Der Tag, an dem Barbara starb - Richard Hooton - E-Book

Der Tag, an dem Barbara starb E-Book

Richard Hooton

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
Beschreibung

Den Schlüssel zum Rätsel hat nur sie. Doch wo hat sie ihn hingelegt? Margaret ist 89 und eine Institution in dem kleinen nordenglischen Dorf, in dem sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hat. Einzig auf ihr ehemals gutes Gedächtnis ist in letzter Zeit wenig Verlass. Als ihre Nachbarin Barbara ermordet wird und die Polizei nicht vorankommt, nimmt die resolute Margaret die Dinge selbst in die Hand. An ihrer Seite: ihr cleverer Enkel James, 15, der ihrem Gedächtnis immer wieder auf die Sprünge hilft. Denn Margaret weiß: Barbara hat ihr kurz vor ihrem Tod etwas sehr Wichtiges anvertraut. Wenn sie sich nur erinnern könnte … Ein charmanter Cosy Crime und eine herzerwärmende Familiengeschichte mit viel Humor und einem Schuss Melancholie Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte »Eine originelle Perspektive, einfühlsam erzählt.« Susanne Goga

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Margaret ist 89 und eine Institution in dem kleinen nordenglischen Dorf, in dem sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hat. Einzig auf ihr ehemals gutes Gedächtnis ist in letzter Zeit wenig Verlass. Als ihre Nachbarin Barbara ermordet wird und die Polizei nicht vorankommt, nimmt die resolute Margaret die Dinge selbst in die Hand. An ihrer Seite: ihr cleverer Enkel James, 15, der ihrem Gedächtnis immer wieder auf die Sprünge hilft. Denn Margaret weiß: Barbara hat ihr kurz vor ihrem Tod etwas sehr Wichtiges anvertraut. Wenn sie sich nur daran erinnern könnte, was das war …

Richard Hooton

Der Tag, an dem Barbara starb

Ein Fall für Margaret Winterbottom und ihrem Enkel

Roman

Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg

Für Nana, Dad und Onkel Barry, in Liebe

Als ich jünger war,

konnte ich mich an alles erinnern,

ob es nun geschehen war oder nicht;

nun aber werde ich alt und werde mich

bald nur noch an Letzteres erinnern.

Mark Twain

Prolog

Die leisen Töne aus dem Transistorradio auf unserer Küchenablage durchdringen die Stille. Das goldene Timbre von Andy Williams: Moon River.

Du kommst durch die Tür, Albert. Nimmst meine Hand, als wäre sie ein Geschenk.

»Darf ich bitten, Margaret?«

Deine tiefe Stimme klingt fröhlich. Du ziehst mich in deine Arme. Der holzige Zitrusduft von Floris No. 89.

Es könnte unser erster Tanz sein: zögerlich, der Körper eines Fremden nah an meinem, unsicher, wo Hände und Füße hingehören.

Die knackenden Gelenke und schmerzenden Muskeln zu bewegen ist mühsam. Deine Hände stützen mich, fest und sanft zugleich. Unerschütterlich. Wir finden unseren Rhythmus, unsere Bewegungen spiegeln einander, wir werden eins mit der Melodie. Das kalte Linoleum verwandelt sich in die warmen, rissigen Dielenbretter im Ballsaal des Blackpool Tower, und die Jahrzehnte lösen sich allmählich auf.

Eins-zwei-drei. Und rundherum.

Mein Sommerkleid bauscht sich, unsere Schritte sind leicht und schwerelos.

Du flüsterst mir drei wunderbare Worte ins Ohr, die ich schon so lange nicht mehr gehört habe.

Gelegentlich gibt es ein Rauschen im Radio. Es macht nichts, die Melodie trage ich in mir.

Unsere Schatten auf dem Boden werden immer länger, und plötzlich fühle ich mich seltsam. Es könnte unser letzter Tanz sein, ein verzweifeltes Aneinanderklammern. Ich kann nicht ertragen, dass das Lied zu Ende geht. Ich schließe die Augen, will uns für immer in diesen Moment zwingen. Aber die Nacht verblasst schon, und du entgleitest meinem Griff.

1. Kapitel

Ein wunderschönes blaues Licht tanzt an der Zimmerdecke. Es erleuchtet unser Schlafzimmer, hilft meinen Augen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Merkwürdige Geräusche stören die nächtliche Stille: zuschlagende Autotüren, eilige Schritte, drängende Stimmen. Die goldenen Glocken unseres Weckers, der einsam auf dem Nachttisch steht, schimmern gespenstisch. Ich versuche die winzigen Zeiger zu erkennen. Es ist ein Uhr, glaube ich.

Ich schaue nach links, wo du immer liegst, Albert. Deine Seite des Bettes ist leer. Ich setze mich auf. Du hast immer lieber in der Nähe der Tür geschlafen.

»Damit ich aufspringen und dich beschützen kann, falls jemand ins Zimmer stürmt«, sagst du manchmal und hebst deine knochigen Fäuste wie ein Preisboxer.

»Bei meinem Glück würden die bestimmt durchs Fenster kommen«, kontere ich.

Wir wissen beide ganz gut, dass du in der Nähe der Tür schläfst, damit du mich nicht störst, wenn du nachts auf die Toilette gehst. Auf und nieder, wie der Ellbogen eines Fiedlers.

Das blaue Licht wirbelt über die helle Zimmerdecke. Mein Kopf ist ein bisschen benebelt. Ich lege mich wieder hin und schließe die Augen, warte darauf, dass der Schlaf über mich hinwegspült. Autoreifen knirschen auf Schotter. Bremsen quietschen. Wieder schlagen Türen zu.

Mein Verstand kann die Geräusche nicht ausblenden. Wenn die Synapsen erst einmal feuern, ist es schwer, sie wieder abzustellen.

Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr wie die Hinweise in einem Kreuzworträtsel: »Tatort gesichert«, »Beamte positioniert«, »Zutrittsweg«.

Es hat keinen Sinn. Ich muss es mir ansehen.

Zögernd hebe ich die Bettdecke etwas an und strecke langsam die Beine aus der Wärme hinaus. Ich stelle sie auf den Boden und stemme mich hoch. Kalte Luft zwickt mir in die Knöchel. Ich ziehe die Pantoffeln mit den Antirutschsohlen an und schalte das Licht ein. Das Klicken passt zu dem Geräusch, das meine Hüfte beim Drehen macht. Ich wickle mich in meinen Flanellmorgenmantel, ziehe den Gürtel fest und binde eine Schleife. Dann spähe ich durch die Vorhänge.

Mehrere Polizeiautos parken kreuz und quer auf der Straße, als hätte ein Tornado sie hergeweht. Ihr Blaulicht ist eingeschaltet. Im ersten Moment denke ich, die uniformierten Beamten stünden vor Jean Bramptons Haus direkt gegenüber. Dann ziehe ich scharf die Luft ein, als mir klar wird, dass sie daneben stehen, vor Barbaras Haus.

Was um Himmels willen ist passiert? Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss rausgehen und nachsehen. Ich kann nicht hier herumsitzen und warten, bis du im Bad fertig bist. Du bleibst ja immer ewig drin.

Als ich vom Schlafzimmer in Richtung Treppe gehe, knarren die Dielen lauter als meine Gelenke. Wann genau ist mein Körper zu meinem Feind geworden? Aus Wehwehchen, die früher von selbst verschwanden, sind Schmerzen geworden, und die Schmerzen werden immer schlimmer. Offenbar hat mein Körper vergessen, wie man sich selbst repariert. Anders als dieser Doctor Who, den du so gern am Samstagabend schaust, hat er die Fähigkeit zur Regeneration verloren. Unser echter Doktor ist noch skeptisch, was eine neue Hüfte angeht – »Eine Operation in Ihrem Alter will wohlüberlegt sein, Margaret« –, sodass ich wohl oder übel den verwünschten Stock benutzen muss, wenn es zu schlimm wird. Trotzdem, ich will mich nicht beschweren.

Die Badezimmertür ist zu, ein schmaler Lichtstreifen dringt darunter hervor. Der Wasserhahn tröpfelt. Mit meinen Ohren ist noch alles in Ordnung, wie du weißt.

»Ich gehe raus und sehe nach, was los ist.«

Keine Antwort. Ohne Hörgerät bist du stocktaub.

»Taub von deinem ganzen Genörgel«, wie du gerne sagst. Mit einem Lächeln. Immer mit einem Lächeln.

Noch ein Gedanke hängt irgendwo in meinem benebelten Gehirn, nicht ganz greifbar. Egal. Ich halte mich am Treppengeländer fest und konzentriere mich ganz auf meine Aufgabe. Könnte ich nur wie ein übermütiges Kind das Geländer hinunterrutschen! Ich widerstehe dem Drang. Ich würde als jämmerliches Häufchen Elend im Flur enden, über das du morgen früh stolperst.

Vorsichtig nehme ich eine Stufe nach der anderen. Bis ich da draußen ankomme, werden die alle längst weg sein.

Schließlich bin ich unten angelangt, schließe die Haustür auf, und als ich sie öffne, werde ich von einem eiskalten Windstoß begrüßt. Ich bekomme eine Gänsehaut, aber ich beiße die verbliebenen Zähne zusammen und wage mich nach draußen. Die Nachtluft ist schwer vom Benzingeruch. So viel Polizei. Muss was Ernstes sein. Obwohl ich ständig in der Zeitung lese, dass sie zu irgendwelchen Kleinigkeiten rasen, statt sich um die wirklich schlimmen Sachen zu kümmern.

Ein Beamter steht vor Barbaras Gartentor und starrt ins Leere. Hinter ihm flattert ein blau-weißes Band mit der Aufschrift POLIZEIABSPERRUNG im Wind. Ein anderer Beamter steht mit dem Rücken zu mir neben einem Streifenwagen, genau vor unserer Einfahrt. Ich schlurfe auf ihn zu, die Kälte des Betons dringt durch die Sohlen meiner Pantoffeln. So spät war ich seit Jahren nicht draußen. Nicht seit der Zeit, als wir noch tanzen gingen, Jahrzehnte ist das her, und lachend durch die Nacht gewirbelt sind. Endlich bin ich an unserem Tor. Wie anders die Straße aussieht als bei Tag, Häuser und Gärten in Dunkelheit und Geheimnis gehüllt. Die Sterne sind winzige Nadelstiche in der Schwärze; sie leuchten noch für uns, obwohl manche längst erloschen sind.

Ich nähere mich dem Polizisten. Tippe ihm auf die Schulter.

»Was ist hier los?«

Er schrickt zusammen, fasst sich wieder. »Tut mir leid, Madam. Hab Sie nicht gesehen.«

Sonst sagt er nichts, also funkele ich ihn sehr eindringlich an.

»Gibt nichts zu sehen«, sagt er schließlich. »Sie gehen besser wieder rein.«

»Was ist bei Barbara passiert?«

»Keine Ahnung, aber Sie holen sich hier draußen den Tod.«

Polizisten werden auch immer jünger. Er kann kaum älter sein als unser James, und der ist jetzt wie alt, fünfzehn? Genau wie unser Enkel hat er Pickel und nicht mal einen Anflug von Bartwuchs. Er sieht niedergeschlagen aus. Das hat er sich wohl nicht so vorgestellt, als er zur Polizei gegangen ist.

»Ich kann nicht wieder reingehen, ohne zu wissen, was mit ihr ist.«

Er schaut mich nicht an, sondern an mir vorbei. Ich brauche seinen Seufzer nicht zu hören, ich sehe ihn in seiner betretenen Miene. Der bitterkalte Wind peitscht uns um die Ohren.

»Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich muss darauf bestehen, dass Sie wieder reingehen.«

»Sie haben mir nicht zu befehlen, was ich zu tun habe, junger Mann.« Ich ziehe den Gürtel meines Morgenmantels fester und binde die Schleife neu. »Das hier ist ein freies Land, und Sie stehen genau vor meiner Tür.«

Eine Polizistin steigt aus dem Wagen, wohl aufgeschreckt durch unsere Stimmen.

»Alles in Ordnung?« Sie lächelt dünn. »Sie sollten wirklich nicht in diesem Aufzug in der Kälte stehen.«

»Ich mache mir Sorgen um meine Nachbarin.«

Unbehagen breitet sich in meiner Magengegend aus. So viele Beamte. Das Absperrband. Keine Antworten. Da war doch etwas mit Barbara, an das ich mich erinnern muss. Aber was?

»Wir nehmen im Moment noch die Umstände auf.« Der säuselnde Ton soll mich wohl beruhigen. »Sobald wir mehr wissen, erfahren Sie es. Fürs Erste sind Sie in Ihrem warmen Haus viel besser aufgehoben.«

Der eisige Wind wird stärker. Dem Polizisten klappern die Zähne. Die waren auch mal aus härterem Holz geschnitzt. Und sie sind längst nicht so gut wie der nette Sergeant Bergerac aus dem Fernsehen. So einen reizenden Mann gibt’s nur einmal.

Es hat keinen Sinn, sie werden mir nichts sagen. Ich lasse mich von ihr zurück ins Haus geleiten. Der junge Polizist wirkt erleichtert.

Wir stehen im Flur, die Haustür ist angelehnt.

»Wie heißen Sie, meine Liebe?«, erkundigt sich die Polizistin.

»Mrs. Winterbottom.«

Im erbarmungslosen Licht des Flurs kann ich ihr Gesicht besser erkennen. Glänzendes kastanienbraunes Haar quillt unter ihrer Mütze hervor und umrahmt ihr hübsches Gesicht. Meine grauen Strähnen hängen trübselig herunter. Ihre Haut ist straff und glatt, als hätte sie noch keine Zeit für Sorgen gehabt, die Spuren hinterlassen. Meine ist ganz runzlig.

Ich lese Mitgefühl in ihren Augen. Das will ich nicht. Darum habe ich nicht gebeten. Ich möchte nur genauso behandelt werden wie alle anderen und die Wahrheit gesagt bekommen. Ich weiß, was ich für sie bin. Aber sie wird auch mal alt. Dagegen hilft keine Verbrechensvorsorge.

»Nun, Mrs. Winterbottom, mitten in der Nacht können Sie ohnehin nicht helfen. Es ist das Beste, wenn Sie wieder ins Bett gehen. Morgen früh, wenn wir klarer sehen, können wir Ihnen mehr sagen.«

Wenn man in unser Alter kommt, denken alle, sie wüssten, was verdammt noch mal das Beste für uns ist, Albert.

»Ich kann nicht schlafen, wenn ich befürchten muss, dass Barbara etwas passiert ist.«

»Sie sollten sich keine Sorgen zu machen. Wenn Sie erst mal im Bett liegen, sind Sie bestimmt ganz schnell eingeschlafen.«

Sie sagt allerdings nicht, dass alles gut wird. Was zählt, ist, was sie nicht sagen. Sechs Jahrzehnte hier in diesem sicheren Fleckchen Erde im Garnon Crescent ohne ein einziges Verbrechen. Natürlich gab es den einen oder anderen Streit, aber nichts, wofür wir Gesetzeshüter gebraucht hätten. Doch jetzt muss etwas Schreckliches passiert sein.

»Können Sie wenigstens bestätigen, dass es ihr gut geht?«

Sie schaut an mir vorbei. »Sind Sie allein, Mrs. Winterbottom? Soll ich jemanden für Sie anrufen?«

Etwas an ihren Worten irritiert mich. Ich starre sie an. Die frische Luft hat mir einen klaren Kopf verschafft, und ein kaltes Wissen, das tief vergraben lag, breitet sich in mir aus. Ich schaue nach oben, denke an die geschlossene Badezimmertür, den tröpfelnden Wasserhahn. Dann schüttle ich den Kopf. Plötzlich will ich nur, dass sie geht.

»Schließen Sie auf jeden Fall die Haustür ab«, sagt die Polizistin munter, als sie nach draußen tritt. »Obwohl Sie gar nicht sicherer sein könnten, wo so viele starke, gut aussehende Polizisten Ihr Haus bewachen.«

Ich lasse die Tür mit einem dumpfen Knall zufallen. Schließe pflichtschuldig ab. Schleppe mich nach oben. Gehe ins Badezimmer. Es ist leer. Ich drehe den Wasserhahn ab. Schalte das Licht aus.

Als ich wieder in unserem Schlafzimmer bin, sehe ich aus dem Fenster. In den Nachbarhäusern bewegen sich die Gardinen. Die Nachricht wird sich bald verbreitet haben.

Ich mustere Barbaras Haus. Keine zerbrochenen Fenster, keine eingetretene Tür. Keine geschwärzten Fensterrahmen oder Rauchschwaden. Ihr Garten ist ordentlich und gepflegt, genau wie sie. Alles scheint wie immer.

Ich schaue zu unserem Bett, Albert, in dem du sechzig Jahre lang neben mir gelegen hast. Dein Kissen ist aufgeschüttelt, die Decke auf deiner Seite sorgfältig eingesteckt. Von dem blauen Licht, das unregelmäßige Muster an die Decke zeichnet, wird mir schlecht.

Plötzlich strömt noch mehr Licht durch die Dunkelheit. Ein Krankenwagen fährt vor und parkt neben Barbaras Haus. Die hinteren Türen werden geöffnet. Sanitäter rollen eine Trage heraus und ducken sich unter dem Absperrband hindurch. Ich hole tief Luft. Meine beste Freundin, meine Freundin seit fünfzig Jahren, eine der wenigen Freundinnen, die mir geblieben sind. Tränen brennen in meinen Augen, aber ich werde nicht weinen.

Nach einer Ewigkeit kommen sie mit der Trage heraus. Was darauf liegt, ist komplett mit einem weißen Tuch verhüllt.

Die Erinnerung ist wie eine Ohrfeige, Albert. Wie sie dich weggebracht haben und du nicht zurückgekommen bist. Die Erinnerung an den Morgen, an dem die Sonne nicht aufgegangen ist. Das blaue Licht, kalt und still.

Ich wusste nicht, dass ein Herz zweimal brechen kann, aber genau dieser Schmerz brennt nun wieder in meiner Brust.

2. Kapitel

Der Bulle steht schon seit Stunden am Gartentor. Wie diese kostümierten Typen in der Stadt, die so tun, als wären sie Statuen.«

James überwacht vom Wohnzimmerfenster aus die Vorgänge nebenan. Unser Enkel steht selbst schon eine ganze Weile dort, aufmerksam und aufrecht wie die Erdmännchen in den Tierfilmen von David Attenborough, die wir so gern zusammen angeschaut haben, Albert. In seiner Stimme liegt eine gewisse Schärfe, eine nervöse Energie. Wenn er den Kopf senkt, fallen ihm die langen Haare ins Gesicht. Ich wünschte, ich hätte eine Schere zur Hand, um ihm einen anständigen Schnitt zu verpassen. Und Nadel und Faden, weil seine tief sitzende Jeans an den Knien zerrissen ist. Ich wollte ihm eigentlich zum Geburtstag eine neue kaufen, doch anscheinend ist das jetzt modern. Stattdessen werde ich ihm einen Gürtel schenken. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißer Schrift »My Chemical Romance« gekritzelt steht, was immer das heißen mag.

»Da kommt ein Mannschaftswagen. Jetzt steigen Männer in weißen Overalls aus. Spurensicherung. Die sammeln Beweise.«

Er war vorhin sehr still, wirkt jetzt aber lebhafter. Er ist gewissermaßen mein persönlicher Radiokommentator: Ich muss es gar nicht selbst sehen. Alles, was er bisher nur aus dem Fernsehen kennt, läuft real vor seinen Augen ab, ein Theaterstück vor der eigenen Haustür.

»James, komm vom Fenster weg, das gehört sich nicht.« Shirley klingt noch gereizter als sonst. Verständlich. Das sind wir alle. Doch James rührt sich nicht von der Stelle, egal, was seine Mum sagt. Er gibt seinen Vorzugsplatz ebenso ungern auf wie sie den ihren in der Schlange beim Winterschlussverkauf.

»Die sind da einfach reingetrampelt«, sagt James.

Klingt, als würden sie sich nicht mal die Füße abstreifen. Das würde Barbara gar nicht gefallen. Sie hat ihr Haus immer tipptopp in Ordnung gehalten. Und nun stapfen all diese Leute über ihre Teppiche und fassen ihre Sachen an. Das würde ihr überhaupt nicht gefallen.

Ich sitze in deinem Sessel, Albert, um aus der Schusslinie zu sein. Ich suche in dem Stapel vor meinen Füßen nach der Zeitung von heute. Vergewissere mich lieber zweimal, dass ich das richtige Datum erwische. Da haben wir sie, 18. Februar 2012. Mein Gott, das Jahr war Science-Fiction, als wir zum ersten Mal miteinander ausgegangen sind. Die Jahre vergehen so schnell und die Tage so langsam.

Ich blättere sie durch, aber von den Ereignissen hier steht nichts drin. Es geht nur um das Abhören von Telefonen, Rekordarbeitslosigkeit und quantitative Lockerung, was immer das sein mag. Die Zeitungen haben die Sache wohl nicht mehr rechtzeitig mitbekommen.

Ich bin furchtbar müde von der unruhigen Nacht und kann mich bei dem ganzen Geplapper nicht konzentrieren. Meine Gedanken wirbeln davon wie Rauch im Wind. Ich konnte natürlich nicht mehr einschlafen. Also lag ich bis zum Morgengrauen wach in unserem Ehebett, das für mich allein schrecklich groß ist. Manchmal, Liebster, ist es besser, gar nicht zu schlafen, als ohne dich aufzuwachen.

»Ich hab kein Auge zugetan«, erkläre ich.

»Das wissen wir, Mum, du sagst es nicht zum ersten Mal.« Shirley streift durchs Wohnzimmer, nimmt Dinge in die Hand, stellt sie woanders wieder ab. Sie ist mein Ebenbild, wie du immer gesagt hast – klein und fordernd. Sie trägt einen exakt geschnittenen Bob, aber der ist heute ziemlich zerzaust, weil sie andauernd in Bewegung ist. »Wieso bist du denn so spät rausgegangen? Es ist Februar, du hättest dir eine Lungenentzündung holen können.«

Die nächste Predigt. Ich weiß, sie wollte immer ein zweites Kind, und wir haben uns alle gewünscht, dass es klappt, aber der Ersatz dafür will ich nun wirklich nicht sein.

»Ich wusste nicht, was los war, und die Polizei wollte mir nichts sagen.«

»Du hättest dich nicht einmischen sollen.«

Ich wünschte, sie würde sich einfach mal hinsetzen, statt ständig hin und her zu rennen.

Ich hatte Shirley gleich morgens angerufen, um ihr zu sagen, dass etwas Furchtbares passiert sein muss. Und schon standen sie auf der Matte. Das war vor einer Stunde. Unser Schwiegersohn steckt auch irgendwo; Matthew hat sie hergefahren. Natürlich musste es an einem Samstag passieren, an dem die ganze Familie Zeit hat. Komisch, nicht? Sosehr ich ihre Gesellschaft brauche, ich könnte ein bisschen Ruhe zum Nachdenken vertragen.

»Sie werden es dir nicht sagen, wenn es was Ernstes ist«, meint James. »Muss schlimm sein, wenn die Spurensicherung kommt.«

Er kennt sich mit Polizeiarbeit aus, wegen all der Fernsehserien.

»Arme Barbara«, murmele ich.

Du bist es, den ich wirklich brauche, Albert. Deine ruhige Gegenwart. Den tröstlichen Druck deiner Hand. Eine starke Tasse Tee mit einem Löffel Zucker drin. Wenn du nicht da bist, um mich zu erden, fühle ich mich haltlos, treibe einfach dahin.

»James! Du regst deine Gran auf«, blafft Shirley. »Wir sollten nicht spekulieren, das ist unschön und respektlos.«

»Dann sollen sie uns sagen, was passiert ist«, kontert James. »Wenn wir es wüssten, müssten wir nicht raten.«

Eine Erinnerung taucht plötzlich wieder auf: Wie sie mir gesagt haben, was mit dir passiert war, Albert. Wie ich in das kleine, kalte Zimmer im Krankenhaus geführt wurde und mich hinsetzen sollte. Der Arzt in seinem gestärkten weißen Hemd, dem die Nachricht ins Gesicht geschrieben stand, noch bevor er etwas sagte. Er murmelte sein Bedauern, sein Mitgefühl, sein Beileid. Dein Herz habe versagt, dein wunderschönes Herz. Und ja, ich weiß, wie Biologie funktioniert, aber ich kann immer noch nicht verstehen, wie es passiert ist, wo doch so viel Leben in dir war, dieses Herz so voller Güte war. Meins ist nur noch ein schwarzes Loch.

Wie seltsam, dass manche Ereignisse einem so lebhaft in Erinnerung bleiben, als wären sie gerade erst passiert, obwohl Monate, Jahre, gar Jahrzehnte vergangen sind. Sie stehen einem vor Augen, ob man will oder nicht. Und doch weiß ich manchmal nicht mehr, was ich vor fünf Minuten getan habe. Die Geheimnisse des Geistes, ein Meer von unergründlicher Tiefe. Wer weiß schon, was an die Oberfläche steigen und was hinuntersinken wird.

Ich versuche, mich auf Barbara zu konzentrieren, mir zusammenzureimen, was passiert ist. Da war etwas, an das ich mich erinnern muss. Aber was? Ich lasse die letzte Nacht noch einmal Revue passieren und suche nach Hinweisen.

Meine Gedanken werden vom Lärm an der Haustür davongeschwemmt; jemand stampft mit den Füßen und klatscht in die Hände. Matthew kommt ins Wohnzimmer, pustet in seine Hände, reibt sie aneinander. Dieser Mann ist das menschliche Äquivalent eines Pinguins: Watschelt plump durch die Gegend, und fliegen wird er nie.

»Verflixt kalt. Keine Ahnung, wie du das letzte Nacht da draußen ausgehalten hast, ohne dir eine Lungenentzündung zu holen, Margaret.«

»Genau das hab ich ihr auch gesagt«, erklärt Shirley.

»Wo um Himmels willen warst du?«, frage ich.

»Bin nur kurz raus, um zu sehen, ob die Polizei uns was verrät.«

Ah, Shirley hat ihren Laufburschen geschickt.

»Und?«, will sie wissen, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Sie schicken jemanden rüber.«

»Da kommt eine Polizistin den Gartenweg herauf.« In James’ Stimme liegt Beklommenheit. Er war schon den ganzen Morgen seltsam. Ich hatte nicht erwartet, dass es ihm etwas ausmachen würde, aber es trifft uns wohl alle. Wir wissen, dass es eine schlimme Nachricht sein wird, aber ich muss wissen, was genau passiert ist.

Shirley eilt zur Tür, um sie hereinzulassen. So viel Rummel gab es hier seit deinem Beerdigungskaffee nicht. Damals ging es zu wie am Piccadilly Circus, so viele Freunde und Verwandte kamen, von denen ich manche seit Jahren nicht gesehen hatte und die mir alle sagten, wie leid es ihnen täte, in ihren Augen ein Mitleid, das mir nicht gefiel.

Shirley und die Polizistin kommen ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht, ob es dieselbe ist wie letzte Nacht – bei Tageslicht sieht alles anders aus, oder? –, aber sie lächelt freundlich, als sie mich sieht.

»Sie sind Mrs. Winterbottom, stimmt’s?«

»Was ist mit Barbara?«

Shirley stöhnt. »Alles zu seiner Zeit, Mum.«

Die Polizistin lehnt etwas zu trinken ab und setzt sich auf unser geblümtes Sofa. Auch nach all den Jahren sehen die Gänseblümchen noch frisch und lebhaft aus. Das war wirklich ein Schnäppchen.

»Wie geht es Ihnen?«

»Mir geht es gut. Ich will mich nicht beschweren.«

»Sehr schön.« Wieder das Lächeln. Breit und mit vielen Zähnen. »Ich bin Detective Constable Alex Read. Wie Sie wissen, untersuchen wir einen Vorfall im Haus gegenüber.«

Einen Vorfall! Also ehrlich!

Sie mustert uns: James hockt auf der Fensterbank, den Blick gesenkt; Shirley und Matthew stehen daneben und glotzen; ich sitze in unserem Sessel, aufmerksam nach vorn gebeugt.

Ihre Miene wird ernst. »Ich werde versuchen zu erklären, was passiert ist. Danach habe ich einige Fragen.«

James müsste eigentlich begeistert sein, dass er hier bei einer Kriminalermittlung mitwirkt. Damit kann er am Montag bei seinen Schulfreunden angeben. Aber er sieht eher aus wie jemand, der zum Zahnarzt muss.

»Dürfte ich zunächst um Ihre Angaben zur Person bitten?« Sie holt Stift und Notizbuch aus der Tasche.

»Margaret Winterbottom«, verkünde ich. »Alter neunundachtzig. Ich wohne hier. Seit sechzig Jahren.«

»Und Sie leben hier allein?«

»Ich versuche es.«

Sie lächelt und wendet sich an James.

»James Thomas Stone. Alter fünfzehn. Grans Enkel.«

»Danke, James. Das Alter brauche ich nicht unbedingt.«

»Shirley und Matthew Stone. Ich bin Margarets Tochter, und dies ist mein Mann.«

»Also. Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten, Mrs. Winterbottom.« Die Polizistin neigt den Kopf zur Seite, wie Prinzessin Diana es immer getan hat. Ich streiche über die Armlehne des Sessels. »Ihre Nachbarin Barbara Jones ist gestern verstorben.« Obwohl ich es doch wusste, trifft es mich wie ein Schlag in den Magen, mein ganzer Körper verspannt sich. »Sie wollte gestern Abend eine Verwandte besuchen und bei ihr übernachten, ist aber nicht erschienen. Eine Nachbarin, die bei ihr klingelte, bemerkte, dass etwas nicht stimmte, und bat uns, nach ihr zu sehen. Meine Kollegen verschafften sich Zutritt und fanden Mrs. Jones auf dem Küchenboden.«

Shirley schlägt die Hand vor den Mund. Matthew legt ihr den Arm um die Schultern. James lauscht konzentriert; ich höre beinahe, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehen.

»Um welche Uhrzeit wurde sie gefunden?« Meine Stimme klingt dünn und schrill.

»Gegen halb zwölf, denke ich.«

Da muss ich noch tief und fest geschlafen haben. Sie haben mich erst später geweckt.

»Wie ist sie gestorben?«

»Das wissen wir erst nach der Untersuchung durch einen Pathologen. Aber der Tod wird als verdächtig behandelt.«

Eine plötzliche Kälte erfasst mich, meine Müdigkeit ist dahin. »Mord?«

Die Polizistin seufzt kurz. »Wie gesagt, er wird als verdächtig behandelt. Wir führen gründliche Ermittlungen durch.«

»War sie verletzt?«

»Zurzeit kann ich nicht mehr sagen.«

»Wie lange hat sie da gelegen?«

»Das wissen wir nicht genau. Wir glauben, dass Mrs. Jones am selben Tag verstorben ist.«

Es kommt keine Beteuerung, dass Barbara nicht gelitten habe, was mich das Schlimmste vermuten lässt. Ich stelle mir vor, wie sie ausgestreckt am Boden liegt und ihr Leben dahinschwindet. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und blinzle eine Träne weg.

»Ich habe einige Fragen an Sie, wenn das in Ordnung ist, Mrs. Winterbottom. Fühlen Sie sich in der Lage, sie zu beantworten?«

Shirley holt einen Stuhl vom Esstisch und setzt sich neben mich. Sie nimmt meine Hand, ihre glatte Haut warm auf meiner kalten, runzligen. »Schaffst du das, Mum?«

Gedanken kreisen in meinem Kopf, prallen gegeneinander. Warum sollte jemand Barbara töten? So eine sanfte, liebenswerte Frau. Ich spüre ein Gefühl der Unruhe tief in mir.

»Es geht schon. Ich möchte helfen, wenn ich kann.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagt die Ermittlerin behutsam. »Wie lange kannten Sie Mrs. Jones?«

»Seit sie mit ihrem Mann Don vor fünfzig Jahren hergezogen ist. Da war sie neunundzwanzig, denn jetzt ist sie neunundsiebzig.« Ich korrigiere mich. »Ich meine … war.«

Zu viele liebe Menschen, Freunde, Bekannte, die nicht mehr bei uns sind. Wieder ein Verlust.

»Don war gerade befördert worden, sie waren aus einem Reihenhaus in der Innenstadt hergezogen. Er war ein merkwürdiger Mensch. Ist vor fünf Jahren an einem Schlaganfall gestorben.«

Für Barbara war die Trauer eine seltsame Sache, Albert. Dons Tod war eine Art Befreiung, aber sie war gleichzeitig traurig wegen all der verschwendeten Jahre, wegen dem, was hätte sein können.

Die Ermittlerin kritzelt etwas nieder, scheint beeindruckt von meinem Gedächtnis.

»Sie war ein wunderbarer Mensch, immer für alle da.«

Shirley streichelt meine Hand.

»Und wann haben Sie Mrs. Jones zuletzt gesehen?«

Das muss ich jetzt richtig hinbekommen. Gestern habe ich sie nicht gesehen, vorgestern auch nicht. Sie hatte immer viel zu tun, die ganzen ehrenamtlichen Aufgaben. Aber ich bin mir sicher, dass ich diese Woche mit ihr gesprochen habe.

Die Polizistin schaut von ihrem Notizbuch auf. »Gestern?«

»Gestern definitiv nicht.«

»Aber diese Woche?«

»Ja«, sage ich und wühle nach der Erinnerung. War es Montag oder Dienstag? Die Tage geraten durcheinander, es ist schwer, sie zu ordnen. Vor allem, wenn ich nur an die arme Barbara denken kann, wie sie hilflos daliegt.

»Ich glaube, es war am Montag.«

»Ist sie vorbeigekommen? Oder waren Sie bei ihr?«

Ich war nicht bei ihr, glaube aber auch nicht, dass sie hier war. Ich sehe es nicht vor mir. Wo sonst könnten wir uns begegnet sein? Ich reibe mir mit der freien Hand den Nacken. Etwas war komisch an unserer Begegnung, das weiß ich noch.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Können Sie mir sagen, wie Mrs. Jones auf Sie gewirkt hat?«

Und dann ist es, als ginge weit entfernt in meinem Gehirn eine schwache Glühbirne an. Barbaras Gesicht. Gewöhnlich so ruhig, so unerschütterlich, jetzt jedoch aufgewühlt. Versprich es mir, Margaret. Der Gedanke durchbohrt mich wie ein rot glühender Schürhaken. Ich versuche nach der Erinnerung zu greifen. Was hat sie so verstört? Doch das Licht geht wieder aus.

»Mrs. Winterbottom?«

»Sie war sehr aufgeregt.«

»Wissen Sie noch, weshalb?« Die Ermittlerin mustert mich, den Stift in der Hand, bereit zum Mitschreiben.

»Ich … ähm … ich glaube …« Mein Blut scheint dickflüssiger zu werden. Wir haben uns an einem ungewöhnlichen Ort getroffen. Sie war nicht sie selbst, sie war aufgelöst. Da bin ich mir sicher. Aber all die Gedanken liegen so in meinem Kopf verstreut, dass ich sie nicht einsammeln, nicht zusammenfügen kann. Es sind eher Gefühle als Fakten, eher Empfindungen als Details. Meine Mundwinkel zucken. »Ich weiß es nicht.«

»Sie ist manchmal verwirrt«, sagt Matthew und wirft der Polizistin einen wissenden Blick zu. Sein entschuldigender Tonfall macht mich zornig. Er muss mich wirklich nicht schlimmer machen, als ich bin.

»Etwas Schreckliches war passiert«, sage ich beharrlich.

Shirley streichelt meine Hand schneller.

Ich taste in die Dunkelheit. »Es war laut.« Ein furchtbarer Lärm, Albert. Konnte mich selbst nicht denken hören. Ein Wort, ein sonderbares Wort kommt mir aus der Dunkelheit entgegen, als leitete ich eine Séance. »Bilkers.« Es verfestigt sich und bleibt in meinem Kopf hängen. »The Bilkers.«

»Ein ungewöhnliches Wort.« Die Polizistin legt den Kopf schief.

»Sie hat schon seltsameres Zeug geredet«, murmelt Matthew.

Ich funkele ihn an. Wenn er nicht helfen kann, soll er wenigstens den Mund halten.

»Was bedeutet das?« Mein Nacken dürfte inzwischen glatt poliert sein, weil ich ihn so lange gerieben habe.

»Alles gut«, sagt die Polizistin, ihr Lächeln ist starr vor Mitgefühl. Doch sie schreibt nicht mehr mit. »Vielleicht fällt es Ihnen ja noch ein. Was ist mit gestern? Ist Ihnen da etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Ich weiß nur noch, dass ich ferngesehen habe. »Nein. Ich habe das Haus nicht verlassen.«

»Haben Sie draußen irgendetwas gehört?«

»Erst, als Sie mich geweckt haben.« Ich seufze. »Tut mir leid. Ich bin wohl keine große Hilfe, um herauszufinden, was mit Mrs. Smith geschehen ist.«

Besorgnis huscht über das Gesicht der Polizistin. »Sie meinen Mrs. Jones? Ich glaube, Sie haben Smith und Jones verwechselt.« Sie lacht, aber es klingt gezwungen.

»Habe ich das nicht gesagt?«

Ein Versprecher. Shirley runzelt die Stirn.

»Gab es vielleicht schon früher mal Probleme in der Straße?«

»Oh nein. Das ist eine sehr nette Gegend.«

Die Polizistin schaut die anderen an. »Wissen Sie etwas, das helfen könnte?«

James mustert eingehend seine Turnschuhe. Matthew sieht aus wie ein Mann, dem man eine extrem knifflige Quizfrage gestellt hat.

Shirley schürzt die Lippen. »Ich glaube nicht. Wie Mum sagt, Barbara war ein wunderbarer Mensch, ich kann mir nicht vorstellen, wer ihr etwas antun sollte.«

»Gut, das wäre dann so weit alles.« Die Polizistin klappt das Notizbuch zu. »Ich komme wieder, wenn ich weitere Fragen habe. Tut mir leid, dass ich Ihnen so schlechte Nachrichten überbringen musste.«

James wirkt erleichtert. Konzentriert sich wieder auf das, was draußen vor dem Fenster vor sich geht. Shirley bringt die Polizistin zur Tür, und ich höre, wie sie in gedämpftem Ton miteinander sprechen. Mein Körper fühlt sich schwer an.

»Alles okay, Gran?« James legt mir sanft die Hand auf die Schulter. Er scheint wieder er selbst zu sein, sorgt sich um seine alte Gran. Ich tätschle seine schlanken Finger und nicke.

»Möchtest du dich ausruhen, Mum?«, fragt Shirley, als sie hereinkommt. Schlafen werde ich nicht können, aber etwas Ruhe und Frieden zum Nachdenken wären gut. Damit die Erinnerung an die Begegnung mit Barbara wieder in mein Gedächtnis finden kann.

»Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin. Ihr braucht nicht hierzubleiben.«

»Es ist schrecklich«, sagt sie. »Kommst du wirklich allein zurecht?«

»Mach bitte kein Theater.«

»Wir sollten fahren«, sagt Matthew. »James muss zum Fußball.«

Er träumt immer noch davon, dass James in der ersten Liga spielen und ihn reich machen wird, wobei ich da keine großen Hoffnungen habe. Es ist mir ein Rätsel, wie James hinter diesen langen Haaren überhaupt den Ball sehen kann.

Ich schließe die Tür hinter ihnen ab, meine Hände zittern. Mitten in unserer Straße hat jemand eine furchtbare Tat begangen. Zorn frisst sich durch meine Müdigkeit.

Ich muss wissen, wer Barbara das angetan hat. Und warum.

Versprich es mir, Margaret. Ich muss mich daran erinnern, was mir Barbara mit ihren letzten Worten sagen wollte.

3. Kapitel

Sie werden es nicht finden, wie sehr sie auch danach suchen. Sie könnten die ganze verflixte Nacht lang suchen. Ich habe es ihnen gesagt, bis es mir zu den Ohren rauskam, Albert. Weil es nicht da ist.

»Ich habe in jeder Schublade nachgeschaut, in deinem Kleiderschrank und unter dem Bett, aber im Schlafzimmer ist es nicht, Mum.«

Ich hatte Shirley gleich gesagt, dass es nicht dort ist, aber sie wollte nicht auf mich hören. Du weißt ja, wie sie ist.

»Ich bin alle Schränke und Schubladen in der Küche durchgegangen, Gran, aber ich kann es nicht finden.«

James macht nur bei dieser sinnlosen Suche mit, weil seine Mum es ihm befohlen hat. Dabei würde er lieber die Polizisten draußen anstarren, genau wie gestern.

»Ich hab im Badezimmer nachgesehen.« Matthew klingt müde und träge, aber darunter köchelt etwas. »Es ist definitiv nicht da.«

Warum um Himmels willen sollte mein verflixtes Portemonnaie auch da drinnen sein? Ich weiß, der Mann denkt, ich hätte komplett den Verstand verloren, aber das stimmt nicht. Es ist nicht im Haus.

»Ich sehe mal im Gästezimmer nach, Gran. Es ist immer da, wo man es am wenigsten erwartet.«

Jetzt stellt sich der Junge aber wirklich blöd. Da hat seit Wochen niemand einen Fuß reingesetzt, und ich vermisse mein Portemonnaie erst seit heute. Aber die drei verbringen ihren Sonntag weiter damit, oben herumzupoltern.

Ich sitze wieder in deinem Sessel, Albert. Hier hast du immer Zeitung gelesen und gelegentlich aufgeblickt, um zu sehen, was ich mir beim Stricken im Fernsehen angeschaut habe. In all den Jahren mit dir habe ich nie hier gesessen, aber seit du fort bist, habe ich es mir angewöhnt. Es ist wie eine neue Erfahrung, eine andere Perspektive, ich sehe die Dinge von da, wo du immer gesessen hast, während die Welt draußen vorbeirauscht.

Du lächelst mich vom letzten Foto an, das ich von dir besitze, es steht in einem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims. Dein schönes Gesicht: kurze, wellige winterweiße Haare, buschige graumelierte Augenbrauen, kräftiges Kinn und ausgeprägte Wangenknochen. Zwinkernde Augen, umstrahlt von freundlichen Falten, zwei perfekte Grübchen, die dir einen schelmischen Ausdruck verleihen. Du bist warm angezogen, Hemd mit offenem Kragen, Pullover und Tweedjackett; schick und lässig zugleich.

Das ist mein bleibendes Bild von dir, eingefroren in der Zeit. Ich sehe nicht einen alten Mann mit Leberflecken, mit hängender Haut am Kinn und tiefen Falten auf der Stirn, sondern den schüchternen Jungen, den ich vor siebzig Jahren kennengelernt habe, den stolzen Mann, den ich geheiratet habe, den strengen, aber gerechten Vater und liebevollen Großvater.

Ich sehe einfach nur dich.

Ich strecke die Hand aus, halte inne. Dein Foto ist nur eine Imitation des Lebens.

Es macht mich glücklich, dich zu sehen und mit dir zu sprechen. Aber es kommt keine Antwort, kein tröstendes Wort, kein weiser Rat. Ich werde nie wieder deine Zuneigung, deine Zuversicht, deine Gegenwart erleben.

Früher war die Stille gesellig. Jetzt ist sie einsam.

Ich sinke tiefer in den Sessel und starre an die Decke, horche auf die Schritte über mir. In der Ecke webt eine Spinne ihr Netz, arbeitet fleißig an dem komplizierten Muster. Sie hat einen rundlichen Körper und dünne Beine. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Spinnen konnte ich nie leiden; meist habe ich dich gerufen, damit du sie entfernst. Ich habe keine Angst vor ihnen, ich möchte nur lieber nichts mit ihnen zu tun haben. Ich werde James bitten, sie rauszusetzen.

Meine Augenlider werden schwer. Ich lasse sie zufallen und döse vor mich hin.

Ein lautes Geräusch schreckt mich auf. Die Standuhr schlägt die Stunde. Ich hole tief Luft und sinke wieder zurück. Dich hat das laute Schlagen nie gestört, weil du ein bisschen taub warst, aber dieser stündliche Aufschrei verstört mich, obwohl ich schon ewig damit lebe. Die Uhr ist so lange hier wie wir, ihr Pendel schwingt und verzeichnet akribisch jede einzelne Sekunde, die vergeht.

Die Haustür fällt knarrend zu. Ja, ich höre zweifellos noch gut.

Die Wohnzimmertür geht auf.

Mein Herz bebt wie das eines Kaninchens. Dumm, ich weiß, aber ich hoffe immer noch, dass du es bist, dass du wieder in mein Leben trittst. Als wärst du nur kurz spazieren gegangen oder auf ein Bier ins Pub.

Wie immer zieht sich mein Herz zusammen, als ich sehe, dass es jemand anders ist.

Mr. Braithwaite kommt herein. »Ich habe mich gründlich im Garten umgesehen, Mrs. Winterbottom, aber da ist es nicht.«

Darum habe ich ihn nicht gebeten. Ich habe keinen von ihnen gebeten, diese alberne Suche zu veranstalten.

Du bist Mr. Braithwaite nie begegnet, Albert. Er ist erst kurz, nachdem du uns verlassen hattest, eingezogen. Das Haus stand eine Weile leer, nachdem Terry gestorben und die arme Mavis ins betreute Wohnen gegangen war. Ihre Kinder hatten Probleme, es zu verkaufen; es hatte was mit dem Immobilienmarkt zu tun, der zusammengebrochen ist. Anscheinend hat Mr. Braithwaite ein Schnäppchen gemacht. Er ist Junggeselle und wohnt allein in dem geräumigen Haus. Du weißt ja, was ich von Junggesellen jenseits der fünfzig halte. Wenn die in dem Alter niemanden gefunden haben, mit dem sie ihr Leben teilen können, stimmt doch was nicht. Und ich muss sagen, ich finde ihn schwach und lappig wie einen zweimal aufgegossenen Teebeutel. Er kommt auch nie auf eine Tasse Tee und ein Schwätzchen vorbei wie Mavis.

Shirley kommt mit rotem Gesicht herein, Matthew in ihrem Kielwasser. »Oh, Mum, wo hast du es nur hingetan?«

Sie regt sich auf, weil ich ein Problem verursache, das zu lösen sie keine Zeit hat. Sie ist das zweite Mal in zwei Tagen hier und muss noch waschen und bügeln. Aber das ist nicht meine Schuld. Ich wollte ja nicht, dass sie danach suchen. Ich wollte nur, dass sie mir zuhören.

Matthew kommt langsam auf mich zu, als wäre ich ein verletztes Tier. Er beugt sich ganz nah zu mir und sagt laut: »Bist du sicher, dass du in allen Taschen und Mänteln nachgesehen hast, Margaret?«

»Natürlich«, knurre ich.

Er schüttelt den Kopf, als stünde er vor einer schwierigen Rätselfrage. »Es muss doch irgendwo sein.«

Nein, muss es nicht. Und darum werden sie es auch nicht finden. Denn es wurde, wie ich ihnen bereits gesagt habe, gestohlen.

Matthew hockt sich hin, auf Augenhöhe mit mir, und fragt laut und langsam: »Kannst du dich erinnern, wo du warst, als du dein Portemonnaie zuletzt hattest? Wenn wir nachvollziehen, was du dann gemacht hast, finden wir es vielleicht wieder.«

»Ich hab’s dir doch gesagt«, antworte ich genauso laut und deutlich in sein Ohr. »Heute Morgen war es in meiner Einkaufstasche, und jetzt ist es weg. Es wurde gestohlen.«

»Gestohlen!« Er hält inne, lässt das Wort seine volle Wirkung entfalten, bevor er es mit verdrehten Augen abtut. »Wie um Himmels willen kommst du darauf?«

»Weil ich weiß, dass es da war und jetzt nicht mehr da ist, also muss jemand es weggenommen haben.«

Obwohl das offensichtlich ist, schaut er mich ungläubig an.

Er geht hinüber zu unserem soliden Eichensekretär, der dort steht, solange ich denken kann. Die Messinggriffe heben sich schimmernd von der warmen Maserung ab, in der bleiverglasten Vitrine steht unser schönstes Porzellan, ein zarter Gegensatz zur robusten Umgebung.

»Hast du da drin nachgesehen?«

»Er ist abgeschlossen. Da kann es nicht drin sein.«

»Kann nicht schaden, mal nachzusehen.«

»Nein. Du schaust da nicht rein.«

Er sieht mich seltsam an und wendet sich wieder zum Sekretär. Ich halte die Luft an. Am liebsten würde ich ihn anschreien, er soll weggehen, doch ich will seine Aufmerksamkeit nicht auf das lenken, was drin ist, auf gar keinen Fall. Ich habe mich schon vergewissert, dass es unberührt ist. Ich atme langsam aus.

»Gestohlen«, wiederhole ich, um ihn abzulenken.

»Mum, sei nicht albern. Du hast es irgendwo hingelegt und vergessen.«

»Nein, das habe ich nicht!«

»Das kommt in letzter Zeit ziemlich häufig vor, Margaret.« Matthew seufzt, konzentriert sich aber wieder auf mich. »Dinge gehen verloren, tauchen an merkwürdigen Stellen wieder auf. Dein Scheckheft haben wir im Wäscheschrank gefunden. Wir haben einen ganzen Tag gebraucht, um die Fernbedienung oben auf dem Bücherregal zu entdecken. Ich hab keine Ahnung, wie du die da überhaupt raufbekommen hast.«

Gut, ich hatte in letzter Zeit einige Seniorenmomente. Aber jeder vergisst mal was. Das ist völlig normal. Wer ist noch nie in ein Zimmer gegangen und konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, was er dort wollte? Man kommt sich in dem Moment ziemlich lächerlich vor, aber das passiert allen, und später fällt es einem wieder ein. Das Gespräch mit Barbara lässt mir keine Ruhe, ich wünschte, daran könnte ich mich erinnern.

»Das ist etwas anderes. Diesmal weiß ich, dass es weg ist.«

»Ich verbringe mehr Zeit mit der Suche nach deinen Sachen als in meinem eigenen Haus, Mum. Und du lässt ständig den Fernseher an, wenn du weggehst.«

Manchmal denke ich, dass du es bist, Albert, der Dinge woanders hinlegt und den Fernseher einschaltet. Als wolltest du mir damit sagen, dass du noch bei mir bist. Oder du willst mir einen Streich spielen. Selbst im Alter hast du gern Schabernack getrieben, mit diesem Schuljungenfunkeln in deinen Augen.

»Du bist manchmal sehr durcheinander. Letzte Woche ist dir Onkel Harrys Name nicht mehr eingefallen.«

Harry. Ich erstarre. Die Stille hängt schwer im Raum. Es ist so lange her. Und doch …

Shirley wird rot. »Tut mir leid, ich hätte ihn nicht erwähnen sollen. Ich wollte nur sagen, du wirst sehr vergesslich.«

Dieses kleine Gehirn kann nicht alles fassen. Wenn man in mein Alter kommt, müssen einige Erinnerungen weichen und Raum für neue machen. Es geht einfach darum, das Gerümpel loszuwerden und Platz zu schaffen, wie beim guten alten Frühjahrsputz.

»Ich bin neunundachtzig, Shirley. Ich kann mich nicht an alles erinnern.«

Ich deute auf Mr. Braithwaite, um vom Thema abzulenken. »Was macht er eigentlich hier?«

Er schürzt die Lippen. Blinzelt mich durch seine goldgerahmte Brille an, fährt sich mit der Hand durchs kurze graumelierte Haar und zerstört den akkuraten Seitenscheitel. Seine buschigen Augenbrauen bewegen sich mit seinem Mienenspiel, als wären es zwei schläfrige Raupen. Er trägt verblichene Jeans und einen ausgeleierten grauen Pullover über einem gestreiften Hemd. Er sieht aus wie ein Buchhalter auf Urlaub. Ich verstehe nur zu gut, warum er keine passende Frau findet.

»Mum, sei nicht unhöflich. Steve hat sehr nett seine Hilfe angeboten. Tut mir leid«, flötet sie entschuldigend. »Sie meint es nicht so. Sie sagt nur manchmal die falschen Dinge.«

Ist die Heizung an? Allmählich wird es kalt hier drinnen. Ich rutsche im Sessel herum, versuche wieder die alte Behaglichkeit zu finden.

»Alles gut, Shirley. Ich verstehe, dass Ihre Mutter aufgewühlt ist. Erst passiert all das, und jetzt kann sie ihr Portemonnaie nicht finden. Das ist doch verständlich.«

Der Heizkessel rumpelt nicht, die Leitungen scheppern nicht, also ist sie wohl aus.

»Diese schlimme Geschichte gegenüber hat uns alle erschüttert«, sagt Shirley.

Schlimme Geschichte? Das war nicht irgendein Roman. Warum sind die Leute nicht einfach ehrlich und sagen, was passiert ist? Barbara ist tot. Wenn man nicht drüber redet, ist es, als würde man verleugnen, dass es passiert ist. Aber es ist passiert. Und jemand muss dem auf den Grund gehen.

Wieder sehe ich Barbaras Gesicht. Versprich es mir, Margaret. Aber dann bewegen sich nur ihre Lippen weiter. Die Worte fehlen.

»Haben Sie etwas gesehen oder gehört, Steve?«, fragt Matthew. »An dem Abend, als es passiert ist?«

»Nein, ich war geschäftlich unterwegs. Hab der Polizei gesagt, dass ich leider nicht helfen kann.«

Ich kann Mr. Braithwaites Akzent nicht ganz einordnen. Jedenfalls ist er nicht von hier. Er klingt so unbestimmt, als wäre er von nirgendwo.

»Ich war auch weg«, sagt Matthew und kratzt sich den Nacken. »Firmenveranstaltung.«

»Sie sind sicher besorgt, was es für Ihre Mutter bedeutet«, sagt Mr. Braithwaite zu Shirley.

»Natürlich. Sie stand Barbara sehr nah.« Shirley erschauert. Nicht wegen der Kälte, die würde sie gar nicht bemerken. Dafür rennt sie zu viel herum, ist ständig in Bewegung. Ein Wirbelwind. Ich war früher auch ein Wirbelwind, bis die Zeit mich eingeholt und angepflockt hat wie ein Zelt.

»Ich bin hier, wisst ihr.« Ich hasse es, wenn Leute über mich reden, als wäre ich unsichtbar.

James stürmt ins Zimmer, lässt sich aufs Sofa fallen, pustet sich die Haare aus den Augen.

»Gästezimmer erledigt«, sagt er und lümmelt auf den Kissen. Der Junge hat eine furchtbare Körperhaltung, das wird er noch bereuen. Nicht wie du, Albert, du hast immer kerzengerade in deinem Sessel gesessen.

James ist im letzten Jahr in die Höhe geschossen. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht älter werden, aber davon wollte er nichts hören. Sein Geschmack hat sich auch verändert. Er lässt sich nicht nur die Haare wachsen, er trägt auch T-Shirts, die so laut und grell wie seine Musik sind. Ich habe ihn gewarnt, dass er bald so taub sein wird wie du. Und er trägt immer Schwarz.

»Wo ist denn der schöne orange Pullover, den ich dir gekauft habe, James?«

Er schaut zur Seite. »In der Wäsche. Wie kommst du eigentlich drauf, dass dein Portemonnaie geklaut wurde, Gran?«

Ich beuge mich vor. »Ich habe vorhin mit Irene Broadbent telefoniert. Sie hat erzählt, man hätte Vera Smith das Portemonnaie gestohlen. Da habe ich gemerkt, dass meins auch weg ist.«

Nie auch nur ein einziges Verbrechen in unserer Straße und dann gleich ein Mord und zwei Diebstähle. Seit du weg bist, geht alles den Bach runter, Albert.

James nickt. Ein seltsamer Ausdruck liegt auf seinem Gesicht; eine Mischung aus Traurigkeit und etwas anderem. Immerhin hört er mir zu.

Warum hören mir die anderen Schwachköpfe nicht zu?

Shirley funkelt mich an. »Du hast das laut gesagt, Mum. Mit wem hast du geredet? Doch nicht schon wieder mit Dad?« Jetzt darf ich nicht mal mehr mit dir sprechen. »Du weißt, dass er nicht mehr bei uns ist, oder?«

Du wirst mich nie wirklich verlassen.

»Du willst nie über ihn reden.«

»Das bringt ihn nicht zurück«, sagt Shirley.

Die Leute vermeiden es, dich zu erwähnen, weil sie glauben, es würde mich aufregen. Dabei halten einen die Erinnerungen lebendig.

»Egal.« Shirley macht eine wegwerfende Handbewegung. »Niemand kann hier rein und dein Portemonnaie stehlen.«

»Gestern sind ständig Leute rein- und rausgelaufen.«

»War etwas Wichtiges drin?« Mr. Braithwaites Raupenbrauen kriechen in die Höhe.

»Alles Wichtige. Meine Bankkarte, Geld – ein Zehner, glaube ich, und ein bisschen Kleingeld –, mein Hausschlüssel, ein Rubbellos – aber das war bestimmt eine Niete –, meine Liste mit Notfallnummern und, na ja, irgendwelches anderes Zeug.«

Das Portemonnaie ist einer Frau heilig. Ein privater Ort voller lebenswichtiger Dinge, an dem ich die Welt in Ordnung halten kann. Und ich kann damit Stilgefühl beweisen, so schrecklich ich ansonsten auch aussehen mag. Du hattest alles in deinen Hosentaschen. Ein Geklimper aus Münzen und Schlüsseln, das mich oft irritiert hat und für das ich heute alles geben würde.

»Oh, da fällt mir ein, auch ein Lippenstift.« Sicher, ich bin neunundachtzig, und du bist nicht mehr bei uns, Albert, aber ein Mädchen sollte immer versuchen, so gut wie möglich auszusehen.

»Na wunderbar. Jetzt muss ich die Schlösser austauschen und die Karte sperren lassen. Noch mehr Zeitaufwand und Ärger.« Shirley sieht aus wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

»Wir wollen nichts überstürzen.« Matthew legt den Arm um sie. »Es kann wieder auftauchen.«

»Du hast recht.« Shirley klingt gereizt. »So wie alles andere in diesem Haus bisher auch.«

»Ich kann bis dahin den Ersatzschlüssel nehmen«, sage ich, um etwas beizutragen.

»Den darfst du aber auf gar keinen Fall verlieren.« Shirley zögert, dann wird ihr Gesicht weicher. »Ich möchte nur nicht, dass du in Gefahr gerätst.«

»Ich bin nicht in Gefahr. Falls sich hier jemand reintraut, schnappe ich mir Alberts altes Gewehr. Heutzutage darf man Einbrecher erschießen.«

Der Vulkan bricht aus. »Mum, du weißt, dass ich es weggebracht habe.«

Ab wann ist es das Kind, das die Mutter zurechtweist? Ab wann kehren sich die Rollen um? Und wo ist der Respekt geblieben?

James’ grünblaue Augen funkeln. »Hattest du wirklich ein Gewehr im Haus, Gran?«

Ich zwinkere ihm zu. Sein Gesicht erstrahlt in dem verschmitzten Grinsen, das mich an dich erinnert.

»Danke für die Hilfe, Steve.« Shirley schiebt Mr. Braithwaite in den Flur. Obwohl sie leise sprechen, kann ich sie hören.

»Sie wirkte erschrocken, als der Name Harry fiel. Ist das ihr Bruder?«

»Schwieriges Thema. Ich hätte ihn nicht erwähnen sollen, das macht es nur schlimmer.«

Ich höre nicht mehr hin. An Harry darf ich jetzt nicht denken. Ich bin verärgert über Shirley: wie sie hinter meinem Rücken über mich redet und andeutet, ich hätte mein Portemonnaie an eine dämliche Stelle gelegt.

Aber ich schwöre dir, Albert, ich habe es nicht verloren.

Und auch nicht den Verstand.

4. Kapitel

Das Tageslicht verblasst. Ich will die Vorhänge im Wohnzimmer schließen, habe es aufgegeben, das Kommen und Gehen gegenüber zu beobachten oder zu versuchen, die Erinnerung an Barbara in mein Gedächtnis zurückzuzwingen. Es gibt nichts im Fernsehen. Bald fangen die Olympischen Spiele in London an. Du hättest das die ganze Zeit laufen, Albert, aber mich macht es ganz erschöpft, mir das ständige Rennen, Springen und Schwimmen anzusehen. Schon allein der Gedanke ist anstrengend.

Meine Hand hält inne, bevor der Vorhang halb zugezogen ist. Eine Gestalt auf der anderen Straßenseite, ein Mann – er kehrt mir den gebeugten Rücken zu, reglos wie mein erhobener Arm, und starrt auf Barbaras Haus. Aus dieser Entfernung erkenne ich nicht, wer es ist, doch etwas an ihm kommt mir bekannt vor. Ich gehe nach draußen, aber bis ich vor der Tür bin, ist er weg. Ich gehe wieder rein, verriegle die Tür und schließe die Vorhänge. Nach all der Unruhe zieht mich die Müdigkeit zu Boden. Zeit fürs Bett.

Ich gehe nach oben. Zugegeben, es ist ganz schön mühsam, mehrmals am Tag die Treppe hinaufzusteigen. Ich habe mich geweigert, in einen Bungalow zu ziehen, weil ich die vertraute Nachbarschaft nicht aufgeben wollte. Das ist unser Heim, und hier bleibe ich, bis ich sterbe. Und ein Treppenlift kommt nicht infrage. Fast hätte ich Matthew eine gescheuert, als er das vorgeschlagen hat.

Als ich halb oben bin, klopft es an der Haustür. Ich steige wieder runter, schließe auf und stehe einem Fremden gegenüber. Er trägt einen abgenutzten schwarzen Mantel, eine weinrote Krawatte baumelt lose über dem grauen Hemd, der oberste Knopf steht offen. Er sieht jung aus, aber fast so müde wie ich, hat Ansätze von Tränensäcken unter den braunen Augen und einen Dreitagebart. Er ist viel jünger als die Person, die ich gerade eben auf der Straße gesehen habe.

Zigarettenrauch kringelt sich in der Luft.

»Tut mir leid, wenn ich störe.« Seine Stimme klingt rau. Ich versuche, sein Alter zu schätzen, aber es ist schwierig. Einfach jung eben. »Ich bin Reporter, Evening News. Ich hatte gehofft, wir könnten uns ein bisschen unterhalten über …« Er schaut sich um. »… die Sache gegenüber.«

Ich zögere, spüre einen kleinen Knoten im Magen. Sollte ich mit Reportern reden? Einerseits steht es mir nicht zu, andererseits ist es meine Straße, meine Nachbarin, meine Freundin. »Die Polizei hat mir nicht viel gesagt.«

»Vielleicht könnten Sie mir etwas über das Opfer erzählen.« Er schaut in ein Notizbuch. »Eine Mrs. Barbara Jones. Ihre Nachbarn haben nette Dinge über sie gesagt. Dürfte ich kurz reinkommen und mit Ihnen über sie sprechen?«

Der Knoten in meinem Magen zieht sich zusammen. Ich weiß nicht, ob ich nach allem, was passiert ist, fremde Leute reinlassen sollte.

»Ziemlich kalt heute.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen.

Eigentlich bin ich gastfreundlich, und er wird kaum etwas anstellen, wenn die halbe Greater Manchester Police in der Gegend herumschwirrt. Warum soll ich ihm nicht etwas über Barbara erzählen? Ich will doch, dass die Wahrheit gesagt wird, dass die Leute erfahren, wer sie war. Sie war nicht irgendeine kleine alte Dame, deren Leben ohnehin vorbei war, sondern ein Mensch, der anderen immer noch viel gegeben hat.

»Na gut, kommen Sie rein.«

Ich setze Teewasser auf, während er im Wohnzimmer wartet, und versuche, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken, als ich das Tablett mit Teekanne, Milchkännchen, Zuckerdose und zwei Tassen samt Untertassen hineintrage – eine mit Prinz Charles drauf für ihn und eine mit Ihrer Majestät für mich. Ich verschütte ein bisschen, als ich das Tablett auf den Couchtisch stelle, froh, die Last loszuwerden. Er bemerkt es nicht, sein Blick zuckt durchs Zimmer.

Ich setze mich in deinen Sessel, Albert, und er lehnt sich auf dem Sofa zurück. Er fragt das Gleiche wie die Polizistin, will wissen, ob ich etwas gehört oder gesehen habe, und wieder kann ich keine Antworten geben. Es ist wie früher, wenn wir Mastermind geschaut haben, bis wir aufgeben mussten, weil wir nichts richtig beantworten konnten. Aber er interessiert sich auch sehr für Barbara, und da kann ich helfen, erzähle, was für eine wunderbare Frau sie war, während ich ihm Tee einschenke und Königin und Prinz bis zum Rand fülle. Er schreibt viel mit und fragt, ob ich Fotos von ihr hätte.

Ich gehe zum Sekretär und fische den kleinen schwarzen Schlüssel aus einer Schale im Regal, die ich mit dem Körper verdecke, damit er es nicht mitbekommt. Dann schließe ich den Schrank unter der Schreibplatte auf. Drinnen stehen ein Karton und ein viktorianisches Kästchen aus lasiertem Kiefernholz mit gewölbtem Deckel. Das Licht schimmert verheißungsvoll auf dem polierten Messingschloss. Es sieht aus wie ein Schatzkästchen. Nur befindet sich kein Schatz darin. Zum Glück weiß niemand, was darin versteckt ist, Albert. Niemand außer dir und natürlich Barbara, meiner besten Freundin. Ich habe gelernt, niemandem sonst zu trauen. Aus Schaden wird man klug. Hinter Narben verbergen sich Geschichten.