freundlichen Klaps auf die Schulter.

»Guter Mann.«

Er hatte den Mopp freigegeben, und Liam putzte weiter. Aus den Augenwinkeln hatte Kieran mitbekommen, wie Bronte die Szene beobachtete, während das Abtrockentuch untätig in ihren Händen baumelte.

Mia blieb in der Tür stehen, um Olivia zum Abschied zu umarmen.

»Möchtest du, dass wir warten und dich nach Hause begleiten?«, fragte sie. »Wir kommen direkt an Fisherman’s Cottage vorbei.«

»Ist schon okay. Samstagabends übernachte ich meistens bei meiner Mutter«, antwortete Olivia. »Sonntagmorgens machen wir zusammen Yoga, damit ihr das Wochenende nicht zu sehr aufs Gemüt schlägt.« Olivia strich sich eine Locke aus der Stirn. »Alles in Ordnung. Ash bleibt noch hier und setzt mich bei Mutter ab. Aber weißt du was? Lass uns etwas an einem Abend unternehmen, wenn ich nicht arbeiten muss.«

»Auf jeden Fall«, sagte Mia und winkte mit einigen Babyhütchen Bronte zu, die mit gerunzelter Stirn vor der Kasse stand. »Bye. Und vielen Dank hierfür.«

»Oh.« Aus dem Konzept gebracht sah Bronte hoch. »Dafür nicht. Sehr gerne.« Das Lächeln verschwand, als sie ihr Augenmerk von Kieran und Mia wieder auf die Kasse lenkte, wobei sich die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte.

Auf der Straße war es im Gegensatz zum hellen Licht im Surf and Turf schummrig. Nur hin und wieder warf eine Straßenlampe einen schwachen orangefarbenen Schein, als Kieran, Sean und Mia durch den schlafenden Ort liefen. Kieran konnte die herannahende Flut hören, und innerhalb weniger Minuten war das Meer wieder zu sehen, während die Geschäfte immer spärlicher gesät waren. Sie kamen an der Tankstelle und dem Backsteingebäude der Polizei vorbei, und ein wenig oberhalb sah Kieran den Widerschein der Sicherheitsscheinwerfer im Hafen, welche die Nacht durchschnitten.

»Hat Liam Ärger gemacht?«, fragte Sean.

Kieran schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht miteinander gesprochen.« Im Dunkeln griff Mia nach seiner Hand.

»Ich wollte ihn vorwarnen, dass du kommst, aber ich wurde im Wrack aufgehalten.« Sean hielt inne. »Scheiße, vielleicht hätte ich dich auch warnen sollen.«

»Nicht so schlimm. Wenn ich ihn dort nicht getroffen hätte, dann irgendwo sonst.« Bis zum Yachthafen war es nicht mehr weit, die Bote lagen still und erstrahlten weiß unter dem hellen Licht. »Arbeitet Liam jetzt ganztags im Surf and Turf?«

»Nein, nur im Sommer hin und wieder eine Schicht. Den Rest der Zeit hilft er mir auf dem Boot.«

»Das ist gut.«

»Er war etwas verloren, nachdem er die Schule beendet hatte. Wie auch immer …« Sean war vor dem hellbraunen Holzhaus stehen geblieben. »Da bin ich.«

Alle Fenster waren dunkel, aber als Sean das Tor öffnete, schaltete sich eine Sicherheitsleuchte an und beschien eine leicht durchhängende Veranda und einen makellos getrimmten Vorgarten. Ein Schild am Zaun annoncierte Namen und Website von Ashs Landschaftsgärtnerei.

Mit einer Hand auf dem Tor blieb Sean stehen. »Tut mir leid wegen Liam. Ich werde ein Wörtchen mit ihm reden.«

»Lass gut sein. Ich habe gehört, wie er sich mit dieser Kellnerin unterhalten hat, aber wir haben gar nicht miteinander gesprochen. Alles in Ordnung.«

Sean antwortete nicht, fuhr sich aber auf eine Weise mit der Hand über die Bartstoppeln, die erkennen ließ, dass er seinen Neffen etwas besser kannte als Kieran. Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders und zog sein Handy hervor.

»Diese Woche muss ich fast täglich unten beim Wrack sein.« Er öffnete die Wetter-App und schaute nach der Vorhersage. »Sag einfach Bescheid, wenn du mitkommen willst, die Wetterverhältnisse sind morgen ziemlich perfekt. Montag und Dienstag nicht so gut, aber ich werde trotzdem da unten sein.« Sean hob die Hand zum Gruß. »Gut, euch zu sehen. Wie Liv schon sagte, lasst uns das wiederholen, wenn sie frei hat, ja?«

Kieran und Mia blickten ihm hinterher, wie er die hölzernen Stufen hinaufstieg, die Tür öffnete und mit dem Schlüsselbund rasselnd im Innern verschwand. Kieran warf einen Blick auf Mia. Er war müde, aber plötzlich konnte er sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal wirklich allein gewesen waren. Wahrscheinlich war es nur drei Monate her, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

»Kurz an den Strand?«, fragte er.

Mia lächelte. »Klar.«

Hand in Hand liefen sie auf das Rauschen des Ozeans zu, wobei sie sich vom Yachthafen entfernten und in die finstere Nacht dahinter eintauchten. Der Horizont war eine tintenschwarze Linie, darüber ein heller Mond und ein paar versprengte Sterne.

»Hat Liam vorhin wirklich nichts gesagt?«, wollte Mia wissen.

»Nicht zu mir. Nur zu dem Mädchen, Bronte. Ich habe sie zufällig in der Küche gehört.«

»Was hat er ihr erzählt?«

»Das, was zu erwarten war.«

Sie verstummten. Mehr gab es nicht zu sagen. Kieran war froh. Das war es, was er an Mia seit dem ersten Abend geschätzt hatte, an dem sie sich getroffen hatten, – erneut getroffen, um genau zu sein – in einer lauten Studentenbar im Zentrum von Sydney.

Er hatte sein Bier gekippt und sich wie so oft in diesen ersten Jahren überfordert gefühlt. Seines Studiums und seiner Freunde überdrüssig, die nicht mehr als Bekannte waren, überdrüssig der Anstrengung, jeden Morgen die Augen zu öffnen und sie abends wieder zu schließen. Überfordert vom Leben an sich. Der Nebel war so dick geworden, dass er sich daran gewöhnt hatte, halb blind durch seine Tage zu navigieren.

»Ja, hört sich ganz danach an«, hatte der Arzt auf dem Campus nüchtern erklärt, als Kieran sich gezwungen sah, einen Termin zu machen, nachdem er mehrfach in Vorlesungen eingeschlafen war. »Mentale Überforderung. Gewöhnliches Posttrauma. Fühlen Sie sich, als gestatte Ihnen nur der Schlaf eine Auszeit von sich selbst? Vielleicht sollten Sie eine psychologische Beratung in Betracht ziehen? Eine weitere Meinung könnte helfen.«

Kieran hatte die Klinik mit mehreren Telefonnummern in der Tasche verlassen und war widerstrebend in die Bar gegangen, wo einige Mädchen versuchten, ihm noch weitere zuzustecken. Was er wirklich wollte, war, nach Hause zu gehen und zu schlafen, aber irgendjemand hatte Geburtstag – er konnte sich kaum daran erinnern, wer –, und die Jungs in seinem Kurs waren sowieso schon sauer, weil er nie mitkam. Er kaufte sich ein Bier, hielt sich daran fest und tat so, als wäre es sein drittes oder viertes.

Endlich war die Zeit gekommen, in der er seine leere Flasche auf den Tresen stellen und gehen konnte, ohne sich zu verabschieden, als sich jemand aus der Masse dieses Freitagabends löste und ihn anhielt.

»Kieran?«

Er hatte die Frau vor sich angeblinzelt. »Ja?«

»Hi.« Sie berührte ihn an der Schulter. »Mia Sum.«

Damals noch mit Brille und einem schnurgeraden Pony, sah sie wie eine hübsche Streberin aus. Dazu trug sie ein rotes Kleid, das sie, wie er später erfuhr, als ihren Glücksbringer betrachtete. Das Mineralwasser in ihrer Hand stellte sich als überraschend leckerer Wodkacocktail heraus, den sie erfunden hatte und noch Jahre später als Mias Mischung bezeichnete.

»Ich habe früher in Evelyn Bay gewohnt«, hatte Mia noch hinzugefügt, als er sie im Gedränge der Bar nicht sofort erkannte. »Ich war …« Sie zögerte. »Ich war Gabbys Freundin.«

Sie sprach den Namen laut und deutlich aus, was Kieran bemerkenswert fand. Die meisten neigten dazu, bei der Erwähnung von Gabby Birch die Stimme zu senken.

Mia schien abgeneigt, weiter auszuholen, doch das war nicht nötig. In der Zwischenzeit hatte Kieran sie richtig eingeordnet und Mühe, jenes schüchterne Mädchen mit der Frau in Übereinstimmung zu bringen, die vor ihm stand.