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Jane Harper

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Beschreibung

Der neue Roman von der «Queen of Crime» (Sunday Times). Eindringlich schreibt Jane Harper über die gnadenlose australische Wildnis und über Menschen, die grausamer sein können als jede Natur. Zwei Brüder treffen sich am Zaun, der ihre Farmen voneinander trennt. Tief im Outback sind sie einander die einzigen Nachbarn. Ihre Häuser liegen vier Stunden Autofahrt voneinander entfernt. Cam, der mittlere Bruder, der die Familienranch verwaltete, liegt tot zu ihren Füßen. Er ist allein in der Hitze gestorben. Die beiden Männer bringen ihren Bruder heim auf die Ranch. Aber in der tiefen Trauer wächst das Misstrauen. Was, wenn Cam keines natürlichen Todes gestorben ist? Was, wenn Isolation und Einsamkeit hier im Nirgendwo die Menschen verändern - zum Bösen? «Wirklich einzigartig. Nichts ist so, wie es zu Beginn scheint.» (Spiegel)

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Jane Harper

Zu Staub

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

 

Über dieses Buch

Der neue Roman von der «Queen of Crime» (Sunday Times). Eindringlich schreibt Jane Harper über die gnadenlose australische Wildnis und über Menschen, die grausamer sein können als jede Natur.

Zwei Brüder treffen sich am Zaun, der ihre Farmen voneinander trennt. Tief im Outback sind sie einander die einzigen Nachbarn. Ihre Häuser liegen vier Stunden Autofahrt voneinander entfernt. Cam, der mittlere Bruder, der die Familienranch verwaltete, liegt tot zu ihren Füßen. Er ist allein in der Hitze gestorben. Die beiden Männer bringen ihren Bruder heim auf die Ranch. Aber in der tiefen Trauer wächst das Misstrauen. Was, wenn Cam keines natürlichen Todes gestorben ist? Was, wenn Isolation und Einsamkeit hier im Nirgendwo die Menschen verändern – zum Bösen?

Vita

Jane Harper ist Journalistin beim Herald Sun. Sie lebt in Melbourne. Mit ihrem Erstling «Hitze» gewann sie den wichtigsten britischen Krimipreis, den «Gold Dagger».

Für Pete und Charlotte, in Liebe

Prolog

Von oben, aus einiger Entfernung betrachtet, sahen die Spuren im Staub ringförmig aus. Der Ring war keineswegs kreisrund, sondern hatte einen ungleichmäßigen Rand, der mal dicker, mal dünner wurde und an manchen Stellen unterbrochen war. Außerdem war er nicht leer.

In der Mitte stand ein Grabstein, glatt geschmirgelt von Sand, Wind und Sonne, denen er hundert Jahre lang getrotzt hatte. Der Grabstein war einen Meter hoch und stand noch immer kerzengerade. Seine Vorderseite zeigte nach Westen, zur Wüste hin, was da draußen ungewöhnlich war. Der Westen war keine beliebte Richtung.

Der Name des unter dem Stein bestatteten Mannes war längst verschwunden, und das Grab wurde von den Einheimischen – fünfundsechzig an der Zahl plus 100000 Stück Vieh – schlicht «das Stockman-Grab» genannt. Dieses Stück Land war nie ein Friedhof gewesen. Der Stockman, das australische Pendant zum amerikanischen Cowboy, war einfach nur an der Stelle vergraben worden, wo er gestorben war, und in mehr als einem Jahrhundert hatte sich niemand zu ihm gesellt.

Wenn ein Besucher mit den Händen über den abgewetzten Stein gefahren wäre, hätte er in den Vertiefungen Reste eines Datums erspüren können. Eine Eins und eine Acht und eine Neun vielleicht – 1890-irgendwas. Nur fünf Wörter waren noch lesbar. Sie waren weiter unten eingemeißelt, wo sie vor dem Wetter besser geschützt waren. Vielleicht waren sie aber auch von Anfang an tiefer hineingehauen worden, weil man die Inschrift für wichtiger gehalten hatte als den Verstorbenen. Sie lauteten:

der in die Irre ging

Monate konnten vergehen, manchmal ein Jahr, ohne dass ein einziger Mensch vorbeikam, geschweige denn stehen blieb, um die verblichene Inschrift zu lesen oder nach Westen in die Abendsonne zu blinzeln. Nicht einmal das Vieh hielt sich hier länger auf. Der Boden war normalerweise elf Monate im Jahr sandig und trocken und die übrige Zeit mit schlammigem Wasser überflutet. Die Rinder zogen lieber nach Norden, wo sie besseres Weideland und schattenspendende Bäume fanden.

Somit lag das Grab meistens einsam und verlassen da, nicht weit von einem einfachen Viehzaun. Der aus drei Drähten bestehende Zaun erstreckte sich zwölf Kilometer nach Osten bis zu einer Straße und ein paar hundert Kilometer nach Westen in die Wüste, wo der Horizont so weit war, dass man fast meinen konnte, die Erdkrümmung zu erkennen. Es war ein Land von Luftspiegelungen, wo die wenigen kümmerlichen Bäume in weiter Ferne schimmerten und auf nicht vorhandenen Seen trieben.

Irgendwo nördlich des Viehzauns lag eine Farm und eine weitere im Süden – direkte Nachbarn, aber drei Autostunden voneinander entfernt. Die Straße im Osten war vom Grab aus nicht zu sehen und eigentlich kaum als Straße zu bezeichnen. Es handelte sich eher um eine breite Sandpiste, die mitunter tagelang von keinem Fahrzeug benutzt wurde.

Über diese Piste gelangte man irgendwann nach Balamara, einem Ort, der im Grunde nur aus einer einzigen Straße mit dünn besiedeltem Umland bestand und dessen komplette Einwohnerschaft locker in einem einzigen großen Raum Platz gefunden hätte. Fünfzehnhundert Kilometer weiter östlich lagen Brisbane und die Küste.

Zu bestimmten Zeiten im Jahr dröhnten Hubschrauber über dem Stockman-Grab und ließen den Himmel erzittern. Die Piloten trieben Rinderherden mit Hilfe von Rotorenlärm und Flugmanövern über Gebiete, die so groß waren wie kleine europäische Staaten. Vorläufig jedoch wölbte sich der Himmel leer und weit.

Später – zu spät – würde ein Hubschrauber die Gegend überfliegen, bewusst tief und langsam. Der Pilot würde als Erstes den Wagen entdecken, in der Hitze glänzendes Metall. Das Grab in einiger Entfernung würde er nur zufällig bemerken, während er auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz eine Schleife flog.

Der Pilot würde den Ring im Staub nicht sehen. Aber ihm würde der blaue Stoff auf der roten Erde auffallen. Ein Arbeitshemd, aufgeknöpft und halb ausgezogen. Die Temperatur hatte in den letzten Tagen zur heißesten Zeit am Nachmittag die Fünfundvierzig-Grad-Marke geknackt. Die ungeschützte Haut war sonnenverbrannt.

Später würde man die mal dicken und mal dünnen Spuren im Staub sehen und den Blick auf den fernen Horizont richten, um sich nicht vorstellen zu müssen, wie sie entstanden waren.

Der Grabstein warf einen kleinen Schatten. Es war der einzige Schatten weit und breit, und er war unbeständig, denn er wurde mal breiter, mal schmaler, während er sich wie eine Sonnenuhr drehte. Der Mann war der Bewegung des Schattens gefolgt, erst auf allen vieren, dann nur noch kriechend. Er hatte sich in diesen Schatten geduckt, den Körper zu verzweifelten Verrenkungen gezwungen, mit den Füßen den Boden aufgekratzt und -gescharrt, je mehr er von Angst und Durst überwältigt wurde.

Er hatte eine kurze Atempause gehabt, als die Nacht anbrach, ehe die Sonne aufging und der grausame Tanz erneut begann. Am zweiten Tag dauerte es nicht mehr so lange, während die Sonne am Himmel höher stieg. Aber der Mann hatte es versucht. Er hatte den Schatten verfolgt, bis er nicht mehr konnte.

Der Kreis im Staub beschrieb fast eine volle Umdrehung. Also knapp vierundzwanzig Stunden. Und dann, endlich, bekam der Stockman Gesellschaft, während sich die Erde drehte und der Schatten allein weiterrückte und der Mann reglos mitten auf einem staubigen Grab unter einem gnadenlosen Himmel lag.

Kapitel eins

Nathan Bright sah erst nichts und dann alles auf einmal.

Er war die Anhöhe hochgefahren, das Lenkrad fest umklammert, um auf dem holprigen Untergrund nicht die Kontrolle zu verlieren, und oben angekommen, lag plötzlich alles vor ihm. Sichtbar, aber noch immer meilenweit entfernt, was ihm zu viel Zeit ließ, um die Szene, die vor seinen Augen größer und größer wurde, eingehend zu betrachten. Er schielte zum Beifahrersitz hinüber.

«Nicht hinsehen», lag ihm auf der Zunge, aber er verkniff es sich. Es wäre sinnlos gewesen. Der Schauplatz vor ihnen zog den Blick magisch an.

Dennoch stoppte er den Wagen etwas weiter vom Zaun als nötig. Er zog die Handbremse, ließ Motor und Klimaanlage laufen. Beide protestierten mit misstönendem Gekreische gegen die Dezember-Hitze von Queensland.

«Bleib im Wagen», sagte er.

«Aber –»

Nathan knallte die Tür zu, ehe er den Rest hören konnte. Er ging zum Zaun, zog die oberen Drähte auseinander und schlüpfte hindurch, von seinem Grundstück auf das seiner Brüder.

Am Stockman-Grab parkte ein Geländewagen ebenfalls im Leerlauf und wahrscheinlich auch mit auf Hochtouren laufender Klimaanlage. Nathan war gerade ein paar Schritte vom Zaun entfernt, als die Fahrertür aufging und sein Bruder Lee ausstieg. Er war der Nachzügler und wurde deshalb von allen nur «Bub» genannt, eine Art Kosewort für Babys.

«Hi», rief Bub, als Nathan näher kam.

«Hi.»

Sie trafen sich am Grabstein. Nathan wusste, irgendwann würde er nach unten schauen müssen, und er zögerte den Moment hinaus, indem er sich Bub zuwandte.

«Wie lange bist du –» Er hörte Bewegung hinter sich und hob warnend die Hand. «He! Bleib im Wagen, verdammt noch mal!» Er musste schreien, um die Entfernung zu überbrücken, und es kam barscher heraus, als er beabsichtigt hatte. Er versuchte es noch einmal: «Bleib im Wagen.»

Nicht viel besser, aber sein Sohn gehorchte wenigstens.

«Hab ganz vergessen, dass Xander bei dir ist», sagte Bub.

«Ja.» Nathan wartete, bis die Autotür wieder geschlossen war. Er konnte Xanders Silhouette durch die Frontscheibe sehen; mit sechzehn schon mehr Mann als Junge. Er wandte sich wieder seinem Bruder zu. Zumindest dem, der vor ihm stand. Ihr dritter Bruder, der mittlere, lag zu ihren Füßen vor dem Grabstein. Cameron Bright war Gott sei Dank mit einer verblichenen Plane zugedeckt worden.

Nathan versuchte es erneut. «Wie lange bist du schon hier?»

Bub überlegte einen Moment, was er oft tat, ehe er antwortete. Seine Augen unter der Hutkrempe waren leicht verschleiert, und seine Worte kamen einen Tick langsamer heraus als bei den meisten Leuten. «Seit gestern Abend, kurz bevor es dunkel wurde.»

«Kommt Onkel Harry nicht?»

Wieder ein Zögern, dann ein Kopfschütteln.

«Wo ist er? Zu Hause bei Mum?»

«Und Ilse und den Mädchen», sagte Bub. «Er wollte kommen, aber ich hab gesagt, du wärst schon auf dem Weg hierher.»

«Ist wahrscheinlich besser, wenn einer bei Mum ist. Gab’s Probleme?» Endlich blickte Nathan nach unten auf das Bündel zu seinen Füßen. Es hatte unweigerlich Aasfresser angelockt.

«Meinst du Dingos?»

«Ja, Mensch.» Natürlich. Was denn sonst? So viele Möglichkeiten gab’s hier draußen ja nicht.

«Musste ein paar Schüsse abfeuern.» Bub kratzte sich am Schlüsselbein, und Nathan konnte den Rand des westlichen Sterns von dem Kreuz des Südens sehen, das er sich hatte tätowieren lassen. «War aber halb so schlimm.»

«Gut. Okay.» Nathan spürte die übliche Frustration, die er jedes Mal empfand, wenn er mit Bub sprach. Er wünschte, Cameron wäre da, um die Wogen zu glätten, und das jähe Begreifen war wie ein schmerzhafter Stich in die Rippen. Er zwang sich, tief einzuatmen, die Luft heiß in Kehle und Lunge. Das hier war für alle schwer.

Bubs Augen waren rot und sein Gesicht unrasiert und vom Schock gezeichnet, genau wie Nathans vermutlich auch. Sie sahen einander ein bisschen, aber nicht sehr ähnlich. Die Geschwisterbeziehung war deutlicher mit Cameron in der Mitte, der die Kluft in mehrfacher Hinsicht überbrückte. Bub sah müde aus und, wie immer in letzter Zeit, älter, als Nathan ihn in Erinnerung hatte. Sie waren zwölf Jahre auseinander, und Nathan stellte stets eine gewisse Verwunderung bei sich fest, wenn er sich klarmachte, dass sein Bruder auf die dreißig zuging, statt noch in den Windeln zu liegen.

Nathan ging neben der Plane in die Hocke. Sie war ausgebleicht und an einigen Stellen festgesteckt, wie ein Bettlaken.

«Hast du ihn dir angesehen?»

«Nein. Die haben gesagt, ich soll nichts anfassen.»

Nathan glaubte ihm nicht. Es hing mit Bubs Tonfall zusammen oder vielleicht damit, dass die Plane am oberen Ende locker war. Und tatsächlich, als er die Hand ausstreckte, stieß Bub einen heiseren Laut aus.

«Nicht, Nate. Ist kein schöner Anblick.»

Bub hatte nie gut lügen können. Nathan zog die Hand zurück und richtete sich auf. «Was ist mit ihm passiert?»

«Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was über Funk gesagt wurde.»

«Tja, ich hab da so einiges verpasst.» Nathan schaute Bub nicht direkt an.

Bub trat von einem Bein aufs andere. «Mann, ich dachte, du hast Mum versprochen, das Funkgerät anzulassen.»

Nathan erwiderte nichts, und Bub bohrte nicht nach. Nathan blickte nach hinten über den Zaun zu seinem eigenen Landbesitz. Er konnte Xander sehen, unruhig, auf dem Beifahrersitz. Sie waren die vergangene Woche die südliche Grenze abgefahren, hatten tagsüber gearbeitet, nachts kampiert. Am Tag zuvor hatten sie gerade Feierabend machen wollen, als die Luft plötzlich zu vibrieren begann und ein Hubschrauber über sie hinwegflog. Ein schwarzer Vogel vor dem Indigoblau des sterbenden Tages.

«Wieso fliegt der noch so spät?», hatte Xander gesagt und mit zusammengekniffenen Augen nach oben gespäht. Nathan hatte nicht geantwortet. Nachtflug. Eine gefährliche Entscheidung, die nichts Gutes verhieß. Irgendwas musste passiert sein. Sie hatten das Funkgerät eingeschaltet, doch da war es längst zu spät.

Nathan sah seinen Bruder an. «Hör mal, ich hab genug mitgekriegt. Das heißt aber nicht, dass ich es verstehe.»

Bubs stoppelige Wangenpartie zuckte. Willkommen im Klub. «Ich weiß nicht, was passiert ist», sagte er wieder.

«Schon gut, erzähl mir einfach, was du weißt.»

Nathan versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Er hatte am Vorabend, als es dunkel wurde, kurz über Funk mit Bub gesprochen und ihm gesagt, dass er bei Tagesanbruch herkommen würde. Er hatte noch zahllose weitere Fragen gehabt, aber keine davon gestellt. Nicht über eine offene Funkfrequenz, bei der jeder mithören konnte, wenn er wollte.

«Wann ist Cam denn von zu Hause losgefahren?» Er wollte Bub auf die Sprünge helfen, weil der offenbar nicht wusste, wo er anfangen sollte.

«Vorgestern Morgen, meint Harry. Gegen acht.»

«Also Mittwoch.»

«Ja, genau. Ich hab ihn aber nicht gesehen, weil ich selbst am Dienstag losgefahren war.»

«Wohin?»

«Ein paar Wasserlöcher auf der Nordweide kontrollieren. Wir hatten ausgemacht, dass ich da oben kampiere, dann am Mittwoch rüber zum Lehmann’s Hill fahre, um mich mit Cam zu treffen.»

«Wozu?»

«Den Verstärkermast reparieren.»

Also, damit Cam ihn reparierte, dachte Nathan. Bub wäre hauptsächlich dabei gewesen, um Werkzeug anzureichen. Und weil es zu zweit sicherer war. Lehmann’s Hill lag am Westrand der Farm, mit dem Auto vier Stunden von zu Hause entfernt. Wenn der Verstärkermast da draußen defekt war, dann war auch kein Langstreckenfunkkontakt möglich.

«Was ist schiefgelaufen?», fragte Nathan.

Bub blickte auf die Plane. «Ich hab mich verspätet. Wir wollten uns gegen eins treffen, aber ich hatte unterwegs eine Panne. War erst zwei Stunden später am Lehmann’s Hill.»

Nathan wartete.

«Cam war nicht da», fuhr Bub fort. «Ich hab mich gefragt, ob er vielleicht schon wieder abgefahren war, aber der Mast war noch immer kaputt, deshalb hab ich mir gedacht, wahrscheinlich nicht. Hab versucht, ihn anzufunken, aber er hat nicht reagiert. Also hab ich eine Weile gewartet und bin dann Richtung Piste gefahren. Hab gedacht, er würde mir entgegenkommen.»

«Ist er aber nicht.»

«Nee. Ich hab’s immer mal wieder über Funk versucht, aber er hat sich nicht gemeldet.» Bubs Miene verfinsterte sich. «Bin gut eine Stunde gefahren, aber ich hatte es noch immer nicht bis zur Piste geschafft, deshalb musste ich anhalten. Weil’s allmählich dunkel wurde, weißt du?»

Seine Augen unter der Hutkrempe suchten nach Bestätigung, und Nathan nickte.

«Was anderes blieb dir auch nicht übrig.» Das stimmte. Die Nacht draußen am Lehmann’s Hill war ein pechschwarzer Schleier. Wenn man in dieser Finsternis fuhr, war es nur eine Frage der Zeit, bis man gegen einen Felsen krachte oder eine Kuh oder von der Straße abkam. Und dann hätte Nathan zwei Brüder unter einer Plane vor sich liegen gehabt.

«Aber du hast angefangen, dir Sorgen zu machen?», fragte Nathan, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

Bub zuckte mit den Achseln. «Ja und nein. Du weißt ja, wie das ist.»

«Ja.» Nathan wusste es. Sie lebten in mancherlei Hinsicht in einem Land der Extreme. Den Leuten ging es entweder rundum gut oder äußerst schlecht. Dazwischen gab es wenig. Und Cam war kein Tourist. Er kannte sich aus, und das hieß, dass er vielleicht nur noch eine halbe Stunde entfernt war, von der Dunkelheit aufgehalten und außer Reichweite, aber behaglich in seinem Schlafsack mit einem kühlen Bier aus dem Minikühlschrank im Kofferraum. Vielleicht aber auch nicht.

«Keiner ging ans Funkgerät», sagte Bub. «Um diese Jahreszeit ist sowieso kein Schwein da oben, und mit dem kaputten Mast …» Er knurrte frustriert.

«Und was hast du gemacht?»

«Bei Tagesanbruch bin ich weitergefahren, aber es hat trotzdem eine Ewigkeit gedauert, bis sich endlich mal einer gemeldet hat.»

«Wie lange?»

«Keine Ahnung.» Bub zögerte. «Wahrscheinlich eine halbe Stunde bis zur Piste, dann noch mal eine Stunde. Und selbst da haben sich bloß zwei von den bescheuerten Neulingen drüben auf der Atherton gemeldet. Hat ewig gedauert, bis die den Verwalter erreicht haben.»

«Auf der Atherton stellen sie immer bloß Schwachköpfe ein», sagte Nathan über die Nachbarfarm im Nordosten, die sich über ein Gebiet von der Größe Sydneys erstreckte. Da arbeiteten zwar wirklich nur Schwachköpfe, wie er gesagt hatte, aber wenn man da draußen Funkkontakt brauchte, war die Atherton am ehesten zu erreichen. «Und die haben dann Alarm geschlagen?»

«Ja, aber zu dem Zeitpunkt …» Bub verstummte.

Aber zu dem Zeitpunkt war ihr Bruder schon seit rund vierundzwanzig Stunden verschwunden, rechnete Nathan aus, ohne dass jemand etwas von ihm gesehen oder gehört hatte. Die Suche hatte längst die höchste Dringlichkeitsstufe erreicht, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Es war üblich, dass jede Farm in der Umgebung verständigt wurde und alle verfügbaren Kräfte mithalfen, was aber nicht viel hieß. Bei solch enormen Entfernungen waren verfügbare Kräfte dünn gesät, und es konnte lange dauern, bis sie da ankamen, wo ihre Hilfe gebraucht wurde.

«Der Pilot hat ihn entdeckt?»

«Ja», sagte Bub. «Irgendwann.»

«Jemand, den du kennst?»

«Nee, irgendeiner aus der Nähe von Adelaide. Arbeitet diese Saison auf der Atherton. Ein Cop hat ihn über Flugfunk erreicht und ihm gesagt, er soll die Gegend abfliegen und die Straßen checken.»

«Glenn?»

«Nein. Irgendein anderer. Von der Einsatzzentrale oder so.»

«Okay», sagte Nathan. Es war reines Glück, dass der Pilot Cameron überhaupt entdeckt hatte. Das Stockman-Grab war zweihundert Kilometer vom Lehmann’s Hill und dem Hauptsuchgebiet entfernt. «Wann hat er den Fund gemeldet?»

«Am späten Nachmittag, als die meisten Leute es noch gar nicht zum Lehmann’s geschafft hatten. Harry und ich waren so ziemlich die Einzigen, die da draußen waren, aber ich war etwa eine Stunde näher dran, deshalb hab ich gesagt, dass ich hinfahre.»

«Und Cam war da ganz sicher schon tot?»

«Hat der Pilot jedenfalls gesagt. Seit ein paar Stunden, wie er meinte. Trotzdem hat der Cop ihn per Funk angewiesen, alle möglichen Tests zu machen.» Bub verzog das Gesicht. «Ich bin kurz vor Sonnenuntergang hier angekommen. Der Pilot hatte Cam zugedeckt, wie die es ihm gesagt hatten, aber er wollte möglichst schnell weg, bevor es dunkel wurde, weil er sonst hier festgesessen hätte.»

Verständlich, dachte Nathan. Er hätte auch nicht bleiben wollen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass Bub die Aufgabe zugefallen war.

«Wenn Cam sich mit dir am Lehmann’s Hill treffen wollte, was hat er dann hier draußen gemacht?»

«Keine Ahnung. Harry sagt, im Terminbuch hat er eingetragen, dass er zum Lehmann’s wollte.»

«Sonst nichts?»

«Mehr hat Harry jedenfalls nicht gesagt.»

Nathan dachte an das Terminbuch. Er wusste, wo es aufbewahrt wurde, neben dem Telefon, gleich neben der Hintertür des Hauses, das einmal ihrem Dad und dann Cameron gehört hatte. Nathan hatte selbst sehr oft etwas in das Buch eingetragen, als er jung war. Er hatte auch sehr oft nichts eingetragen, weil er es vergessen hatte oder einfach keine Lust hatte oder nicht wollte, dass irgendwer wusste, was er vorhatte, oder weil er keinen Stift finden konnte.

Er spürte die sengende Hitze im Nacken und sah auf seine Armbanduhr. Die Digitalzahlen waren mit feinem rotem Staub bedeckt, und er wischte mit dem Daumen darüber.

«Wann wollten die hier sein?» Die, das hieß Polizei und Krankenwagen. Die, das hieß auch: nur zwei Personen. Ein Polizist, ein Sanitäter. Kein Team, nicht hier draußen.

«Weiß nicht genau. Sind unterwegs.»

Was nicht hieß, dass sie bald kommen würden. Nathan blickte wieder hinunter auf die Plane. Die Spuren im Staub.

«Hat er irgendwelche Verletzungen?»

«Ich glaub nicht. Hab jedenfalls keine gesehen. Er sieht bloß verbrannt und verdurstet aus.» Bub senkte den Kopf und berührte den Rand des Staubkreises mit der Schuhspitze. Keiner der Brüder sprach es aus. Sie wussten beide, was er bedeutete. Sie hatten ähnliche Muster gesehen, die sterbende Tiere gemacht hatten. Nathan kam ein Gedanke, und er schaute sich um.

«Wo sind seine ganzen Sachen?»

«Sein Hut ist unter der Plane. Sonst hatte er nichts bei sich.»

«Wie? Gar nichts?»

«Der Pilot hat jedenfalls nichts gesagt. Der sollte bloß überprüfen, ob Cam noch lebte, ein paar Fotos machen. Schätze mal, sonst hat er nichts gesehen.»

«Aber –» Nathan suchte wieder den Boden ab. «Überhaupt nichts? Nicht mal eine leere Wasserflasche?»

«Glaub nicht.»

«Hast du dich gründlich umgesehen?»

«Guck doch selber nach, Mann. Hast ja schließlich Augen im Kopf.»

«Aber –»

«Ich weiß es nicht, okay? Ich hab keine Antworten. Hör auf, mich zu fragen.»

«Ja, ja, schon gut.» Nathan atmete tief durch. «Aber ich dachte, der Pilot hat den Wagen gefunden?»

«Hat er auch.»

«Und wo ist er?» Er machte keinen Hehl mehr aus seiner Frustration. Aus einer Kuh kriegt man eher Brauchbares raus als aus Bub, hatte ihr Dad immer gesagt.

«Nicht weit von der Straße.»

Nathan starrte ihn an. «Welche Straße?»

«Wie viele Straßen gibt’s denn hier? Unsere Straße. Auf dieser Seite der Grenze, etwas nördlich von deinem Viehgitter. Menschenskind, das ist alles über Funk gekommen, Mann.»

«Das kann nicht sein. Das ist zehn Kilometer weit weg.»

«Acht, schätz ich, aber ja.»

Langes Schweigen trat ein. Die Sonne stand hoch, und der schmale Schatten des Grabsteins war fast auf ein Nichts zusammengeschrumpft.

«Dann hat Cam also seinen Wagen verlassen?» Die Erde unter Nathans Füßen kippte ganz leicht weg. Er sah den Ausdruck im Gesicht seines jüngeren Bruders und schüttelte den Kopf. «Sorry, ich weiß, du weißt das nicht, bloß –»

Er schaute an seinem Bruder vorbei zum Horizont, der sich lang und still erstreckte. Die einzige Bewegung, die er sehen konnte, war das Heben und Senken von Bubs Brust, wenn er ein- und ausatmete.

«Warst du schon bei dem Wagen?», fragte Nathan schließlich.

«Nein.»

Diesmal sagt er die Wahrheit, dachte Nathan. Er blickte über seine Schulter. Xander war eine dunkle Gestalt, die auf dem Beifahrersitz nach vorn gebeugt war.

«Fahren wir hin.»

Kapitel zwei

Am Ende waren es neun Kilometer.

Nathans Geländewagen stand auf der falschen Seite des Zauns, also hatte er sich erneut hindurchgeduckt und dann die Beifahrertür geöffnet. Xander hatte hochgeschaut und wollte ihn schon mit Fragen bestürmen. Nathan hob eine Hand.

«Erzähl ich dir später. Komm. Wir suchen jetzt Onkel Cams Wagen.»

«Wieso? Wo ist der denn?» Xanders Stirn legte sich in Falten. Sein Privatschulhaarschnitt sah nach der vergangenen Woche ein wenig zottelig aus, und mit den ersten Stoppeln am Kinn wirkte er älter.

«Irgendwo bei der Straße. Bub fährt.»

«Wie bitte, bei eurer Straße, so weit weg?»

«Ja, scheint so.»

«Aber was –?»

«Ich weiß es nicht, Junge. Wir werden sehen.»

Xander öffnete den Mund, klappte ihn dann wieder zu und stieg ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. Der Junge folgte ihm durch den Zaun, sah auf dem Weg zu Bubs Wagen einmal kurz zu der Plane hinüber und machte einen respektvollen weiten Bogen um das Grab.

«Hi, Bub.»

«Hallo, Kleiner. So klein bist du ja gar nicht mehr, was?»

«Nein, schätze nicht.»

«Wie ist es in Brisbane?»

Nathan sah, dass sein Sohn zögerte. Besser als hier, lautete sicher die Antwort.

«Ganz gut, danke», sagte er stattdessen. «Das mit Cameron tut mir leid.»

«Ja, na ja, ist nicht zu ändern.» Bub öffnete seine Autotür. «Rein mit dir.»

Xanders Augen waren auf das Grab gerichtet. «Lassen wir …?»

«Was?» Bub saß bereits hinterm Lenkrad.

«Lassen wir ihn einfach so da liegen?»

«Die haben gesagt, wir sollen nichts anfassen.»

Xander blickte entsetzt. «Ich hatte auch nicht vor, was anzufassen. Ihn anzufassen. Ich meine bloß, ob nicht einer von uns –» Er geriet unter Bubs ausdrucklosem Blick ins Wanken. «Schon gut.»

Nathan sah Xanders zartes Großstadtwesen freigelegt, wie eine neue Hautschicht. Konstruktive Diskussionen und ausländischer Kaffee und Morgennachrichten hatten seine Ecken und Kanten allmählich abgerundet. Sie waren nicht zu harten Schwielen gemeißelt und geschmirgelt worden. Xander überlegte, bevor er etwas sagte, und er wog die Folgen seiner Handlungen ab, ehe er etwas tat. Im Großen und Ganzen war das nicht schlecht, dachte Nathan. Aber es kam darauf an, wo man war. Nathan öffnete die Autotür.

«Ich denke, das geht schon in Ordnung, Junge.» Er stieg ein. «Fahren wir.»

Xander wirkte nicht überzeugt, stieg aber ohne Widerspruch hinten ein. Im Auto war es kühl und dunkel. Das Funkgerät steckte still in der Halterung.

Nathan sah seinen Bruder an. «Fährst du am Zaun entlang?»

«Ja, schätze, so geht’s am schnellsten.» Bub warf Xander im Rückspiegel einen Blick zu. «Halt dich gut fest da hinten, ich tu mein Bestes, aber es könnte ganz schön holprig werden.»

«Okay.»

Sie fuhren, ohne ein Wort zu sagen, während Bub sich auf den Boden vor seinen Rädern konzentrierte und mit Mühe das Lenkrad hielt, wenn sie durch Senken und über unerwartet weiche Erde fuhren. Das Grab verschwand schnell im Heckfenster, als sie eine Anhöhe hinter sich ließen, und Nathan sah, wie Xander sich noch fester an der Rückbank festhielt. Nathan wandte den Kopf und starrte den Zaun an, der sein Grundstück von dem seiner Brüder trennte. Der Draht zog sich in beiden Richtungen bis zum Horizont. Er konnte kein Ende sehen. Als sie an einem Abschnitt vorbeikamen, wo die Zaunpfosten locker aussahen, ertappte Nathan sich bei dem Gedanken, dass er das Cameron sagen müsse. Wieder wurde er mit einem schmerzhaften Ruck zurück in die Realität gerissen.

Bub verlangsamte das Tempo, als sie den Rand von Camerons Land erreichten. Die Hauptstraße vor ihnen wurde von einer natürlichen Anhöhe verdeckt, die sich entlang der östlichen Grenze sowohl von Camerons als auch von Nathans Grundstück erstreckte. Auf Nathans Seite bestand sie überwiegend aus einer Sanddüne, auf Camerons aus Felsen, die es geschafft hatten, ein paar tausend Jahre zu überstehen. Bei Sonnenuntergang schimmerten sie rot, als würden sie von innen beleuchtet. Im Moment waren sie mattbraun.

«Wo ist der Wagen?», fragte Nathan.

Bub ließ den Wagen ausrollen und spähte durch die Windschutzscheibe. Xander drehte sich um und blickte den Weg zurück, den sie hinter sich gelassen hatten.

«Auf dieser Seite ist nichts zu sehen.» Nathan blinzelte durch die verstaubte Scheibe. «Was genau hat der Pilot gesagt?»

«Er ist nicht nach GPS geflogen, deshalb –» Bub zuckte die Achseln. Keine große Hilfe. «Aber er hat gesagt, irgendwo auf den Felsen, nördlich vom Viehgitter.» Bub legte einen Gang ein. «Ich fahr auf die Straße. Vielleicht können wir von da was sehen.»

Bub hielt sich dicht am Zaun, folgte der schmalen Piste, die die Weide mit der Straße verband. Er fuhr durch eine Lücke in den Felsen, und der Motor bockte und jaulte auf, als sie auf der anderen Seite herauskamen. Die unbefestigte Straße war einsam und verlassen.

«Also nach Norden, meinst du?», fragte Nathan, und Bub nickte. Die Räder wirbelten eine Staubwolke hoch, und Nathan hörte Steine gegen die Karosserie prasseln, als sie beschleunigten. Die Straße lag vor ihnen wie ein sandiges Band, und zu ihrer Linken ragte die Felswand auf. In einigen Stunden würde die Sonne hinter ihr verschwinden.

Sie fuhren eine Minute lang, dann drosselte Bub das Tempo vor einer fast unsichtbaren Öffnung in den Felsen. Wegweiser gab es keine. Die wenigen Einheimischen kannten die meisten Offroad-Pisten, und den seltenen Touristen wurde nahegelegt, sie nicht zu erkunden. Bub steuerte den Wagen in die schmale Lücke zwischen den hohen Felsen und weiter zu der Weide auf der anderen Seite. Aus diesem Blickwinkel stiegen die Felsen sanft bis zum höchsten Punkt an, um dann steil zur Straße hin abzufallen.

Bub stoppte den Wagen, ließ den Motor weiterlaufen, und Nathan öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Der Wind hatte aufgefrischt, und er spürte den Sand an Haut und Wimpern haften. Er drehte sich einmal langsam im Kreis. Er konnte Felsen sehen und den Zaun, jetzt klein in der Ferne. Und den Horizont. Sonst nichts. Er stieg wieder ein.

«Versuch’s ein Stück weiter.»

Sie fuhren zurück auf die Straße, und kurz darauf bog Bub in eine andere Lücke. Sie wiederholten das Ganze. Anhalten, Drehung im Kreis. Wieder dasselbe. Nathan verlor allmählich die Hoffnung und öffnete die Beifahrertür, um wieder einzusteigen, als er ein leises Klopfen am Fenster hörte. Xander deutete irgendwohin und sagte etwas.

«Was ist?» Nathan beugte sich in den Wagen.

«Da drüben.» Xander zeigte die Anhöhe hoch, nach hinten, Richtung Straße. «In dem Licht.»

Nathan blinzelte in die Sonne, konnte aber nichts erkennen. Er bückte sich, um auf Augenhöhe mit seinem Sohn zu kommen, und als er Xanders Blickrichtung folgte, sah er es schließlich. Auf der Felskuppe in der Ferne war das matte Schimmern von verstaubtem Metall zu erkennen.

 

Die Fahrertür stand offen. Nicht weit aufgestoßen, aber auch nicht bloß einen Spalt. Sie war halb geöffnet, gerade genug, um bequem aussteigen zu können.

Nachdem Xander den Wagen in der Ferne hatte glänzen sehen, war Bub zurück auf die Straße und bis zur nächsten verborgenen Piste gefahren. Er war in eine weitere Lücke gebogen, und diesmal war der Land Cruiser nicht zu übersehen. Er stand auf der flachen Kuppe der Anhöhe, die Nase in Richtung der fast senkrechten Felswand, unterhalb der die Straße verlief.

In stiller Übereinkunft parkte Bub unten, und sie stapften den Hang hinauf. Oben angekommen, umstanden sie Camerons Wagen, während der Wind an ihrer Kleidung riss.

Nathan ging um den Geländewagen herum, und zum zweiten Mal an dem Tag kam es ihm so vor, als würde sich irgendetwas verschieben, aus dem Lot geraten. Äußerlich machte das Fahrzeug einen ganz normalen Eindruck. Es war verdreckt und hatte Lackschäden durch Steinschlag, aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Nathan spürte ein unangenehmes kaltes Kribbeln im Nacken.

Alles in Ordnung, und das allein schon löste bei ihm das Gefühl aus, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Im Grunde seines Herzens hatte er erwartet, dass der Wagen zumindest stecken geblieben war oder umgekippt oder gegen einen Felsen geprallt oder zu einem wüsten Metallknäuel zusammengequetscht. Er hatte zischenden Dampf oder auslaufendes Öl oder Flammen erwartet oder dass die Motorhaube offen stand oder alle vier Reifen platt waren. Nathan hätte nicht sagen können, was genau, aber irgendetwas hatte er erwartet. Jedenfalls mehr als das hier. Eine Art Erklärung.

Er ging in die Hocke und inspizierte die Räder. Vier gute Reifen standen fest auf hartem Grund. Er machte die Motorhaube auf und fuhr mit den Händen über die wichtigsten Teile. Alles da, wo es hingehörte, soweit er sehen konnte. Nathan hörte ein Geräusch, und als er aufblickte, sah er, wie Bub die hinteren Türen des Land Cruisers öffnete. Er und Xander starrten beide mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht in den großen Stauraum. Nathan ging zu ihnen.

Das Fahrzeug war gut mit Vorräten bestückt. Literweise Trinkwasser schwappte sanft in verschlossenen Flaschen neben Dosen mit Thunfisch und Bohnen. Ein gutes Sortiment, mit dem ein Mensch eine Woche oder länger überleben könnte. Nathan öffnete mit einem Finger den Minikühlschrank, der sich an die Autobatterie anschließen ließ. In ihm waren noch mehr volle Wasserflaschen, eingepackte Sandwiches, die sich mittlerweile an den Rändern wellten, und ein Sixpack mittelstarkes Bier. Es gab noch mehr. Einen Ersatzbenzinkanister, zwei festgeschnallte Ersatzreifen, eine Schaufel, einen Erste-Hilfe-Kasten. Kurzum: das Übliche. Nathan wusste, er hätte seinen eigenen Wagen öffnen können und genau das Gleiche vorgefunden. In Bubs Wagen ebenso, vermutete er. Eine Grundausstattung, um im härtesten Klima Australiens zu überleben. Niemand fuhr ohne sie von zu Hause los.

«Da ist sein Schlüssel.»

Xander blickte durch die offene Fahrertür, und Nathan trat neben ihn. Seite an Seite waren ihre Schultern inzwischen auf einer Höhe, registrierte er vage.

Roter Staub war hereingeweht und hatte sich überall abgelagert. Unter der dünnen Schicht sah Nathan den Schlüssel an einem schwarzen, ordentlich aufgerollten Schlüsselband auf dem Autositz liegen.

Das war ein bisschen ungewöhnlich, flüsterte eine leise Stimme. Nicht so sehr, dass der Schlüssel im Auto liegen gelassen worden war. Nathan kannte niemanden in der ganzen Gegend, der das nicht auch so machte. Im Geist sah er seinen eigenen Schlüssel vor sich, den er in den Fußraum seines Wagens geworfen hatte. Bubs Schlüssel baumelte am Blinkerhebel des Wagens unten vor der Anhöhe. Nathan konnte sich nicht erinnern, je im Leben gesehen zu haben, dass Cameron seinen Autoschlüssel mitgenommen hatte. Aber genauso wenig konnte er sich daran erinnern, dass sein Bruder ein Schlüsselband so akkurat aufgerollt auf den Sitz gelegt hatte.

«Vielleicht hatte er eine Panne?» Bub klang nicht überzeugt.

Nathan erwiderte nichts. Er starrte auf den Schlüssel, und plötzlich griff seine Hand danach.

«Dad, nein, wir sollen doch nichts anfassen.»

Er achtete nicht auf Xander. Die Bewegung seines Arms ließ zarte Staubmuster durch die Luft wirbeln. Als seine Hand sich um den Schlüssel schloss, wusste Nathan mit kalter Gewissheit, was als Nächstes passieren würde.

Er setzte sich auf den Fahrersitz und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Er ließ sich leicht drehen, Metall glitt widerstandslos an Metall. Nathan spürte die Vibration, als der Motor dröhnend ansprang, dann gleichmäßig im Leerlauf brummte. Das Geräusch klang laut in der Stille. Die Anzeige am Armaturenbrett verriet Nathan, dass sowohl der Haupt- als auch der Reservetank noch fast voll waren.

Nathan warf Xander einen Blick zu, doch sein Sohn beobachtete ihn nicht mehr. Stattdessen blickte er am Wagen vorbei in die Ferne. Er hatte die Augen mit einer Hand abgeschirmt und runzelte die Stirn. Nathan schaute in dieselbe Richtung. Weit weg im Süden bewegte sich eine einzelne dichte Staubwolke. Es kam jemand.

Kapitel drei

Zum zweiten Mal an diesem Tag stand Nathan neben dem Stockman-Grab und beobachtete, wie das Fahrzeug näher kam und langsamer wurde.

Es war ein Geländewagen mit Industriereifen und Frontschutzbügel, genau wie praktisch jedes andere Fahrzeug in der Gegend, doch dieses hatte hinten drin eine Trage. Der reflektierende Schriftzug «Ambulance» vorne und an den Seiten glänzte in der Sonne.

Nathan, Bub und Xander waren neben Camerons Land Cruiser oben auf der Felskuppe stehen geblieben, bis der aus Süden kommende Staubschleier Gestalt annahm. Dann waren sie wortlos nach unten zu Bubs Wagen gegangen und zurück zum Grab gefahren, um dort zu warten.

Zum ersten Mal an diesem Vormittag empfand Nathan so etwas wie Erleichterung, als der Krankenwagen zum Stehen kam und der Sanitäter die Hand hob. Endlich Hilfe.

Steve Fitzgerald war ein drahtiger Mann von Anfang fünfzig, der gelegentlich erzählte, was er auf seinen Einsätzen mit dem Roten Kreuz so alles erlebte. Er verbrachte eine Hälfte des Jahres in Afghanistan, Syrien, Ruanda, Gott weiß, wo, und die andere Hälfte im australischen Outback, genauer gesagt in einer nur mit ihm besetzten Krankenstation in Balamara. Er liebte Herausforderungen, hatte er mal gesagt, was Nathan wie eine Untertreibung vorkam. Steve stieg zusammen mit einem Polizisten aus, den Nathan noch nie gesehen hatte.

«Wo ist Glenn?», fragte Nathan sofort, und die Miene des Cops verfinsterte sich.

Steve antwortete nicht auf Anhieb. Er betrachtete das Grab und die Plane und schüttelte den Kopf.

«Mein Gott. Der arme Cameron.» Er ging in die Hocke, rührte aber nichts an. «Glenn musste gestern raus nach Haddon Corner. Eine Familie mit kleinen Kindern ist mit ihrem Mietwagen im Sand stecken geblieben, aber sie wussten nicht genau, wo sie waren. Mittlerweile hat er sie gefunden, kann aber erst morgen wieder hier sein.»

«Morgen?»

«Er hat auch nur zwei Hände, Mann.»

«Scheiße.» Es stimmte, Sergeant Glenn McKenna war ganz allein zuständig für ein Gebiet von der Größe des Bundesstaats Victoria. Manchmal war er in der Nähe, manchmal nicht, aber immerhin kannte er die Gegend wie seine Westentasche. Nathan musterte den neuen Cop kritisch. Der Mann hatte bereits einen Sonnenbrand und sah kaum älter aus als Xander. «Von wo hat man Sie einfliegen lassen?»

«St Helens. Heute Morgen. Sergeant Ludlow.»

«Haben Sie da Ihre Ausbildung gemacht?»

«Nein.» Ludlow zögerte. «Brisbane.»

«Ach du Schande. In der Stadt?» Nathan wusste, dass er unhöflich war, aber es war ihm egal. «Wie lange sind Sie schon in St Helens?»

«Einen Monat.»

«Na toll.» Diesmal hörte Nathan sogar Bub seufzen. Er sah Steve an, der seinen Sanitätskoffer auspackte. «Vielleicht sollten wir warten, bis Glenn wieder da ist.»

«Ihr könnt hier draußen so lange warten, wie ihr wollt, Jungs», sagte Steve nicht unfreundlich, «aber Sergeant Ludlow und ich kümmern uns jetzt um die Sache hier.»

Nathan suchte Bubs Blick. Keine Reaktion. «Okay, von mir aus», sagte er. «Sorry, Mann, es geht nicht gegen Sie, es –»

«Ich versteh das», sagte Ludlow. «Aber im Moment gilt leider: entweder ich oder keiner.»

Beklommenes Schweigen entstand, während sie über die Alternative nachdachten.

«Aber ich werde für Ihren Bruder natürlich mein Bestes geben», schob er nach.

Nathan fühlte sich plötzlich ein bisschen wie ein Arschloch. «Ja. Schon klar. Danke, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben.» Nathan sah einen Hauch Erleichterung im Gesicht des Cops und kam sich noch mieser vor. Er stellte alle ordentlich einander vor, wartete dann, bis der Cop eine Kamera aus seiner Tasche geholt hatte.

«Ich werde jetzt …» Ludlow deutete auf sein Objektiv und auf das Grab, und sie alle traten zurück, während er aus jedem Blickwinkel im Stehen und im Knien Aufnahmen von der Plane und der Umgebung machte. Sein Hemd und seine Hose waren völlig verstaubt, als er schließlich fertig war.

«Sie sind dran», sagte er zu dem Sanitäter.

Steve kniete sich am Grab hin und hob den Rand der Plane so an, dass Nathan nicht darunterschauen konnte. Er war ihm dafür dankbar. Bub schlenderte davon, lehnte sich dann an die Schattenseite seines Wagens und blickte zu Boden, während der Sergeant seine Digitalfotos durchsah.

Nathan und Xander standen ein kleines Stück entfernt und sahen dem Sanitäter bei der Arbeit zu. Cam wäre darüber alles andere als glücklich gewesen, dachte Nathan unwillkürlich. Cameron und Steve Fitzgerald waren einander nie grün gewesen. Als hätte er Nathans Gedanken gehört, blickte Steve zu ihm hoch.

«Und wie geht’s dir so?»

«Okay.»

«Ja? Alles in Ordnung? Abgesehen hiervon natürlich.» Steves Stimme klang freundlich, hatte aber einen professionellen Unterton. Eine Frage, keine Höflichkeitsfloskel.

«Mir geht’s gut. Bub war derjenige, der die ganze Nacht hier draußen verbracht hat.»

«Ich weiß. Hab dich bloß schon länger nicht mehr gesehen.» Noch immer keine Höflichkeitsfloskel. «Du hast den Termin verpasst, den ich für dich in der Krankenstation gemacht habe.»

«Ich hab angerufen.»

«Es wäre aber wichtig gewesen, dass du kommst.»

«Tut mir leid.» Nathan zuckte die Achseln. «Hatte viel um die Ohren.»

«Aber dir geht’s gut?»

«Ja. Hab ich doch gesagt.» Nathan warf Steve einen warnenden Blick zu. Nicht vor dem Jungen. Es war zu spät, und er sah aus dem Augenwinkel, wie Xander zu ihm rüberschielte, dann wegschaute. Nach einer gefühlten Ewigkeit klopfte Steve sich den Staub von den Händen und hob den Kopf.

«Also –» Er winkte dem Sergeant und Bub, wieder zu ihnen zu kommen. «Ich hab gestern mit dem Piloten gesprochen und kann hier heute nichts Überraschendes feststellen. Dehydriert, würde ich sagen. Wir müssen ihn zur Obduktion nach St Helens schicken, um auf Nummer sicher zu gehen – relativ junger gesunder Mann, plötzlicher Tod, das wollen die sich genauer ansehen –, aber er zeigt alle Anzeichen.» Steve sah auf. «Was hat er hier draußen gemacht?»

«Das wissen wir nicht», sagte Nathan.

Sergeant Ludlow blätterte in einem Notizbuch. «Also, ähm …» Er sah Bub an. «Sie und er wollten sich am Mittwoch treffen, ist das richtig?»

«Ja.»

Der Sergeant wartete ab, und sein Sonnenbrand nahm einen tieferen Rotton an, während Bub ihn anstarrte. «Könnten Sie mir mehr dazu sagen?»

Bub wirkte leicht überrascht, erzählte dann aber stockend dieselbe Geschichte, die er Nathan erzählt hatte, wobei ihm immer wieder auf die Sprünge geholfen werden musste. Das Ganze hörte sich diesmal etwas konfus an, und selbst Nathan musste stellenweise vor Verwirrung die Stirn runzeln. Sergeant Ludlow kritzelte noch wie wild, als Bub längst fertig war, blätterte dann eine Seite zurück, ließ den Blick über die Wörter gleiten.

«Warum hatten Sie sich verspätet?» Er sagte das beiläufig, als wäre ihm der Gedanke gerade erst gekommen, doch Nathan war sicher, dass die Frage dem Sergeant minutenlang auf der Seele gebrannt hatte. Er sah den Cop an, dessen verbrannte Haut und die großen Augen, und auf einmal fragte er sich, ob er ihn falsch eingeschätzt hatte.

«Was?» Bub blinzelte.

«Warum sind Sie zu der Verabredung mit Ihrem Bruder am Lehmann’s Hill zu spät gekommen?»

«Ach so. Ich hatte zwei Pannen.»

«Reifenpannen?»

«Ja.»

«Zwei Reifenpannen?»

«Ja.»

«Das nenn ich Pech.» Der Sergeant lächelte, doch in seinem Tonfall schwang etwas Neues mit.

«So was kommt vor», sagte Nathan rasch und sah zu seiner Erleichterung, dass Steve zustimmend nickte. «Das ist nicht ungewöhnlich, bei der Hitze und den Steinen. Wenn du da einen Reifen platt fährst, gibt oft auch ein zweiter den Geist auf. Und in dieser Jahreszeit brauchst du zum Reifenwechseln fünfundvierzig Minuten, sogar eine Stunde.» Er merkte, dass er zu viel redete, und verstummte.

Sergeant Ludlow sah noch immer Bub an. «War das so?»

Zu Nathans Erleichterung hielt Bub den Mund und nickte bloß. Der Sergeant starrte ihn über sein Notizbuch hinweg an, strich dann einige Wörter durch. Sein Gesichtsausdruck war offen, doch Nathan hatte wieder das Gefühl, dass irgendetwas darunter lauerte. Nathan warf einen Blick auf Bubs Wagen. Die beiden Vorderreifen sahen tatsächlich neuer aus. Er ertappte Xander dabei, dass auch er die Reifen betrachtete, und sie schauten beide sofort weg.

Endlich richtete der Sergeant seine Aufmerksamkeit von Bub auf Steve. «Können Sie irgendwas zum Todeszeitpunkt sagen?»

«Wahrscheinlich irgendwann gestern Morgen, grob geschätzt. Bei der Hitze und ohne Schatten oder Wasser kann er kaum länger als vierundzwanzig Stunden durchgehalten haben. Nach der Obduktion wissen wir bestimmt mehr.»

«Das ist nicht besonders lang.» Sergeant Ludlow runzelte die Stirn. «Wie alt war er, Ende dreißig?»

«Vierzig», sagte Nathan.

«Er hat länger durchgehalten, als manch anderer das getan hätte», sagte Steve. «Vierundzwanzig Stunden könnte sogar ein bisschen zu hoch gegriffen sein.»

«Wie weit sind wir von Camerons Zuhause entfernt?» Ludlow sah wieder die Brüder an.

«Zu Fuß in einer geraden Linie nach Nordwesten rund fünfzehn Kilometer», sagte Nathan. «Mit dem Auto muss man von hier aus erst der Piste nach Westen, dann nach Norden folgen, wenn man nicht im Sand stecken bleiben will. Ich schätze, das sind gut dreißig Kilometer. Der sicherste Weg ist noch mal zehn Kilometer länger – östlich von hier zu den Felsen, dann die Straße rauf nach Norden.»

Die Felsen und die Straße, wo sie Cams Wagen gefunden hatten. Nathan wechselte einen Blick mit Bub, und Ludlow bekam das mit.

«Dann bräuchte man also selbst für die kürzeste Strecke zu Fuß nach Hause einige Stunden?», fragte Ludlow.

«Die kann man nicht zu Fuß gehen, nicht bei dieser Hitze», sagte Steve mit dumpfer Stimme. Er schaute wieder unter die Plane. «Das ist doch diesen drei Arbeitern passiert, die vor ein paar Jahren auf der Atherton mit ihrem Wagen im Sand stecken geblieben sind. Weißt du noch, Bub? Du hast doch bei der Suche mitgemacht, oder?»

Bub nickte.

«Die waren wie alt? Mitte zwanzig?», sagte Steve. «Wollten zu Fuß zurück. Haben knapp sieben Kilometer geschafft, wenn überhaupt. Zwei waren innerhalb von sechs Stunden tot.»

«Was gibt’s denn sonst noch hier in der Gegend?» Ludlow ging zum Zaun und legte die Hände an den Draht. «Ist das Ihr Land auf der anderen Seite?», fragte er Nathan.

«Ja.»

«Könnte Ihr Bruder vielleicht gehofft haben, Sie zu finden?»

Nathan sah, dass Bub und Steve ihn anblickten. «Nein.»

«Sie scheinen sich da sicher zu sein.»

«Bin ich auch.»

«Aber –» Ludlow öffnete wieder sein Notizbuch. «Cameron wusste, dass Sie und Ihr Sohn unterwegs waren, um den Zaun zu überprüfen?»

«Ja, ich mache das immer um diese Zeit im Jahr. Aber wir waren nicht hier in der Gegend.»

«Wusste Cameron das?»

Langes Schweigen trat ein. «Nein.»

Ludlow strich mit einer Hand über den oberen Draht, öffnete sie dann und betrachtete den Staub in der Handfläche. «Können Sie sich vorstellen, welchen Grund Ihr Bruder gehabt haben könnte, ausgerechnet hierherzukommen?»

«Ich habe keine Ahnung», sagte Nathan schließlich. «Aber er kannte diese Stelle gut.»

«War er oft hier draußen?»

«Ich glaube, nicht mehr.» Nathan sah Bub an, der mit den Achseln zuckte. «Aber früher schon.»

«Das hier ist auch die einzige Stelle meilenweit mit ein bisschen Schatten», sagte Steve. «Vielleicht ist er instinktiv hergekommen.»

Sergeant Ludlow dachte darüber nach, während er auf die Form am Boden blickte. Selbst unter der Plane war sie eindeutig als Mensch zu erkennen.

«Wie war der Gemütszustand Ihres Bruders in den letzten Wochen?»

Die Frage wurde behutsam gestellt, und Nathan brauchte einen Moment, bis er merkte, dass sie an ihn gerichtet war.

«Ich weiß nicht. Ich hatte ihn einige Monate nicht gesehen.»

«Wie viele?»

«Vier, vielleicht? Als wir die Piste ausgebessert haben, Bub?» Das war das letzte Mal gewesen, dass er seine Brüder gesehen hatte, wurde ihm jetzt klar. Bubs Miene blieb ausdruckslos.

«Vier Monate», sagte Ludlow. «Also August, September, um den Dreh?»

«Wahrscheinlich ein bisschen früher.» Nathan überlegte. «Ja, Moment. Es war um die Zeit, als das erste Spiel der Rugby League stattfand. Weil wir darüber geredet haben.»

«Juni», sagten Ludlow und Bub wie aus einem Munde.

«Schätze, ja.»

«Also sechs Monate», sagte Ludlow.

«Ja, muss wohl. Wir haben aber manchmal über Funk miteinander gesprochen.»

«Oft?»

«Ziemlich oft.»

«Gab es einen Grund, warum Sie einander nicht gesehen hatten?»

«Nein. Keinen Grund. Ich wohne fast drei Stunden weit weg. Wir haben alle viel Arbeit.» Er wandte sich Hilfe suchend Bub zu, vergeblich. «Du siehst ihn doch jeden Tag zu Hause, was hattest du für einen Eindruck?»

Nathan rechnete mit einem Achselzucken, doch stattdessen schien Bub nachzudenken. Schließlich holte er Luft. «Cam war in letzter Zeit ein bisschen angespannt.»

Nathan starrte ihn verblüfft an. Wie schlimm musste es gewesen sein, wenn sogar Bub das aufgefallen war?

«Inwiefern angespannt?», fragte Ludlow.

Diesmal zuckte Bub mit den Achseln. Er wirkte ein wenig unsicher. «Keine Ahnung. Einfach angespannt.»

Sie warteten alle, doch offenbar hatte er zu dem Thema nichts weiter hinzuzufügen.

Ludlow sah in seinen Notizen nach. «Wer sonst hat mit Cameron auf dieser Farm gelebt?»

«Ich», sagte Bub und zählte an den Fingern ab. «Mum, Ilse – das ist Cams Frau – und ihre beiden Mädchen, Onkel Harry …»

«Harry Bledsoe», warf Nathan ein. «Er ist nicht unser richtiger Onkel, er ist ein Freund der Familie. Er hat schon auf der Farm gearbeitet, als wir alle noch gar nicht auf der Welt waren.»

«Dann ist er also genau genommen ein Angestellter?», fragte Ludlow.

«Genau genommen ja, aber keiner sieht ihn so», sagte Nathan.

Bub nickte. «Außerdem haben wir zurzeit noch zwei Backpacker da.»

«Die was machen?», fragte Ludlow.

«Das Übliche. Was so an Arbeit anfällt. Alles Mögliche. Cam hat sie vor ein paar Monaten eingestellt.»

«Hat er oft Leute eingestellt?»

«Immer wenn er welche gebraucht hat», sagte Nathan. «Im Laufe des Jahres waren öfter mal irgendwelche Handwerker und Arbeiter da, je nachdem, was gerade anfiel. Glenn – Sergeant McKenna –, der weiß das alles.»

Ludlow schrieb ungerührt etwas in sein Notizbuch.

Steve stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien. «Okay. Ich würde ihn jetzt gern in den Krankenwagen bringen. Der Sergeant und ich schaffen das allein mit der Trage, es sei denn, einer von euch legt Wert darauf, mit anzufassen?»

Nathan und Bub schüttelten beide den Kopf. Nathan war erleichtert. Er nahm an, dass er das Gewicht dieses Bündels bis ans Ende seiner Tage gespürt hätte.

Steve ging wieder in die Hocke. «Ich werde die Plane jetzt vollständig entfernen, falls ihr also woanders hingucken wollt …»

Nathan setzte an, etwas zu Xander zu sagen, doch der Junge wandte sich bereits ab. Zartes Großstadtwesen, dachte er, war aber froh. Bubs Augen waren auf den Horizont gerichtet.

Nathan überlegte zu lange, und die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Als sie Camerons schlaffen Körper auf die Trage legten, rutschte die Plane herunter. Bub hatte recht gehabt. Ihr Bruder war nicht sichtbar verletzt, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Aber Hitze und Durst machten Schreckliches mit einem Menschen. Er hatte angefangen, seine Kleidung auszuziehen, als sein Verstand allmählich aussetzte, und seine Haut war aufgeplatzt. Was immer Cameron im Leben beschäftigt haben mochte, im Tod sah er nicht friedlich aus.

Nathan starrte noch immer auf die Trage, als sie längst im Krankenwagen war. Sergeant Ludlow drehte sich wieder zu dem Grab um und wischte sich unbewusst die Hände seitlich an der Hose ab. Plötzlich verharrte er in der Bewegung, machte dann einen Schritt vorwärts und studierte die Stelle, wo Cameron gelegen hatte. Die jetzt unbedeckte Erde war sandig und hier und da mit kärglichen Grasbüscheln bewachsen. Der Sergeant beugte sich tiefer.

«Was ist das da?»

Nathan spürte, wie Bub neben ihn trat und Xander sich auf die andere Seite stellte. Sie starrten alle die Stelle an, auf die Ludlow zeigte.

In der Erde vor dem Grabstein, wo Camerons Rücken gelegen hatte, war ein flaches Loch.

Kapitel vier

Das Loch hatte ungefähr die Größe von drei Fäusten, und es war leer.

Ludlow machte eine ganze Reihe Fotos, dann sah Nathan zu, wie er einen behandschuhten Finger in das Loch steckte. Sogleich brach es an der Seite ein, und Erde rieselte hinein. Die Landschaft verhielt sich wie ein Lebewesen, und Nathan wusste, dass sie sich in ein oder zwei Tagen von allein nahtlos repariert haben würde. Ludlow tastete tiefer in dem Loch herum, und Nathan fragte sich unwillkürlich, wie tief der Stockman wohl begraben worden war.

«Ich kann da drin nichts entdecken.» Ludlow wischte sich die Handflächen an der Hose ab und sah stirnrunzelnd zu Steve hoch. «Haben Sie seine Hände untersucht?»

Steve verschwand ums Heck des Krankenwagens und tauchte eine Minute später wieder auf. «Die Nägel sind gesplittert, und Sand und kleine Steinchen stecken darunter. Möglich, dass er mit den Händen gegraben hat, falls das Ihre Frage ist.»

«Wieso sollte er das tun und seine Energie verschwenden?»

«Weil sein Gehirn verbrutzelt war, verdammt.»

Alle drehten sich zu Bub um. Er stand mit hochgezogenen Schultern da, die Arme vor der Brust verschränkt.

«Was denn? Ist doch wohl offensichtlich, oder? Gestern waren fünfundvierzig Grad. Ich weiß nicht, wieso Cam seinen Wagen stehen gelassen hat, aber in dem Moment, als er das gemacht hat, war er im Arsch. Schluss, Ende, aus.»

Ludlow sah Steve an, der knapp nickte. «Er hat wirklich nicht ganz unrecht. Austrocknung führt sehr schnell zu geistiger Verwirrung.»

Alle starrten eine Weile auf das Loch. Ludlow blickte als Erster wieder auf.

«Ich würde mir jetzt gern seinen Wagen ansehen.»

 

Nathan bot dem Sergeant an, ihn hinzufahren, und Bub erhob keine Einwände. Er wirkte erleichtert, bei Steve bleiben zu können, der Proben nehmen und sie in der Kühlbox sichern wollte, ehe sie völlig nutzlos wurden.

Nathan kletterte mit Ludlow und Xander durch den Zaun, und sie stiegen in seinen Land Cruiser. Es war ausnahmsweise ein besseres Gefühl, wieder auf seiner Seite des Zauns zu sein. Der widernatürliche Anblick des toten Cameron auf dem Land, das er liebte, hatte den Ort irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht, als wäre die Luft verpestet.

Nathans Hände am Lenkrad waren unruhig, während er versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, dass er Cam gesehen hatte, im Juni oder wann auch immer. Wahrscheinlich hatte Cam gelächelt, weil er das meistens tat. Nathan ballte abwechselnd die Hände. Er hatte nur das Gesicht unter der Plane im Kopf. Er wünschte, er hätte weggesehen. Er ließ den Motor an und fuhr los, registrierte mit Verzögerung, dass Ludlow etwas gesagt hatte.

«Wie bitte?»

«Ich hab gefragt, ob Sie und Ihr Bruder absichtlich Land nebeneinander gekauft haben.»

«Ach so. Nein. Burley Downs hat unserem Dad gehört, deshalb sind Cam, Bub und ich auf der Farm aufgewachsen. Dann hab ich etwas Land auf dieser Seite des Zauns geschenkt bekommen, als ich – ähm – geheiratet hab.» Im Rückspiegel konnte er sehen, dass Xander aus dem Fenster schaute, so tat, als würde er nicht zuhören. «Das war vor rund zwanzig Jahren. Etwa um diese Zeit ist unser Dad gestorben, und schließlich hat Cam Burley Downs übernommen.»

«Die Farm hat also Cameron gehört?»

«Er leitet sie. Und er hat inzwischen den Mehrheitsanteil.»

«Ach ja?»

«Ja, aber Sie müssen gar nicht so interessiert gucken. Das ist schon seit Jahren so. Jeder von uns hat ein Drittel bekommen, als Dad starb, alles ganz gerecht. Wenig später habe ich die Hälfte von meinem Anteil an Cam verkauft, und er verwaltet die Farm. Organisiert die täglichen Abläufe und erledigt den Großteil der langfristigen Planung. Bub hat ein Drittel, und ich habe noch ein Sechstel.»

Ludlow machte sich eine Notiz. «Und wie groß ist Burley Downs?»

«Dreieinhalbtausend Quadratkilometer, mit ungefähr dreitausend Hereford-Rindern.»

«Und die Familie kümmert sich um das alles selbst?»

Irgendwie fand Nathan die Art, wie Ludlow mit ihm sprach, äußerst seltsam. Erst als er den Mund öffnete, um zu antworten, wurde ihm klar, woran das lag. Der Mann sprach völlig normal mit ihm. Da schwang nichts Offenkundiges oder Unterschwelliges oder Bedrohliches oder auch nur ansatzweise Besorgtes mit. Nathan fragte sich, wie bald Steve den Sergeant aufklären würde. Wahrscheinlich im Krankenwagen auf der Fahrt zurück in die Stadt. Die Geschichte eignete sich gut als Pausenfüller beim Smalltalk, und sie war weiß Gott kein Geheimnis. Inzwischen war sie praktisch fester Bestandteil des hiesigen Volksmundes, so kam es Nathan vor.

Ludlow rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her, und Nathan begriff, dass er noch immer auf eine Antwort wartete.

«Bei Bedarf heuern sie Hilfskräfte an, wie schon gesagt. Wenn das Vieh zusammengetrieben wird, braucht man immer zusätzliche Leute, aber es gibt Firmen, bei denen man Teams telefonisch buchen kann. Die Arbeit wird heutzutage fast ausschließlich per Hubschrauber und Motorrad erledigt. Cam hat Handwerker kommen lassen, wenn Maschinen repariert oder Zäune gebaut werden mussten oder so. Aber den Alltagskram erledigt überwiegend die Familie. Vor allem wenn es ruhig ist. Wie jetzt zum Beispiel, weil die Märkte und Fleischfabriken über Weihnachten geschlossen sind.»

«Braucht man denn keine Hilfe, um die vielen Kühe zu melken?»

Im Spiegel sah Nathan, dass Xander sich ein Grinsen verkniff. «Hier in der Gegend wird Fleisch produziert, keine Milch.»

«Heißt das, ihr habt die Kühlschränke voll mit Steaks?»

«Und mit haltbarer Milch. Aber nein, das läuft hier anders als auf kleinen Höfen. Große Farmen lassen die Rinder die meiste Zeit frei umherziehen. Die Tiere trinken an den Wasserstellen, grasen, werden zusammengetrieben, wenn sie schlachtreif sind.» In vielerlei Hinsicht waren sie nahezu wild. Viele sahen von der Geburt bis zur Schlachtung so gut wie keinen Menschen.

«Und wie groß ist Ihre Farm?»

«Knapp siebenhundert Quadratkilometer.»

«Um einiges kleiner als Burley Downs.»

«Stimmt.»

«Wieso?»

Nathan zögerte. Xander hatte sich wieder darauf verlegt, aus dem Fenster zu starren. «Lange Geschichte. Schmutzige Scheidung ist die Kurzfassung.»

Ludlow schien das ausnahmsweise zu akzeptieren, ohne nachzuhaken, und Nathan fragte sich, ob es eine ähnliche Erklärung dafür gab, dass der Cop fünfzehnhundert Kilometer von Brisbane entfernt stationiert worden war.

«Wer lebt sonst noch auf Ihrer Farm?», fragte Ludlow.

Nathan antwortete nicht sofort. «Ganzjährig niemand außer mir. Ich bin allein.»

Ludlow wandte den Kopf und sah ihn überrascht an. «Ganz allein?»

«Ja. Ein-Mann-Show. Ich meine, ich heuere Leute an, wenn ich Hilfe brauche.» Und er sie sich leisten konnte.

Der Sergeant war sichtlich perplex. «Wie groß ist Ihre Farm noch mal, siebenhundert Quadratkilometer? Und wie viele Rinder?»

«Wahrscheinlich fünf- oder sechshundert.»

«Himmel, das hört sich immer noch nach viel an.»

Nathan antwortete nicht sofort. Es war viel und auch wieder nicht. Es war genug, um sein mieses Fleckchen Erde überzustrapazieren, bis es nur noch eine Sandgrube war. Es war nicht genug, um aus den roten Zahlen rauszukommen.

«Aber –» Ludlow ließ den Blick über den endlosen Horizont schweifen, von einer leeren Seite zur anderen. «Fühlen Sie sich da nicht manchmal einsam?»

«Nein.» Wieder ein rascher Blick in den Spiegel. Xander schaute jetzt zu ihnen nach vorn. «Nein, ich komm gut klar. Es macht mir nichts aus. Und solange genug Wasser da ist, versorgt das Vieh sich praktisch selbst.»

«Aber nicht ganz.»

«Nein, nicht ganz. Wir haben allerdings die letzten Jahre Glück gehabt mit dem Grenville», sagte Nathan in der Hoffnung, das Thema zu wechseln.

«Ist das der Fluss?»

«Ja. Er holt alle Nährstoffe aus dem Regenwasser und ist deshalb gut für den Boden, wenn er über die Ufer tritt. Letztes Jahr hatten wir eine Überschwemmung, und auch zwei Jahre davor.»

Ludlow blinzelte in die Sonne.

«Wie viel Regen ist dafür nötig?»

«Wir haben hier auch ohne Regen Hochwasser», sagte Xander von der Rückbank, und Ludlow drehte sich zu ihm um.

«Im Ernst?»

Nathan nickte. Es war selbst nach zweiundvierzig Jahren noch immer ein seltsamer Anblick, wenn das Wasser anstieg, still und leise, unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Dann wogte der Fluss gegen seine Ufer, angeschwollen vom Regen, der Tage zuvor und tausend Kilometer weiter nördlich gefallen war. Nathan zeigte nach draußen.

«Bei einer Überschwemmung steht hier fast alles unter Wasser. An manchen Stellen wird der Fluss zehn Kilometer breit. Ohne Boot kommt man nicht rüber. Die Häuser und die Stadt sind auf höherem Gelände erbaut, aber die Straße verschwindet.»

Ludlow blickte erstaunt. «Und wie kommt man weg?»

Nathan hörte Xander lachen. «Gar nicht. Viele Farmen werden zu Inseln. Ich hab mal fünf Wochen lang auf meiner festgesessen.»

«Allein?»

«Ja», sagte Nathan. «Aber das ist kein Problem. Man muss nur vorbereitet sein. Geht nicht anders, so ist nun mal die Geographie.»

Er blickte hinaus auf die rote Erde, die sich ringsum erstreckte. Es war schwer vorstellbar, aber vor Millionen von Jahren war sie der Grund eines gewaltigen Binnenmeeres gewesen. Bei Ausgrabungen hatte man Knochen von Wassersauriern gefunden, und in der Wüste gab es Stellen, wo Berge von versteinerten Muscheln in der Sonne brieten. Nathan erinnerte sich plötzlich, wie er und Cameron als Kinder auf Dinosaurierjagd gegangen waren, mit Schaufeln und mit Säcken bewaffnet, um die Knochen nach Hause zu bringen. Jahre später war es Xander gewesen, und Nathan hatte sich die Taschen mit Plastikdinos vollgepackt, um sie zu vergraben, wenn die echten partout nicht zum Spielen rauskommen wollten.

Der Sergeant schrieb wieder in sein Notizbuch.

«Wer sind die Nachbarn?», fragte er.

«Die nächste Farm ist Atherton.» Nathan zeigte nach Nordosten. «Die Stadt liegt südlich davon, dann gibt es noch zwei weitere Farmen östlich von da. Die zweitgrößte hier in der Gegend ist die Kirrabee-Farm, und die grenzt an meine. Gehört jetzt einem Unternehmen.»

Früher war sie jedoch in Privatbesitz gewesen. Im Besitz von Nathans Schwiegervater, um genau zu sein. Ex-Schwiegervater, korrigierte Nathan sich, weil ihm das lieber war. Er bremste ab, als sie sich einer Stelle im Zaun näherten, wo er hindurchfahren konnte. Xander sprang aus dem Wagen, um das Gatter zu öffnen, sie holperten hindurch und waren wieder auf Camerons Land.

«Ist nicht mehr weit», sagte er zu Ludlow.

«Wie haben Sie das vorhin gemeint, dass Ihr Bruder die Stelle mit dem Grab gut kannte?» Der Sergeant sah ihn an. «Kommt mir seltsam vor, dass jemand sich da freiwillig aufhält.»

«Onkel Cam hat von dem Grab ein Bild gemalt», sagte Xander, der wieder eingestiegen war. «Er hat es berühmt gemacht. Jedenfalls hier in der Gegend.»

«Ach ja?»

Nathan nickte. «Er ist nur ein Hobbymaler – war ein Hobbymaler –, aber er war richtig gut. Er ist irgendwie zum Malen gekommen, als wir Kinder waren. Es gab nicht viele Freizeitmöglichkeiten, deshalb haben wir alle so Alte-Leute-Kram gemacht. Briefmarkensammeln und so. Ich konnte ums Verrecken nicht malen, aber Cam war wirklich begabt. Er hat nie ganz damit aufgehört, und vor rund fünf Jahren hat er das Stockman-Grab gemalt.»

Eine der Saisonarbeiterinnen damals hatte ein Foto von dem Bild gemacht und es online gestellt, als sie wieder zu Hause war, in Frankreich oder Kanada oder von wo auch immer sie stammte. Auf einmal hatten Leute bei Cameron angerufen, die Drucke von dem Bild bestellen wollten. Schließlich hatte er es auf Vorschlag seiner Mutter für einen landesweiten Wettbewerb eingereicht und einen Preis gewonnen.

«Im Laden in der Stadt kann man Postkarten davon kaufen», sagte Nathan.

«Dann hat das Grab Ihrem Bruder wohl viel bedeutet, was?», sagte Ludlow mit einer Stimme, die vermuten ließ, dass er das wichtig fand.

«Das würde ich nicht gerade sagen», erwiderte Nathan. «Ich glaube, er mochte sein Bild mehr als das Grab. Er hatte einfach an dem Tag Glück damit, wie das Licht fiel.»

«Ist schon seltsam da draußen», sagte Ludlow. «Ein einsames Grab mitten im Nirgendwo. So was hab ich noch nie gesehen.»

«Es gibt hier in der Gegend noch mehr davon.» Xander beugte sich vor. «Von vor langer Zeit, wenn jemand plötzlich gestorben ist. Dann hat man ihn an Ort und Stelle begraben, und später sind vielleicht Angehörige oder so gekommen und haben einen Grabstein aufgestellt. Für Touristen gibt es online Karten und Fotos und so.»

«Wer soll denn wegen so was den weiten Weg hierherkommen?»

Nathan zuckte mit den Achseln. «Sie würden sich wundern.»

«Die besuchen den Stockman?»

«Manchmal. Als Cams Bild der Renner war, kamen ein paar im Jahr. Inzwischen nicht mehr viele. Hinter der Atherton gibt es eins, das beliebter ist.»

«Was ist an dem so verlockend?»